Walter Hinck: Zu Erich Frieds Gedicht „Macht der Dichtung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Erich Frieds Gedicht „Macht der Dichtung“ aus dem Band Erich Fried: Es ist was es ist. –

 

 

 

 

ERICH FRIED

Macht der Dichtung

„Dein geniales Gedicht
wird nicht nur sehr nützlich sein
und die Seefahrt sicherer machen
als je bisher
weil es so unüberhörbar
vor Eisbergen warnt
auf scheinbar offener See
sondern es wird
dank der Schönheit deiner Beschreibung
der Eisberge und der Wogen
und des Zusammenstoßes
zwischen der wilden Natur und ihrem Besieger Mensch
auch dich unsterblich machen!“

Das etwa soll ein Mädchen
zu einem jungen Dichter
gesagt haben
den sie dabei
schwärmerisch ansah
im Schiffssalon
am Tag vor dem Ende der Fahrt
laut Bericht eines Zuhörers
dem die Worte dann nach dem Unglück
nicht aus dem Kopf gingen
auch nicht nach seiner Bergung
aus einem der überfüllten
Rettungsboote

 

Schiffbruch der Illusionen

Seit der Antike gedeihen die Mythen und Legenden von der Macht der Dichtung. Orpheus sänftigte ein wildes Volk, zog sogar Bäume und Steine in seinen Bann, ja erweichte mit seinem Gesang selbst den Beherrscher der Totenwelt, so daß er Eurydike wieder freigab. In Deutschland hat, in seinem Gedicht „Die Macht des Gesangs“, Schiller die Allmacht der Dichtung am schwungvollsten gefeiert; Vermittler göttlicher Botschaft, Zerstörer der Lüge und Befreier aus irdischen Verhängnissen ist ihm der Gesang, Schlüssel zur Rückkehr in die „Unschuld“ der „Jugend“ und der „Natur“.
Den Vormärz-Revolutionären des 19. Jahrhunderts wird gar das politische Lied zur Tat: es hat Macht über Leben oder Tod der Fürsten. Heine allerdings durchschaut das Papierene und die Ventilfunktion solcher Drohung:

Der Knecht singt gern ein Freiheitslied
Des Abends in der Schenke:
Das fördert die Verdauungskraft
Und würzet die Getränke.

In unserem Jahrhundert begleiten Abstürze des hochgemuten dichterischen Selbstgefühls die Schrecken und den Fall des „Dritten Reichs“. Gegen Zungenfertigkeit hält Paul Celan das Bild von der „nachzustotternden Welt“. Aber wieder erholt sich der Glaube an den Tatcharakter des Worts in den sechziger und siebziger Jahren. „Politische Dichtung“ feiert Triumphe in Lektoraten und Redaktionen, in Schulen und Arenen – auch Erich Fried füllt mit seinen Lesungen die Säle. Zumal der Vietnam-Krieg setzt Wort-Feldzüge in Gang. Erich Fried, damals Mitarbeiter der BBC in London, münzt fast jede Nachricht zu einem Gedicht um, wird zu einer Art „rasendern Verworter“. Mit seinem Band und Vietnam und (1966) greift er schon den „Ho-Ho-Ho-Chi-Min“-Rufen der Straßendemonstrationen vor. Um so erstaunlicher sein Text „Macht der Dichtung“.
Geradezu ein Prüfstein für den Rang eines Dichters scheint es zu sein, ob er von seinen optimistischen Höhenflügen zur Erde, zum Realitätssinn zurückfindet. Wolf Biermanns Erkenntnis zeigt resignative Züge:

Mund hat keine Mündung
… Bleistift verschießt kein Blei.

Und Erich Fried räumt schon in einem längeren Gedicht von 1974 seine „Zweifel an der Sprache“ ein. Aber erst ein Jahrfünft vor seinem Tod, in „Macht der Dichtung“, wird der Zweifel zur vollen Nüchternheit. Der Titel zitiert, wie die beiden Strophen rückwirkend offenbaren, den überlieferten Topos ironisch.
Die schwärmerische Rede des Mädchens an den verehrten jungen Dichter beruft sich auf die seit der Antike geläufigen Gedanken vom Nutzen und der Schönheit der Dichtung und von der Unsterblichkeit, die sie dem Dichter verleiht. Sie spielt auch auf die eigenen „Warngedichte“ Frieds von 1964 und im übrigen auf den Zusammenstoß der stolzen Titanic mit dem Eisberg an. Dem Gedicht wird nachgerühmt, durch eine Warnung vor Eisbergen die See sicherer zu machen.
In der zweiten Strophe, im Bericht eines Zeugen der Schiffbruchkatastrophe, erleiden auch die illusionären Vorstellungen von der Macht der Dichtung ihren Schiffbruch. Geradezu zynisch – der Bericht läßt auf den Tod des jungen Dichters schließen – antworten Natur und Wirklichkeit auf die überzogenen Erwartungen. Der Autor des Warngedichts selbst fällt der Katastrophe zum Opfer, an deren Verhinderung seine Verse mitwirken sollten.
Nimmt hier ein „politischer“ Dichter endgültig von einer Fata Morgana Abschied? Schneidet er gar seiner eigenen früheren Dichtung die Ehre ab? Auf jeden Fall spricht er mit einer selbstkritischen Skepsis, die ihn ehrt.

Walter Hinck, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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