9 Fragen zur Gedichtübersetzung

Mashup von Juliane Duda zu der Kategorie „adhoc“

adhoc

Aus einer Anfrage und einer abtastenden Emailkorrespondenz über die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit von Felix Philipp Ingold und planetlyrik.de wurde uns als erstes Ergebnis nachfolgender Werkstattbericht zur Verfügung gestellt. Die Fragen des Autors beinhalten für manchen puristischen Übersetzer sicher Widerspruchsmaterial. Wir würden uns freuen, wenn eine kleine Diskussion durch eine Vielzahl von Kommentaren entstehen könnte.
Unsere erste ergänzende Frage, vom Autor bereits in seinem Text (für sich) beantwortet, sei hier noch erweiternd angeführt:
Kann man tatsächlich ein Gedicht durch eine Übersetzung nachträglich vor seiner Autorin retten oder haben wir es schon mit einer neuen Form von Übersetzerhybris zu tun?

 

FELIX PHILIPP INGOLD

Um Sylvia Plath noch einmal ins Deutsche zu bringen

− Versuch und Begründung einer experimentellen Nachdichtung. −

Im Januar 1963 schreibt Sylvia Plath, seit kurzem in London ansässig, ein gutes Dutzend bester Gedichte, die auch ihre letzten sein werden, bevor sie sich, einen Monat danach, das Leben nimmt. Eins dieser Gedichte, zu dem sie sich vermutlich durch ein Modemagazin oder eine Frauenzeitschrift provoziert fühlte, ist den „Models von München“ gewidmet und lautet wie folgt:

The Munich Mannequins

Perfection is terrible, it cannot have children.
Cold as snow breath, it tamps the womb

Where the yew trees blow like hydras,
The tree of life and the tree of life

Unloosing their moons, month after month, to no purpose.
The blood flood is the flood of love,

The absolute sacrifice.
It means: no more idols but me,

Me and you.
So, in their sulfur loveliness, in their smiles

These mannequins lean tonight
In Munich, morgue between Paris and Rome,

Naked and bald in their furs,
Orange lollies on silver sticks,

Intolerable, without mind.
The snow drops its pieces of darkness,

Nobody’s about. In the hotels
Hands will be opening doors and setting

Down shoes for a polish of carbon
Into which broad toes will go tomorrow.

O the domesticity of these windows,
The baby lace, the green-leaved confectionery,

The thick Germans slumbering in their bottomless Stolz.
And the black phones on hooks

Glittering
Glittering and digesting

Voicelessness. The snow has no voice.

 

Ein starkes Gedicht. Erich Fried hat es 1974 in seiner Übersetzung von Sylvia Plaths Nachlassband Ariel erstmals auf deutsch veröffentlicht; und da liest es sich so:

Vollendung ist furchtbar, sie kann keine Kinder haben.
Kalt wie Schneehauch tamponiert sie den Schoss

Wo die Eibenbäume aufblühen wie Hydren,
Der Baum des Lebens und der Baum des Lebens

Ihre Monde loslösen, Monat um Monat, zwecklos.
Die Blutflut ist die Flut der Liebe,

Das absolute Opfer.
Es heisst: Keine Götzen als mich mehr,

Mich und dich.
So, in ihrem Schwefelliebreiz, in ihrem Lächeln

Lehnen diese Mannequins heute nacht
In München, dem Leichenschauhaus zwischen Paris und Rom,

Nackt und kahl in ihren Pelzen,
Orangenlutschstangen auf Silberstäben,

Unerträglich, ohne Gedanken.
Der Schnee lässt seine Stücke von Finsternis fallen,

Niemand ist da. In den Hotels
Werden Hände die Türen öffnen und Schuhe

Hinstellen zum Polieren mit schwarzem Wachs,
Dass breite Zehen morgen in sie gehen.

Oh, die gezähmte Häuslichkeit dieser Fenster,
Die Babyspitzen, das grünbelaubte Backwerk,

Die dickfelligen Deutschen die schlafen in ihrem bodenlosen Stolz.
Und die schwarzen Telefone an Gabeln

Glitzernd
Glitzernd und verdauend

Stimmlosigkeit. Der Schnee hat keine Stimme.

 

Ich stelle nun, vier Jahrzehnte danach, die folgende Neuübersetzung zur Diskussion:

Furchtbar diese Perfektion, sie kann nicht fruchtbar sein.
Kalt wie Wehen von Schnee verschliesst sie den Schoss,
Wo Eiben wie Hydren in Blüte stehn,
Wo der Lebensbaum und der Lebensbaum
Ihre Monde entbinden, Monat für Monat, ohne Sinn.
Die Blutflut ist eine Liebesflut,
Ist absolute Opfergabe.
Will heissen: Kein Idol mehr ausser mir,
Ich und du.
So lehnen diese Models heute Nacht
mit schwefligem Charme und rundum lächelnd
Nackt in ihren Pelzen –
Der Schnee lässt in Fetzen seine Finsternis fallen,
Niemand ist vor Ort.
Der Schnee hat keine Stimme.

Ein starkes Gedicht, ja, und doch ‒ in meiner Fassung ‒ nur ein halbes Gedicht; denn ich habe den ganzen zweiten Teil – mit Ausnahme des Schlussverses – fortgelassen: Ein unstatthafter übersetzerischer Eingriff, zweifellos, und doch ist es mir, meine ich, gelungen, das Gedicht nachträglich vor der Autorin zu retten… vor seiner Verbiegung zur antideutschen Karikatur – mit München als Modezentrum und Leichenschauhaus, mit den „dicken Germanen“ als häuslichen Putzteufeln, mit deutschem Süssgebäck und deutschem „bodenlosem Stolz“ usf.
In der Friedschen Übersetzung wie im Original fallen die letzten sieben Strophen vom Rest des Gedichts qualitativ deutlich ab, und dies in formaler wie in gehaltlicher Hinsicht. Mir ist schon klar, dass Sylvia Plath den Gesamttext auf den Vergleich beziehungsweise die Gleichsetzung der perfekten, aber unfruchtbaren Modewelt mit dem gemeindeutschen, ebenso unfruchtbaren Perfektionismus ausrichtet und dass sie beides zum prallen authentischen Leben, das sich besonders heftig in der „Flut der Liebe“ kundtut, in Kontrast setzen will. Da aber im ersten Gedichtteil bereits der Kontrast zwischen Künstlichkeit und Naturhaftigkeit dezidiert herausgestellt wird, wirkt der nachfolgende zusätzliche Vergleich mit Deutschland und den Deutschen ebenso willkürlich wie überflüssig – diese zweite Hälfte des Gedichts könnte sich durchaus als eigenständiger Text behaupten, im vorliegenden Zusammenhang nimmt sie sich aus wie ein angehängtes Nota bene oder ein Postskriptum.
Meine Neuübersetzung hat – ich möchte das betonen – rein experimentellen Charakter, und es kommt bei meiner Fassung auch weniger auf den Text selbst an als auf die Fragen und Probleme, die er aufwirft, elementare Fragen… schlichte Probleme wie diese:

Kann die in der Zielsprache gekürzte Nachschrift des Gedichts noch als Übersetzung gelten?

Bildet sie gegenüber dem Original eine Variante oder eine eigenständige Nachdichtung?

Darf ein Übersetzer seine Vorlage verändern, ergänzen, formal verbessern?

Wie wäre in diesen Fällen die Funktion von Autor und Übersetzer zu bestimmen beziehungsweise zu differenzieren?

Kann eine Übersetzung das Original qualitativ übertreffen? Wenn ja – soll sie das überhaupt?

Inwieweit kann eine eigenwillige, vom Original sich entfernende Übersetzung ihrerseits als Original gelten und wie wäre dann poetische Autorschaft funktional zu bestimmen?

Was brächte ein solcherart erweiterter Übersetzungsbegriff für die Lyriktheorie? Welche Konsequenzen hätte er für die Übersetzungskritik?

Und ausserdem:
Ist nicht auch jedes Originalgedicht mit Bezug auf seine literarischen Quellen und gemäss seiner Entstehung und Ausgestaltung so etwas wie eine Übersetzung?

2 Antworten : 9 Fragen zur Gedichtübersetzung”

  1. laika sagt:

    Ne feine neue Nuance auf meinem LieblingsHimmelskörper, Textvergleiche, wobei hier schon die dreifache Parallelität Genuss bringt und die verschiedenen Seelen meiner multiplen Persönlichkeit in Kontroverse geraten lässt…
    ….die traditionalistische Weltraumhündin fordert: Finger weg vom Original! was auch auf die zeitnah entstandene Translation ausgedehnt werden kann.

    Und der kommunistische Punk (auch) in mir proklamiert: Eigentum ist Diebstahl _ macht kaputt, was Euch veraltet hindert und baut was Schönes Neues aus den Trümmern_ Venceremos! 🙂

    Viel Platz und Inspiration zum Weiterdenken und diskutieren, wauwow

    laika

  2. zinaida bienowo sagt:

    vor allem hervorragend sein darf man in der zielsprache und weglassen und verändern. welche „administration“ verbietet es? aber man darf nicht darauf verzichten, dies „verändern“ variantenreich in der zielsprache zu benennen: NACH, VARIANTE, VARIATION, ANLEHNEND etc.etc. und vor allem keine sorge um die lyriktheorie, die rennt sowieso rein wissenschaftlich der poesie hinterher und findet so immer ihr postulat…für diese, und für ausgesprochene kenner der ausgangssprache, kann ja wissenschaftlich korrekt, „das veränderte, weggelassene“ benannt werden: bedenke! – dies ist kein opportunismus…
    und vor allem keine sorge vor den traditionalisten: die müssen es ja nicht lesen, aber bedenke! – auch sie haben recht!

    Zinaida Bienowo

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00