Adonis: Revolte in der arabischen Dichtung

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Adonis: Revolte in der arabischen Dichtung

Adonis-Revolte in der arabischen Dichtung

DER ZEITGENÖSSISCHE ARABISCHE DICHTER UND SEIN ERBE

Die literarische Kritik und die arabischen Schriftsteller scheinen sich einig zu sein, daß die folgenden Charakteristika der arabischen Literaturtradition zuzuordnen sind:

1. Seit ihrer Entstehung hat sich diese Tradition in arabischer Sprache ausgedrückt.
2. Sie ist vor allem linguistisch und religiös. Philosophie, Kunst und Wissenschaft kommen danach.
3. Sie hat eine Herkunft, die ihr eigen ist, deswegen hat sie unabhängige Werte und eigenen Bestand. Sie ist also Prinzip und Original, und deshalb ist sie „klassisch“, im gleichen Sinne wie man von hellenistischer oder europäischer Klassik spricht.
4. Diese Tradition ist gehalten, sich einer Verankerung und Stabilität, eines Universalismus’ zu bedienen, die soweit gehen, jede Überschreitung zu verbieten. Jede Schöpfung muß also in ihr den Ausgangspunkt suchen und wird von ihr bedingt. Dies unterstellt implizit, daß sie selbst alle Traditionen, die ihr vorausgegangen sind, aufhebt. Bezieht man sich also auf eine ältere Tradition, wird dies als eine Rebellion oder ein Komplott gegen sie angesehen.
5. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß sich unsere Tradition als eine in sich geschlossene Welt vorstellt, die heilige Gesetze befolgt. Sich anzupassen ist die Vorbedingung für jede poetisch-schöpferische Aktivität. Etwas zu beginnen bedeutet, die Vergangenheit nachzuahmen und nicht etwa zu übertreffen. Das den heutigen Dichtern vorgesetzte Ideal ist, sich einzureihen in den Kreis der Tradition, sich selbst von ihrer Sinneskraft zu überzeugen, um die Modelle dann so gut wie möglich zu reproduzieren. Es ist wie eine Bestimmung, die den Dichter an seine Tradition bindet; diese muß entschieden seine Aktivität beherrschen und leiten.

Fragen wir uns nun, welches die Gründe sind, die zu einer solchen verschlossenen Konzeption von der arabischen Tradition geführt haben. Es scheint mir zwei davon zu geben, der eine ist sprachlicher und der andere religiöser Natur; man könnte sogar sagen, daß es sich im Grunde um ein und dieselbe Sache handelt, da vom Islam her gesehen Religion und Sprache eine fundamentale und substantielle Einheit bilden.

1. Jedesmal, wenn sich der Islam selbst erklärte, hat er sich als perfekte und definitive Religion vorgestellt. „Die Religion, die Allah am nächsten steht, ist der Islam“, sagt der Koran. Er erklärt hiermit implizit, daß alle Religionen, die ihm vorausgegangen sind, auf die eine oder andere Weise unvollkommen waren und daß er sie definitiv überwunden hat. Der Islam wird also als ein Beginn betrachtet, der zugleich die Vollendung darstellt.
2. Andererseits hat sich der Islam mit der Sprache völlig identifiziert. Im Koran spricht Gott: „Wir haben ihn (den Koran) auf Euch kommen lassen in reiner, klarer arabischer Sprache.“ Ein anderer Vers bestätigt, daß Gott sich selbst die Aufgabe gestellt hat, die Sprache unverändert zu erhalten: „Wir haben den Sikr1 herab gesandt und erhalten ihn in Sicherheit.“ Auf diese Weise erhält die Sprache Ewigkeitswert, da sie ja das Wort Gottes ist. Dies bedeutet, daß sie ahistorisch ist und damit keinerlei Entwicklung gestattet. Alle Welt kennt die Polemik, die zur Zeit des Abbasidenkalifs al-Mamun zwischen den Mu’tasiliten und den Sunniten, deren Gegnern, entstand, wobei die ersteren die Schöpfung des Koran, also seine Geschichtlichkeit vertraten, während die letzteren darauf bestanden, daß er herabgesandt wurde, also ahistorisch sei. Erst das Verschwinden der Mu’tasiliten beendete diesen Streit.
3. Der Islam ist kein metaphysisches System, das eine geistige Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf herstellt; er ist eher ein totales System, das sich über das ganze Leben des Menschen ausdehnt und ebenso das persönliche Leben des Individuums betrifft wie das Leben in der Gesellschaft. Er ist Religion und Staat. Der Islam präsentierte sich als definitive und absolute Religion auf dem Gebiet des Glaubens, und er zeigt sich auch und ebenso in sozialer Hinsicht als definitiver und absoluter Zustand.

Diese Überlappung beider Gebiete begrenzt sich nun nicht etwa z.B. auf die kanonische Organisation von Ehe und Erbe, sondern dehnt sich auf Geist und Leben aus. So wie sich die Moslems alle als eine einzige große Gemeinschaft betrachten, die das gleiche soziale und religiöse Leben führt, betrachten sie sich auch als eine gemeinsame geistige und kulturelle Gesellschaft. Davon ausgehend können wir die Wichtigkeit der „Imja“ (Konsens) in der Tradition und im Leben des Islam ermessen.
Dies voraussetzend stellen wir fest, daß die arabische Kultur zugleich politisch und religiös in ihrer Natur ist. Sie wurde aus der Religion geboren und regiert in ihrem Namen. Die Geschichte der arabischen Denker beweist uns, wie sehr der religiöse Faktor die arabischen Philosophen bedrückt hat, indem er ihnen jede Kritik, jeden Zweifel, jedes Infragestellen der religiösen Wahrheiten untersagte. Angesichts dieser Schwierigkeit sahen sich die moslemischen Philosophen gezwungen, ihre Gedanken auf eine Versöhnung von Glaube und Vernunft zu richten. Diese Bemühung zur Übereinkunft ist der Grundsatz der gesamten Philosophie des Islam. Aus diesem Grunde hat diese Philosophie versagt, während auch der Glaube diesen Bemühungen nichts entnehmen konnte. Das Versagen der Philosophie resultiert aus ihrer Beschränkung auf die Anpassung anstelle der Schöpfung.
Im Prinzip können wir sagen, daß die klassische arabische Tradition irrational ist. Es ist eine Tradition der Lehre; diejenige, für die der Imam al-Ghasali mit Härte und Eifer die Hauptlinien vorgezeichnet hat. Die Folge war, daß sich diese Kultur im Widerspruch zur Mittelmeerzivilisation befand. Das Leben ist nach der mediterranen Tradition ein weites Feld für das menschliche Wissen, und dieses fruchtbare Feld trägt in sich den Samen des Fortschritts. Dies ist die Lehre, die uns das Heldengedicht von Gilgamesch oder die Odyssee von Homer vermitteln. Für den Islam ist es umgekehrt die Umsetzung einer religiösen Tradition in die Praxis, ständige Wiederholung eines Zyklusses, in dem der Mensch nur voranschreitet, wenn er seinen eigenen Spuren folgt. Es bleibt weiterhin festzustellen, daß die Erfahrung des Islam unpersönlich ist, das bedeutet, sie ist didaktisch und abstrakt, und daß diejenigen, die sie verkörpern, sich nur in Gebeten ausdrücken, um die Gläubigen zu verwarnen oder aufzubauen. Diese Situation führt eben dazu, daß die koranische Tradition dem Begriff „Person“ völlig fremd gegenübersteht. Das Wort „Chakhs“2 selbst hat, wenn wir es in dieser Tradition antreffen, nicht den Sinn, den man philosophisch einer solchen Idee zuordnet. Diese Bezeichnung erweckt Begriffe wie Fleischwerdung, Ähnlichkeit, Bildhaftigkeit ebenso wie Begriffe, die vom Koran als heidnisch angesehen werden.
Erklärt uns dieser „Antipersonalismus“ vielleicht die erstaunliche Tatsache, daß der Islam als Religion während seiner langen Geschichte nicht einen einzigen arabischen Dichter von Wert hervorgebracht hat, allerdings mit Ausnahme der Mystiker, die eine besondere religiöse Richtung vertraten?
Die praktischen Folgen dieser Konzeption gehen weit über das besondere Feld der Poesie hinaus, da sie sich über andere Gebiete des Lebens ausbreiten. Die Auswirkungen des Einflusses der arabischen Tradition beschränken sich nicht nur auf das Gebiet des abstrakten Denkens, ausgehend von der Religion erreicht sie die Politik und alle anderen Aspekte des gesellschaftlichen Lebens.
„Ich bin nicht frei“, dies ist die spontane Reaktion des heutigen arabischen Dichters. Er ist nicht frei, weil er nicht die Möglichkeit hat, seine Erfahrungen vollständig und ohne Lüge niederzulegen, ohne Zwang seiner inneren Empfänglichkeit zu entsprechen. Es ist ihm verboten zu zweifeln, zu rebellieren, Werte infragezustellen, die er ererbt hat, und Unbekanntes zu erforschen. Er muß sich innerhalb der Grenzen der Tradition bewegen, innerhalb des traditionellen ästhetischen Rahmens bleiben, die zu durchbrechen er nicht die Macht besitzt. Er ist ein geknebelter, gefesselter, in einem Tunnel ausgesetzter Dichter. Unter diesen Umständen scheint Freiheit unerreichbar. Ohne Freiheit aber hat die Welt keinen Sinn, der Mensch kann nicht Mensch sein.
Nehmen wir doch präzise Beispiele: Es ist verboten, die Verslehre, die von al-Khalil3 systematisiert wurde, zu durchbrechen. Um Dichtung herzustellen, muß man von diesem traditionellen System ausgehen, ohne dies ist die Poesie ihres Namens nicht würdig. Auch ist jede Abweichung von der Syntax und der klassischen Verslehre als Verbrechen zu betrachten; ebenso wie übrigens die Nutzung der Sprache des einfachen Volkes. Entweder ist die Freiheit vollständig oder eben nicht! Wo ist heute der arabische Dichter, der es wagen würde, wie etwa Nietzsche oder andere in Europa es getan haben, Fragen zu stellen, Zweifel an der traditionellen Religion anzumelden oder ihr gar Ablehnung entgegenzubringen?
Wenn heute ein Dichter käme, der sich auf das Abenteuer einlassen würde, im Namen der Freiheit die Wahrheit zu suchen, die traditionellen Formen abzulehnen, die auferlegten Werte zu verlassen, wenn es ihm unterkäme zu zweifeln, zu kritisieren, sich zu befragen, das zu nehmen, was ihm wahr erscheint, und abzulehnen, was er für falsch hält; dieser Dichtet würde sofort zurückgewiesen und beschuldigt, gegen die arabische Sprache, gegen ihre Tradition, gegen die Religion ein Komplott zu schmieden. Er würde als „Fremder“ betrachtet. Um sich über diese Wirklichkeit Klarheit zu verschaffen, reicht es, die Diskussionen zu verfolgen, die im Libanon wegen der „Bewegung der heutigen Poesie“ stattgefunden haben (1961).
Eine solche verschlossene Konzeption von der arabischen Tradition, die in sich einen Anfang sieht, der einen definitiven Wert besitzt, ist zur gleichen Zeit eng und falsch. Sie deformiert geradezu diese Tradition. Ihre Verallgemeinerung hat lediglich religiöse, politische und nationalistische Gründe, die in der Vergangenheit aufgestellt wurden und die sich heute wiederholen.
So hat der arabische Dichter, vor allem seit der Zeit der ersten Abbasiden und bis heute in einer solchen Atmosphäre gelebt: in der einer geschlossenen Welt, unfähig, der Zukunft einen Sinn zu geben, denn diese Welt betrachtet sich selbst als die Zukunft. Die Konsequenz ist, daß die Höhe des Fortschritts immer darin bestehen muß, sich an die Vergangenheit zu halten, an das Goldene Zeitalter. Nun ist es aber die Haupteigenschaft der Poesie, prophetisch, Vision zu sein und die geschlossenen Horizonte zu durchbrechen, um eine weitere Weltsicht zu erreichen. Die Dichtkunst ist der ständige Versuch einer endlosen Überschreitung.
Gegenüber der traditionellen, religiösen Fixierung steht der dichterische Schwung. Gegenüber der Verschlossenheit in sich selbst, der Rückwendung in die Vergangenheit steht diese vertikale Öffnung, die unaufhörlich die Gipfel erstürmt und erforscht. Dies ist der erste Widerspruch, vor den sich unsere kulturelle Existenz gestellt sieht.
Es gibt aber noch einen anderen Widerspruch. Das Leben entwickelt sich, die Probleme verändern sich unaufhörlich, und der Mensch unterliegt einem ständigen Prozeß der Erneuerung, der Vervollkommnung seiner selbst, während die religiösen Texte immer die gleichen bleiben, weil sie als ewig angesehen werden, also gültig für ewig, wo auch immer, wann auch immer.
Letztendlich gibt es einen dritten Widerspruch, der diesmal die Sprache betrifft und dem Professor Berque ein Kapitel in seinem bemerkenswerten Werk Die Araber von gestern und heute gewidmet hat: Die Sprache wird als ewiges Absolutum angesehen, wobei sie tatsächlich nur der soziale Ausdruck einer bestimmten Zeit ist, unterworfen, konsequenterweise, der Veränderung, der Evolution und sogar dem Tode. Sie kann nicht aus Zeit und Raum herausgelöst werden und nicht in Rahmen gepreßt werden, die vorherbestimmt wurden, sie kann nicht anderen Gesetzen folgen als denen der Gesellschaft und der Evolution. Auch die arabische Sprache ist gefordert, ob man dies will oder nicht, sich progressiv unserer Gesellschaft anzupassen, in unserem Leben zu existieren, in unseren Mündern und nicht nur in Büchern oder Lexika.
Der arabische Dichter, der über diese Widersprüche hinwegkommen möchte, muß auch die enge und verschlossene Konzeption von der arabischen Tradition überwinden. Diese Überwindung ist weder willkürlich noch improvisiert. Sie fußt auf einem evolutionären und regeneratorischen Verständnis der Tradition. Diese Konzeption ruht in der arabischen Tradition selbst, geht aber über sie hinaus, indem sie als ein Teil angesehen wird und nicht als Ganzes, als Fortsetzung und nicht Beginn. Tatsächlich können wir die Elemente dieser Fortsetzung bei der Überprüfung der arabischen Tradition in ihr selbst finden. Ich erwähne nur einige Punkte:

1. Unsere Auffassung wird durch den Koran selbst bestätigt, den wir historisch als ein Indiz für die Fortsetzung ansehen können. Schließlich hat der Koran einen Teil der Thora übernommen, wie auch die Geschichte der biblischen Propheten, die Geschichten um Adam und Eva, das Paradies, die Sintflut usw. Archäologische Ausgrabungen zeigen, daß die Wurzeln dieser unterschiedlichen Zitate in der Antike in Syrien und im Irak liegen. Die Thora mußte sie übernehmen, um als etwas Besonderes zu erscheinen.
2. Wir finden analoge Überreste in der arabischen Poesie. Man denke nur an Abu-Nuwas, der von der Erfahrung städtischen Lebens singt, von seinen Zweifeln, seiner Verwirrung und von seiner Sorglosigkeit wie z.B. in seinen bitteren Witzen, die er über die Sensibilität des poetischen Universums der Beduinen macht. Man denke auch an Abu-Tammam, dessen Dichtung all den Reichtum einer früheren Zivilisation beschreibt; und Abu l-Ala al Ma’arri, dessen poetische Erfahrung Elemente eines viel früheren Denkens enthält, und weiterhin die Soufis, die von Mysterien aus der Gnostik und aus der antiken Mythologie erfüllt sind.
3. Es gibt einen Denkfaden, der von der Antike bis in die arabische Philosophie führt: Bei Farabi, Averroés, Avincenna, Ibn al-Rawandi, al-Rasi, bei den Ikhwan al-Safa wie auch bei den Quarmaten und den Mu’talisa entstehen Ideen wie die von der Ewigkeit der Welt, die Ablehnung der heiligen Schöpfung, der Prophetie und der Eingebung, und stattdessen die Bestätigung des Kausalitätsprinzips usw.
4. In der Religion selbst ist der batinitische Shiismus, der an Gott als Person glaubt, an die heilige Auferstehung und an die Dreieinigkeit, in der Lage, durch seine Interpretation des Koran seine Doktrin zu bestätigen anstatt den Koran als Fundament dieser Doktrin zu betrachten, so wie es die Sunna sieht. So sind die unterschiedlichen Doktrinen der batinitischen Shiiten letztendlich aus mehreren Elementen aus der antiken Zivilisation zusammengesetzt: babylonisch, hellenistisch und christlich.
5. Auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Physik, Chemie und der Medizin haben die Araber das wissenschaftliche Erbe der Völker zu bewahren gewußt, die der Islam erobert hat.
6. Wir finden heute in Edesse, Antioches, Jerusalem und Apamees große christliche Zentren inmitten der arabischen Welt.
7. Cordoba und Sevilla sind auch Glieder in der Kette, die bis nach Griechenland reicht und von der die arabische Zivilisation geerbt hat, ehe dieses Erbe auf Europa überging und daraus die moderne Zeit und die Renaissance entstanden.
So können wir beobachten, daß sie antike Zivilisation über die arabische Geschichte verlängert hat. Dieses Überleben ist eine fundamentale Regel der Zivilisation, die alle Formen des Lebens und des Denkens umfaßt, in der Religion, der Kultur und ebenso in der Ökonomie und der Landwirtschaft wie auch in den Mythen und den Volksmärchen. (Ist denn Sindbad ein anderer als der sumerische Gilgamesch oder der griechische Odysseus in die arabische Welt versetzt?) Nichts kann dieses Fortdauern der Zivilisation verhindern. Man sieht sie im Schatten der moslemischen Macht bei al-Rasi und Ibn al-Rawandi, in ihrer Suche nach der Wahrheit um der Wahrheit willen, in ihrem unerschütterlichen Glauben an die menschliche Vernunft überleben, wenn sie diese in ihrem Geist der Ergebenheit an die Freiheit und die Wissenschaft entdecken.
Die heutigen arabischen Dichter möchten dieses Geistesleben und diese Freiheit wiederentdecken und in dem Sinne verfolgen, in dem ihre Vorgänger sich mit großer Klarsicht engagiert haben. Sie wollen diese künstliche Isolierung überwinden, die aus dem arabischen Erbe eine definitive Realität macht. Sie meinen, daß der Rahmen der traditionellen Verslehre nicht das Prinzip darstellen kann, auf dem jede andere Produktion beruht. Sie betrachten dieses eher als Element einer globalen Zivilisation, das lange vor der arabischen Poesie und im mediterranen Orient entstanden ist. Ihre Inspiration kommt aus diesem kulturellen Ensemble und nicht nur aus einem Fragment davon. Dieses reiche Erbe zu ignorieren würde in ihren Augen bedeuten, die ersten Quellen ihrer Zivilisation abzuweisen. Es bedeutete auch, den Sinn der Geschichte zu verneinen und sich so des Raumes zu berauben, der unbedingt benötigt wird, um neue Denkmale errichten zu können. Was würde ihnen dann noch bleiben?

Wir sind jetzt so weit, eine dreifache Schlußfolgerung vorzuschlagen:

1. Vom historischen Standpunkt aus. –

Der heutige arabische Dichter ist sich darüber im klaren, daß die arabische Dichtung in einem limitierten kulturellen Rahmen entstand und daß sie deshalb Ausdruck einer engen Erfahrung und einer engen Sicht ist. Auf diese Basis hat sich die arabische Literaturkritik gestützt, um der Dichtung bestimmte Kriterien zuzuordnen. Diese ebenso begrenzten Kriterien sind fälschlicherweise für definitive Regeln gehalten worden.
Aber der heutige Dichter weiß auch, daß es im Verlauf der Geschichte der arabischen Literatur Dichter gegeben hat, die aus einem von dem traditionellen Beduinenmilieu verschiedenen geistigen und intellektuellen Umfeld kamen, und daß diese Dichter bereits vor ihm versucht haben, den geforderten Rahmen zu durchbrechen.
Er entgeht dem Mißtrauen nicht; aber anstatt wie damals als Chu ubi oder Sindik (Renegat) abqualifiziert zu werden, wendet man auf ihn das moderne Equivalent dieser antiken Bezeichnungen an: Ajnabi.4 Er wird zum „Agenten im Dienste des Imperialismus“ oder zu sonst einem Verbrecher. Paradoxerweise stellen wir fest, daß die heutigen Opfer dieser Beschimpfungen, ganz so wie es die Opfer früher waren, die besten Vertreter des arabischen kulturellen Erbes sind in dessen Namen sie gerade verdammt werden. Denn sie sind es, die mehr als andere dazu beitragen, daß die arabische Dichtung sich selbst überflügeln und bereichern kann, und die ihr einen Platz in der Weltkultur verschaffen. Es sei den Rückschrittlichen und Traditionalisten freigestellt, diesen Versuch als Aufweichung der eigentlichen arabischen Tradition anzusehen und sich hinter die Grenzen dieser Tradition unter Nutzung eines völlig falschen Überlegenheitskomplexes zurückzuziehen.

2. Vom Standpunkt der künstlerischen Schöpfung aus. –

Der heutige arabische Dichter weiß, wenn er seiner heutigen Erfahrung treu bleiben möchte, daß dies ihm unmöglich ist, ohne den Rahmen der traditionellen Dichtung zu durchbrechen. Er wäre sonst in ein Leben eingeschlossen, das nicht das seine ist, und seine Versuche wären ohne jede Glaubwürdigkeit. Eine unbedingte Unterwerfung unter die traditionellen poetischen Regeln bedeutet für die Dichtkunst einfach Selbstmord.
Der heutige arabische Dichter möchte der arabischen Dichtung lediglich ihre beschwörerische Transparenz erhalten. Er möchte der Vergangenheit Sinn verleihen, indem er seinen Erfahrungen etwas hinzufügt, das einer Reminiszenz ähnelt, damit in seinem Wort die Vollständigkeit der Geschichte hervortritt; mit anderen Worten: er will die Beengung durchbrechen und sehen, wie sich die Grenzen für die Zukunft öffnen.
Das, was einen solchen Gesichtspunkt unterstützt, ist die Tatsache, daß die arabische Sprache die Schwester anderer semitischer Sprachen ist. Alle sind in einem gemeinsamen geographischen Milieu entstanden, das wiederum zur Verbreitung der arabischen Sprache besonders beigetragen hat. Außerdem sind die Araber ein semitisches Volk; sie erscheinen den anderen semitischen Völkern geistig und mental so wie die Aramäer, die Phönizier u.a. Man kann unterstellen, daß diese Völker die gleiche, durch Sprachen aus derselben Familie interpretierte Tradition haben.
Weiterhin hat diese Tradition einen historischen Sinn, einen Wert, der weit über die Grenzen des Nationalismus hinausgeht, um sich der ganzen Menschheit zu öffnen. Wenn die semitischen Völker des Mittleren Osten eine einzige Tradition haben, so ist dies nicht nur der Sprache zuzumessen, sondern der Tatsache, daß sie Teil der menschlichen Tradition ist, des kulturellen Erbes der Menschheit.
Diese Haltung anzuerkennen würde bedeuten, die arabische poetische Tradition der höchsten Vollendung entgegenzuführen; wenn aber nicht, bliebe diese Poesie eine Randbemerkung des Lebens, eine Stimme ohne Echo. Wenn man es so sieht, hat man das Recht zu behaupten, daß das, was man die arabische „Renaissance“ im XIX. Jahrhundert nennt, auch nur eine Randerscheinung gewesen ist. Was die Yazigi und Chauqi von sich behaupten, beigetragen zu haben, war tatsächlich nur eine neue Ornamentik auf alten Farbschichten, eine Verlängerung des traditionellen Zyklusses, wo keinerlei Bresche geschlagen wurde und sich kein Fenster öffnete. Wobei sie allerdings bei den Dichtern in der Emigration etwas authentischer wurde.
Könnte der heutige arabische Dichter ohne die traditionelle Poesie noch seine neuen Verse schreiben? Wie könnte er wirklich den Nachweis einer authentischen, schöpferischen Sicht erbringen, wenn er sich nicht zuerst einmal von der alten Sehweise reinigt? Wie könnte er uns zu einer radikalen Veränderung des Lebens und des Denkens auffordern, wenn er vorher nicht selbst die Schmerzen dieser Veränderung ertragen hat, d.h. wenn er nicht die Ketten zerrissen hat, die ihn an die gewohnte Welt gebunden haben, damit sich in ihm, in seiner geheimen Tiefe die Risse und Spalten zeigen, aus denen der Ruf nach einem neuen Leben hervordringt?
Es ist richtig, daß die dichterische Schöpfung organisch mit der Tradition verbunden ist. Aber diese Bindung bedeutet doch nicht einfach, die alten Stile und Modelle zu imitieren. Es bedeutet genauso wenig, daß man sich innerhalb ihrer Normen und ihres geistig-künstlerischen Klimas einschließt. Denn Tradition ist nicht die Gewohnheit, über bekannte Themen oder über Gefühle zu schreiben, über die man schon immer geschrieben hat; es ist die lebendig schöpferische Kraft, die, wenn sie von der Herkunft ausgeht, die Vergangenheit verformt und durch eine prophetische Geste in die Zukunft schaut. Unsere Bindung an die Tradition ist Bereicherung, Tat und Schöpfung, es ist eine prophetische Bindung, die auf die Vergangenheit zurückgreift, um die Zukunft vorauszusehen.

3. Letztlich auf dem Gebiet der Zivilisation. –

Der heutige arabische Dichter weiß, daß das arabische Erbe nur ein Teil eines viel weiteren Erbes ist, in welches er es einfügen möchte, um es vor der Isolierung und damit vor dem Tode zu bewahren.
Das Mittelmeer, von Karthago über Alexandrien und Beiruth, um in Antiochia zu enden, nachdem es auch Sumer und Babylon umfaßt hat – dies ist der Rahmen, in dem unsere Kultur wurzelt. Dies ist die Herkunft, die die Griechen übernommen und weitergeführt haben, in einer in ihrer Art einzigartigen intellektuellen Bewegung, die die Basis der modernen Zivilisation darstellt. Dies ist die Herkunft aller anderen Traditionen, aus dieser Tradition sind alle Dinge entstanden, und es ist unmöglich, sagt Cicero, daß diese Quelle versiegt.
Die heutige arabische Dichtkunst gehört zu dieser Welt; indem sie diese betritt, wird sie nicht westlich, sondern mediterran.

 

 

 

 

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Nachrufe auf Siegfried Heinrichs: Tagesspiegel ✝︎ collegium novum

 

Reportage von Axel Reitel: Wer war Siegfried Heinrichs?

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Dichter Adonis wird 80
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Adonis: Syrischer Dichter feiert 80. Geburtstag
sarsura-syrien.de, 31.12.2010

Tilman Krause: Dichter Arabiens: Adonis wird 80 Jahre alt
Die Welt, 31.12.2009

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stefan Weidner: Ewige Wiederkehr
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.1.2020

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Adonis liest seine Gedichte auf dem Prager Schriftstellerfestival 2009.

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