Albert von Schirnding: Zu Gottfried Benns Gedicht „Worte“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Gottfried Benns Gedicht „Worte“ aus dem Gedichtband Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. −

 

 

 

 

GOTTFRIED BENN

Worte

Allein: du mit den Worten
und das ist wirklich allein,
Clairons und Ehrenpforten
sind nicht in diesem Sein.

Du siehst ihnen in die Seele
nach Vor- und Urgesicht,
Jahre um Jahre – quäle
dich ab, du findest nicht.

Und drüben brennen die Leuchten
in sanftem Menschenhort,
von Lippen, rosigen, feuchten
perlt unbedenklich das Wort.

Nur deine Jahre vergilben
in einem anderen Sinn,
bis in die Träume: Silben −
doch schweigend gehst du hin.

 

 

Das Siegen ist Sache der anderen

Was sind Clairons? Als das Gedicht „Worte“ erschien, im Herbst 1955 in dem schulheftschmalen Limes-Band Aprèslude, lernte ich es auswendig. Es kam mir nie mehr aus dem Sinn, aber erst jetzt habe ich die „Clairons“ nachgeschlagen. Es handelt sich um Signalhörner, das akustische Zubehör zu den „Ehrenpforten“. Ich vermißte die Bedeutung nicht. Der französische Klang genügte: Wie der Titel von Gottfried Benns letzter Lyrikpublikation erinnerte er an die Vorliebe des Dichters für romanische Formenstrenge. Unter die Verse hatte ich Mallarmés Satz geschrieben: „Nachdem ich das Nichts gefunden hatte, fand ich die Schönheit.“
Die alte Weise: Noch einmal stimmte der in die Jahre gekommene Orpheus sie an; das Gedicht ist im März 1955, ein gutes Jahr vor Benns Tod, entstanden. Ein Gedicht über den Dichter, sein „Einsamer nie“ und sein „Gegenglück“: den Geist. Nur daß hier vom siegessicheren Glauben an die Form, die aus Sprache gemeißelten Statuen, nichts übriggeblieben ist.
Das Siegen ist Sache der anderen, denen zu Fanfarenklängen die Triumphbögen dieser Welt errichtet werden. Wer mit den Worten allein ist, gehört auf die Verliererseite. Der Kampf des Künstlers mit seinem Material endet mit dem wiederholten Eingeständnis des Scheiterns: Kein Fund belohnt die qualvolle Suche nach sprachlicher Gestaltung der inneren Bilder („Vor- und Urgesicht“), die Spur des dem Wort Verschriebenen mündet ins Schweigen.
Und wieder und noch einmal der Blick nach drüben zu den Glücklichen, die sich der Sprache lediglich als Kommunikationsmittel bedienen, unbekümmert um den Ausdruckswert von Silben, die den Dichter bis in seine Träume verfolgen. Die dritte Strophe imaginiert eine Sommernacht in der Großstadt: auf dem Nachbarbalkon eine kleine Gesellschaft, bei Wein und Kerzenschein die Stunden verplaudernd.
„Nur deine Jahre vergilben / in einem anderen Sinn:“ Das klingt wie die Quintessenz des Vortrags, den Benn eineinhalb Jahre vor der Niederschrift des Gedichts in München gehalten hatte und dem der achtzehnjährige Student lauschte, als ginge es um die zentrale Frage seines Lebens: „Altern als Problem für Künstler“. Wir alle waren Benn-berauscht, Benn-süchtig, bis in unsere Träume verfolgt von den Strophen und Reimen des Dichters. Den Inhalt des Vortrags hatte ich bald vergessen; was sich einprägte, unverlierbar, waren Rhythmus und Melodie der Sätze und Satzsequenzen. Und ebenso übertönt die Melodie dieses Gedichts, dieser das Glück des Wortefindens aufhebenden, in Vergeblichkeit und Verstummen zurücknehmenden „Worte“ nun schon seit vier Jahrzehnten seine inhaltliche Botschaft.

Albert von Schirnding aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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