Aleš Šteger: Buch der Körper

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Aleš Šteger: Buch der Körper

Šteger-Buch der Körper

Zuerst woanders.
Wo keine scharfen Grenzen.
In einem blauen Raum.

Zweitens nirgends.
Wo alles ausharrt.
In einem blauen Raum.

Drittens, wo du harrst.
Vergraben ins Aber.
Trotzig dein eigen.

Leer entfaltet sich.
Dein Ort Verlust.
Und du sein untrennbarer Teil.

Letztlich niemals.
Noch weniger danach.
In einem blauen Raum.

 

 

Aleš Šteger liest u.a. „Zuerst woanders…“

 

 

Der Körper ist kein Paradies

Alles ist möglich.
Alles vielleicht.
Und fast nichts.

Der Körper ist endlich. Diese Erfahrung macht jeder Mensch einmal. Oder zweimal? Zwanzigmal? Buch der Körper, das ist ein ebenso religiöser wie verschmitzter Titel, besonders wenn man sich vor Augen führt, dass Buch „der Körper“ ebenso den Plural ins Feld führt wie Aleš Štegers international erfolgreiches Buch der Dinge (2007).
Wir halten hier kein Buch vor uns, dass seinen spezifischen Verfasser offenbart, kein „Buch Hiob“ oder „Buch Ruth“. Aber auch kein Evangelist zeichnet verantwortlich, kein Markus, Lukas, Matthäus, Johannes nimmt sich unserer an. Auf solch eine einheitliche Sprecherfigur verzichtend, entwickelt Šteger eine neue Form des Erzählens in Versen: Dinge, die sprechen, Körper die sprechen. Und besprochen werden.

Mit der Metapher des Buchs wird Lesbarkeit behauptet. Wer die Körpersprache richtig beherrscht, suggerieren die Apologeten der Rhetorik, ist der erfolgreichere Kandidat im wirtschaftspolitischen Überlebenskampf. Noch die kleinsten Gesten und Regungen der Gesichtsmuskulatur beim Gegner richtig zu analysieren, verschafft die entscheidenden Vorteile, um nicht selbst übertölpelt und manipuliert zu werden.
Der Körper kennt nur eine Sprache, seine eigene, das macht ihn einzigartig, unübersetzbar. Und doch ist er in vielen Formen vorhanden. Jeder Körper bleibt schmerzlich bei sich, wenn es um die großen Themen geht, Geburten, Liebe, den Tod.

Ich versuche mir die Zellteilung vorzustellen, das Wachsen, die einzelnen Phasen, in denen sich aus Gameten Organe bilden, Augen, beide Hände, Finger. In der fünften Woche ist alles nur reine Möglichkeit, ein Plan, der in den Fötus eingeschrieben ist. Reine, noch unbeschriebene Zeitlichkeit. Doch das Herz ist schon geformt, es pocht schon. Hier endet die Phantasie. Was für ein Gebot bringt ein paar Zellen zum regelmäßigen Pulsieren? Was für Möglichkeiten verbergen die Teilchen, die meine Sprache als vernachlässigbare bezeichnet. Ist nicht jedes diakritische Zeichen, jeder Staubteil, jeder noch so flüchtige Gedanke ein potentielles Fötusherz? Und was bedeutet das fürs Gedicht, den Überbringer der Botschaft?

Šteger versetzt in Buch der Körper seine Leser in eine utopische Welt. Er steuert Geburtsorte an. Räume, in denen sich das isolierte Ich, der Stadt- und Liebeseremit, mit seinen Doppelgängern beratschlagt, den anderen Körpern und ihren unendlichen Endlichkeiten. Völlig klar ist, dass wir es am besten dem (erfundenen) Stamm der Tudaraner nachtun sollten, die sich, einer (fingierten) Entdeckung Alexander von Humboldts zufolge, wie die Bären nur brummend und summend verständigten, in einer Sprache nicht frei von Interpretationen, aber – immerhin – frei von Lügen. Wie wäre das für uns? Stellen wir uns uns einmal als Tudaraner vor, wie wir durch die Buchseiten summen, wie wir um die Wette brummen mit dem leisen Batteriegeräusch unseres textpads oder Computers.
Das slowenische Alphabet besteht aus 25 Buchstaben. Buch der Körper umfasst jeweils 25 Gedichte in drei Kapiteln. „Das“, „Dort“ und „Dann“ heißen sie. Ein poetisches Triptychon. Neben der Zahl 3 treffen wir immer wieder auf die Zahl 5: Das erste und das zweite Kapitel bestehen aus je fünf Strophen, fünf Abschnitten.

Am Anfang steht das Staunen.

Einer aus Nichts. (…)
Mal zu zweit. (…)
Einer aus einem.

Das kleine poetische Einmaleins zickt herum. „Drei aus Zwei“, das hört sich immerhin nach Liebe an, und nach Fortpflanzung, Fortsetzung. Das erste Gedicht Štegers stellt die Frage nach der Herkunft allen Lebens aus dem einfachsten Prinzip, der Aufzählung. Aber das Gedicht endet nicht in der Addition, das Spiel läuft auf die Nullsumme zu, die innere Mathematik ist erbarmungslos:

Zwei mit Einem.
Zwei ohne Einen.
Zwei ohne mal.

Zweimal Einer.
Einmal Einer.
Einer ins Nichts.

Das liest sich eher wie die Depressionskurve eines alle Herzensdinge schleifen wollenden Arithmetikers. Vergangenheit verfolgt uns wortwörtlich, weil jede Handlung, jedes Sprechen – konsequent zu Ende gedacht – in die Einsamkeit führt. Wie erwachsene Kinder bewegen wir uns mit der Sprache Štegers mal in Weltformeln, Witzen, Wiederholungsschleifen.
Sprache ist real, aber der Körper ist ein Mysterium – das Gedicht bleibt der Versuch, Dingliches, Körperliches zu fassen. Dem ungläubigen Thomas konnte Christus erlauben, sein geschundenes Fleisch zu fühlen. Dem Leser müssen die Worte genügen. Das Eigentliche entzieht sich. Es gibt nur den Textcorpus, ein dauerndes Parlando der Selbstverweise, Sprache auf der Suche nach einem Ausgang. Der Mittelteil, „Dort“, Štegers phantastische Prosagedichte, machen den Versuch, diese vergebliche Deixis unserer täglichen Beschäftigungen, immer halbvergifteten Erinnerungsdosen und Betrachtungen nachzuvollziehen.

Im letzten, dem dritten Kapitel, „Dann“, stellt Aleš Šteger seine Lieblingswörter aus. Wörter, die etwas aussagen über den Dichter und seine Obsessionen. Eine Wortliste, die sich als bedeutsamer erweist als die Liste unserer Lieblingsfilme oder die Liste der Orte, an die wir noch reisen wollen, bevor wir tot sind. „Dann“ buchstabiert sich durchs slowenische Alphabet, von a, aber, bis že, schon. Es sind Gerüste der Dichtung, Kernwörter, die eine Art Gelenkflüssigkeit im Skelett der Sprache darstellen: als könnten wir in diesem Kapitel der Entwicklung eines Gedichts noch vor seiner Geburt in den Ausdruck zusehen. Aber die Sprache ist eigensinnig. Sie ist ebenso ein Körper, der wächst, der blutet, wenn man ihn schneidet, und der sich verwundert in den Arm kneift.

Das Wort a, aber,
Kaum in die Welt gesetzt,
Fast nur ein Buchstabe,
Aber schon aber,
Ein Ausnahmeort,
Wo der Gedanke bricht
Ins eigene Gegenteil.

So kann die Lektüre von Buch der Körper vieles sein: ironisches Spiel, Exerzitium, seltsamer Einblick ins Innenleben der Dichtung, radikale Denkfigur – und manchmal eine Offenbarung. Diese dauernde Kippfigur, die sprachliche Bewegung, macht Aleš Štegers Poesie so unverwechselbar.

Matthias Göritz, Nachwort

 

Fünf Jahre

nach seinem Buch der Dinge setzt Ales Steger mit Buch der Körper die poetische Erkundung der Welt und ihrer Möglichkeiten mit einer faszinierenden Leidenschaft für kühne Metaphern und starke Bilder fort.
Buch der Körper ist der fünfte Gedichtband des slowenischen Dichters Aleš Šteger, der virtuos die lyrische Formensprache mit neuen Inhalten bereichert hat. Šteger, einer der international bekanntesten Dichter seiner Generation, hat sein Buch in drei Teilen angelegt. Im ersten Teil, „Das“, findet ein Paar erst nicht und dann doch zueinander. In den Prosagedichten aus „Dort“ wird die Welt als reicher und zugleich einsamer Ort bereist. Abschließend kommt in „Dann“ das „Alfabet“ zum Zuge; buchstabiert wird die Möglichkeit der Sprache aus dem Glutkern eines Worts.
Der Körper ist kein Paradies, aber in der Sprache Štegers verwandelt er sich in ein großes Mosaik der Träume. Mal hart, mal gewagt beginnt sich der Leser selbst als etwas Lebendiges zu erfahren, als zersplitterter Körper in einem tödlich ernsten, schönen Spiel.

Schöffling & Co., Klappentext, 2012

 

Ein Versuch über die Farbe der Fremdheit

„Wir wissen eigentlich noch gar nicht, was eine Übersetzung sey“, schrieb der Romantiker Friedrich Schlegel im Jahr 1797 – und stolperte damit über ein Dilemma, das bis heute fortbesteht. Denn das Übersetzen von Poesie ist immer mit der Erfahrung eines Verlusts verbunden. Wer große Dichtungen aus ihrem Urtext in eine andere Sprache übertragen will, dem widerfährt unvermeidlich das prinzipielle Ungenügen des eigenen Tuns. In seinen Kritischen Fragmenten hat Schlegel bereits vor über zweihundert Jahren dieses literarische Defizit beschrieben:

Was in gewöhnlichen guten oder vortrefflichen Übersetzungen verloren geht, ist grade das Beste.

Was kann also der Übersetzer wirklich leisten? Ist er tatsächlich jener polyglotte Brückenbauer, der, überschaubare Textsegmente von einer Sprache in die andere transportiert? Oder ist er nicht vielmehr ein permanent Schiffbrüchiger, der das scheinbar sichere Gestade einer Sprache verlassen hat, ohne je das feste Ufer des gesuchten Eilands zu erreichen? Glaubt man dem Dichter Peter Waterhouse, dann geht es nicht darum, ein Gedicht aus einer Fremdsprache benutzbar zu machen für einen deutschen Leser. Es geht nicht um die Heimholung des Fremden ins Vertraute, sondern darum, diese Fremdheit als poetische Ressource zu erkennen:

Übersetzen: nicht ,aus dem Italienischen‘ ins ,Deutsche‘ übersetzen, sondern eine italienische Sprache oder eine fremde Sprache in der deutschen finden, das ungesprochene Deutsch vielleicht, das unbekannte, das vergessene. Das Deutsche wieder unbekannter machen.

Das Terrain des literarischen Übersetzers ist also nicht das Bekannte und Vertraute, sondern das Fremde und die Differenz. Jede gelungene Übersetzung, so schrieb Friedrich Schlegels Zeitgenosse Wilhelm von Humboldt, trägt „eine gewisse Farbe der Fremdheit“ in sich. Eine Fremdheit, die nicht zu tilgen, sondern zu bewahren ist. Man kann noch weiter gehen und festhalten: Großen Übersetzungen ist paradoxerweise immer ein Scheitern eingeschrieben. Denn je ambitionierter sie einen poetischen Urtext in ihre Zielsprache überführen wollen, desto weiter entfernen sie sich von den Baugesetzen des Originals. Je virtuoser ein Übersetzer seine Fähigkeiten zur Nachdichtung entfaltet, desto stärker schiebt er sein eigenes sprachliches Zeichensystem über das des Urtextes.
Dennoch hat diese Arbeit nahe am Scheitern nichts von ihrer ästhetischen Faszination eingebüßt. Und auch wenn das Abenteuer der Übersetzung sich immer mit den Begrenzungen dieser Arbeit herumschlagen muss, gibt es doch immer wieder beglückende Versuche, Poesie und Übersetzung in ein symbiotisches Verhältnis zu bringen. Der slowenische Dichter und Übersetzer Aleš Šteger erprobt in seinem 2011 auf Deutsch publizierten Gedichtband Buch der Körper zum Beispiel eine Annäherungsbewegung an Wörter, die sich ihm beim Transport von der einen in die andere Sprache entziehen. Štegers Übersetzer, der Dichter Matthias Göritz, ist ihm auf diesem Weg in die „Verschlossenheit“ des sprachlichen Materials gefolgt:

Ich träume ein Wort, verliere es im Moment des Erwachens. Ich verstehe es nicht im Traum, das Wort in deiner Sprache. Du versuchst es zu erklären, wieder und wieder. Es geht nicht. Das Wort will nicht in meine Sprache. Du nimmst eine Flasche, zeigst den Korken. Du hörst nicht auf zu erklären. In einer Sprache ohne Worte, sagst du, in einer Sprache, träumerisch und stumm, sagst du, dass dieses Wort nicht zulässt, dass die eine Seite auf die andere wechselt, dass das Wort selber in sich so verschlossen ist, dass es nicht mal das Wort Undurchlässigkeit durchlässt, das meine, das deine, das Wort von irgendjemandem für den Übergang – auf die andere Seite…

Die erhoffte „Durchlässigkeit“ des sprachlichen Materials stellt sich nicht ein, der Übersetzer sieht sich mit dem Opaken und der Verschlossenheit der einzelnen Wörter konfrontiert. Und doch versucht er, in einer neuerlichen Annäherungsbewegung dem Geist des Originals gerecht zu werden. Noch komplizierter wird es, wenn das literarische Original selbst aus heterogenen Sprachschichten gebaut ist.

(…)

Michael Braun, Volltext, Heft 3, 2013

„So weite Himmel in so engen Körpern, denke ich…“

– Aleš Šteger gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Lyriker in Slowenien. In seinem neuen Gedichtband Das Buch der Körper befasst sich der 1973 Geborene mit den Grenzen des poetischen Sprechens: Auf der Suche nach dem Körper gelangt er immer wieder an den Rand seiner eigenen Sprache. –

„Ich bin nur eine Begegnung von Gedanken.“ In seinem neuen Gedichtband Das Buch der Körper nimmt Aleš Šteger eine Fragestellung auf, die ihn seit Mitte der 90er-Jahre beschäftigt; es ist die Suche nach dem Ich im Gedicht, nach einem Ursprungsort der Rede, der weder einfach auf die Worte, noch auf den Körper zurückzuführen ist. Fünf Jahre lang hat Aleš Šteger am Buch der Körper gearbeitet – nach dem erfolgreichen Buch der Dinge von 2006 konzentriert sich Šteger nun auf die Frage, wie weit die Sprache dem körperlichen Empfinden folgen kann.

Beim Buch der Dinge ist ja wirklich der Ansatz das Ohr, das Erlauschen. Es steht natürlich noch immer infrage, wem gehört dieses Ohr, wer ist der, der dieses Ohr trägt, aber es ist das Ohr, das eigentlich das Sprechen der Dinge vernimmt. Im Buch der Körper ist die Perspektive eigentlich umgedreht: das Sprechen ist viel präsenter, ist viel eigentümlicher als im Buch der Dinge.

In dem neuen Gedichtband konzentriert sich Šteger auf die Frage, wie weit die Sprache dem körperlichen Empfinden folgen kann. Das fast sprichwörtliche In-sich-hinein-Hören stellt Šteger zunächst einmal infrage. Zumindest die Sprache weiß über dieses Innen wenig Auskunft zu geben.

Der Körper als solcher entzieht sich der Erfahrung der Sprache. Die Sprache ist ein Alien im Körper. Die Sprache kümmert sich um den Körper eigentlich nicht besonders.

Und trotz dieser scheinbaren Eigenständigkeit der Sprache ist sie doch unmittelbar mit dem Körper verbunden. Eine Ambivalenz, die der Autor aufnimmt.

Sprache ist etwas Physisches, ist etwas Taktiles, ist etwas Körperliches. Der Körper als solcher ist etwas sehr Abstraktes, etwas, mit dem man eigentlich nicht viel anzufangen weiß. Über den man fast nichts oder gar nichts sagen kann. Die Sprache wird festgehämmert in Versen, der Körper aber fließt davon.

Das Buch umfasst drei Teile, die wie einzelne Bücher je eigene Zugriffe behaupten. So finden sich im ersten und im Schlussteil stark reduzierte Gedichte, die, vorsichtig tastend, das Gesagte zur Membran werden lassen, ohne dass man zwischen Innen und Außen noch unterscheiden könnte. Gerade auf das Wechselverhältnis von Worten und dem Körper richtet Šteger sein Augenmerk. Er unterläuft so im poetischen Sprechen die klassische Unterscheidung von Innen und Außen.

Wenn es ein Innen gäbe, dann wäre das eine feste Identitätsstruktur. Man braucht ja als Teenager sehr lange, um rauszufinden, dass eigentlich das eigene Zentrum außer einem steht, dass es eigentlich nicht als solches existiert, sondern es existiert nur Bewegung, kreisend von verschiedenen Vorstellungen, was das Ich sein könnte.

Aleš Šteger tastet die Oberflächen der Sprache mikroskopisch ab. „Aus fast nichts ein wenig“: das Hervorgehen eines Gedichts und der Ort der Worte selbst werden befragt. So auch in dem Gedicht „Das Wort Ende“:

[…]
Ende des Gedichts.
Kein Ort,
Unbestimmtheit,
Körper,
Nicht der meine,
Nicht der deine,
Restkörper.
Geht durch uns zwei,
Wie eine Nadel,
Wie das Wort Nadel.
Nichts hat sie zusammengenäht,
Nichts aufgetrennt.
Das Wort sticht ein,
Der Körper seufzt,
spreizt die Zunge,
Obwohl nichts
Geschieht,
Wurde alles
Noch einmal
Vollbracht.
[…]

Im mittleren Teil des Gedichtbands, „Dort“, arbeitet der Autor mit Bildern und narrativen Momenten, die er im restlichen Teil des Buches verwehrt. Es sind Prosagedichte, die von sehr konkreten Notaten, Spaziergängen, Begegnungen, bis zu wissenschaftlichen Textsplittern aufgefächert sind: „dort“, das sind Grenzgänge, in denen das Erinnern als „unausweichliche und präzise Feinmechanik des Tagträumens“ befragt wird. Die Bruchstellen von persönlichem Erleben und Fremdmaterial verweisen für Šteger jedoch gerade auf den Mehrwert des Gedichts.

Ich las viel über den Körper, natürlich habe ich mich damit dann auch theoretisch auseinandergesetzt, aber ich bin fest überzeugt, dass diese Nahrung eigentlich gut verdaut sein muss und dass man das Gedicht eigentlich tötet, wenn man es als Interpretationspolygon für Theorien betrachtet.
Das Gedicht ist intelligenter, es ist komplexer, es braucht natürlich einen ganz anderen Zugang als Theorie, Theorie geht immer auf einleuchtende, geschlossene Gedankenführung, die sich in einem engen, logischen Raum befinden, zurück, das Gedicht ist viel breiter.

25 Buchstaben hat das slowenische Alphabet und jeder Teil des Gedichtbands umfasst 25 Gedichte. Es ist ein präziser Rahmen, in dem Šteger seine Untersuchungen an den Rändern unserer Sprache vollzieht. Gerade der dritte Teil verlangt, sich ganz auf die Bewegungen der Sprache selbst einzulassen. Der Körper ist in den Gedichten kein einfacher Ankerpunkt; er ist das, was sich entzieht, so wie die Worte selbst. Gerade diese Wechselbeziehung von Sprache und Körper wird zum eigentlichen Ort der Rede. Nur eines kann diese Sprache nicht, Halt bieten: Dem flüchtigen Körper stellt Šteger eine flüchtige Sprache hinzu.
So in dem Gedicht „Das Wort Rettet,“ in hervorragender Übersetzung des Lyrikers Matthias Göritz.

[…]
Manchmal
Wünscht
Der Körper sich,
Wort
Zu sein.
Ein ungelöstes
Rätsel.
Manchmal wird

Der Körper
Zu einem
Wort.
Das Wort
Wird nie
Körper,
Braucht ihn aber
Zur Rettung
Von Worten.
Der Körper braucht das Wort,
Um zu anderen
Körpern
zu sprechen.

Das Wort
Braucht
Den Körper,
Um das Wort
Zu retten,
Das anderen
Wörtern
Sagt,
Dass es
Keine Rettung gibt.
Beide,
Körper
Und Wort,
Werden gerettet,
Doch nicht in
Worten,
Nicht in
Körpern,
Sagt ein Wort
. […]

Wie Verweise auf eine Kindersprache lesen sich die kurzen Kapitelüberschriften „Das“, „Dort“ und „Dann“. Šteger deutet in ihnen auf den Akt des Zeigens, in dem das Kind sich der Welt mit ersten Worten und Lauten nähert.

Das Kind zeigt ja mit dem Zeigefinger, und es sagt einsilbige Wörter wie to, tam, to, to, also das, das, ich möchte das. Schon besteht eigentlich alles, was Poesie ist, in diesem Akt und in der Unmöglichkeit des Aktes. Es kann eigentlich noch nicht sprechen das Kind, aber schon ist die Unmöglichkeit des Sprechens darin. Und da zeigt sich das ganze Unvermögen der Sprache über das, was der Körper sagt, irgendetwas zu sagen. Deshalb ist auch dieser ausgestreckte Zeigefinger so wichtig. Die Sprache versucht, ihm zu folgen, aber das wird sie dann wahrscheinlich später nie mehr tun, so wie bei einem kleinen Kind.

Es sind Randwörter, denen Šteger sein Augenmerk schenkt, Wörter, die im slowenischen selten gebraucht werden. Mit seiner Widmung an den großen slowenischen Lyriker Dane Zajc, der 2005 verstorben ist, stellt er sich zugleich in eine Tradition, in der ein existenzielles Fragen zum Motor poetischen Sprechens wird.
Im Buch der Körper, in der gelungenen Übersetzung von Matthias Göritz, wird der Leser Zeuge des Zusammenspiels von Prosagedicht und äußerst reduziertem Wortmaterial. In diesem Zusammenklang weist Aleš Šteger in großer Konzentration auf den Ort, den Sprache immer umkreist, aber nie ganz erreicht. Das Buch der Körper ist eine Einladung, die Grenzen unseres sprachlichen Vermögens noch einmal neu zu überdenken.

Anja Kampmann, Deutschlandfunk, 27.6.2013

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Kristoffer Cornils: Buch der Körper. 24 Kommentare
fixpoetry.com, 15.10.2012

Thomas Scholz: Aleš Šteger: Buch der Körper
faustkultur.de, 13.12.2012

Susann Hoch: Buch der Körper
susannhoch.de

Sprechen wir über Lyrik

Lesung: Aleš Šteger und Matthias Göritz; Moderation: Thomas Geiger am 6.11.2012 im Literarischen Colloquium Berlin

 

 

Die Welt, die Dinge, der Mensch, die Sprache

Lea Fiestelmann: Die zweite Poetica steht unter dem Motto „Blue Notes“. Welche Bedeutung hat die Farbe für Sie und Ihre Literatur?

Aleš Šteger: „Blue Notes“ hat zunächst einmal etwas Musikalisches. Blue Notes ist ein bekanntes Jazz-Label. Viele der eingeladenen Autoren sind literarische Amphibien, das heißt sie sind sowohl in der Lyrik wie auch in anderen Formen zuhause. Sie haben herausragende Prosabände geschrieben, Romane, Dramen, einige schreiben für Punk- oder Rockbands und einige begeben sich beispielsweise mit visuellen Künstlern in ganz neue Formen. Es handelt sich also um Autoren, die gerne im Sinne von Free Jazz experimentieren. Die Farbe Blau als solche hat in verschiedenen Kulturen ganz unterschiedliche Konnotationen, und da es ein Festival für Weltliteratur ist wollen wir über diese verschiedenen Varianten von Blau reden. Im angelsächsischen Raum gibt es diese starke melancholische Konnotation:

I feel blue.

Wenn man in meiner Sprache zu jemandem sagt er sei blau, heißt das er ist weise. Auf Deutsch ist das etwas ganz anderes. Hier versuchen wir mit diesen Facetten zu spielen und sie aufzufächern. Eigentlich wird dies als Ausgangspunkt für sehr verschiedene Themen genutzt. Ich glaube wir werden in dieser sehr zugespitzten, geschichtlichen Situation nicht umhinkommen über Politisches zu reden. Das blaue Meer, das Mittelmeer, ist zu einem Grab für unzählige Flüchtlinge geworden. Wie reagiert man als Schriftsteller heute auf diese dringenden gesellschaftlichen Fragen? Wie beeinflusst das unser Wahrnehmen? Das sind Fragen, die hoffentlich aufkommen werden.

Fiestelmann: Bei der letzten Poetica waren politische Fragen auch direkt im Programm verankert. Sind diese jetzt eher unterschwellig eingeflossen?

Šteger: Das Politische war vor allem in dem Gespräch über die Ukraine und Joseph Brodzkis Gedicht verankert. Dieses Mal haben wir das nicht so direkt ansetzen wollen. Ich weiß aber, dass viele der Autoren sich zu diesen Zukunftsfragen geäußert haben. Das Politische wird somit ganz bestimmt zum Vorschein kommen. Es sind sehr unterschiedliche Autoren und jeder bringt seine eigene Weltauffassung und seine eigene Sprache mit. Es ist oft schwierig einen gemeinsamen Nenner zu finden, sodass man sehr behutsam sein muss und in der ganzen Woche diesen Nenner suchen wird. Während der Poetica können wir hoffentlich einen tieferen Austausch haben, als es sonst oft bei literarischen Veranstaltungen der Fall ist. Das Literaturbusiness funktioniert inzwischen sehr unter Zeitdruck: Man wird eingeflogen, man hat ein Interview, man liest und dann ist man schon am nächsten Tag wieder weg. Die Poetica schafft eine wirkliche Ausnahmesituation, bei der ausgewählte Autoren auf engstem Raum in verschiedensten Formaten eine Woche zusammen sind. Auch im Vergleich zu anderen Festivals ist das sehr viel Zeit. Man ist normalerweise auch viel mehr inkognito und kann sich eher zurückziehen. Für die Poetica haben wir explizit nach Autoren gesucht, die das Aufeinandertreffen suchen. Dadurch erhoffe ich mir, etwas Nachhaltiges zu schaffen, sowohl beim Publikum als auch bei den Autoren.

Fiestelmann: Was macht dieses Spiel der „literarischen Amphibien“ mit den unterschiedlichen Textformen für Sie aus? Bietet dies vielleicht eine Art Mehrgewinn für die einzelnen Gattungen?

Šteger: Das ist eher eine individuelle Frage. Für mich hat es sich so ergeben, dass ich mich vor 15 Jahren in der Gefahr sah, mich als Lyriker zu wiederholen. Ich habe mich daher dazu entschlossen, mich in anderen Formen zu versuchen. Es ist also manchmal mit einem Entschluss verbunden, während man auch von der Sprache selber oder vom Material verführt werden kann. Man hat einen Einfall und weiß instinktiv, dies wird nicht nur ein Gedicht oder ein Gedichtzyklus, daraus könnte man viel besser etwas in Prosaform machen oder etwas für das Theater. Es entwickelt sich ein Gefühl, das nicht nur Konsequenzen für die Arbeit hat, sondern auch für den Schriftsteller, weil man mit einem Text auch eine Zeitlang lebt. Der Text speist sich sozusagen aus einem selbst. Wie man Gedanken, Ideen, Eindrücke verarbeitet, wie man versucht zu denken, ist dann immer im engsten Bezug zur Form. Also ganz konkret: Wenn ich einen Roman schreibe, dann muss ich auf ganz andere Sachen aufpassen. Wenn ein Charakter auf Seite dreizehn ein blaues Hemd hat, dann muss er es auf Seite 125 auch tragen. Es sind banale Sachen, aber das heißt, man ist anders in der Welt verankert, wenn man auf diese Art und Weise denkt. Dahingegen ist ein Gedicht viel ätherischer. Man versucht hierbei eine Sprache für das zuvor Unsagbare zu finden. Lyrik ist daher eher abstrakt und arbeitet mit emotional physischen Empfindungen, wohingegen die Prosa meistens sehr logisch strukturiert ist.

Fiestelmann: Wenn man beispielsweise Ihre Dinggedichte aus dem Buch der Dinge mit den Dinggedichten von Francis Ponge vergleicht, dann merkt man, dass Sie seinen logischen, definitorischen Gedichten eher widersprechen. Sie haben diese konkreten Benennungen auch als „antipoetischen Gestus“ und „gewalttätigen Akt“ beschrieben.

Šteger: Ja, so sehe ich es zumindest. Aber ich bin auch nicht logozentrisch. Für viele ist das Benennen genau das, was den Kern der Lyrik ausmacht. Ein mancher Lyriker würde gerade darin das Höchste der Lyrik sehen, ich nicht.

Fiestelmann: Trotzdem machen auch Sie diese benennende Sprache für Ihre Texte nutzbar.

Šteger: Dem kann man nicht entgehen. Aber das Benennen entsteht aus verschiedenen mentalen Ebenen heraus: Das, was wir als Werkzeug in der Sprache empfinden, ist eigentlich eine klare, logisch definierte Sprache. Nun wissen wir aber, dass die Sprache auch ihre Abgründe und ihre undefinierten Ränder und Übergänge hat, ihre Assoziationsfelder, die nicht komplett logisch einnehmbar sind. Diese Randpositionen kann man als Ausgangspunkt für das Schreiben nehmen. Dann wird der philosophisch zentrierte Logos nicht mehr als höchste Instanz empfunden, sondern als etwas, das nebenbei kommt, das man immer wieder unterwandert, das man hintergeht, um damit zu spielen und zu zeigen, wie relativ es ist, wie relativ unserer Weltauffassung ist, die wir für die einzig mögliche halten.

Fiestelmann: Das Schreiben ist somit für Sie auch ein Weg, um aus der Standardwahrnehmung auszubrechen?

Šteger: Ja, aber die Standardwahrnehmung ist etwas Logisches, eine Stütze, die uns im alltäglichen Leben hilft. Das höchste Maß dieser alltäglichen logizistischen Sprache ist die juristische Sprache. Mit ihr versucht man alles ganz genau zu definieren, so dass keine Lücke entsteht, durch die jemand herausschlüpfen könnte. Hingegen ist die Dichtersprache eher wie ein Bienenstock. Sie ist etwas, das sehr stark frequentiert wird, das so viele Öffnungen wie nur möglich haben muss, welche mit Süßem gefüllt sind.

Fiestelmann: Kann man diese Bild von der Dichtersprache auch auf die Prosa und ihre Zwischenformen übertragen?

Šteger: Absolut. Aber den Zwischenformen schenkt unsere postkapitalistische Gesellschaft immer weniger Aufmerksamkeit, sei es die Kurzprosa, seien es experimentelle Formen von Prosa, sie spielen fast keine Rolle im literarischen Geschäft. Was den Markt angeht, sind sowohl Lyrik als auch diese hoch interessanten Prosaformen, in denen der eigentliche Fortschritt stattfindet, ausgeschlossen. Betrachtet man die zeitgenössische Romanproduktion, dann findet man unter diesem Label schon fast alles, weil es die einzige Form ist, die sich gut verkauft. Dabei weiß man im Vorhinein bereits, welche Sprache man benutzen sollte, um erfolgreich zu sein. All die Bestseller sind von ihrer Aufmachung, ihrer Struktur schon im Voraus sehr eingeengt. Es muss in einer realistischen Sprache verfasst sein, es müssen bestimmte Themen wie Mord oder Liebe vorkommen. Große Verlagshäuser im angelsächsischen Raum verwenden Programme, die Manuskripte statistisch auswerten: Man gibt Texte ein und das Programm sucht nach Schlüsselwörtern. Es sagt schließlich, ob die Frequenz der Wörter, die Liebe oder Aggression benennen, hoch genug ist. Das ist wirklich bizarr und sagt viel über den Markt aus, aber nichts über die künstlerische Qualität. Diese Gradwanderung zwischen dem eigenen Ich, dem eigenen Instinkt und der Anpassung an die Marktkonditionen wird auch ein Thema bei der Poetica sein.

Fiestelmann: Wie versuchen Sie persönlich aus diesen Zwängen des Marktes auszubrechen?

Šteger: Ich mache andere Sachen, um zu überleben. Ich bin von meiner Literatur nicht existenziell abhängig und das behalte ich auch so bei, um wirklich das zu schreiben, was ich schreiben möchte.

Fiestelmann: Ihr Schreiben bleibt also Kunstform und wird nicht zum Produkt für den Markt?

Šteger: Ja, da muss man aber auch etwas vorsichtig sein, denn diese Gliederungen sind nicht immer eindeutig. Es kann auch eine sehr große Herausforderung sein, etwas für den Markt zu schreiben, es dieses Mal aber vielleicht etwas anders zu schreiben. In vielen amerikanischen Serien zeigt sich dieser Trend schon, in der Literatur noch nicht so stark. Neulich habe ich hierzu einen Text in der Zeit, vom Regisseur und Drehbuchautor Milo Rau gelesen: Er ist der Meinung, wenn etwas in der Welt geschieht, dann dauert es lange bis die Gesellschaft reagiert und mit ihrer gesetzgebenden Apparatur handelt und erst ganz am Ende reagieren die Künstler. Zuvor, in der Avantgarde, war es noch so, dass die Künstler die Vorreiter waren, heute hinken wir dem Geschehen hinterher. Dadurch wird auch die Funktion eine ganz andere. Der zeitgenössische Künstler ist jemand, der in der ganzen Komplexität der Welt versucht, Prozesse und Ereignisse zu verstehen und sie als Metaphern aufzufassen, die für die Zukunft brauchbar sein könnten.

Fiestelmann: In der Rückschau hat Literatur also wieder eine Funktion für die Zukunft?

Šteger: Ich sehe das auch im Fall der Balkankriege, welche ich zwar nicht richtig, aber doch sehr nahe miterlebt habe, denn Slowenien war ein Teil von Ex-Jugoslawien. Es hat sehr viel Zeit bedurft, dass herausragende literarische Texte über den Krieg geschrieben wurden. Die Literatur braucht Zeit, um zu verdauen, sie ist nichts Unmittelbares. Auf der anderen Seite ist unsere Zeit etwas sehr Flüchtiges geworden, durch die Sozialen Medien, durch das Internet. Alles geschieht gleichzeitig. Literatur muss sich neu positionieren. Das ganze Feld ist noch immer auf der Suche nach einer Antwort.

Fiestelmann: Sie sehen sich als Zuhörer dieser komplexen Welt. Versuchen Sie die Unmittelbarkeit zum Beispiel mit dem Projekt Atlas unserer Zeit 1 zu durchbrechen?

Šteger: Ja, das ist ein Spiel mit dieser Idee, so unmittelbar aber auch brüchig und selbstrelativistisch zu schreiben wie man kann, aber trotzdem noch mit dem Anspruch, Literatur zu verfassen, nicht Journalismus, Bericht oder Blog. Es gibt unterschiedliche Arten mit unterschiedlicher Dichte oder Komplexität umzugehen. Bloße Beschreibungen finde ich eigentlich uninteressant. Außerdem könnte das Visuelle auch von einer Kamera viel besser eingefangen werden als von der Sprache.

Fiestelmann: Aber darum geht es in den 12 Stunden des Schreibens wahrscheinlich auch gar nicht?

Šteger: Nein. Es ist eher so, dass man sich in eine unmögliche Lage versetzt, dann versucht man sein Bestes. Man ist vorbereitet, ins Ungewisse zu stürzen und dort irgendetwas zu machen, einen Tanz zu vollziehen oder einfach still zu sein. Eben ohne die Möglichkeit, mit mehreren Revisionen den Text wasserdicht und stoßsicher zu machen.

Fiestelmann: Fällt es Ihnen schwer, nichts korrigieren zu können?

Šteger: Es fällt schwer. Es öffnet aber auch einen gewissen Raum, den man meistens verschlossen hält, weil so viel vom Text bei Revisionen wegfällt. Das bleibt hier alles drin und zeigt das Unvollkommene, die Fragilität und das Unvermögen. Das Unbekannte ist eigentlich die tägliche Situation, nicht das absolut Durchdachte. Es geht darum, sich in eine Situation zu bringen, die literarisch zuvor noch nicht erschlossen war. Ich empfinde es als absolute Freiheit, wenn ich hierbei jeden nur möglichen Unfug und Fehler begehen kann. Normalerweise weiß ich eigentlich, was man für ein Format von mit erwartet. In diesen zwölf Stunden wird von Außen nichts von mir erwartet. Ich darf auch von mir selber nichts erwarten. Das ist sehr schwierig, weil man eigentlich immer etwas von sich selbst erwartet. Es ist eher so, dass man in einer unmöglichen Lage, versuchen muss zu lauschen, das ist nicht immer leicht. Das geht Zuhause im eigenen Zimmer viel besser. Subjektiv, schriftstellerisch kann man der Welt im Stillen besser lauschen, als an einem Ort, den man nicht kennt und unter Leuten, die einem fremd sind, die vielleicht auch eine fremde Sprache sprechen. Das sind alles Dinge, die einen von der Reflexion abhalten. Aber gerade das ist es, was in der Welt permanent mit den Menschen passiert.

Fiestelmann: Genau diese Frage, was mit den Menschen passiert, lässt sich zumindest aus den Titeln Ihrer beiden bekannten Gedichtbände dem Buch der Dinge und dem Buch der Körper nicht direkt ablesen.

Šteger: Das Buch der Dinge entstand nach dem biblischen Konzept, die Erschaffung der Welt bis zum Menschen nachzuverfolgen. Für mich stellt es eigentlich die Welt ohne Mensch dar, obwohl dieses Duo von Ding und Mensch immer wieder vorkommt. Es ist auch die Abkehr von einem Subjekt, von einem Ich-Sprecher. Danach wollte ich den Menschen über den Körper beschreiben, weil gerade der Körper das Mystischste am Menschen ist und nicht die Sprache. Der eigene Körper bleibt, trotz all der Zeit, die wir miteinander verbringen, etwas Unbekanntes, wie er sich verändert, was er von uns will, seine Krankheiten und Tücken. Das Ich, das durch die Sprache konstruiert wird, das sind wir eigentlich. Wir sind wie das Extraterrestrische, in einem Körper gefangen, deshalb wollte ich versuchen über diese Körper zu schreiben.

Fiestelmann: Also ist der Mensch, trotz der Brüchigkeit der Sprache, in ihr beheimatet?

Šteger: Ja, genau.

Fiestelmann: Wenn man in mehreren Sprachen Zuhause ist und wie Sie den Übersetzungsprozess sowohl aus der Sicht des Literaten als auch des Übersetzers kennt, muss man nicht gerade die Übersetzung für einen gewissen „gewalttätigen Akt“ halten, welcher der Originalsprache etwas entzieht und etwas Neues in den Text einschreibt?

Šteger: Ja, natürlich, man kann es auch so radikal sehen, dass jeder Sprachakt schon ein Gewaltakt der Benennung ist. Aus dem Ungesagten reißt er eigentlich nur ein paar Wörter heraus. Aber das finde ich persönlich zu radikal. Im Übersetzen versucht man, nachzuahmen oder sprachliche Konstellationen zu entwerfen, in denen wieder etwas möglich wird. Es gibt verschiedene Traditionen, in die wir uns einschreiben, aber inwieweit das übersetzbar ist, ist fraglich. Wenn ich beispielsweise Gottfried Benn ins Slowenische übersetze, diese karge, autoironische bis zynische Sprechweise, die auf Deutsch ja so faszinierend ist und so verständlich greift, kann ich das im Slowenischen nicht ganz so machen. Diese Traditionen fehlen. Diese Stärke von Benn kann fast nicht wiedergeben werden. Für einen deutschen Sprecher, mit all der Geschichte des deutschen Großbürgertums, der Beziehung zu England, kommt beim Lesen eine ganze Epoche auf, bei uns kommt da nichts. Auf der anderen Seite gibt es aber auch slowenische Lyriker, die bisher noch nicht gut übersetzt wurden. Man versucht immer das Mögliche. Dadurch lernt man aber auch extrem viel über sich selbst, seine Sprache, sein kulturelles Umfeld und über das andere Ich. Für mich ist Übersetzen immer wieder ein Begegnungs- und Lernprozess. Deshalb wähle ich auch fast ausschließlich Lyriker fürs Übersetzen aus, die auf mich einreden. Ich stelle mich ganz der Begegnung zur Verfügung.

Fiestelmann: Für Sie sind die Menschen in der Sprache verortet. Ist das gerade der Nutzen der Dichtung, den Menschen darin wiederzufinden?

Šteger: Wir leben in einer Zeit des Überflusses, und nicht alles braucht einen direkten Nutzen zu haben. Es braucht nicht direkt von unserem parasitären kapitalistischen System instrumentalisiert zu werden. Für mich persönlich sind Gedichte so etwas wie die besten Freunde. Gedichte von anderen, die in mir herumschweben und sich zu Wort melden. Durch Gedichte erfährt man die eigene Vergangenheit neu. Meistens sehen wir unsere Vergangenheit als etwas, das fest dasteht, obwohl das Denken über Vergangenes immer einen großen Teil des Erlebten ausschließt. Gedichte beleuchten dieses Ausgeschlossene neu und können dadurch die Vergangenheit neu konstruieren. Gerade in unserer traumatisierten Kultur versucht man, sowohl vom Vergangenen zu lernen, als auch zeitgleich vor der Geschichte zu fliehen.

Fiestelmann: Dann kann man auf jeden Fall gespannt sein, wie unterschiedlich die anderen Autoren der Poetica2 die Vergangenheit und die Gegenwart literarisch beleuchten werden.

stellwerk-magazin.de, 20.1.2016

Lesung am 28.9.2006 im Literarischen Colloquium Berlin

 

 

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Matthias Göritz liest bei der Ars Poetica am 9.10.2010 in Bratislava sein Gedicht „Aus eine alten Anzug“.

 

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Aleš Šteger – Lesung an der Universität von Chicago am 31.3.2011.

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