Alexander Blok: Der arme Ritter

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alexander Blok: Der arme Ritter

Blok-Der arme Ritter

AN DIE MUSE

’s gibt in deinen
aaaaaaaaageheimen
aaaaaaaaaaaaaaaaaGesängen
Schicksals Nachrichten
aaaaaaaaaaaaaaaaaüber’n Welttod.
In Verfluchung
aaaaaaaaaden heiligen Regeln
Gibt’s Beschimpfung
aaaaaaaaaaaaaaaaadie glücklichen Wort’.

’s gibt in dir solche
aaaaaaaaaaaaaaaaaziehenden Kräfte…

Und ich bin
aaaaaaaaaso zu sagen bereit:
„Du erniedrigst sogar
aaaaaaaaaaaaaaaaaauch Engel
So unirdisch ist deine
aaaaaaaaaaaaaaaaaSchönheit!“

Und wenn Du über Glauben
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaredest,
Dann entzündet sich
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaum deinen Kopf
Der rotgraue… Kreis
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaus Perlen,
(Vorher schon ihn zu sehen –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagab mir Gott…)
Welche bist Du –
aaaaaaaaaaaaaaaaagut, böse –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawer weiß es?
Du – nicht hiesig’ –
Du kamst
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaus Weit’n,
Du – für andere
aaaaaaaaaaaaaaaaa„Muse“ und „Wunder“
Bist für mich –
aaaaaaaaaaaaaaaaanur Inferno und Leid’n.
Wir –
aaaaaaaaaich wollt’s –
Wären Feinde
aaaaaaaaageblieben.
Denn warum
aaaaaaaaaschenkst Du mir
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanicht ein Mal
Blumenwiese,
aaaaaaaaamit Sternen –
aaaaaaaaaaaaden Himmel,
Auch die Flucht
aaaaaaaaaaaader Schönheit vom Weltall?

’s waren
aaaaaaaaanordische
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaNächte viel böser,
und betrunkener, als Ai-Wein!,
Auch kürzer
aaaaaaaaaals Lieb’ der Zigeuner,
Dein Liebkosen
aaaaaaaaaaaaund dein’ Zärtlichkeit.

Es gibt
aaaaaaaaaauch die tödliche
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaFreude,
Als Du trittst auf
aaaaaaaaaaaaheiles Gesetz…
Aber süß sind
aaaaaaaaaund bitter, wie Wermut
Diese Leiden,
aaaaaaaaatrotz allem,
aaaaaaaaaaaafür’s Herz!

 

 

 

Alexander Blok

wurde im November 1880 als Sohn eines Juraprofessors und einer Übersetzerin in Sankt Petersburg geboren. Schon während seines Studiums der Philologie und der Rechtswissenschaften begann sein literarischer Erfolg: 1904 erschienen die „Gedichte über die wunderschöne Dame“ über die göttliche Weisheit in der Schönheit der Frau, 1907 folgte das berühmte Gedicht „Die Unbekannte“. Blok war einer der bedeutendsten jungen Vertreter des russischen Symbolismus und besaß zahlreiche Bewunderer. Als kluger und gebildeter Schriftsteller wurde er im vorrevolutionären Sankt Petersburg gefeiert und bejubelt. Als er 1909 das Erbe seines Vaters erhielt, begann für ihn eine Zeit des ausschweifenden Lebens.
Seine große Faszination für die Weiblichkeit zieht sich nicht nur durch seine Gedichte. Da er nicht nur mit großem Talent, sondern auch mit außergewöhnlicher Schönheit gesegnet war, hatte Alexander Blok riesigen Erfolg bei Frauen und hatte zahlreiche Affären. An seiner Ehefrau hing er trotzdem mit unendlicher Liebe, die allerdings weitgehend platonisch blieb. Blok litt unter großen Schuldgefühlen und war überzeugt, seinen Geliebten nur Verderben zu bringen. Verzweifelte Stunden und tiefe Depressionen wechselten sich ab mit ausgelassenen Stunden in Kneipen und Restaurants, wo er Zigeunerlieder schmetterte und Nächte durchzechen konnte. Viele Abende verbrachte der Schriftsteller im Theater. Blok liebte das Theater und verfasste neben seinen vielen Gedichten auch kleinere Dramenszenen und -entwürfe.
„Er war dem hellen Abend ähnlich: kein Tag, keine Nacht, kein Licht, keine Finsternis…“ So beschrieb der russische Dichter Michail Lermontow. Blok wurde von düsteren Vorahnungen geplagt und sah sein Zeitalter eher pessimistisch:

Das 20. Jahrhundert…
Ärger…
wird obdachlosen
Lebens Dunkel noch
schwärzer
und ganz riesig
werden uns oben
Luzifers Flügel…

Seine zerrissene Grundstimmung verstärkte sich noch, als es in Russland zur Revolution kam. Blok stand der Revolution – trotz seiner adligen Herkunft und seiner festen Verwurzelung in orthodoxen Werten und Vorstellungen – zunächst durchaus positiv gegenüber. Er sah die russische Revolution eher als mystisches Ereignis denn als politische Umwälzung und brach mit der Bourgeoisie, die seine Gedichte so bewundert hatte. Doch die Bolschewisten lehnten Bloks metaphysischen Stil ab, was den Dichter sehr traf.
Innerhalb kurzer Zeit verarmte der einstmals so erfolgreiche Blok und besaß kaum das Nötigste zum Leben. Mitten in diesem Elend verfasste er im Winter 1918 sein vielleicht berühmtestes Werk, das Poem „Zwölf“. Er stellte in mehreren Cantos mittellos gewordene und verzweifelte Bürger zwölf Soldaten der Roten Armee gegenüber, die mit der Fahne der Revolution durch den Schnee ziehen und schließlich von einer messiasähnlichen Figur geleitet werden. Das Gedicht verursachte eine enorme Kontroverse und wird noch heute intensiv diskutiert. Ob Blok mit einer Seite sympathisiert und, wenn ja, mit welcher, ist in der Forschung nicht mit Sicherheit geklärt. Das Gedicht wurde in viele Sprachen übersetzt, unter anderem übertrug Paul Celan das Gedicht ins Deutsche.
Bereits mit 40 Jahren starb Blok 1921 in der Wohnung seiner Mutter in Sankt Petersburg. Vergeblich hatte er zuvor versucht, eine Ausreisegenehmigung zu bekommen.
Bloks geistiges Erbe ist immens. In seinem Werk findet man nicht nur kunstvolle und schwärmerische Gedichte, sondern auch schlichte Poeme mit einfachen menschlichen Themen. Obwohl ihm nur ein kurzes Leben vergönnt war, findet man in seinen Gedichten die ganze Wandlung vom metaphysischen Dichter zum feinsinnigen Beobachter, der die Situation in Russland in den Jahren nach der Oktoberrevolution porträtiert.

Wolfgang Kawechmacher, Vorwort

 

3

Schachmatovo

Das Jahr 1904

Von Februar bis Mai 1904 haben Blok und ich uns nur selten geschrieben; der Briefwechsel war ohne Spannung; ich war stark durch Ereignisse meines persönlichen Lebens beansprucht, die in mir eine Wandlung bewirkten: von den Stimmungen 1900 bis 1904 zu den Stimmungen 1905 bis 1906. Der Zyklus „Gold im Azur“ näherte sich seinem Abschluß; es entstanden die ersten Gedichte für den Band Asche. Und Blok begann den Zyklus „Unverhoffte Freude“.
Ich möchte betonen: die „Elemente“, denen der Dichter sich anvertraute, waren im Wandel begriffen: der Krieg begann; das Dröhnen der künftigen Zeiten wurde vernehmlich; die Nuancen der Morgenröte veränderten sich: die mir gewidmete Zeile: „Ich habe begriffen – alles wird düster“ ging in Erfüllung. In den Seelen erglomm der Widerschein des untergegangenen Lichts; die Morgenröten wurden banal; das Leuchten, das nach dem Vulkanausbruch auf Martinique in der Erdatmosphäre beobachtet wurde, erlosch; die Pfauenschwänze bei den Sonnenuntergängen verblaßten und schrumpften. Die Trübung der Erdatmosphäre wurde von der Trübung der seelischen Atmosphäre begleitet; jede Verszeile schien zu verstauben; Balmont verlor sich in abgeschmackten Schnörkeln; die Sonnendichter versanken im aufsteigenden Nebel; die Dichter der Nacht und des Bösen traten bestimmender hervor: Brjusov legte seinen Bann auf die Seelen, und Sologub wirkte als „Kleiner Teufel“.
Zum erstenmal tauchte in Rußland die janusköpfige Gestalt des Vjatscheslav Ivanov auf: ein Mitbegründer des Symbolismus, weitete er dessen Sphäre übermäßig aus und überschwemmte ihn mit Elementen der décadence und des Alexandrinertums. In kurzer Zeit wurde der „Mittwoch“ Ivanovs zur Brutstätte synkretistischer Einflüsse in Petersburg, und inspirierte manchen Verfasser populärer Zeitungsartikel; die Persönlichkeit Ivanovs ist ein Fatum in der Geschichte des russischen Symbolismus, dem diese Geschichte sowohl lichte wie auch dunkle Seiten verdankt; eine nicht unwesentliche Rolle fällt diesem bedeutenden und gelehrten Poeten bei der Zersplitterung unserer Tendenz zu; unter dem Einfluß der wenig verständlichen, wenig begründeten Anschauungen von Ivanov wurde plötzlich ein Gleichheitszeichen gesetzt zwischen Mysterium und Theater, zwischen Mysterium und dramatischer Form, zwischen Christus und Dionysos, zwischen der Mutter Gottes und dem Weib, Symbol und sakramentalem Emblem, Liebe und Sexus, Jungfrau und Mänade, Plato und griechischer Liebe, Theurgie und Philologie, Vladimir Solovjov und Rozanov, Orchestra und Parlament, russischer Urgemeinde und „Neuem Jerusalem“. Diese Epoche beschreibe ich ganz im Sinne Bloks; im Vorwort zu seinem Poem „Vergeltung“, wo er das „Element“ Rußlands in den Jahren 1910 bis 1911 charakterisiert, sucht er nach dem „Leitmotiv“ des „Elements“, nach der Einheit in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen in jeder Phase (der individualisiertesten und der allgemeinsten) der Stilentwicklung:

Alle diese Fakten – so schreibt er – so verschiedenartig sie auch erscheinen mögen, haben den gleichen musikalischen Sinn. Ich habe die Gewohnheit, Tatsachen aus allen Gebieten des Lebens, die meinem Auge zu einer bestimmten Zeit zugänglich sind, nebeneinander zu stellen, und ich bin fest überzeugt, daß sie alle zusammen eine einzige musikalische Idee aussprechen.

Jeder wahre Kulturphilosoph verfährt auf die nämliche Weise; in der Vielfalt der Erscheinungen spürte Nietzsche dem musikalischen Thema des vorsokratischen Griechenlands nach, und in der gleichen Richtung verliefen auch die Bemühungen von Spengler: er ging einem architektonischen Prinzip nach, welches der euklidischen Geometrie, der Algebra, der Arabeske und dem Barock zugrunde liegt und deutete damit die Methode der quantitativen Reduktion an.
Zur Biographie von Blok gehört der umfassende Hintergrund seiner Zeit und ihrer musikalischen Intentionen; Blok war der empfindlichste, wahrhaftigste, zuweilen unbewußteste Ausdruck jener tönenden Zeit; und auch die Erinnerungen an ihn sind mit dem Tönen seiner Zeiten verbunden; es hat uns vereint; und wenn wir auch im Bewußtwerden jenes Tönens uns nicht einig waren, – gehört haben wir es beide; vom Jahre 1904 an verschoben sich die Akzente; sie entfremdeten uns; die Entfremdung zwischen mir und Blok war gleichzeitig ein Ausdruck der Entfremdung von der einstigen Morgenröte und die Verheißung einer neuen Begegnung; die Nöte der Vorkriegszeit führten uns wieder zusammen, und in den Jahren des Schreckens reichten wir uns die Hand – auf eine neue Weise.
Die Aera von 1904 bis 1908 bestimmten: Bloks „Unverhoffte Freude“, „Schaubude“, „Die Unbekannte“ und die „Schneemaske“; zur gleichen Zeit entstanden meine „Asche“, „Urne“, und „Der Kelch der Schneestürme“. Die Morgenröte führte uns zusammen, die Entfremdung geschah im Zeichen der Volksseele (Die Auswirkungen zeigen sich in den Ansichten Bloks im „Zolotoje runo“ und in meiner „Asche“, in seinen „Schneemasken“ und in meinem „Kelch der Schneestürme“.).
Unsere Entfremdung machte sich nicht gleich bemerkbar: wir schwiegen uns über die Nacht, in der wir herumirrten, aus und sprachen von der einstigen Morgenröte.
In dieser Zeit richtete Blok die Verse an mich:

So ist es: die lodernde
Fackel hast auch Du gelöscht,
In dumpfer Dunkelheit verschmachtend.

Die Worte: „hast auch du gelöscht“ sind ein Geständnis: Die Fackeln erloschen. Viele, die den Ton der Epoche nicht wahrnahmen, glaubten, die Fackeln würden erst entzündet… Deshalb attackierte ich damals, Schaum vor dem Mund, die Zeitschrift der mystischen Anarchisten, mit dem Titel: Die Fackel:

Was heißt Fackel? Der Wind löschte sie aus.

Blok hatte als erster die Morgenröte begrüßt, und auch als erster verkündet:

Die Finsternis bricht an.

Der Titel seiner Sammlung Unverhoffte Freude veranlaßte meine bittere, fast spöttische Bemerkung:

Nicht ,Unverhoffte Freude‘ – ,Verzweifeltes Leid‘ hätte Blok darüber schreiben sollen…

Bereits 1904 schrieb Blok:

Der violette Abendhimmel lastet schwer wie der Druck einer bleiernen Hand.

Und bald beschrieb er den grauen feuchten Herbsttag:

Schotter liegt auf Hängen,
Karge gelbe Lehmschollen.
Über den kargen Lehm zieht er fort,
Ein Wanderer, ein Bettler, der einen Psalm singt.

Das Frühjahr 1904 verbrachte ich bei E. Medtner in Novgorod; Medtner begeisterte sich für die Gedichte Bloks; das einzige, was er daran auszusetzen hatte, war der – wie er glaubte – sektiererische Beigeschmack; ich stritt es ab. Medtner wies als erster auf die Gefahren der theurgischen Haltung in der Poesie hin: die theurgischen Bestrebungen könnten zum Gift der großartigen lila-grünen Farben von Vrubel ausarten; Medtner sagte oft, Blok und ich seien auf verschiedene Weise für dieses Gift anfällig: der reine Dämon der Kunst könne die Einschränkung der ästhetischen Sphäre nicht ungerächt lassen; in „Dobrotoljubije“ heißt es von dem Dämon, er sei der „Geist der Trauer“: ein Symbol dieses Geistes ist die Viper, deren Gift, als kleine Menge eingenommen, als Gegengift wirkt, während es unmäßig genossen den augenblicklichen Tod herbeiführt. Nach dem Tod von Blok habe ich dieses Buch gesehen; die angeführte Stelle war von seiner Hand angestrichen, und mit der Randbemerkung versehen:

Dieser Dämon ist für den Künstler unentbehrlich…

Die Charakteristik des „Geistes der Trauer“ von Antonius begleitet Blok mit der Bestätigung:

Ich weiß… Ich weiß alles…

In der Tiefe seines Bewußtseins versucht Blok hinter den biographischen Tatsachen die Gesetze des „Weges“ zu erspähen; die bloße Mystik genügte ihm nicht, er drängte instinktiv nach geistiger „Erkenntnis“; die Umwandlung mystischer Erlebnisse in Erkenntnistaten ist ein qualvoller, schwieriger und, gefährlicher Vorgang; wie Keulenschläge brechen die Erfahrungen über den Menschen herein, der ungeleitet sich auf den Weg macht; der Drang nach „geistiger Erkenntnis“ – das ist der Grund der tragischen Erlebnisse des Dichters Blok, nachdem er von der „Mystischen Erfahrung“ seiner ersten Lebensstufe sich distanziert hatte. In „Dobrotoljubije“ heißt es:

Dieser Geist, der die Menschen in Bedrängnis bringt, kann zuweilen auch Gutes bewirken

Der Umgang mit dem „Geiste der Trauer“ ist eine Versuchung. Und diese Versuchung trat bereits im Jahre 1904 an Blok heran.
„Im übrigen wird jeder, der nach Abrahams Art sein Land und seinen Stamm aufgegeben hat, nach seinem Vorbild erstarken…“ heißt es im gleichen Buch. Dieser Abschnitt verdient, zitiert zu werden, weil er von Blok ebenfalls deutlich unterstrichen wurde; das Leitmotiv des Aufbruchs („ein Bettler, der einen Psalm singt“) bestimmt seine neuen Verse. Er sucht nach einem Weg, er macht sich auf: 

Ich trete auf den Weg hinaus, der jedem Blick sich öffnet.

Auch in seiner äußeren Biographie fand eine bestimmte Periode ihren Abschluß; im Frühjahr 1906 beendete Blok seine Universitätsstudien, verließ mit seiner Frau das mütterliche Haus und bezog eine eigene Wohnung: Symbol eines Aufbruchs, der lange vorher begonnen hatte, des Aufbruchs aus der Atmosphäre der Jahre 1900 bis 1902, eines sehr schmerzlichen, der gleichzeitig die Trennung von seinen Freunden, von Solovjov und vorübergehend von mir, bedeutete; neue Beziehungen knüpften sich an; andere Probleme stellten sich vor ihn; jetzt war er oft mit V. Ivanov, Tschulkov, Meyerhold zusammen; 1905 bekennt er in seinem Poem „Die Nachtviole“:

Es gibt nichts Angenehmeres auf Erden,
als den Verlust der besten Freunde.

Denkt man an Bloks Treue, an seine Güte, denkt man an die mächtigen Flügel seiner moralischen Phantasie, bedenkt man die tiefe elementare Ehrlichkeit des Dichters – dann weiß man, daß nur Trauer und Schmerz dem Dichter diese bitteren Zeilen abnötigen konnten.
Der Schmerz, den der Prozeß der Selbsterkenntnis mit sich bringt, und der Versuch, den Ansturm der elementarischen Mächte, dem er ausgesetzt war, zu deuten – das waren die Motive des bewußten Lebens des Dichters in seiner neuen Lebensperiode; er fühlte sich als „Bettler“, der einen Psalm singt, nachdem sein Dasein als „Ritter des Johannes“ vorüber war; er fühlte sich einsam; die Zeit, in der man sich „schweigend die Hände zusammenband“ war ebenfalls vorüber.
Alle, mit denen er früher verbunden war, waren fort. Der Mystiker, der sich des Versiegens der mystischen Quelle bewußt ist und nun künstlich ein Surrogat der Ekstase weiterkultiviert, ist ein Ästhet; er lebt in einer ungeheuren Versuchung; ich – ich war es um diese Zeit; Blok sah sich selbst; ich sah mich nicht; Blok, der seinen Doppelgänger deutlich wahrnahm, sah auch meinen Doppelgänger; und er sah, daß ich mir die Augen zuhielt – mir selbst gegenüber; er bemühte sich, meine Augen zu öffnen – sein Bemühen war zart und behutsam; aber ich blieb unzugänglich und versuchte, die Lüge eines „Kompromisses“ durchzuhalten (ein Kult bereits verblaßter Morgenröten), den Blok mit aller Kraft seiner leuchtenden und wahrhaften Seele ablehnte; er sah alles, verzieh mir meine „Kompromisse“ und heilte die seelischen Wunden durch brüderliche Teilnahme; mich drängte es in seine Nähe.

 

Die Reise nach Schachmatovo

Ende Mai 1904 erhielt ich von Blok eine dringliche Einladung nach Schachmatovo; in Moskau sollte ich mich mit Solovjov treffen – ich kam aus dem Gouvernement Tula, das war im Juni – und blieb zehn Tage in Moskau; ich erwartete Solovjov, der gerade das Gymnasium absolviert hatte und Freunde auf deren Landgut besuchte; in diesen Tagen starb Tschechov; ich besuchte sein Grab im Novodevitschij-Kloster. Bereits Ende Juni, vielleicht auch erst Anfang Juli, entschloß ich mich, nach Schachmatovo zu fahren; völlig unerwartet schloß sich A.S. Petrovskij mir an; ich weiß nicht mehr, wie er auf diese Idee kam, aber ich erinnere mich, wie erschrocken und verlegen wir wurden, als wir – im Zug – begriffen, daß ich Blok zum ersten Mal besuchen und einen Begleiter, der von dem Gastgeber nicht eingeladen war, mitbringen wollte; Petrovskij erging es nicht besser bei dem Gedanken, daß er sich „aufgedrängt“ habe.
Wir hatten herrliches, klares, heißes Wetter; ringsumher reifende Kornfelder; darüber der Himmel von einem unvorstellbaren Blau; ich weiß noch, wie wir in der Bahn über Spiritismus diskutierten, um unsere Verlegenheit zu überspielen. Unsere Bekannten befaßten sich mit Spiritismus, den wir selbstverständlich als eine Profanierung des Symbolismus und der Mystik auffaßten, schädlich und philosophisch unhaltbar; spiritistische Tatsachen zu widerlegen waren wir jedoch nicht in der Lage. Die Fahrt verging wie im Flug, wir stiegen aus und mieteten uns eine klappernde und unbequeme Kutsche; diese Kutsche rüttelte uns die achtzehn Werst bis Schachmatovo, immer mit dem Blick auf den Wald, auf den Sumpf, auf die Schneisen; die Wälder waren nicht hoch, aber dicht; ich war erstaunt über den Unterschied der Landschaft bei Krjukovo und hier; dort ist das Land eben, gleichmäßig und dicht besiedelt; teppichartige Wiesen, dazwischen Wald, meist Birken; hier wird die Landschaft strenger, schöner und offensichtlich wilder; weniger Wiesen, aber mehr Wälder (heute ist viel abgeholzt), Senken, Gräben und Hügel; die Dörfer sind selten und ärmer; das ist nicht mehr das Gouvernement Moskau, sondern das Gouvernement Tvjer; hier ist das unberührte Rußland, das von Blok so innig angesprochen wird: 

O, Rußland, mein Weib, schmerzlich
klar ist der Weg…

Hier in Schachmatovo webt in der Landschaft etwas von der Dichtung Bloks; man könnte sogar sagen: vielleicht hat sie hier ihren Ursprung genommen und gehört zu Schachmatovo; zu den Hügeln mit den Zacken des Waldes, die in das Himmelsrot hineinragen:

Die Morgenröte eines Hochzeitstages
Erhebt sich über den Zacken der Baumwipfel.

Düstere Hänge und Sümpfe mit glitzernden Wasserlachen, in denen man geräuschlos untergehen kann – man geht spazieren und ist unversehens in einer Lache versunken – umringen den Gutshof, auf dem Blok aufgewachsen ist; hier lebt der Waldschrat; hier betet das Sumpfpfäfflein für „das Froschbeinchen und den römischen Papst“; hier hält der Zauberer den Frühling zwischen modernden Baumstümpfen gefangen; als Nebelschwaden weht hier die „Unbekannte“ vorbei; und hier beugt Sie sich herab, rauschend mit rosa Gewändern.
Ich beschreibe die Landschaft von Schachmatovo, weil sie sich in der gesamten Dichtung Bloks widerspiegelt, sowohl in der „Unverhofften Freude“ als auch in den „Gedichten von der Schönen Dame“; ich meine, ich wüßte den Platz, wo Sie schweigend gestanden hat, „die Arme zum Himmelsgewölbe emporgehoben“; das war auf der Kirchwiese, an dem blauen Teich, wo im Juli die Wasserlilien blühn; wir pflückten sie, immer in Gefahr, in das eiskalte Wasser zu stürzen; ich meine auch jenen Berg wieder zu erkennen, über dessen Kuppe Sie erschienen war: 

Du wohnst über dem hohen Berg.

Jener Berg liegt hinter einem Wäldchen, darüber breitet sich die Abendröte aus, zu der die Funken von Bloks Dichtung aufsprangen; auch die Straße, die der „Bettler“ entlangging, erkenne ich wieder – ich erkenne sie am Schotter („Schotter legt sich über die Hänge“) – das ist die Chaussee zwischen Moskau und Klin; ringsumher Hügelhänge, gelber Lehm und aufgehäufter Schotter; hier spielte ich als Junge und suchte nach Steinsplittern: damals lebte ich bei Demjanovo und war von da aus oft in Nagornoje; auch die Familie Blok besuchte Nagornoje – es liegt in der Mitte zwischen Klin und Schachmatovo.
Ich improvisiere jetzt: damals lag es mir nicht, die Gegend um Schachmatovo mit dem Auge eines Biographen zu betrachten; ich behielt nur den allgemeinen Ausdruck der Landschaft: und die Eindeutigkeit der Beziehung zur Poesie Bloks; der Berg und die Straße – dafür könnte ich bürgen: der „Bettler“ ging diese Straße entlang, zu seiner Rechten ragte der Berg empor, zur Linken war das Wäldchen; war das Wäldchen durchschritten, so gelangte man auf einen großen Kartoffelacker, wie ich glaube; dahinter zeigte sich der Hausgiebel. Bereits in der Nähe des Gutshauses fiel Petrovskij und mir ein, daß diese Gegend uns alle: Solovjov, Petrovskij, Blok und Ljubov Blok schon in unserer Kindheit vereint hatte. Währenddessen waren wir angekommen; der Weg mündete unmittelbar in einen weitangelegten grasbewachsenen Hof. Stallungen, Scheunen, das Hauptgebäude und das kleine Seitengebäude, in dem Blok mit seiner Frau wohnte, lagen tief ins Grün eingebettet; wir erschraken wie ertappte Kinder; als wir plötzlich vor der festverschlossenen Tür standen, die in das einstöckige Gebäude (mit einem Mezzanin) von kaffeebrauner, vielleicht auch dunkelgelber Farbe führte.
Wir drückten schüchtern auf die Klinke; zwei mittelgroße und, wie uns vorkam, etwas verwirrte Damen standen uns gegenüber; sie waren mager, nervös und unausgeglichen in ihren Bewegungen (das waren Mutter und Tante des Dichters); nun gab es kein Zurück mehr; Aleksandra Andrejevna Kublizkaja-Piottuch gestand mir später, daß sie im ersten Augenblick unser Erscheinen als etwas peinlich empfunden hatte, ein Gefühl, das ich registrierte und als Abneigung gedeutet hatte; ich verzweifelte und begann unseren Besuch mit Ungereimtheiten zu entschuldigen; auch Petrovskij ließ den Kopf hängen; man geleitete uns durch das Eßzimmer in den Salon; man nahm dort Platz und wußte sich (zu viert) nicht weiterzuhelfen; ich wunderte mich über die Verwirrung von Aleksandra Andrejevna wie einst über das Aussehen Bloks; die Mutter von Blok war etwas Besonderes… wie war sie denn eigentlich? Sie war nervös, feingliedrig, sehr einfach gekleidet (in eine graue Bluse), lebendig, beweglich und jugendlich wie ein Vögelchen: Scharfsichtig bis zu der Fähigkeit, einen Menschen nach den ersten zwei Worten zu durchschauen – und immer noch ein „Schulmädchen“; später habe ich verstanden: „Schulmädchen“ – das ist der Ausdruck für die Lebhaftigkeit von Aleksandra Andrejevna, die sie als Gleichaltrige Blok und mir sich zugesellen ließ; jene Art von Beziehungen, die gewöhnlich zwischen den „Müttern“ und der jungen Generation sich einspielt, konnte zwischen uns nicht entstehen; die Problematik von „Väter und Söhne“ war ausgeschlossen, denn sie ging mit uns, widersetzte sich den „Vätern“, verständnislos ihnen, verständnislos den „Söhnen“ gegenüber; wir haben sehr bald Freundschaft geschlossen (ich erlaube mir, unserer Beziehung diesen Namen zu geben: denn nicht nur tiefe Verehrung zeichnete mein Verhältnis zu Aleksandra Andrejevna aus, sondern auch innige Sympathie).
Der erste Eindruck von dem Haus bleibt mir unvergeßlich: die Zimmer waren behaglich, hell, bescheiden und verhießen viele ruhevolle Stunden; sie glänzten von einer besonderen Sauberkeit, die Aleksandra Andrejevna überall umgab; ich habe sie nie als „Hausfrau“ erlebt; alles um sie her geschah unmerklich, gemütlich, wie von allein, wie im Spiel; aber in allem spürte man die waltende Hand; in allem zeigte sich eine bestimmte Form; und alles hatte seine festgesetzte Stunde; ich geriet in eine Umgebung, die von jener natürlichen, bescheidenen und hochentwickelten Lebensart geprägt war, die nichts überladenes, keine belastenden Reliquien des gutsherrlichen Adels duldete und dennoch das unverkennbare Siegel des Adels trug; eine seltene Verbindung von Tradition und Unbekümmertheit; davon zeugten die gepflegten Holzwände (schlicht getäfelt, mit Ornamenten aus durchgesägten Astlöchern); man sah: diese Wände sind ein Durchgang zu noch unbegangenen Wegen; sie sind ein „goldener Rain“ der Gespräche – wohin führen sie?

Ins Weglose führt
der goldene Rain.

Der goldene Rain war Aleksandra Andrejevna, eine der beiden Gutsherrinnen; und die Gespräche führten zur Weglosigkeit der Morgenröte – zu Aleksandr Blok.
Ich war tief beeindruckt: alles innerhalb dieser Wände war Einfachheit, Sauberkeit, Würde, ein „raznotschinjec“ hatte hier keinen Platz.
Während dieses denkwürdigen ersten Beisammenseins erschienen im Salon zwei betont korrekte Jünglinge, die uns als die Vettern von Blok vorgestellt wurden; auch seine Tante begrüßte uns, sie hat mir sehr gut gefallen, aber bald ging sie wieder; zu viert traten wir auf die Terrasse vor dem Haus, die in den Garten überging; verschlungene und abschüssige Gartenwege schlängelten sich den Hügel hinab und liefen in Waldpfade aus (Wälder umstanden den Gutshof), wir gingen durch den schattigen Garten und traten hinaus ins freie Feld; dort sahen wir sofort in der Ferne Blok und Ljubov Blok, die von ihrem Spaziergang heimkehrten; das Bild bleibt unvergessen: vor der blumenbedeckten Wiese im klaren Sonnenlicht schritt Ljubov Dmitrijevna in einem luftigen, im Winde wehenden weiten rosa Kleid, ein weißes Sonnenschirmchen über der Schulter, so jung, blühend, stark, mit glattfrisiertem, kornährenfarbigem Haar – wie Flora, wie ein Tupfen Morgenrot, oder wie die Atmosphäre Bloks; der „knospende Traum“ der Dichtung Bloks wehte mir entgegen – duftend, betäubend. Und Aleksandr Aleksandrovitsch, der neben ihr ging – wie stattlich wirkte er, breitschultrig, braungebrannt! Ohne Mütze, mit seinem im Sonnenlicht rötlich schimmernden Haar, in hohen braunen Schaftstiefeln und einem sehr weiten weißen Hemd, das von Ljubov Dmitrijevna mit dunkelroten Schwänen bestickt worden war, erinnerte er mich an Ivan, den Zarensohn. Und während ich diesem schönen Paar vor dem Hintergrund der blühenden Wiesen im heißen Sonnenlicht entgegensah, hörte ich das sengende Kreischen der Mauersegler, die das Himmelsblau ritzten; in der Ferne wogte ein unübersehbares Roggenfeld – auch das weiß ich noch ganz genau; beinahe entschlüpfte mir unwillkürlich:

Wie gut paßt das alles zusammen!

Blok sah uns von weitem, hielt an, schirmte mit der Hand die Augen gegen die Sonne, sah noch einmal her; und als er uns erkannte, ließ er Ljubov Dmitrijevna stehen und lief mit großen Schritten quer über das Feld; atemlos kam er bei uns an; und mit einem ruhigen, ja würdevollen Lächeln drückte er uns die Hand, ohne sich zu wundern.

Na also, da seid Ihr ja!

Und dann, zu Petrovskij gewandt, sagte er mit demselben humorvollen Nachdruck:

Das ist aber schön.

Petrovskij wurde ganz verlegen und wollte sich entschuldigen; aber vor diesem ruhigen Lächeln, das ohne Staunen, ganz Einverständnis war, fing er plötzlich zu stammeln an, winkte sich selber ab und verstummte.

Es ist schön, daß Sie gekommen sind.

Durch sein Verhalten gab Blok sehr deutlich zu verstehen, daß das Kommen von Petrovskij genau das Richtige, daß „alles gut“ sei. Und Petrovskij kam wieder zu sich: schmunzelte und machte seine üblichen Späße, die bei ihm das sichere Zeichen von guter Laune und Wohlbefinden waren.
Ljubov Dmitrijevna kam heran, sie lächelte uns zu wie ganz alten Freunden; wir kehrten um und gingen zum Haus zurück. Wir wunderten uns über das lange Schweigen von Sergej Solovjov, über sein Ausbleiben; wir kamen auf die gemeinsamen Moskauer Bekannten zu sprechen, auf die verschiedenen Belanglosigkeiten, deren Bedeutung von der Stimmung der Gesprächspartner abhängt und zuweilen völlig inhaltslos, zuweilen aber voller Sinn zu sein scheint; ich weiß: das ganze Gespräch war nur eine Form zärtlichen Schweigens unter uns allen, ein Zeichen gegenseitiger Zufriedenheit; wir gingen unter der wärmenden Sonne – das Wehen des Windes, das Kreischen der Mauersegler, die sich wiegenden Halme und die Falter schienen alle von ihr zu kommen; wir glaubten: wir seien zu Hause; wir glaubten: wir hätten unsere Heimat gefunden; Blok hatte es verstanden, sofort eine schlichte und behagliche Stimmung zu schaffen; das war die vollendete Form seiner Gastfreundschaft; diese „vollendete Form“ (die als Fehlen jeder Förmlichkeit sich zeigte; trat überall in Erscheinung; die verbindlichen Umgangsformen von Sofja Andrejevna, das hausfrauliche Talent von Aleksandra Andrejevna (die auf den ersten Blick so wenig hausfraulich erschien), und Bloks Freundlichkeit trugen dazu bei; die „Ungezwungenheit“ ergab sich aus der Beherrschung der Kunst des menschlichen Umgangs. Ja, Blok war ein guter Gastgeber; unmerklich umsorgte er uns und interessierte sich für jedes Detail des Alltags.
In Blok machte sich epikureische Lebensweisheit bemerkbar; das savoir vivre und die Liebe zu seiner Landschaft, zu den Geistern der Wiesen und Wälder; man mußte gleich sagen: Blok ist inmitten dieser Wiesen und Wälder großgeworden: mitten zwischen diesen Feldblumen. Diese bunten Wiesen und diese Waldinseln sind eine organische Fortsetzung seines Arbeitszimmers; ja, die Sonnenuntergänge von Schachmatovo – das ist sein eigentlicher Schreibtisch; die prächtigen Heckenrosen, zwischen denen wir gingen, über und über mit purpurnen Blüten besät, bestimmten den Stil seiner purpurnen Zeilen; und ich weiß noch, wie ich ausrief:

Ich habe noch nie solche Heckenrosen gesehen: welche Pracht!

Im Gehen streckte Blok die Hand nach einem Zweig aus und pflückte mir eine leuchtende purpurne Blüte mit einem goldenen Herzen; so blieb vor meinem Blick der goldengrüne Hintergrund, besät mit den leuchtenden tief-purpurnen großen Blumen; und vor diesem blühendem, vom Winde bewegten Hintergrund das sommerlich leuchtende Paar: der „Zarensohn“ und die „Zarentochter“; der lockenköpfige „Zarensohn“ in dem weißschimmernden Russenhemd und die goldhaarige „Zarentochter“ im purpurnen Gewand – ein Strahl der Morgenröte; oder ein Hauch der Atmosphäre von Blok; und auch der würzige Duft, das seltsame Kreischen der Mauersegler, das schrille Zirpen der Grillen im Grase, das Flimmern des Sonnenlichts. Inzwischen waren wir wieder bei der Terrasse angelangt; Blok setzte mit einem leichten und kräftigen Sprung über drei Stufen; Ljubov Dmitrijevna ein wenig nach vorne gebeugt –

Atemlos, glühend schritt sie die Stufen hinauf

– die Stufen, die Stufen zur Terrasse: jetzt, gestern, ewig.

 

Kein Eckermann!

Ich kann mir vorstellen: Die Verehrer Bloks möchten natürlich den Verstorbenen selbst sprechen hören; sie möchten sein authentisches Wort: Blok habe dieses, Blok habe jenes auf die und die Weise gesagt; ich möchte die Faktizität vermeiden; ich verzichte auf den Kontext seiner Rede; mir geht es um die Gestalt, um die Gebärde, dem einen oder dem anderen gegenüber; ich höre darauf: 

Geben Sie sich selbst auf, verzichten Sie auf Selbstdarstellung, geben Sie uns Blok.

Aber ich sage – nein.
Und ich habe meine Gründe dafür.
Im Abstand von achtzehn Jahren erweist es sich als unmöglich, den Text der Gespräche wörtlich rekonstruieren zu wollen; die äußeren Umrisse der Gedanken sind von einem Nebel überzogen; ich möchte keine Ausschmückungen; mein Gedächtnis ist von besonderer Art; es konzentriert sich allein auf den Hintergrund der damaligen Gespräche; die Texte selbst sind vergessen; aber die Gebärden des Schweigens, das die Texte bestimmte, die Gebärden der Aussprüche und Meinungen, die wir uns damals gegenseitig zuspielten – die sind geblieben; auf die gleiche Weise kommt auch einer Fotographie, die eine Gebärde festhält, Gültigkeit zu; die Worte dagegen, die diese Gebärden begleiteten, die „Anschauungen“ Bloks sind verschwunden; ich hätte eine stilisierte Darstellung geben können; aber ich sträube mich gegen eine Erdichtung; ich möchte Blok nicht meine Gedanken unterschieben, und außerdem – ich habe einen Fehler: ich verdrehe Zitate; ich verdrehe mich selbst. Und zum Schluß: Blok sprach in einer ganz besonderen Weise: seine Sprache war treffend wie eine leuchtende spannungsgeladene Verszeile, die das Unfaßbare fixiert und stets auf die Obertöne des Gesprächs gestimmt ist; ich selbst öffnete mich nicht den Wörtern, sondern dem Oberton; für den tonalen Hintergrund der Gespräche bürge ich; ich bürge ebenfalls für die Atmosphäre; meine Aufmerksamkeit galt beim Hören nicht den Luftwellen, die gegen mein Trommelfell pochten, sondern der Gebärde des Wortes; aus diesen Gebärden formten wir beide, wie eine Wolke vom Wind geformt wird, einen eigenwilligen Mythos, ein Spiegelbild der zu erringenden Gestalt, unbekümmert um den formalen Zusammenhang der Wörter; und außerdem bedienten wir uns beide eines besonderen Jargons, der eines Kommentars bedürfte.
Wie Wolken wuchsen Bloks Worte an dem Himmelsgewölbe des Schweigens; der Wortstrom veränderte seine Konturen durch die Wirkungen der gemeinsamen Atmosphäre, wie ein Wölkchen; wie an einem Wölkchen ließ sich beobachten: es entstand – verdichtete sich, ergoß sich als Regen von Wörtern und verging von neuem im Azur des Schweigens; unser Gespräch war stets eine Beschwörung; Landschaften der Phantasie entstanden aus vernommenen wortlosen Mitteilungen, und wollte ich jetzt die Wörter ohne die moralische Phantasie, aus der sie damals geboren wurden, fixieren – ich würde sicher der Lüge verfallen.
Es gibt Menschen, die allein das äußerliche Wort vernehmen (oder den Text); andere wieder hören das Schweigen des Textes, seinen Genius; wenn die ersten Ohren wachen – schlafen die anderen, und umgekehrt; zum Beispiel hinterließ uns Eckermann zwei Bände seiner Gespräche mit Goethe: Was folgt daraus? Der Genius ist in diesen Aufzeichnungen abwesend, wir haben hier nur den nackten Text; aber aus diesen Texten tritt uns durchaus nicht Goethe entgegen; der Emsigkeit Eckermanns, der uns die Texte hinterlassen hat, haben wir zu danken; aber der Eckermann, an den die wiedergegebenen Worte gerichtet wurden, ein junger Mann, ein sehr bequemer Gesprächspartner, mit dem man nicht viele Umstände macht, hat kein Gehör für den nächtlichen Urgrund der taghellen Aussprüche Goethes.

Die Nacht ist tief
Und tiefer als der Tag gedacht.

Deshalb hat der emsige junge Mann bei der Niederschrift der Bände den entscheidenden Band nicht geschrieben, der die Wortgebärden Goethes hätte wiedergeben müssen; und daher kommt es, daß bei Eckermann Goethe nicht zu finden ist; so ist es: Eckermann ist ein beschränkter junger Mann; in den beiden Bänden seiner Niederschriften tritt Goethe nur selten hervor. Es ist ein Grammophon, das die Stimme Goethes wiedergibt; nur ganz selten staunen wir über Goethes eigene Gebärde, die plötzlich den Text aufreißt; wenn Goethe beispielsweise einen Hund anspricht: „Ja, Larve, ich kenne dich.“ (Larve – was ist das für eine Phantasie: ist denn ein Hund eine Larve?)
Ich bin weder ein junger Mann, noch Eckermann, und weigere mich, Bloks Texte zu wiederholen; und sehe mit Erstaunen, zuweilen auch mit Verzweiflung: wo, wo sind die Texte unserer Gespräche geblieben? Sie existieren überhaupt nicht mehr, sie sind untergegangen.
Und außerdem: selbst wenn ich diese „Texte“ niedergeschrieben hätte, wäre nur weniges geblieben; gesprochen wurde wenig; es war eine behagliche, warme, schweigsame Freundschaft, Gastlichkeit und gastliche Sorge: inniges häusliches Leben; man lebte in der Gewißheit, hier ist man aufgenommen (ganz, ohne Rest); er ist bereit, die eigene Seele mit einem zu teilen.
Den Geist jedoch nicht.
„Im Geiste“ ist er um diese Zeit bereits einsam; ein Berg trägt geduldig auf seinem stolzen Leib Pflanzen aller klimatischen Zonen (Rosen und Edelweiß): sein weißer Gipfel, hinter der Wolkendecke verborgen, ragt einsam in die klaffende Leere des Weltenraumes; dort ist der Ursprung der Quellen, die seine Flanken zum Grünen bringen; von Blok her überfluteten mich und Petrovskij seelische Strömungen, die in uns eine wunderbare Landschaft hervorzauberten; im Geiste jedoch war er entrückt.
Einmal saß er in seinem weißen Hemd (dem schwanenbestickten) beim Tee: er sah zerstreut einer Fliege zu, die unter einem Teeglas sich gefangen hatte, und ließ sich von Moskau erzählen, von Solovjov, Brjusov, von Ratschinskij, einem Priester in der Art Melchisedeks, der einst Solovjov einen symbolischen Schlag mit dem Kruzifix gegeben hatte zum Zeichen, daß er das „Kreuz des Lebens“ auf sich zu nehmen habe (anläßlich Solovjovs Volljährigkeit); ich machte Ratschinskij nach, wie er in dichte blaue Tabakwolken eingehüllt, einen Text interpretiert (einen biblischen Text unbedingt) und den Zuhörer durch die Kenntnis ausgefallener Tatsachen in maßloses Erstaunen versetzt. 

Der Hohepriester – (eine Rauchwolke)… der Hohepriester, das Gewand – (wieder ein Zug aus der Zigarette)… das Gewand über die Schulter geworfen (Rauchwolke)…

Blok lächelte (er lachte sehr selten) und Ljubov Dmitrijevna, mit hochgezogenen Beinen, konnte vor Lachen kaum noch Luft holen.
Einmal führte mich Blok zu dem kleinen Holzhaus, das er bewohnte; und zeigte mir einen winzigen Gemüsegarten, der von einem sorgfältig angelegten Graben umgeben war; er nahm eine Schaufel und sagte:

Weißt du, Borja – ich habe diesen Graben selbst gezogen: im Frühjahr habe ich hier gearbeitet … ich arbeite jedes Frühjahr im Garten, das ist gut …

Und es schien: das Anlegen dieses Grabens war eine Sache von höchster Wichtigkeit; wer weiß: vielleicht war seine Muse an seiner Gartenarbeit aufs engste beteiligt; und so nahe war er damals meiner Seele, daß alle Kleinigkeiten seines alltäglichen Lebens zu bedeutungsschweren Tatsachen wurden; ich fühlte mich als sein Bruder; das Ritual der Verbrüderung vollzog sich im gelösten, behaglichen Sitzen am Teetisch, bei den Spaziergängen, in gemächlichen, belanglosen Plauderstunden (wir haben Zeit!); später fielen aus den Erinnerungen an Schachmatovo diese dunklen Zeilen aus:

Ich trinke die Traurigkeit der abendlichen Stunde –
Den roten Wein:
Ich wußte –
Und ich habe es vergessen: Ich bedaure es nicht,
Alles ist längst vergessen.

Und weiter:

Ich sage Dir das eine –
und lache über das andere…

Für mich und für Petrovskij wurden diese intensiven Tage im Zeichen der purpurnen Heckenrosen zu einem echten Mysterium, zu einer Himmelfahrt in die Landschaft der Seele: und das ganze Leben schien in der Gegenwart sich zu konzentrieren und in der Gegenwart sich aufzulösen:

Ich sage Dir das eine –
und lache über das andere…

Ich sprach über Ratschinskij, der mit seinem Zigarettenrauch und seinen Bibeltexten auf den Gesprächspartner losgeht, und lächelte währenddessen aus weit offenem Herzen: ich lächelte, weil ich einen Bruder hatte – solch einen Bruder, solch eine Schwester und eine mir so vertraute „Erwachsene“ (die Mutter Bloks); weil Serjosha Solovjov herbeieilte, um sich zu uns zu gesellen; und wir alle (mit Petrovskij), uns an den Händen haltend, langsam in den Azur emporschweben werden.
Blok steht auf, kommt langsam auf mich zu und sagt einfach:
„Laß uns gehen, Borja“ – er spricht ein wenig durch die Nase, ein wenig spöttisch, ein wenig lächelnd, ein gutes Lächeln. Er gibt mir einen leichten Stoß, als ob er mich zu einem freundlichen Spiel auffordern wollte, nimmt mich mit, um mir etwas Schönes zu zeigen, um sich mit mir in eine Ecke zurückzuziehen, mit den Augen zu blinzeln, von einem Fuß auf den anderen zu treten und ein wenig undeutlich zu sagen:
„Nein, weißt du…“
„So ist es…“
„Das macht nichts…“
Das heißt, daß alles genau so geht, wie es sich gehört; daß keine Wolke den Horizont trübt; daß unsere Freundschaft vom Schicksal nicht bedroht ist; und daß allem ein einzig Wichtiges zugrunde liegt. Was war das? Ich weiß es nicht: der künftige Kulturhistoriker, ein „Lapan“, wird sich Jahre hindurch bemühen, dieses einzig Wichtige zu ergründen; er wird nach Tatsachen graben, nach möglichst vielen Tatsachen: aber wo sind diese Tatsachen? Schweigen.
„So ist es.“
„Das macht nichts.“
Und dann hakt er sich wieder ein, lacht gutmütig und entläßt mich aus der Ecke, kehrt mit mir zu dem allgemeinen Gespräch zurück; er ist ein Hüter: er hütet die „Atmosphäre“ und nährt sie durch die Quellen, die von den Gipfeln kommen; bald darauf fand die Zeit in Schachmatovo ihren Widerhall in der „Grünen Wiese“, halb Aufsatz, halb lyrisches Geständnis, in jenem Aufsatz von den Morgenröten und den Seelen, von der Katharina, die unter dem Schutz ihres Danilo steht; Rußland selbst ist die große Wiese, smaragdgrün, die Wiese von Jasnaja Poljana und von Schachmatovo; der Duft dieser „grünen Wiese“ ist geblieben, geblieben sind auch die Wiesenblumen; der Same jener Blumen keimt bereits (vielleicht in der „Volfila“). Aber wo ist Pan Danilo? Wo bleibt er? Er ist nicht da!
Ich erinnere mich: bereits am ersten Tag machten wir einen Spaziergang; zuerst aß man zu Mittag, die Stimmung war etwas getrübt durch die Anwesenheit der Vettern von Blok, Juristen, die korrekt, betont korrekt uns gegenüber auftraten; eine gewisse Kühle umgab sie (Blok liebte sie nicht und schimpfte sie „Positivisten“); Positivismus war für ihn ein Schimpfwort, und er hat in seinen Briefen an mich häufig mit den „Positivisten“ hart abgerechnet.
Einmal sagte Blok über seine Vettern: 

Nun, das macht nichts, daß sie da sind; sie werden uns nicht stören… sie verachten uns wahrscheinlich, so ganz im stillen; aber sie werden uns gegenüber sich manierlich aufführen… sie verstehen eben nichts…

Und in der Tat: die Vettern erschienen zu Tisch, verbeugten sich aufs liebenswürdigste, saßen kerzengerade, reichten die Teller mit betonter Sorgfalt und verschwanden unmittelbar nach dem Essen; später ließen sie sich nicht mehr blicken; und damit brachten sie ihre Verachtung uns gegenüber zum Ausdruck, uns, den „Dekadenten“; ein dritter Vetter, kein Jurist, war taubstumm; und ausgerechnet dieser war empfänglich für unsere Atmosphäre; er beobachtete uns, wunderte sich, staunte; nur seine Mutter konnte sich mit ihm in einer für uns unverständlichen Zeichensprache unterhalten. Gegen Abend, die Sonne ging schon unter, standen wir zu viert hinter dem Haus; und dann gingen wir den Weg entlang, über eine Lichtung, die eng von Bäumen umstanden war; durchquerten ein junges Wäldchen, dahinter breitete sich vor uns eine weite Fläche aus; weit im Hintergrund zog sich ein Hügelrücken den Horizont entlang; darüber der Saum des farbigen, durchsichtigen, rosa-goldenen Himmels; Ljubov Blok schien in ihrem rosa Kleid ein Widerschein, ein Stückchen des Himmelsrots zu sein; sie hob ihre Hand gegen den Hügelrücken, gegen das Himmelsrot und sagte:

Dort habe ich gewohnt…

Hinter dem Hügel, hinter dem „Berg“ („Du wohntest über dem hohen Berg“) – dort lag das Gut der Mendelejevs, Boblovo.
Wir standen im Abendlicht; wir schwiegen; ich sah uns an: unsere Gesichter, die der Abendröte zugewandt waren, glühten; alles an uns glühte; das Gesicht von Petrovskij, glühend und rosa, sein rosa Kittel, blieben mir in Erinnerung; damals erfaßte ich blitzartig, daß von hier aus die Funken der Zeilen Bloks hinübersprangen: nach Boblovo. Dort, über dem Berg, war Sie.
Seit dem Jahre 1902 irrte Blok im Dickicht; das Antlitz der Dame erlosch: für immer.

Ich lief den Berg hinab und schlug mich ins Dickicht,
man wird mich bis zum Morgengrauen suchen…

So war es damals; schweigend kehrten wir zurück; es wurde feucht, der Tau fiel, die Nebel stiegen: Petrovskij zog mich zur Seite und flüsterte:

Jetzt verstehe ich…

Was er verstanden hat? Nein, mein Leser, fragen Sie nicht danach!
Ich sah Petrovskij an und lachte; er war reizend und komisch anzusehen in seinem Kittel, wie ein Kind; wie ein Junge sah er aus, wie ein Gymnasiast, durchaus nicht wie ein Absolvent der Universität und Mitglied der Geistlichen Akademie; er sah nicht wie ein Mann aus, nicht wie ein „Chemiker“, nicht wie ein „Theologe“, sondern er sah wie ein kleiner Junge aus, besonders in seiner „Ente“.
Petrovskij hatte die Eigenschaft, jede Kopfbedeckung in eine Haube zu verwandeln, die mit ihrer Form unmißverständlich an eine Ente erinnerte; er brachte es fertig, selbst aus Studentenmützen Enten zu verfertigen; in späteren Jahren stülpte er sich die lächerlichsten Käppis auf: sie wurden im gleichen Augenblick, da sie seinen Kopf berührten, zu Enten; und bis auf den heutigen Tag trägt er die unvermeidliche Ente, im Frühjahr, im Sommer und im Herbst, mit größter Würde; einmal wollten wir in Basel einen Hut kaufen; wir rieten ihm zu einem würdigen Hut, aber nein, er ließ sich von einer neuen „Ente“ nicht abbringen…
Abends tranken wir Tee: es war sehr behaglich; und nach dem Tee geleitete uns Blok in das uns zugedachte Zimmer in einem hölzernen Anbau; er setzte sich einen Augenblick zu uns und wünschte uns dann Gute Nacht; lange noch blieben wir wach; Petrovskij war ganz aufgeregt; immer wieder fiel ihm noch etwas ein, immer wieder sprang er auf, um sich gleich wieder hinzulegen.

Wissen Sie noch?

Ich lehnte am Fenster und sah hinaus; die dunklen Baumgruppen – es waren, glaube ich, Linden – wirkten wie Kugeln und schienen den Abhang hinabzurollen; der Himmel war ganz durchsichtig; auf der einen Seite war er noch abendlich; auf der anderen aber zog schon die Morgenröte auf; gegen das blasse, zartgraue bis türkisfarbene Himmelsgewölbe schimmerten golden die Ränder der dunklen Wölkchen, die von der Morgenröte aufgeworfen wurden;

Im gelben Gefieder der Wolken
Tanzt das zarte Abendlicht.

Der erste Tag unseres Lebens mit Blok ging vorüber wie eins seiner Gedichte; und der Reigen der folgenden Tage – wie ein Gedichtzyklus.

 

Brjusov und Blok

Genau so war auch der zweite Tag; ich werde nie die Linie dieser stillen Tage vergessen, die so monoton in ihrem äußeren Ablauf waren und so spannungsreich in ihrer Wirkung.
Petrovskij und ich wachten gegen neun Uhr auf; wir standen gemächlich auf, lachend und debattierend; gegen zehn kamen wir herunter, zu Aleksandra Andrejevna – zum Kaffee; beim Kaffee entspann sich eine stets sehr interessante Unterhaltung; Bloks Mutter war eine glänzende Gesprächspartnerin; es stellte sich heraus: unsere „Mystik“ interessierte sie; unseren „Morgenröten“ brachte sie viel Verständnis entgegen; aber sie war skeptisch: prüfend beobachtete sie uns und mehr als einmal spürte ich ihren scharfen Blick; manche ihrer gezielten skeptischen Fragen brachten mich in Verwirrung; sie erinnerte mich an die verstorbene Olga Solovjova.
Später erschienen Aleksandr Blok und Ljubov Blok; sie kamen aus ihrem Häuschen herüber, das ganz von Rosen und Heckenrosen umrankt war (das Häuschen hatte zwei winzige Zimmerchen); zuerst hörte man ihre Schritte auf der Terrasse: mit dem Sonnenlicht, fröhlich, kamen sie herein; Blok in seinem weißen Hemd; sie im weiten Morgenkleid, träumerisch rosa; der Gang des Gesprächs brach ab, die konkreten „Fragen“, die wir eben diskutierten, traten zurück: sie lösten sich auf; wahrhaftig:

Es gibt keine Fragen, schon längst,
und man braucht die Worte nicht mehr…

Die Linien des Gesprächs münden in der „weglosen“ Weite.

Ins Weglose führt der goldene Rain.

Hell brennt in uns der Glaube, daß über das Meer des Schweigens unser Schiff, die „Arge“, mit goldenen Segeln auf uns zusteuert, um uns in eine neue Welt zu entführen; das Schiff kam nie an, denn –

auf einem Schiff reist die Schöne Dame nicht.

Die blauen Julitage waren von Anfang bis zu Ende ein einziger theurgischer Akt, vor dem Medtner mich umsonst gewarnt hatte („Es wird sich für euch als gefährlich erweisen, die Grenzen der Kunst zu überschreiten“); eine eigenartige Séance der Seelen; eine Zelebration ohne Weg; damals begriff nur Blok, daß der Weg in das „Weglose“, ins „Unbegangene“ – ein Abweg von unserer Sendung ist.

Das blaue Auge wirst Du nicht begreifen,
bis Du nicht selbst der Weg geworden bist…

Diesen Weg ersehnte Blok (wenn es auch ganz unbewußt geschah); uns ging es anders: verantwortungslose Schöngeisterei ersetzte uns den „Pfad“. Blok war sich über unsere Verantwortungslosigkeit im klaren; wir versäumten den ersten Schritt; er wollte ihn, er horchte: könnten wir diesen ersten Schritt ihm nicht vormachen? Und da erkannte er: hinter unseren Reden gab es keinen Weg; unser Wille war träge; unsere Reden von einem „Weg“ in uns waren „abwegig“, ja „irrwegig“; wir blieben auf der Kreuzung stehen, er beobachtete uns dabei; fürchtete sich vor dem Abweg ins Unheil. Die so durchsichtige seelische Atmosphäre war von jener trügerischen Klarheit, die sich zwischen zwei Regentagen einstellt; gestern – „Ante lucem“; heute – „Lux“; morgen – „Post lucem“; als ein „post lucem“ durchschaute er den „Lux-us“ unserer Zelebrationen. Einmal fühlte ich in mir die Klarheit; und ich glaubte, vor der Fülle des Lichts verstummen zu müssen; Blok beobachtete mich hinter dem Rücken von Petrovskij, hinter dem ich mich verstecken wollte, sah mich plötzlich sehr aufmerksam an und sagte mit Nachdruck:
„Borja, Borja, genug.“
„Man soll das nicht tun: genug.“
Diese Worte bedeuteten: 

Meditiere nicht vor anderen Menschen; meide die so ansteckende Ekstase des Schweigens, sie ist des Teufels: es ist eine falsche Seligkeit.

Aber er sagte bloß:
„Borja, Borja, genug.“
„Man soll das nicht tun: genug.“
Wie soll ich die Texte Bloks wiedergeben, wenn in zwei seiner Worte ganze Kapitel von Meister Eckehart oder von Ruysbroek ertönten; keusch und still bewahrte Blok in sich den wortlosen Zugang zum höheren Wissen; dieses Wissen fehlte zum Beispiel Maeterlinck; wenn Maeterlinck das Wissen von Blok zuteil geworden wäre, hätte er seinen „Le trésor des humbles“ nicht geschrieben, ein trésor, der keiner ist und schon garnicht demütig offeriert wird.
Nach dem Morgenkaffee zog man in den geräumigen und hellen Salon; Aleksandra Andrejevna und ihre Schwester verließen uns (um ihren Pflichten nachzugehen).
Wir blieben zu viert, verteilten uns auf die Sessel: ich imitierte verschiedene Personen aus dem Bekanntenkreis zuweilen hielt ich Stegreifvorträge, aber es waren vielmehr Sprachkurven, die ich vor Blok entwickelte, damit sie durch seine Gegenwart Farbe bekamen, wie Lakmuspapier; ich selbst war ein Streifen Lakmuspapier, Blok – die Reagenzflüssigkeit; sein Verhalten meinen Meinungen gegenüber ließ sie farbig schimmern: einmal violett, einmal purpurrot, einmal indigoblau; seine kurzen Sätze, ein leichtes Lächeln genügten, um einen Gedanken in einer neuen Farbe erscheinen zu lassen:
„Weißt du: das ist doch anders.“ (mein Gedanke ist sprungbereit…)
„Brjusov ist trotzdem kein Magier – er ist ein Mathematiker!“
Und damit ist für mich das Stichwort für einen Vortrag „Die Dichtung Brjusovs“ gegeben.
Unsere Beziehung, die Beziehung der Jugend zur Poesie Brjusovs war sehr zwiespältig: wir sprachen Brjusov eine Führerrolle zu; wir würdigten die Verbindung von Dichter und Historiker, von Dichter und Handwerker; er war der einzige „Meister“, der sich über die Bedeutung der aufkommenden Probleme Rechenschaft gab. Vjatscheslav Ivanov, der außerhalb Rußlands lebte, war kürzlich noch unter uns: er flackerte auf, machte Eindruck, verzauberte viele, stieß andere ab und verschwand; wir kannten ihn eigentlich nicht; Balmont spielte keine Rolle mehr; Zinaida Hippius ging in „Problemen“ unter, sie wies die Dichtung zurück (Blok kannte und schätzte ihre Muse, der religiösen Philosophie Mereshkovskijs brachte er wenig Vertrauen entgegen); F.K. Sologub hatte als Poet wenig Fesselndes (Blok liebte seine Gedichte; ich zog seine Prosa vor). Brjusov war der einzige „Meister“, der Kämpfer für alles Neue, der Propagandist unserer Generation; seinen Rang als Anführer und Kämpfer ließen wir gelten; wir hatten einiges an Brjusov auszusetzen; aber wir hielten uns zurück und achteten ihn als den Ranghöchsten.
Brjusov war damals zweifellos eine „Persönlichkeit“ (anders als heute); das meiste Profil zeigte er als Schöpfer von „Urbi et Orbi“, das an Bedeutung alles Spätere überragt; „Stephanos“ war ziselierter; hier lernte Brjusov die Beherrschung der Sprachklaviatur; aber wenn es von „Urbi et Orbi“ bis zu „Stephanos“ ein Schritt war, so sind es von „Vigilia“ zu „Urbi et Orbi“ – drei Schritte; „Urbi et Orbi“ war die Eroberung eines neuen Landes, in „Stephanos“ erschloß Brjusov – ein Administrator – eine neue Provinz; nach „Stephanos“ verflog die romantische Dunstwolke um Brjusov; „Stephanos“ bedeutete Resignation: im Morgennebel erschien der kümmerlichste Hügel als ein hoher Berg; als ein solcher Berg erschien uns Brjusov; „Urbi et Orbi“ vertrieb den Nebel, dahinter zeigte sich kein Berg – sondern nur ein Hügel; es kommt keine Steigung mehr, „Stephanos“ und „Alle Lieder“ waren ein Plateau, das langsam in eine Niederung auslief.
Im persönlichen Umgang war der Brjusov von damals mit dem Brjusov von heute nicht zu vergleichen; sein Akademismus galt damals als „Kunstgriff“; hinter dem „Kunstgriff“ lauerte Brjusov wie ein Tiger im Schilf, um plötzlich emporzuschnellen und das wahre, für uns so erschreckende Antlitz zu zeigen – das Antlitz eines gestrengen Magiers; die bloße Technik sahen wir damals als die Gebärde der Magie; den Materialismus als „Okkultismus“; die technische Fingerfertigkeit – als okkulte Praxis; der „Feurige Engel“ ist der Weg zur Magie, ein Zeugnis für die Kenntnis der Geschichte des Okkultismus; ich weiß, daß Brjusov sich tatsächlich mit magischen Praktiken befaßt hatte; in seinen frühen Jahren verirrte er sich in spiritistische Kreise; er schreckte nicht vor zweifelhaften hypnotischen Versuchen zurück; er hypnotisierte, um die Menschen sich gefügig zu machen, lange hypnotisierte er mich, Solovjov, Ellis; er wirkte wie ein Tiger, der im Schilf (des Technizismus) auf der Lauer liegt.
Ich schrieb einen Artikel „Über die Theurgie“ und sehnte die Verbindung von Dichtung und Mystik herbei; im Gegensatz dazu sah ich eine andere Richtung aufkommen, eine uns feindliche, welche die Dichtung mit der Magie zu verknüpfen suchte; zur „décadence“ hatten wir ein zwiespältiges Verhältnis; den „Technizismus“ wußten wir zu schätzen; aber wir waren der Meinung, daß hinter dieser „Technik“ insgeheim die Kunst der schwarzen Magie getrieben wird; wir glaubten, daß uns eines Tages ein Kampf mit der feindlichen Richtung bevorstünde und Brjusov, heute noch unser Verbündeter, dann als einziger ernstzunehmender Gegner uns entgegentreten würde; wir wußten, daß über dem Lager Solovjovs das Antlitz der Madonna sich erhob; über dem Lager Brjusovs erschien uns das Weib auf dem Tier; die Verkörperung der Richtung Brjusovs ist Apollonius, der Vorläufer des kommenden Tieres: 

Vor dem weicht aus und
knirscht mit den Zähnen in ohnmächtigem Zorn
Der große Magier meiner Erde.

Der Begriff „Magier“ war durchaus nicht rhetorisch gemeint; Brjusov kam uns damals wirklich als ein „Großer“ vor; niemand wäre damals auf die Idee gekommen, daß er so bald in die „toten Wälder“ fliehen würde:

Ich fliehe in die toten Wälder:
keiner verfolgt meine Spur.

Aber in jener Zeit „floh“ Brjusov nicht (wie später aus Moskau nach Petersburg); er jagte selbst und man „floh“ vor ihm…
Mit den Worten: „Brjusov ist ein Mathematiker“ brachte Blok folgendes zum Ausdruck: der Kalkül und die Überschaubarkeit in den Zeilen von Brjusov ist nicht eine „Maske“, hinter der er sich verbirgt, sondern Brjusov selbst, wie er leibt und lebt. Während seines Aufenthaltes in Moskau hat Blok mich und Solovjov über Brjusov ausgefragt (wir sahen uns häufig); nun imitierten wir Brjusov, versuchten den ihm eigenen exakten und überdeutlichen Stil wiederzugeben; was er auch später berühren mochte, alles wurde sofort zu einem anatomischen Präparat, alles zerfiel in zu analysierende Teile; und jene unheimliche Exaktheit blieb Blok unvergeßlich.
Wir erzählten Blok, wie Brjusov einst, als Solovjov und ich ihn besuchten (er hatte gerade eine Kiefervereiterung), uns ankündigte:
„Wissen Sie auch, daß ich morgen operiert werde…“
„Wirklich?“
„Ja, ja, ich lege mich hin und überlasse meinen Leib den Bohrern und den Sägen.“
Blok lachte Tränen, als er diese Worte hörte: in der abstrakten Haltung dem eigenen Körper gegenüber zeigte sich Brjusov, wie er wirklich war. Ein weiteres Beispiel: einmal schellte Brjusov bei mir, er hatte mir etwas dringendes zu sagen; ich erzählte angewidert von den Mißhandlungen der Studenten durch die Gendarmerie; Brjusov, der sich bequem im Sessel zurückgelehnt hatte, richtete sich kerzengerade auf, schob die Hand mit einer steifen Bewegung hinter den Rockaufschlag, fixierte mit den Augen einen unsichtbaren Punkt auf der Tischplatte und verharrte in hölzerner Unbeweglichkeit, nur der blutrote Mund zuckte spöttisch unter dem schwarzen Schnurrbart; der Mund klaffte auf, als Brjusov das schwarze Dreieck des Bärtchens hochreckte und das Zimmer mit seiner gutturalen Stimme füllte.

Ja, das ist sehr traurig, aber denken Sie nur daran, was im Krieg tatsächlich passiert! Wissen Sie das nicht? So hören Sie doch: im Krieg werden Menschen aufgespießt, Boris Nikolajevitsch, sie werden durchstochen; das heißt, das Bajonett wird langsam in den menschlichen Körper hineingestoßen: zuerst durchsticht man den Mantel, dann sehr viel schneller das Hemd, dann berührt das Bajonett mit seiner kalten Spitze die Haut; und dann, mit wiederholtem Stoß, durchdringt es die Hautschichten, das Bauchfell, die Därme.

Und Brjusov, die Augen noch immer auf den unsichtbaren Punkt gerichtet, zählte wie entrückt die durchstochenen Gewebe des menschlichen Körpers noch einmal auf; und dabei erlebte er die Lust des Entsetzens.
Solovjov und ich waren uns längst darüber im klaren, daß Brjusov ein Mathematiker sei; und in der Tat hatte er einmal verkündet:

Ich habe eine große Vorliebe für das mathematische Detail.

Dabei lehnte er an der Wand, unter seinen gefalteten Händen stand das Redaktionstelefon.
In einem Gedicht, das die Vergewaltigung eines weiblichen Leichnams schildert, spricht er die Aufforderung aus:

Öffne die eisenbeschlagene Tür zur Gruft:
prüfe das Mysterium des Todes…

Die Vergewaltigung nennt er „Prüfung des Todes.“
Brjusovs „Mathematik“ war für uns ein Sinnbild des Unheimlichen, des Animalischen in seiner letzten Entblößung; die Romantik der Schlange (der apokalyptischen Schlange) hatte hier ihre Wurzeln. Er verteidigte vor mir die würgende Weltenschlange. 

Ach wie langweilig, Boris Nikolajevitsch: Sie streiten mit Christus gegen die Schlange; Sie sind auf der Seite eines Mächtigen, die Schlange soll besiegt werden, wie es in der Apokalypse heißt; gegen die Schlange, die von vornherein im Nachteil ist, mitzukämpfen, das ist nicht ritterlich; ich ergreife die Partei der Schlange; sie ist zu bedauern, ach, die arme Schlange!

Der Zwist mit Brjusov entstand bei jeder Gelegenheit, wo wir uns auch trafen; einmal hob ich mein Weinglas und sagte: 

Ich trinke auf das Licht!

Brjusov, der gerade neben mir saß, sprang auf, als wenn ihn etwas gestochen hätte; er hob ebenfalls sein Weinglas und verkündete mit seiner gutturalen Stimme:

Auf die Finsternis!

An einem Sonntag besuchte er mich und sah plötzlich das Lichthütchen; er nahm es, und unter dem Vorwand, daß er sich dafür interessiere, trat er auf meine Mutter zu und gurgelte:
„Ach, wie interessant, ein Lichthütchen! Sie erlauben mir doch, dieses Lichthütchen auszuprobieren… darf ich?“ – Und ohne zu warten, schwenkte er das Lichthütchen und löschte unsere Wandkerzen.

Ach, Entschuldigung!

Darauf verabschiedete er sich: er verschwand, nachdem er das Licht ausgemacht hatte (das war nicht ohne Absicht, halb Ernst, halb Spaß); er wollte zeigen, daß er ein „Licht-Löscher“ sei; solche Späße waren charakteristisch für Brjusov; er liebte das Interessante; er liebte es, zu erschrecken (seine Vertrautheit mit der Magie sollte angedeutet werden); ich erinnere mich, daß man vor ihm tatsächlich erschrak.
Einmal schickte er mir ein Gedicht mit der Widmung „Loki an Baldur“ (später ließ er diese Widmung weg); er drohte:

Ich werde dem Blinden einen Pfeil senden…
aufschreien wirst Du vor brennendem Schmerz
plötzlich in Dunkelheit gestürzt…

Das Blatt, auf dem dieses Gedicht stand, ließ er mir unauffällig zustecken; es war zu einem Pfeil gefaltet (das sollte mich erschrecken); nach magischem Rezept bedeutet ein solcher Pfeil den „bösen Blick“, Unheil.
Dieses Blättchen quittierte ich folgendermaßen:

Meine Rüstung glüht wie Feuer.
Mein Speer ist der Blitz;
mein Schild ist die Sonne.
Halte Dich fern mit deiner Wut,
sonst wirst Du zu Asche zerfallen.

Ich berichtete Blok von allen „Späßen“ Brjusovs, und er amüsierte sich. Er hatte als erster gesehen: Brjusov ist nur ein Mathematiker, er ist nur ein Zähler, ein Nomenklaturist; und von einem echten Magier ist nichts in ihm.
Der stille und bescheidene Blok wirkte auf mich durch seine tätige, klare Aufmerksamkeit allem gegenüber, was ihn umgab; jedes Wort nahm er in sich auf und verdeutlichte es durch eine kurze Bemerkung. Mein Gespräch mit Brjusov war dialektisches Fechten; mit Blok kam es nie zum Streit; ich habe in seiner Gegenwart nie widersprochen, sondern den Gang seiner Gedanken besinnlich nachzuzeichnen versucht; er war der eigentliche „Impuls“ meines Tuns (Brjusov, Zinaida Hippius, Mereshkovskij wirkten in der Peripherie); ja, auf Blok hörte ich.
Und ich entdeckte Etwas, ein Unfaßbares, Schreckenerregendes: den Zweifel; er trug in sich den Zweifel, er, von dem wir glaubten, er sei der Ritter, war bereits der Bettler; richtungslos tastete er sich durch die Finsternis, die wir anderen mit den prunkvollsten Schemata überkleideten; er schob die Schemata zur Seite; er begriff: Dunkelheit bricht an; die Morgenröten leuchten allein in unseren Seelen; eine objektive geistige Morgenröte nahm er nicht mehr wahr; aber er nahm wahr, daß wir alle uns hinter unsere Grenzen zurückzogen: uns einen „Schaubuden“-Himmel malten, auf Seidenpapier, den ein Harlekin mit leichter Hand entzweireißen konnte.
Er war einsam; und ich war es ebenfalls; ich bemühte mich, die Wirklichkeit zu übersehen, die als undurchdringliche Finsternis uns immer enger einschloß; ja, die Atmosphäre der Herzen erwies sich später als ein rosa Lampenschirm, der durch die Nacht schimmert, nicht als die Sonne. Blok wußte das schon damals; aber er wollte uns zunächst die bittere, einsame Wahrheit ersparen; er wußte, daß die Morgenröte uns verschlossen bleibt, daß nicht die „Schöne Dame“, sondern die „Unbekannte“ unser gemeinsames Erlebnis ist; mitten in einem Gespräch über die Morgenröte verdüsterte er sich und verstummte; es war, als ob ein großes Licht ausgelöscht würde; absolutes Schwarz zog auf: man glaubte unter einer Gewitterwolke zu stehen; in diesen Augenblicken fürchtete ich mich nicht für mich, sondern für Blok; ich dachte:

Was erschreckt ihn, was ist geschehen?

Und einmal dachte ich sogar:

Gehört er überhaupt auf die Seite des Lichts?

Und Blok wunderte sich seinerseits über mich; Solovjov erzählte von einem Gespräch mit der besorgten Aleksandra Andrejevna, die ihm Bloks Äußerung wiedergegeben hatte; nach einem gemeinsamen stillen Abend habe er gefragt: 

Wer ist er eigentlich? Er ißt nicht, er trinkt nicht…

Er dachte an die von mir so heftig betriebene Askese, die für ihn ein Zeichen des Versagens war; er sah in mir den Menschen (und nicht einen Engel); er wußte, daß ich mich als „Engel“ nicht halten könne, ohne „Weg“ sei und zusammenbrechen werde.
Seine Verwunderung („er ißt nicht, er trinkt nicht“) brachte den Zweifel zum Ausdruck:

Ist es denn möglich, daß er ,der Weg‘ ist, sich für ,den Weg‘ hält? Sollte es so sein – dann wird er sich eines besseren belehren lassen müssen! Er kennt sich nicht!

Blok war sich dessen bewußt, daß er wußte, was er nicht wußte; bei mir war das nicht der Fall; und das betrübte ihn.
Einst, als wir behaglich im Salon saßen, faßte mich Blok an den Arm und führte mich auf die Terrasse hinaus; von da in den Garten, auf die steil abfallenden Gartenwege; wir durchquerten das Wäldchen und gingen über das Feld; wir gingen langsam, blieben häufig stehen, Blok sprach und betonte immer wieder, daß diese seine Gedanken keine vorübergehende Laune seien: durchaus nicht, er kenne sich gut in seinem Inneren aus; wir alle hielten ihn für besonders „licht“, er sei aber „dunkel“, er sah mich mit seinen kindlichen blauen Augen an, stand ein wenig gebeugt mitten im Gras, das schon Ähren trieb und welkte, und kaute zerstreut an einem abgerupften Halm; ich wollte ihm nicht glauben. Er beteuerte:
„Du irrst dich, wenn du so denkst“, und beteuerte von neuem:

ich bin überhaupt kein Mystiker; ich verstehe mich überhaupt nicht auf Mystik…

Wir gingen immer weiter; gefolgt von kurzen mittäglichen Schatten; in dem grellen Licht schien alles zusammenzurücken und zu erstarren; die Natur ließ in der Mittagsglut ihre Macht spüren; ich suchte ihn damit zu beschwichtigen, daß jeder den Zweifel kenne, und daß er selbst im Innersten dem Zweifel keine Berechtigung zuspreche; Blok faßte mich wieder am Arm – er bat mich, ihm zu glauben – und begann von neuem: die Menschheit sei der Erbsünde und der Trägheit verfallen; auch er sei träge; ja, er sei träge; die Erbsünde zwinge ihn in die Knie, als Vererbung: die Vererbung drücke ihn zu Boden (ich begriff, daß er seinen Vater meinte): 

Nein, weißt du – ich bin ein Dunkler…

Und er fuhr fort, seine Gedanken von der Macht der Vererbung zu entwickeln; er war erregt, obwohl er sich ruhig zeigte; man spürte, hier ist der wunde Punkt (vielleicht der „Fisch“, der so selten an die Oberfläche der Wörter aufsteigt).
Ich sah ihn an: er stand vor mir mit dem gleichen bitteren Lächeln:
„Alle Mühe ist eitel: was die lichten Kräfte auch auszurichten vermögen – Sieger bleibt der Tod, der am Urbeginn war und ewig bleiben wird. Alles wird erlöschen; wir alle… die Überwindung des Todes ist eine Lüge…“ – sagte dieses Lächeln.
Ich erinnere mich deutlich an seine Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien, als er mir sagte:

Ja, ja, ja, alles ist dunkel!

Das ist das Thema seines Poems „Vergeltung“. Er kam häufig auf dieses Thema zu sprechen und erzählte dabei von seinem Vater; ich sah ihn an; die Ahnung stieg auf: die Macht des Schicksals – der schlechten Unendlichkeit – die Macht seines Intellekts, der unbestechlich und durch das Licht des Herzens wenig erwärmt war; Sophia hatte sich seinem Herzen offenbart; die Offenbarung des Herzens setzte er über alles; in seiner Logik war der Logos nicht anwesend. Später nannte er sich den „nichtauferstandenen“ Christus: die Auferstehung ereignet sich in der Logik – dann ersteht unser „ICH“ aus dem Grab. Die Logik Bloks ist nicht auferstanden; er verfügte lediglich über einen nicht unbeträchtlichen Intellekt Kantischer Prägung; bei dieser Gelegenheit fielen mir seine Briefe über Kant wieder ein, den Blok einen „in aller Ewigkeit Erschrockenen“ nennt; und etwas davon glaubte ich an ihm selbst zu beobachten; es mangelte ihm an letztem Mut sich selbst gegenüber; das Licht über Damaskus blieb aus; und um den Punkt, der nicht im Licht aufgegangen war, kristallisierten sich nur kantische Formeln aus: unter anderem das Thema der Vererbung: das Thema der „Vergeltung“.
So begriff ich: der Augenblick des Rückzugs von Blok war jener Herbst, in dem viele Gedichte der Angst entstanden waren, die einst O.M. und M.S. Solovjov in Erstaunen gesetzt hatten: 

Ich lief den Berg hinauf und schlug mich ins Dickicht:
man wird mich bis zum Morgen suchen.
Das Herz schlägt rascher und böser.

Die letzten Zeilen dieses Gedichts lauten:

Und mein weißes Gespenst wird sich über ihre Schulter beugen
und ihnen ins Gesicht schauen.

Das „weiße Gespenst“ ist der Doppelgänger des Geflohenen: gnoseologisches Bewußtsein, Intellekt, von dem Logos nicht durchlichtet.

Wir sind eingeschlossen in einen
undurchdringlichen Zauberkreis – 

und:

Mein Sumpf wird sie verschlingen.
Der trübe Ring wird sie umschließen.

Das ist wieder das Thema der „Vergeltung“.
Mitten in den Feldern, im gleißenden Licht, sah ich den „Doppelgänger“ – Bloks anderes Antlitz, das erst zwei Jahre später (zur Zeit der „Schaubude“) sich zeigte.

Es zeigte sich uns: ein Toter
schlägt vor uns den engen Felsgang aus.

Ich wollte von dem „dunklen“ Blok nichts wissen, um in den mannigfachen „Bloks“ den einzigen Blok zu suchen.
Die Erscheinung des „dunklen“ Blok mitten in den Feldern hatte mich erschreckt: ich wollte nicht hören; ich murmelte etwas von der „Mittagshexe“, von der Trägheit, von dem großen Pan; aber die blauen Flammen der Himmel verdüsterten sich: ein absolut schwarzer Himmel zeigte sich hinter dem Vorhang des blauen und senkte sich über die Felder. In der „Silbernen Taube“ habe ich diesen Augenblick festgehalten in der Beschreibung, wie Darjalskij mitten in den Feldern das Himmelsblau schwinden und das Schwarz hervortreten sieht; Blok hat diese Stelle als sehr bedeutungsvoll angesehen, er begriff: den schwarzen Himmel zur Mittagsstunde hatte er selbst mir damals gezeigt: es war der Himmel vom Schachmatovo am Fuß des Gartenhangs.
Wir kehrten zurück; und bemühten uns, von dem Gesprochenen loszukommen; ich zupfte erregt Grashalme vom Wegrand; Blok ging hinter mir, ebenfalls eine Ähre in der Hand, und redete eindringlich auf mich ein: alles, alles verkünde das „Schlimmste“.

Aber Borja, das weißt du auch von selbst!

Er hat gezeigt: er entsprach nicht den leichten, rosa Träumen, die er in uns heraufbeschworen hatte; er gehörte nicht in unsere „Atmosphäre“; später begriff ich noch mehr: er war ein nüchterner und bitterer Zuschauer: in der „Atmosphäre“ sah er eine „Séance der Seele“, einen kleinen „rosa Lampenschirm“ – keine Morgenröte; Blok sah das alles; in unserer verzauberten Leichtlebigkeit sahen wir es nicht. Er war darauf gefaßt: böse Gewitter gehen nieder, es kommt zu manchem „Nadryv“, die vermeintliche Harmonie ist nur ein ästhetisches Raffinement der Seele ohne einen wirklichen Weg und endet mit einer schneidenden Dissonanz; er hatte bereits erkannt, daß wir für einander unerreichbar waren: ich lebte in Nietzsche; Petrovskij im „Nadryv“ gegenüber der Orthodoxie; er selbst war ein „Bettler“; bei S. Solovjov hatte der Philologe dem Theologen bereits die Gurgel durchgeschnitten, und seine Frau, Ljubov Blok, von deren hohen Fähigkeiten wir alle so überzeugt waren – sie, die Hierophantin der Mysterien der Seele – träumte von der Laufbahn… einer gewöhnlichen Schauspielerin. In der Tat, wenn ich damals Blok als Kritiker des „Zolotoje runo“ gesehen hätte – ich hätte meinen eigenen Augen nicht getraut; wenn er damals mich als Toreador gesehen hätte… aber er hatte es schon damals vorausgesehen! Wenn wir damals das Gedicht von S. Solovjov gelesen hätten mit der Zeile: „Glühende Stiere besteigen die Kühe“ – wir hätten uns empört; die „Atmosphäre“ wäre zerrissen; ein „Nadryv“ hätte sich gezeigt – und den „Nadryv“ in uns fürchtete Blok; er witterte ihn; er ahnte den eigenen „Nadryv“ seiner späteren Jahre; die Angst vor dem „Nadryv“ kündigte sich bei ihm in dem Ausweichen vor dem Thema „Nadryv“ an.
Einmal fragte ich Blok, ob er denn die russischen Volkslieder liebte.

Nein: dort ist – Nadryv…

Alles Russische hielt er um jene Zeit für einen „Nadryv“; das „Russische“ war ihm suspekt: das Lied, der Tanz, der Spottvers – alles; man brauche nur ein Tanzlied zu akzeptieren, um bei der „Wirtin“ von Dostojevskij anzukommen, und an Dostojevskij war ihm alles verhaßt: in ihm erlebte Blok die dumpfe Macht der Existenz und das Chaos – die Macht der Erbsünde, von der er damals sagte, sie würde ihn erdrücken.
Zuweilen beunruhigte ihn unser Zusammensein: als ob die seelische „Atmosphäre“… ein höchst gefährliches Experiment wäre, das im Endresultat sowohl das Elixier des Lebens als auch eine ungeheure Explosion ergeben könnte; dann zeigte sich an ihm eine Wachsamkeit besonderer Art; er betrachtete uns wie Kinder, die am Rande eines Abgrunds spielen und er fühlte sich als einer von uns, aber zugleich auch als die Amme, die die Kinder zu verwahren hatte; oder als Gastgeber: er geleitete uns durch die Reihe der Tage einen gefährlichen Weg und ließ uns im Glauben, der Weg sei leicht und sicher; er pflegte die seelische Gemeinsamkeit unter uns, ohne die geistige zu erstreben; und wir überhörten das Gemeinsame und stießen uns dumpf an der Dissonanz.
Von diesem denkwürdigen Gespräch in den Feldern erzählte ich einiges Petrovskij: er wunderte sich:

Ist denn das möglich, daß Blok der Versuchung anheim fällt: er brennt aus!

Wir brachen ab und beschlossen, seiner Verdrossenheit den Kampf anzusagen, dem „Geist der Trauer“ in ihm, der in „Dobrotoljubije“ erwähnt wird; bereits während der Revolution machte Blok an dieser Stelle die Bemerkung: „Ich weiß, ich weiß alles“; dann, wie ich glaube, unterhielten wir uns über Vrubel, über die köstlichen Farben in der Umgebung von Schachmatovo, über die Worte von E.K. Medtner, der zu mir von den Gefahren des Überschreitens der Grenzen der Kunst gesprochen hatte, über den „kultischen“ Charakter der Poesie Bloks.

Zwischen dem Morgentee und dem Frühstück ergingen wir uns in Gesprächen, denen sich unmittelbar eine belanglose Unterhaltung am Frühstückstisch anschloß (aus Rücksicht auf die Vettern); dann saßen wir noch eine Weile zusammen, zu dritt, zu viert; endlich trennten wir uns: Petrovskij und ich gingen hinauf (ich, um zu lesen und Petrovskij, um hebräische Grammatik zu treiben); das Ehepaar Blok begab sich in sein Häuschen.
Bei der Abendmahlzeit trafen wir uns wieder.
Einmal war die Essenszeit längst überschritten, aber Blok und seine Frau waren von ihrem Spaziergang noch nicht zurück; wir warteten vergeblich und setzten uns schließlich zu Tisch; erst sehr spät kehrten die beiden heim; auf alle Fragen, wo sie denn so lange geblieben wären, lächelte Blok, ohne zu antworten; auf dem Gesicht von Ljubov Blok spielte ein verschmitztes Lächeln; endlich hielt sie es nicht länger aus, warf die Serviette auf den Tisch und lachte:

Wir haben uns gestritten!

Sie hatten sich gestritten und blieben im Wald, bis der Geist des Friedens sie aus dem Wald geführt hat. „Worüber habt Ihr Euch denn gestritten?“ – fragte Aleksandra Andrejevna; die breiten Schultern von Ljubov Blok zitterten vor verhaltenem Lachen.

Nein, das kann ich nicht sagen…

Blok war verlegen: er schwieg. 

„Ihr tut aber sehr geheimnisvoll, Kinder“ – sagte Aleksandra Andrejevna lachend. – „Wenn Ihr es nicht sagen wollt, – lassen wir es eben.“

Nach dem Essen saß man bis zum Abendtee zusammen; und auch nach dem Tee blieben wir zusammen; wir schwiegen; durch die offenen Türen sah man von weitem in ein beleuchtetes Zimmer, dort stand ein Strauß weißer Wasserrosen; wir holten sie an dem Teich neben der Kirche; Petrovskij war voller Eifer, die prächtigste Blüte für Ljubov Blok auszusuchen; sie stand als die „schöne Dame“ am Ufer, das Köpfchen zur Seite geneigt, den weißen Spitzenschirm auf der Schulter: Petrovskij, der Ritter, stieg unter den Blicken der Dame bis übers Knie in das kalte Wasser; der Strauß wurde prächtig; Petrovskij war bis auf die Haut naß; aber er wurde des Wohlwollens der „Königin“ gewürdigt, die es so gut verstand, feierlich und unnahbar, aber auch klar, herzlich und schwesterlich zu erscheinen; die es so gut verstand zu schmollen, zu übersehen, jemand zu strafen und schmachten zu lassen – um huldvoll zu begnadigen; die Kunst der Strafe und Gnade beherrschte Ljubov Blok vollendet. Sie spielte mit Fingerspitzengefühl und mit Charme, als wären wir Kinder; wenn sie die Augenbrauen runzelte, zeigte Aleksandra Andrejevna auf die ungnädige „Herrin“ und flüsterte:

Seht Ihr, Ljuba ist verstimmt!

Blok zwinkerte, als ob er sagen wollte:

Da habt Ihr’s: jetzt seht Ihr, wie Ljuba ist… Sie hat Euch alle in der Hand, nehmt Euch in acht, nehmt Euch in acht…

Bestimmte Spielregeln bildeten sich; wir alle unterwarfen uns Ljubov Blok; wir gaben uns Mühe, alles ihr zu Gefallen zu tun; sie ließ uns gewähren, als sei dies die natürlichste Sache von der Welt.

 

Die letzten Tage

Sergej Solovjov kam immer noch nicht; wir rüsteten uns bereits zur Abreise; am Tage davor, es war gegen Abend, hörten wir im Wald das Postglöckchen; eine Kutsche fuhr vor, aus der Solovjov sprang, fröhlich und braungebrannt, in einem zerknautschten schwarzen Studentenrock; er lärmte und lachte den ganzen Abend und erzählte uns von den Freunden, die er besucht hatte, von seiner neuesten Liebesaffäre („der Gedichte wegen“); die Affären von Solovjov endeten alle mit einem Sonett.
Abends faßten wir den Entschluß, noch einige Tage zu bleiben.
Sehr bald fühlte Solovjov die Wirkung der „Atmosphäre“, in der wir lebten und wurde stiller; er kehrte wieder zur „Theologie“ zurück und zum „Lapan“; er hat Lapan mit der geheimen Absicht erfunden, mit dessen Hilfe manche seiner eigenen Träume auszusprechen; nun standen unsere gemeinsamen Vormittage unter dem Zeichen von Lapan; wir haben uns alle seinen Stil angeeignet und jeder „lapanisierte“ auf seine eigene Art und Weise; das führte zu homerischem Gelächter; zuweilen gab Solovjov donnernd Kostproben aus der „Pique dame“ zum Besten; er war durchaus mit einem inneren Gehör für Musik begabt: er war imstande, sich ein Stück Musik anzueignen; wollte er jedoch etwas wiedergeben, so klang es völlig unmusikalisch: er sang ohrenzerreißend – Alt, Sopran, Tenor und Baß; herrlich klang das Leitmotiv der „drei Karten“: er war ein schmissiger Tomskij, aber sein Glanzstück war die Rolle des Herman.
Die stürmisch-fröhlichen Tage mit Solovjov waren der Schlußakkord; durch die Fröhlichkeit hindurch schimmerte die Stille; die Zeit der Wasserrosen war vorbei und gelbe Blätter äugten durch das Grün; diese letzten Tage waren ungetrübt; ich wiegte mich in der brüderlichen Nähe zu Blok; einmal trug ich den ganzen Tag sein Hemd (mit Schwänen); alles war ein Akt der Bruderschaft.
Ich fuhr weg, braungebrannt, erholt, mit dem festen Entschluß, einen gewissen Punkt, der mein Leben verdüsterte, endgültig zu regeln; Blok wußte davon, obwohl wir beide darüber schwiegen; nur einmal gab er mir zu verstehen, daß es an der Zeit sei, „diesem Zustand ein Ende zu setzen“; Ljubov Blok billigte meinen Entschluß ebenfalls.
Und so erhob sich über den Baumwipfeln der Morgen der Trennung: wir waren traurig, als wäre es eine Trennung für ewig; bis zu Tränen empfand ich diese Traurigkeit; und in der Tat: es war uns nicht beschieden, noch einmal fröhlich und ohne „Probleme“ uns zu begegnen; ein Jahr später sahen wir uns alle wieder, aber über uns lastete ein „Problem“, das ungelöst blieb; das Dreieck zerbrach: die drei Brüder wurden Feinde.
Damals: der Wagen fuhr vor; wir nahmen Abschied: Ljubov Blok und Blok standen vor der Haustür, sie winkten; ich drehte mich nach ihnen um; ein grüner Zweig schob sich dazwischen; wir fuhren bereits durch den Wald.
Versonnen ließen wir uns rütteln; wir trugen in uns einen Hauch der wärmenden „rosa-goldenen“ Atmosphäre, die wir – wir nahmen das uns vor – in unserem Leben verwirklichen wollten.
Das erste, was wir in der Stadt erfuhren, war die Nachricht von dem Attentat auf von Pleve (am Tag der Ratifizierung des Handelsvertrages mit Deutschland); die Nachricht machte uns nachdenklich, denn wir empfanden dabei, daß dieser Mord eine Grenze bedeute. Damit begann eine neue Epoche, die Geburt des Thronfolgers und den Friedensvertrag empfanden wir anders als vorher.
Bereits am ersten Abend trafen wir uns alle drei in der Wohnung von Sergej Solovjov; Sergej Solovjov hatte Besuch von Stschukin, der gerade aus Italien zurückgekommen war und ihm eine kleine Madonna mitgebracht hatte; Sergej Solovjov stellte die Figur auf und schwenkte vor ihr ein Weihrauchfaß; er holte uns beide in sein Arbeitszimmer und schloß hinter uns fest die Türen zu, weil Stschukin, der bei einer Tasse Tee im Eßzimmer saß, von dem Weihrauch nichts merken sollte; ich glaubte, das war nicht möglich: die ganze Wohnung roch nach Weihrauch.
Auf diese Weise haben wir mit Weihrauchwolken, die vor einer Madonna aufstiegen, einen neuen Abschnitt unseres Lebens eingeleitet. Wir ahnten nicht, daß diese Weihrauchwolken den Abschied von unserer Vergangenheit markierten – von der Madonna. 

(…)

Andrej Belyj: Im Zeichen der Morgenröte. Erinnerungen an Aleksandr Blok, Übersetzung Swetlana Geier, Zbinden Verlag, 1974

 

Werner Helwig: Ein Mystiker der russischen Revolution. Zu Alexander Block, Merkur, Heft 366, November 1978

Oleg Jurjew: Das Lächeln von Alexander Block

 

 

ANNÄHERUNG AN BLOK UND MAJAKOWSKI /
ERSTER VERSUCH

1
Da hinterm Weinglas rinnt die bleiche Stirn:
aaaRevolution, Salut!
aaaKrach-Zrach!
aaaChrist und die Zwölfe!1
Blok zieht nicht mit, das zündelnde Gehirn,
Die Finger wirbeln unsichtbaren Zwirn:
aaa„Ja, franst die Spießer!
aaaFreßt sie, rote Wölfe!“
Das Glas zerbricht, unter der wilden Hand
Zerbrach ein Glas…

… und draußen drehte
Brennend sich das Land
Unter Proletenfäusten,
Drehte sich und – stand:
aaaSOWJETUNION!

Die Welt ward lichter, als sies las,
Und du zum schwankenden Schatten an der Wand.

2
Deine „Zwölf“ doch marschieren, marschieren.
Schon faßt sie nicht mehr dein Blick.
Majakowski springt auf, sie zu führen.
Dich sieht man den Aschenwind schüren?
Du tappst in die Dämmrung zurück?

3
Nie sprach der dumpf wie tief aus einer Tonne.
Metalle schlagen aneinander schön und bunt und grell.
Mit seiner Faust schlug er als Gong die Sonne,
Dem linken Marsch voraus – etwas zu schnell?

Wo ist das Maß, um seinen Schritt zu messen?
(Etwas zu schnell? Deshalb auch schneller Schluß?)
Noch heute fehlts nach hundertzwölf Kongressen!
Nicht nur den Strophenschritt, die Welt hört auch den
Schuß…

Sein eigenes Wort will jenes Echo überschreien.
Metalle schlagen aufeinander schön und bunt und grell.
Wer zeigt aufs Einschußloch? Auf diese wolln wir speien!
So wär sein Wunsch:

Das rote Trommelfell,
Ich lad euch wütend ein, die Fäuste draufzuhauen,
Das Herz, geballt und bis zuletzt nicht müd.
Die Ärzte, laßt sie mahnen, drohn die Frauen!
Wenn nur kein Seufzer trieft aus euren Zähnen,
Doch mein Atem blüht.

Adolf Endler

 

 

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