Alexander Krohn: Du last den Titel und blättertest die Seite um

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alexander Krohn: Du last den Titel und blättertest die Seite um

Krohn/Krohn-Du last den Titel und blättertest die Seite um

KRANKENHAUS

Man pißt
in den Hals
einer Ente

und trinkt
aus dem Schnabel
einer Tasse

 

 

 

Astrachan

– Alexander Krohn und Bert Papenfuß in Plauderton und Lokalismus. –

GLEICHMUT UND MEERWUT

Alexander Krohn: Was stört Dich an Passivität?

Bert Papenfuß: Wenn sie als Muße daherkommt, gar nichts. Braucht man wie die Ruhe vor dem Sturm. Wennse aber als Desinteresse rumkommt, kriechtse eins inne Fresse, und wird rechts liegengelassen; hoch die Tassen. Durst ist schlimmer als Passivität.

Krohn: Ganz schön militant – ich dachte, Du warst mal Bausoldat, und als solcher Pazifist? Hast Du schon mal hart hingelangt? (Oder wurdest weich geklopft?)

Papenfuß: Die Verweigerung des Waffendienstes war für mich eine symbolische Handlung, mit der ich den Zuständigen in der DDR klarmachen wollte, daß ich ihren Saftladen nur bedingt unterstützen kann, was ich mir allerdings im Ernstfall wohl anders überlegt hätte, wenn dann noch Zeit gewesen wäre, sich überhaupt irgendetwas durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn mir der Laden völlig am Arsch vorbei gegangen wäre, was hin und wieder der Fall war, hätte ich in’ Sack gehauen und wäre rübergemacht.
Im Laufe der Jahre hab ich ab und zu mal zugelangt, selten als erster. Einmal hat es einen Bullen getroffen, was für DDR-Verhältnisse gewagt war. Besoffene Schlägereien hab ich meist verloren. Manchmal hab ich mich ziemlich auseinandergenommen nach Hause durchschlagen müssen. Pazifismus ist, glaube ich, nicht das richtige Wort für solch Verhalten. „Friedensbewegung“ hatte für mich immer eine sexuelle Bedeutung,

Krohn: Du hast Dich als einen „Sproß der militärischen Intelligenz“ bezeichnet – wie standen Deine Eltern zu Deiner Wehrdienstverweigerung?

Papenfuß: Als Offizierssohn wollte ich natürlich auch Offizier werden, möglichst Panzerkommandeur, wie mein Vater am Anfang seiner Militärlaufbahn. Eine Zeitlang hat mein Vater mein militärtechnisches Interesse bedient, hat mir meine Heraldik- und Effektensammlung vervollständigen helfen, mir militärhistorische Bücher besorgt, mich mit auf den Schießplatz genommen usw., als ich jedoch eines Tages einen ekligen Ölschinken mit einem T-34 und ein paar aufsitzenden Soldaten, den er mal als Auszeichnung für ein Manöver erhalten hatte, über mein Bett hängte, nahm er das Bild in meiner Abwesenheit weg und zerschnitt es. Er versuchte dann, mich für ein Medizinstudium zu begeistern – „Werde doch Schiffsarzt, du kommst rum, siehst was von der Welt“.
Glücklicherweise kam dann die Geschlechtsreife, und Militärtechnik und Medizin wichen organisch Mädchen und Beat-Musik. Je mehr Mädchen ich kennen lernte und von ihnen lernte, desto mehr verlagerten sich meine mechanistisch-technischen Interessen zum Künstlerischen hin, das sich dann infolge langsam Ausdruck suchte.
In der Zeit ließen sich meine Eltern scheiden, und ich entschied mich, bei meiner Mutter zu leben, weil ich von Kasernen und Batzensilos die Schnauze voll hatte. Insbesondere nach der Scheidung war meine Mutter gegen alles Militärische und Militante eingestellt. Als ich den Waffendienst verweigerte, ich wohnte schon nicht mehr bei ihr, unterstützte sie mein Bestreben zaghaft. Mein Vater bekam von seiner „Abteilung 1“ (armeeinterne Stasi) gesteckt, daß er mal mit seinem Sohn reden sollte. Er kam ins Theater Schwerin, wo ich damals als Beleuchter arbeitete, berief die Parteileitung ein, und teilte denen mit, daß ich den Waffendienst verweigert habe, was den Suffnasen ziemlich schnurz war, am Theater herrschten andere Verhältnisse als draußen in der sog. Produktion, und Offiziersöhne taugen ganz besonders zu Stressmachern, Widersachern und Außenseitern, das wußten die schon – und tolerierten das. Wir wurden dann einen trinken geschickt, aber unser Gespräch verlief frostig. Ein Jahr später hat er mich noch mal in Schwerin besucht und nicht mehr darüber gesprochen, was nicht heißt, daß er begeistert über meinen Aussteigerwerdegang war. Ich war, wie gesagt, nie Pazifist, habe als Kind mit Waffen gespielt, bin mit großem Besteck und Tschingderassa aufgewachsen, aber ich war nie dagegen, revolutionäre Gegengewalt anzuwenden. In der DDR bestand dazu keine aussichtsreiche Gelegenheit und gesellschaftlich sanktionierte Notwendigkeit, oder umgekehrt, was mir nicht leid tut. Militanz durchzieht meine Texte, manchmal kryptisch, und dann wieder in die Fresse des Unsinns.

DAS BROTSPIEL

In Scharen, und an den Haaren,
Einblick und Aufschluß heischend,
aus Wrasen und Brodem herbeigezogen,
jenseits von Brot und Spielen, und Phrasen,
mickern des Widerstands Winzlinge wutbetäubend.

aaaaaSchau, die Dämmerung webt den Abend, rings im Gras blinkt
aaaaaTau, und die Vogelspinnen schweigen wie Sau bis zum Morgengrau.

In der Systemschleife, voll in die Scheiße,
wird Wut verknotet, und notfalls zurückgekotet,
reimlos geht dem Mittelsmann der Hut hoch, jedoch
als Bogenlampe – ins Aus. Eine menschliche Rohrbombe
auf Freiersfüßen läßt sich von sich selber grüßen, und krepiert.

aaaaaSchlafe ein und fang die Träume,
aaaaaeinmal sprengst auch du die Räume.

Der Widerstand von langer Hand verdichtet sich.
Wem die Scheide ist beschieden, der knie ab hienieden,
empfange den Streich, und ziehe ins Feld der Gegenwehr.
Die Einheit ist im Widerstreit. Achtung, hier kommt Kasbek,
der roocht allet weg! Parole: Vorfühlen, Angrapschen, Nachfassen.

aaaaaHör nur, die Nacht singt ihr Lied,
aaaaaschlaf ein, noch vieles geschieht.

Anmache, Verachtung, Haß und Rache. Der renitente Rest
fickt den dahergelaufenen Oberschenkel, Schlamm zu die Kante;
Unsicht, Ohnmacht und Anarchie profilieren sich. Prollbackenkacke
brutzelt in der Blechpfanne, ringsum Hottentottenremmidemmi, Kopp zu
isset Ziel vom elenden Brotspiel, der Gesellschaftsentwurf entgegen Bluternst

aaaaaEine Welt sollst du gewinnen, nächtlich neu beginnen,
aaaaaschlafe ein und träume weit, bis dahin ist noch Zeit
.
1

Das dazu, nun zu Dir:

Reich der Mitte, das bedeutet: Wir haben nach den Überlieferungen den ungeheuren Weg vom Westmeer der Sonne entgegen zurückgelegt: Wir stoßen wieder an das Meer, und es ist dasselbe, das wir verlassen haben: Also ist der Umfang der Erde ein Kreis, und an der Küste des Meeres ist die Mitte, denn das Meer muß ebenso breit sein, wie das Land, durch das wir kamen.
Und wenn man jetzt etwa Island als den Punkt der westlichsten Erfahrung annimmt, und Korea als der östlichsten, wenn man denkt, eine wie ungeheure Summe von astrischen Beobachtungen auf dem langen Weg der Land- und Seewanderungen von Island bis Korea gesammelt wurde, erst dann kann man begreifen, daß eine Beobachtung der Sterne und der Erdmaße hier im Osten möglich wurde, kann verstehen, welche große astronomische Arbeit hier geleistet worden ist, erst dann kann man daran gehen, die chinesischen Leistungen vollkommen zu würdigen.
Auf die Geomantik und Astromantik im Bau der chinesischen Tempel etc. in der späteren Periode kann ich hier nicht ausführlicher eingehen weil dafür zu viel wissenschaftliches Material herbeizuholen wäre, das doch nur einen kleinen Kreis von Menschen interessiert.
(Ernst Fuhrmann: China. Erster Teil. Das Land der Mitte. Folkwang-Verlag, Hagen i.W., 1921)

Ich weiß, daß Du in Island einschlägige Beobachtungen gemacht hast, kannst Du diese zum Anblick des chinesischen Meeres in Beziehung setzen?

Krohn: Nein, leider nicht, denn ich war noch nie in Island. Im Februar 1997 flog meine Band, zusammen mit Rex Joswig und Project Skull, nach New York, um dort Konzerte zu geben. Auf dem Weg legten sie einen halbtägigen Zwischenstop in Island ein. Zu diesem Zeitpunkt war ich allerdings schon in New York, hatte also lediglich die Aufgabe, die Kollegen vom Flughafen ins Hotel zu bugsieren. Als erster kam Rex Joswig heraus und begrüßte mich mit den Worten: „Einen feinen Kindergarten hast Du da!“ Dann trudelte nach und nach, mehr oder weniger hacke und unter Drogen, der Rest ein. Unser Techniker wurde gleich am Abflughafen wegen Steuerschulden verhaftet und fuhr, statt nach New York, ins Hamburger Gefängnis. Für einige mußte ich persönlich bürgen, es gelang mir mit Mühe eine Flughafendame davon abzubringen, unseren Cellisten (wegen Rauchens auf der Toilette) um 5.000 US $ zu berappen; am vernünftigsten benahm sich noch unsere (schwangere) Biographin, eine Studentin namens Simone, die sich freiwillig die undankbare Aufgabe gestellt hatte, uns zum Thema ihrer Examensarbeit zu machen und die wir, verwegener Haufen, der wir waren, gelegentlich Mosine nannten.
Ich hatte, um ehrlich zu sein, schon nach wenigen Minuten die Nase voll und beschloß dann so hohes Fieber zu bekommen wie schon lange nicht mehr. Von Island haben sie wenig erzählt, hier aber was zu meinen Beobachtungen:

BEOBACHTERBEOBACHTEN

Beobachten ist eine verpönte Beschäftigung.
Zum einen schürt der Beobachter aus irgendeinem Grund oft
die schlechte und trübt die gute Stimmung, zum anderen
lassen sich Leute ungern beobachten und beobachten auch
selbst nicht gern.
Eine Alternative bietet vielleicht das Beobachterbeobachten.
Der Beobachterbeobachter arbeitet erstmal mit den selben
Mitteln wie der Beobachter, allerdings gibt das Beobachterbeo-
bachten oft mehr Aufschluß über die von Beobachtern
beobachtete Thematik, als das Beobachten selbst.
Ein Beispiel: Interessiert man sich für die Wirkungsweise einer
Gesellschaft, gibt einem das Beobachterbeobachten einiges zu
denken – die drängenden, sich im Konkurrenzdruck der Presse
befindlichen, um ein Foto oder eine Antwort bemühenden,
Beobachter, sagen vielleicht mehr über besagte Wirkungsweise
aus, als die langweiligen Reden, derer sie kamen.
Das Beobachterbeobachten läßt sich auch auf speziellere
Themen anwenden – z.B. die Integration homosexuell
ausgerichteter Menschen im asiatischen Raum, oder noch
spezieller: das Leben der Transvestiten in Bangkok. Interessiert
man sich für diese Minorität, wird man feststellen, sie laufen
(im Gegensatz zu anderen Ländern) nicht nur frei herum,
sondern scheinen auf ihre Weise, oftmals singend und
angetrunken, nächtens durch die Straßen pfeifend, Freude am
Leben zu haben und niemand scheint an ihrer Ausrichtung
ernsthaft Anstoß zu nehmen.
Folgt man nicht ihrem Gehen, sondern betrachtet sich die
hinterrücks einsetzenden Blicke, ändert sich dieses Bild.
Natürlich läßt sich das Beobachterbeobachten überbewerten,
ebenso wie das Beobachten und alles andere auch, es läßt sich
eben nur als eine zeitlich begrenzteTechnik verstehen und
anwenden, als solche aber hoffen, daß unsere Welt eines Tages
nicht zu träge ist, eine weitere Spezies hervorzubringen,
vielleicht die des Beobachterbeobachterbeobachters.

 

SEINSSCHWERE UND DEMSESCHWOF

Krohn: Wenn Dir eine Idee kommt – hast Du damit soviel zu tun, außer, daß Du geboren wurdest? Falls ja, woher kommt die Idee?

Papenfuß: Aus dem Brodem der sozialen Seinsschwere und des individuellen Existenzschweißes. Ideen sind oft Samen, die von anderen ausgehen und in mir aufgehen, weil in den anderen keine gute Gare war. Wat’n Dichter ebenso wie ein Revolutionär wirklich braucht, is’ ne gute Krume, damit die Saat aufgeht. Man kann die Blüte allerdings auch zur Selbstdarstellung mißbrauchen, ich meine das alles nicht moralisch, meine Erfahrung sagt mir nur, daß es nüscht bringt, ein Leben lang an sich rumzumurkeln.

Krohn: Wie kann man sich Deine Gare vorstellen? Als eine Gabe oder als einen Graben; auf der einen Seite Du, auf der anderen Deine Gegner?

Papenfuß: Gare ist gute Empfänglichkeit, Gift eine Gabe, ein Graben gut zur Bewässerung der Krume und ein Grab Kompost.

Ein Lebensgefühl reiner Diesseitsorientierung, durchblutet von tropischer Körperwärme! Aus Auswirkung dieser erotischen Potenz lassen sich ganz allgemein einige Hauptzüge aufweisen, wie: visuelle Eindrucksfähigkeit, Beobachtungsschärfe, Erlebnisheftigkeit, physische Konzentration, Triebhaftigkeit und im weiteren Sinne: instinktive Einfühlungskraft, sinnliche Erregsamkeit, stark entwickeltes Unterbewußtsein und Gefühl für handgreifliche Tatsachlichkeit. (Karl With: Java. Buddhistische und bramanische Architektur und Plastik auf Java. Neue gekürzte Ausgabe. Folkwang-Verlag, Hagen i.W., 1922)

So beschreibt ein, ins Erotisieren geratener, deutscher Wissenschaftler den Javaner und seine Kunst. Wie verhalten sich Erotik, Demse und Kunst Deiner Meinung nach?

Krohn: Hans Kretzschmar, mein früherer Sportlehrer, pflegte fußballerisches Versagen mit den Worten zu kommentieren:

Wenn jemand zwei Meter vor dem leeren Tor danebenschießt, kann man ihm das nicht mehr übelnehmen – das ist schon eine Kunst. Das ist ein Künstler!

Keine Erotik ohne Kunst.
Beim Einschlag eines erotischen Blitzes aktivieren sich unsere Sinne ebenso wie beim Betrachten eines Bildes: Sie suchen Deckung. Deckung verschafft eine Art von Befriedigung, die nicht im Widerspruch dazu steht, mehr Verlangen zu schaffen.
Keine Demse ohne Erotik.
Demse = Leben. Erotik Ursprung, Demse der Spielraum. Phantasie als Spiel, ist nicht nur etwas, daß nach außen drängt, sondern in dir wuchert und Nahrung will. Fütterung verschafft eine Befriedigung, die dem Gefühl ähnelt, an sich herumzuspielen.
Keine Kunst ohne Demse.
Demse hierbei als Dampf, Druck, Anhäufung, Stauung, Ballung, Wallung, Aufladung und Entladung zu verstehen – sonst bleibt alles nur heiße Luft.
Keine Demse, keine Kunst, keine Erotik ohne Schweiß. Moral:

Wenn Demse,
draußen heiß,
wenig Kleidung,
gut für Erotik;
wer keine abkriegt,
wird Künstler.

Weshalb gibst Du die Zeitschrift GEGNER heraus?

Papenfuß: Es gibt eine Tradition der literarischen Renitenz, sowohl formal als auch substantiell, die z.B. durch die von Karl Otten und Julian Gumperz von 1919 bis 1922 herausgegebene Zeitschrift Der Gegner und das von Franz Jung und Harro Schulze-Boysen von 1931 bis 1933 herausgegebene Nachfolgeblatt Gegner verkörpert wird. Dieser häretischen Kiste bin ich verpflichtet, und es ist mir eine Ehre, mit meinen Genossen daran weiterzubasteln. Wofür, ist mir hierbei relativ brenne. Die Verhältnisse in der gegenwärtigen Welt sind auf absehbare Zeit so bestellt, daß ich für mein Teil nur dagegen sein kann. Im Zuge des Entgegnens ergibt sich Neues.
Die Gründungsphase 1919 bis 1922 könnte man salopp als eine revolutionäre bezeichnen, die zweite von 1931 bis 1933 als eine reaktionäre – seit 1999 steht alles auf der Kippe; wollen doch mal sehn, ob unser Lebtag noch wat zu Löten ist; ökonomisch, substantiell und antipolitisch.

Krohn: Warum seit 1999?

Papenfuß: Weil nach zehn Jahren Postwende jegliche Luft einer, wie auch immer gearteten, Aufbruchsstimmung raus war, die Artikulation der Lebensfreude ging gegen null. Lebensfreude, auch im Sinne von Mitfreude, wird seither nach Mitteleuropa importiert aus Ost- bzw. Südosteuropa oder dem Rest der Welt. Ich sage nur: Goran Bregovic, Kocani Orkestar, Russendisko, Karneval der Kulturen; von solchen indiskutablen Kommerzspektakeln wie Love-, Hate- und Hanfparade jetzt mal ganz abgesehen. Auch Britannia Theatre, Infamis und Majong sind ja nicht unbedingt Träger von Lebensfreude, und Du bist nicht auf einer Deutschlandrundreise, sondern dort draußen in der Welt. Ökonomisch motiviert ist dieses Manko durch die mittlerweile wahrgenommene Vergeblichkeit der Arbeit. Nach dem andauernden Auf und Ab der New Economy wurde klar, daß man Geld entweder mit Fernsehen oder mit Geld verdient, was jegliche Hemdsärmeligkeit in die Schranken weist. Unsere Trikotagen werden in Rumänien gewebt, Bücher in Thailand gedruckt usw., unser nachlassender Wohlstand fußt auf der Ausbeutung der Niedriglohnländer, und schlägt auf Selbstbewußtsein und Lebensmut der Bevölkerung. Humor gewinnt an Wichtigkeit, muß aber, im Gegensatz zum Mediengaudi, witzig sein.

 

SELBSTGEFÄLLIGKEIT UND ARSCHLOSIGKEIT

Krohn: In der DDR galt das Haben von West-Verwandten als ein Vorteil, über den viele sich freuten. 1999 übernahmst Du das Kaffee Burger in Berlin 2001 kam ich einmal mit meinem Bonner Cousin Joachim in diese Kneipe, stellte euch einander vor und Du sagtest: „Iiih, Du hast Westverwandte!?“ – Magst Du Westler nicht?

Papenfuß: Gut, so ist Deine Erinnerung, meine ist anders, lockerer, nicht so bärbeißig wessifresserisch; wenn zwei sich erinnern, wird ein Schuh draus – mindestens zwei. Jedenfalls saßet ihr da rum wie Schlacks und Schluck Wasser, so ist der Anblick in meiner Erinnerung, ein Schluck Bier mag meine Zunge gelockert haben, um Dir rechtzugeben. Wie dem auch sei, im engeren Sinne mag ich auch Ostler nur bedingt. Bekenntnisse zu Staaten, Regierungsformen, politischen Modellen usw. gehen mir auf den Docht, den ich verkörpere – um mich Blitzmerker und Nullchecker, Die Selbstgefälligkeit der Westler ist genauso beschämend wie die Arschlosigkeit der Ostler, neuerdings auch umgekehrt. Einverleibung trifft Aufhalsung und beißt sich in den Arsch. Gewehrt hat sich jedenfalls keiner, und hinterher ist’s natürlich keiner gewesen. Der Dochtverkörperer nimmt’s auf die leichte Schulter, Allzumenschliches geht ins Hemd. Wat schwer auf dem Magen liegen bleibt, spül’n wa mit Kräuter runter. Von dem ekelhaft neurotisierenden Westfraß will ich gar nicht erst anfangen, Dir bleibt diese Leckerei ja ’ne Weile erspart, wo hat es Dir überhaupt bisher am besten geschmeckt?

Krohn: Nachts in Bangkok, bei einer Nudelsuppe. An einer Bushaltestelle in Malaysia, bei einem roten Ei-Ananas-Curry. Frischer Joghurt in Peking. Die Chilisaucen in Laos haben es mir auch angetan: Chilis mit Knoblauch, Limone, frischem Koriander und manchmal gehackten Erdnüssen.
In Moskau kaufte ich mir am Bahnhof eine Art Mohnzopf, kräftig mit Eigelb bepinselt, daß er schön glänzte, wenn er mit wenig Luft und aus schwerem, in sich verflochtenem Teig, der an Bagels erinnerte.
Die Mongolen haben andere Stärken. Gewöhnungsbedürftig ist, daß sie Fleisch nicht braten, sondern kochen, möglichst kaum würzen und am liebsten das Fett essen. In meinem Reisebuch las ich etwas, daß ich bestätigen kann, sinngemäß: Ulan Bator dürfte die einzige Stadt sein, in der man zur Mittagszeit an Restaurants einen Zettel findet:
closed for lunch.
Kannst Du dich an den kleinen Markt am S-Bahnhof Schönhauser Allee erinnern, der da war, bevor die Arkaden errichtet wurden? Nicht daß mir diese Schlammgrube besser gefiel, aber es gab dort einen asiatischen Essensstand (Stichwort:
Chinapfanne), an welchem man Banh Bao kaufen konnte – Hefeklöße, gefüllt mit Glasnudeln, Gemüse oder Fleisch. Solche aß ich gern in Vietnam.
Nicht zu gebrauchen sind meiner Ansicht nach kulinarische Annäherungsversuche, sowohl als auch. Toast oder Spaghetti kann man in der Regel vergessen, okzidentalisierte Asien-Gerichte à la
fried noodles oder fried rice peppen auch nicht so richtig – bleiben aber vielen der einzige Eindruck asiatischen Essens. Mehr Mut!
Zum Fressen gern hatte ich das Angkor Wat, neben Borobudur (Indonesien) und Bagan (Myanmar) einer der drei größten buddhistischen Tempelkomplexe Süd-Ost-Asiens – Bagan war eigentlich noch besser: auf mehreren Quadratkilometern verstreute Stupas, Tempel und Pagoden; Zuckertürme, Kleckerburgen – besonders im lehmroten Licht der Abenddämmerung möchte man hineinbeißen. (Geruchsinteressierten sei der Besuch eines Reismarktes nahegelegt. Abgesehen von der überraschenden Vielfalt des Reiskorns bezüglich Bau und Gestalt, bietet sein Geruch eine Menge.
Hitze, Staub, Dachboden – leider ist meine Wassersuppe zu dünn, das poetisch zu verwalten.)
In einem Hotel in Rangoon fragte ich einmal, ob ich hier etwas zu essen bekommen könnte. Der Kellner lächelte freundlich, sagte „Nö“ und reichte mir die Speisekarte. Dieser Art Humor begegnete ich selten, zumeist dort, wo Geschmack nicht nur für die Zunge war, denn

Geschmacksstand = Wissensstand
Wissensstand nicht Erfolgsgarant,
Großleinwand & Amazon-Versand,
sondern Schnitt in die eigne Hand
plus Druckverband, Sprung in den
Schüsselrand & immer hirnverbrannt,
sonst Wissensstand = Sackstand.

Ansonsten war meine Ernährung, um ehrlich zu sein, nicht allzu abwechslungsreich. Das lag daran, daß ich es aufgab, Fleisch zu essen, was mir nicht schwer fiel, da das meiste Fleisch sowieso nicht gut schmeckte, außer Hund. Auslöser, aber nicht Grund, für meinen freiwilligen Verzicht, war das Miterleben zweier Schlachtungen. Ich hörte die Schreie, als ich die Speisekarte las. Es drang aus den hinteren Räumen eines indischen Restaurants bis nach vorn auf die Terrasse. Jemand schloß die Tür, um den Gästen nicht den Appetit zu nehmen. Von hier aus betrachtet, war es erstaunlich, wie schnell ich es wieder vergaß. Denn als ich Minuten später durch einen schmalen, schwarzen Gang, rechts, an einer schmutzigen Küche, links, an einem dunklen Spülraum, der in einen kleinen Hof mündete vorbei zur Toilette ging, hockte jemand auf dem schwarzen, schmutzigen Boden, mit einem breiten Messer in der Hand, über dem Huhn, aus dem dunkelrot das Blut lief.
Am folgenden Tag hielten wir zum Essen in einem Dorf. Wieder hörte ich Schreie, aber leiser, undeutlicher. Auf dem Hof stand ein Junge mit einem Stein in der Hand. Das Huhn stand auf einem kleinen Hügel aus Sand oder Schutt. Es war weiß, Blut lief ihm am Hals hinab. In meiner Erinnerung waren der Stein und die Hand des Jungen auch blutig, waren sie aber nicht. Auf der Toilette hörte ich mehrmals das dumpfe Aufschlagen des geworfenen Steins. Die Ruhe dieses Tieres – es war traurig und unklar, wie sein Blick zu deuten war, Es stand ein oder zwei Meter von dem Jungen entfernt, einerseits wir paralysiert, den Tod abwartend; andererseits sich unauffällig verhaltend, geradezu die Nähe des Jungen suchend; unfähig, zu kapieren

 

HÄNDE WEG VON LAOS!

Krohn: Rockmusik scheint Dir sehr wichtig zu sein – warum?

Papenfuß: Rockmusik ist gut gegen Literaturbetriebsblindheit, Literatur ist gut gegen den Rockbetriebsstumpfsinn. Im Lyrikgewerbe gibt es genau solche Poser wie im Rock; ich behaupte nicht, daß man das eine mit dem anderen austreiben kann, aber man kann es ja mal versuchen, allein um des Widergespinstes willen. Ich mag es, Leute zu sehen, hören und lesen, die ihre „Sache“ freiwillig und überzeugend rüberbringen. Literatur ist entweder knochentrocken oder albern, aber mittendrin bzw. zwischen allen Stühlen kann wat bei rummkomm’. Rock on! Die „Sache“ ist radikales sozialrevolutionäres Engagement, in der letzten Konsequenz anarchistisch. Engagement ist ein Scheißwort, ich würde lieber Jihad sagen, oder „Strebung“, wie Wilhelm Reich es in Übereinstimmung mit der wörtlichen Bedeutung von Jihad, nannte. Der Große Jihad ist die Strebung, das Autoritäre im Eigenen zu überwinden, der eigentliche Jihad ist Federführung, der Kleine und letztliche Jihad ist die bewaffnete Widerstrebung ohne viel Federlesens. Wenn ich Rockmusiker wäre, wozu ich nicht blöd genug bin bzw. zu blöd, würde ich mich mehr für Literatur interessieren, aber dennoch mit der Gitarre in der Hand für den Untergang einstehen, der nun mal dem Aufgang vorangeht, nehme ich an.

Krohn: Woher kommt Deine „Strebung“?

Papenfuß: Aus dem Destillat des Existenzschweißes, aus der Angst. Angst ist der Drang, Beengendes zu sprengen. Angst ist Benzin für den Motor der Befreiung. ,,Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht!“, wie Franz Jung sagt. Der Gipfel der Strebung sollte ein Wert sein.

WARUT

Alles, was käuflich und verkäuflich, ist Ramsch, entbehrt
jeglichen Wertes. Im Gegensatz dazu dienen wertvolle
Gegenstände, Verhältnisse und Gedanken dem Erhalt der
menschlichen Rasse im Zusammenhalt ihrer irdischen und
außerirdischen Umgebung. Reproduktion geht vor
Produktion. Kultur ist Teil des natürlichen Kontext. Dinge
des täglichen Bedarfs sind existentiellen, kulturellen und
luxuriösen Charakters. Fortbewegungsmittel motorischen,
elektrischen und muskulären Antriebs sind schädlich, und
somit wertlos, weil sie, der Ausbeutung natürlicher, und damit
auch menschlicher, Ressourcen wegen, Menschenleben
vernichten.
Verkehr ist ein Blutbad, Tanken heißt Blutvergießen. Erdöl ist
unappetitlich, schließlich verflüssigen wir auch nicht die
gesinterten Leichen und Küchenabfälle unserer jüngeren
Vorfahren. Geld ist kein Äquivalent wertvollen Handelns und

Handels, sondern Mehr-„Wert“-heckendes Medium der
Pfuinanzoligarchie. Geld tötet vitale Impulse, produziert allen-
falls Händel. Kunst, um im kapitalistischen Sinne wertvoll
zu erscheinen, will Geld verdienen. Der deutsche Künstler z.B.
frißt das Gnadenbrot des Staates, allein der Künstlersozial-
kasse wegen, in anderen Ländern gibt es Steuervergünstigungen
und dergleichen, um den Profiteuren der Marktwirtschaft ein
„kulturelles“ Ambiente zu garantieren. Der Anblick schlägt auf
die Augen, und dringt in die Seele, besonders der garstige
Anblick. Aus Groll wird Gram, Arg lauert im Anschlag.
Video-Müll behindert die Sicht, Abgesandte des Bienen-
menschen schwärmen aus und erhaschen Einblick – schnell,
nomadisch und konspirativ. Dem Fruchtwasser entsteigt
Wert, empört sich und gibt Aufschluß. Aus Dampf und
Dunst steigt die Wolke. Warut.
„Uh-hu-hu“.

Krohn: Was ist Rotwelsch?

Papenfuß: Rotwelsch war die Geheimsprache der organisierten Kriminalität im deutschsprachigen Raum zwischen dem 13. und 19. Jahrhundert. Rot(t) = Bettler, Possenreißer, welsch kommt von walen = undeutlich sprechen. Die künstlich geschaffene, sorgsam gehütete und umsichtig vermittelte Sprache enthält Wörter der Randgruppen der Gesellschaft; der Zigeuner, Juden, Bettler, Henker, Händler, Schinder, Prostituierten usw. – der ganze fahrenden Mischpoke eben. Mischpoke von jidd. „mischpoche“ = Familie. Fremdsprachliches Material kam in erster Linie aus dem Hebräisch-Aramäischen und später aus dem Romanes, ferner dem Niederländischen, Polnischen, Französischen, Latein bzw. Küchenlatein, dazu kamen diverse Wortverdrehungen, Wortspiele, Umdeutungen und Erfindungen. Ende des 19. Jahrhunderts hatten deutschen Kriminalisten und Wissenschaftler die Geheimsprache soweit erschlossen und katalogisiert, daß sich eine weitere Benutzung nicht mehr anbot. Einige Worte sind in die Umgangssprache eingedrungen; Paradebeispiele: Saure-Gurken-Zeit, Hechtsuppe und Schlammassel. „Saure Jurken“ kommt aus dem Jiddischen „Zores jokres“ = große Sorge, Leid; Hechtsuppe von „hech supha“ = wie Sturmwind; Schlammassel von dt. schlimm und jidd. „masol“ = Stern, Glück. Die Vorsilbe Mords- z.B. kommt von zig. „morsch, mursch“ = Mann, Hengst.
Du hängst ja schon länger in Vientiane ab und läßt dort Deine Broschüren drucken. Wie ist es dort?

Krohn: Vientiane ist ein Hammer! Aber einer, der matt glänzend und etwas angestaubt im Schatten liegt. Auf den ersten Blick scheint es fast langweilig, auf den zweiten bezaubernd verzaubert.
Will man nicht fliegen, kann man zu Fuß in Laos einreisen – über Nordthailand und je nach Lust und Laune dortiger Grenzbeamter auch mal über Kambodscha, China oder Vietnam.
Auch wenn sich die Hauptstadt vom Rest des Landes unterscheidet, eignet sie sich prima als Einstieg. Es gibt Hotels, Telephon und asphaltierte Straßen – was Indochina-Reisende zu schätzen wissen. Die billigen guesthouses kosten um die 5 US$ und können getrost Bruchbuden genannt werden. Die Farbe fällt von den Wänden, Laken rangieren von scheckig fleckig bis stark beharrt und ist eine Fensterscheibe kaputt, macht es eine alte Zeitung. Die Stimmung ist unverkrampft – hier darf lustig im Bett gekrümelt und auch mal Bier verschwappert werden. Bier gibt es im wesentlichen eine Sorte schmeckt passabel – und trinkt man soviel, daß man morgens nicht mehr weiß, wo man ist, hilft der Name: Beer Lao.
Tastet man sich durch die dunklen Gänge – Glühbirnen knapp, kaputt oder geklaut – zurück in Richtung Hotel-Vorhalle, kann man sich eines provisorischen Eindrucks nicht erwehren: hier liegen ein paar Ziegelsteine, dort eine leere Flasche, an der Wand hängt ein Bild oder auch nicht; und das Vertiko der Rezeption hält alle Schubladen offen – warum? – vermutlich hatte der letzte einfach keine Lust sie zu schließen. Also alles Kleinigkeiten, Dinge, die sich mit etwas Wasser, einem Besen und dem nötigen deutschen Vokabular beheben ließen – aber wenn einem dann die vor dem Fernseher dösende Hotelbelegschaft zulächelt, fragt man sich schnell: wozu eigentlich?
Die laotische Währung ist der Kip. Geld wechselt man auf einer Bank es dauert lange, Beschwerden sind unnütz und unschön. Der größte Schein ist ein 5.000er, ein Dollar sind 9.000 Kip und der Witz, daß die Bank erst einen Truck mieten muß, weil man 100 $ wechseln will ist sicher lustig, aber oft gemacht.
Das Stadtbild erinnert an Georgetown, Malaysia, Ulan Bator, Mexiko und die DDR: Großstadt, dörflich, mit wenig Verkehr. Die Häuser in französischem Kolonialstil erbaut, sind weiß, rot, blau, orange oder aus Holz. Es gibt Plätze, auf denen nicht viel los ist, mit Bänken zum verweilen, auf denen niemand sitzt. Und natürlich Tempel, golden und märchenhaft, und den stärksten Eindruck hinterlassen jene, die auch m Betrieb sind: ein Mönch hängt Wäsche auf die Leine, ein anderer hackt Holz. Es gibt italienische Restaurants, skandinavische Bäckerein und französische Cafés; aber natürlich auch chinesische indische oder Thai-Restaurants. Wer nicht an den Essensständen der Laoten ißt, ist nicht nur schüchtern, sondern selber schuld.
In den Siebzigern gab es Plakate: Hände weg von Laos! Das Land arm und über hundert Jahre von Kriegen gezeichnet, hat sich dem Westen geöffnet. Touristen kommen aus aller Welt – einmal geschehen ist es wahrscheinlich unaufhaltbar, aber erstmal machbar. Massentouristische Kontaminierung hat noch nicht eingesetzt, obwohl eine ringelbesockte Vorhut mitunter zu vernehmen ist – hier gilt es als sportlich Schienbeine zu stellen und eine neue Losung, nicht in Plakatform, sondern leise, mit vorgehaltener Hand, von Mund zu Ohr weiterzugeben:Pssst!… nicht aufwecken!
Wenn man beobachtet, wie die touristische Erschließung eines Landes funktioniert, scheint sich das überall nach ähnlichen Mustern zu gestalten. Über den Daumen gepeilt, kommen zuerst Kosmopolypen und Globetrottel – Menschen, die das Reisen zu ihrem Lebensinhalt gemacht haben, denen man neben vielen anderen Gründen, den Wunsch (oder den Drang?) irgendwo als „erster zu sein, aber auch Neugierde, Lust auf Mitmenschen und eine freundliche Zurückhaltung nachsagen kann.

Dann kommen Studenten und Alternative, denen man immer noch ehrliches Interesse aber auch einen Schatten auf ihrer Identität andichten könnte, den sie gern gegen exotische Gewänder tauschen, sie zu verhüllen. Nun kommen die, die auch schon mal gehört haben und nur mal gucken wollten, Leute wie ich.
Dann werden die Abende länger, die Hotels größer, die Röcke kürzer – es kommt der Mob. Zuschlechterletzt rückt der kapitalistische Bodensatz nach, Menschen, bei denen auch kein Dostojewski-Lesen hilft.

 

ROCKMUSIK IM ÜBERBLICK

Krohn: Welche Musiker fabrizieren Deiner Meinung nach die besten Texte?

Papenfuß: Ausländische Liedermacher, die nicht über den Tellerrand kucken können – was immer, mithin allzumenschliche, Authentizität suggeriert. Wenn Rockmusiker Texte schreiben, dürfen sie sich noch weniger hinauslehnen. Lemmy Kilmister ist immer schön bei seinen Leisten geblieben: Science Fiction-Schund und Fantasy-Kitsch; die Todesmetaller bleiben bei Horror-Trash und Söldner-Romantik, und die Schwarzmetaller bei ihren Mythen in Tüten – um mal mit dem größten Quatsch anzufangen. Bei berühmten Musikern sind immer die Texte der ersten Platte die besten, danach schreiben sie über den Musikbetrieb: Hotels, Tourneen, Groupies. Ausnahmen hiervon sind die frühen 60er-Jahre-Bands, die erst mal rausfinden mußten, daß man auch Eigenes artikulieren darf und kann, da sie mehr oder weniger gewollt das Schlagerniveau überschritten hatten. Als sie das geschnallt hatten, waren sie aber schon von der Bewußtseinserweiterung eingefangen und haben dann die daraus entstandene Problematik artikuliert, die wiederum eine zu spezielle ist, um „gute“ Texte zu produzieren.
Bob Dylan und Leonhard Cohen haben als Liedermacher gute Texte geschrieben, die oft von anderen Musikern besser interpretiert wurden; Paradebeispiel: Jimi Hendrix’ Version von ,,All Along The Watchtower“. Mir geht es bei Rockmusik nicht um die Texte, sondern lediglich darum, wie sie gesungen werden. Je unverständlicher, desto einprägsamer – Hauptsache die Musik greift. Das geht für mich eigentlich schon mit dem 50er-Jahre-Rhythm’n’Blues los, wahrscheinlich war es immer so, zumindest könnte man in der Popularkultur des 19. Jahrhunderts Entsprechungen finden. Es gab sicherlich auch damals total abgefahrene Walzer, Ländler oder Polkas mit guten Texten, schließlich haben sich unsere Vorgänger ja auch auf Tanzböden rumgetrieben, als die Synkope sich noch nicht so durchgebissen hatte.
Kurz und gut; sog. gute Texte sind nicht so wichtig für Musik. Texte und Gedichte sind Verschiedenes. Eine einprägsame Zeile oder ein Refrainbruchteil reicht.

Krohn: Wie gefällt Dir Rammstein?

Papenfuß: Eine Infragestellung der Musik oder der Texte von Rammstein ist unsererseits (meint: Musik- und Literaturszene Ostberlin) nicht möglich. Zwiefache Landsmannschaft meinerseits (Schwerin und Berlin), gemeinsame Freunde bzw. Vergangenheit und kritiklose bis begeisterte Hinnahme der ersten Konzerte sprechen eine deutschliche Sprache. Brüskiertes Brüsten mit Rammstein, wie gemeinhin gepflegt in Prenzlauer Berg, ist nur adäquat. Natürlich könnten sie bessere Texte machen, selbstverständlich könnte die Musik besser und die Show weniger peinlich sein, ist aber Wurscht, weil weder Du noch ich in die Konzerte gehen. Rammstein spielen nicht für Dich und mich, haben uns auch nichts mitzuteilen. Anbei ein Text von mir aus SBZ-Land und Leute (1998), den Du vermutlich nicht kennst; er ist „Rammdöser“ zugeeignet. „Rammdösig“ bzw. „rammdöschig“, „döschig“ ist plattdeutsch für „schwer von kapé“. Du hast ja gerade eine urinale Phase, da wird Dich so ein bißchen Anal-Genitales ja nicht abschrecken.

VOTZENSCHISS & MANNSCHWEISS
rammdöser zugeeignet

mann sein wie rammstein
general sein wie hans huckebein
2
generalfeldmarschall wie von manstein
3
rutscht er raus, rammst ihn rein

aaaaamanneskraft & mutterschaft
aaaaavotzenschweiß & mannschiß

vater kleckert mit sein’ panzer
aber mutter klotzt mit’s ganze
anton pannekoek
4 & sigmund freud
hoch wilhelm reich & herzeleid

aaaaamanneskraft & mutterschaft
aaaaavotzenschweiß & mannschiß

faust, panzerfaust & levi-strauss
& was man sonst noch braucht, haben wir
& schweiß & geld & bier haben wir sauer
& haben es gern ein kleines bißchen rauer

aaaaamanneskraft & mutterschaft
aaaaavotzenschiß & mannschweiß

der halbautomat ist geduldig noch
spannt uns zwar auf die folter, doch
wenn aus der spanne eine schleife wird
frisch ausgeschirrt & vorwärts geirrt

aaaaamanneskraft & mutterschaft
aaaaavotzenschiß & mannschweiß

der igel fliegt
mit dem ladestock
5
aber der waffenrock
hängt noch auf trockendock

aaaaapotz kulturschock & kuschelrock
aaaaahirnschiß, rauschgift & filmriß

mann sein wie rammstein
general sein wie hans huckebein
generalfeldmarschall wie von manstein
rutscht er raus, rammst ihn rein

Ich habe SBZ auch Flake geschenkt, er fand den Text unmöglich, was aber unsere Kommunikation nicht weiter gestört hat. Er weiß ja, daß ich ihren Krempel auch unmöglich finde. Trotzdem wichtig und richtig fand ich die Veröffentlichung von „Das Herz schlägt links“ oder wie das Lied heißt, hab ich der Bande auch gesagt, weil sie in allen möglichen Blättern angepißt wurden.
Rammstein und uns trennt in erster Linie Geld, das allerdings ist ihr Problem. Nach dem 11. September haben sie sich politisch korrekt verhalten, indem sie den Text „Krieg ist Frieden“ von Arundhati Roy auf ihre Website gestellt haben, das war das mindeste. In dem Buch über Aljoscha und Feeling B56 finde ich gerade die Gespräche mit Paul und Flake ungebrochen erfrischend. Was hältst Du denn von Rammstein?

Krohn: Vor meiner Haustür traf ich einmal den in Australien geborenen, seit 1990 in Berlin ansässigen, begabten Pianisten Chris Russell. Er war auf dem Weg in ein Biergarten-Restaurant, Tische abwischen. Er erzählte mir von einem kürzlich stattgefundenen Reunion-Konzert seiner früheren Band Once upon a time. Auf die Frage, ob sie jetzt öfter auftreten würden, entgegnete er, es wäre nicht einfach, die Ansprüche lägen hoch, Once upon a time wäre eine „wirkliche“ Band gewesen – um diesem Satz mehr Gewicht zu verleihen, machte er mit den Händen dazu eine verzahnende Drehbewegung.
Zu
Rammstein habe ich ein pseudointimes und ein pseudointernationales Verhältnis – pseudo, da es eigentlich kaum ein Verhältnis ist. Als Proberaum-Untermieter der Inchtabokatables übten wir eine Zeitlang neben Rammstein. Wand an Wand. Bis auf gelegentliches Zunicken hatten wir aber keinen Kontakt (einmal borgten wir uns ein Blatt Papier, um etwas aufzuschreiben, allerdings hatten wir dann keinen Stift und sie auch nicht, und so brauchten wir es doch nicht). Zu diesem Zeitpunkt muß Rammstein schon sehr bekannt gewesen sein, denn ich erinnere mich, daß ich einmal zur Probe kam und im Gang sprachen mich zwei Mädchen an, ob hier die Inchtabokatables probten.
Ich sagte: ja, in dem Raum neben
Rammstein – sie glaubten mir aber nicht. Es war unmöglich, sie von der Wahrheit zu überzeugen: man hielt mich für einen Spinner.

EIN PSEUDOINTERNATIONALES VERHÄLTNIS

habe ich, da ich
die Band eigentlich
mehr im Ausland
wahrgenommen
habe, als in Berlin;
abgesehen davon,
daß mein Freund Mike,
mir als ein „Fan
der ersten Stunde“
damit beharrlich auf
die Ketten ging.

Erstens war ich
an Bord einer Fähre
von Wales nach Dublin
und als ich morgens
an Deck ging,
um mir einen sunrise
reinzuziehen,
stand dort
der Sänger und
schaute aufs Meer;

das zweite Mal
spazierte ich mit
meinem Bruder, durch Paris –
wir hatten dort einen gig
und kam an
einem Klub vorbei,
in welchem
Rammstein
zu Gast war;

beim dritten dann
wollte ich sie im
New Yorker „Roxy“
sehen – ich radelte
über 100 Blöcke hinunter –
aber es war bereits ausverkauft.
Vor dem Klub stand ein nightliner,
ich erwog, anzuklopfen,
traute mich das nicht
und fuhr wieder nach Hause.

 

BRIT SCHOLZ

Von meinen
ehemaligen
Schulkameraden
würde ich höchstens
zwei, drei, vier
sehen wollen,
die aber sehe ich nie;
immerhin sehe ich aber die
die ich nicht sehen will,
auch nie, außer
Brit Scholz.

Erstens traf ich sie
bei einer Bekannten –
tags zuvor einen über
den Durst getrunken,
fühlte ich mich fahrig,
und nervlich blank
war es mir ganz und gar
unmöglich mich wie
ein normaler Mensch
zu benehmen;

das zweite Mal war
auf einem S-Bahnhof halb
sechs früh morgens spät dran:
Das Amt hatte mir einen Posten
als Feger organisiert und
auf die Frage:
„Was machst du denn hier?“
fiel mir vor Schreck
keine bessere Ausrede
als die Wahrheit ein;

beim dritten dann,
in einer Vorhalle wartend,
stand ich übermüdet,
überreizt und überhaupt
überflüssig dumm herum,
nickte zweimal
höflich ins leere,
um mir dann anzuhören,
sie hätte mich
gar nicht erkannt.

Was hältst Du von den Einstürzenden Neubauten?

Papenfuß: Fast nichts. Früher fand ich die Texte gut. Erinnern kann ich mich aber nur noch an „Kollaps, süßer Kollaps“, „Bomb’nalarm“ und „Sehnsucht ist die einzje Energie“, wahrscheinlich allet Lieder von der ersten Platte Kollaps. Das Pathos von „Kehle brennt!“ konnte ich nicht mehr nachvollziehen, und beim „Letzten Biest am Himmel“ hörte der Spaß ganz auf. 1988 oder 1989 hab ich sie in West-Berlin mal live gesehen und den Eindruck gewonnen, daß sie die perfekte Mucke für die eingesperrte Patientenschaft der Frontstadt machten. Alle sangen alles mit bzw. kannten alles; eine eingeschworene Atmosphäre – Dandies auf der Bühne und Möchtegern-Hedonisten davor; eigentlich beeindruckend. Um die Wende herum haben sie dann ja auf Heiner Müller gemacht, habe ich nicht mitverfolgt, und seither nichts von ihnen gehört bzw. überhört, wenn’s mal irgendwo lief. Heute gehören sie wohl eher zur Kunstschickeria, wie dem auch sei. Der Verlust ihrer Zielgruppe hat sie in die angewandte Musik und Kunst gedrängt. Auf eine bestimmte Weise waren sie von Anfang an gewandt „angewandt“ – musikalische Konzeptualisten, wie ihre Sinnesverwandten Test Department und Laibach auch, von denen mir Test Department am besten gefielen – politisch, formal, und inhaltlich.
Wo steckst Du eigentlich gerade?

Krohn: In Jakarta. Jakarta ist nicht schön. Moloch, Dreckloch. Habe mir ehrlich Mühe gegeben heute, war sogar auf dem komischen Turm (Monas), von dem man die Stadt überblicken kann. Nichts als Häuser und Abfall. Laut und Smog. Überfüllt und unfreundlich – aber ohne Charme. Ein paar Wolkenkratzer, sinnlos hingepflanzt. Den historischen Stadtkern habe ich mir nicht angesehen. Hatte einfach keine Lust mehr. Wird auch nicht anders aussehen als Haarlem oder Harlem. Den scheiß Hafen auch nicht. Den ganzen Tag hab ich mich nur auf den Abend gefreut, auf die Terrasse. Wir haben hier eine Terrasse, die ist vielleicht sieben Meter lang, aber recht schmal, etwa eins zwanzig breit. Von hier aus hat man eine interessante Aussicht: vorn ein paar asiatische Holzhäuschen, weiter hinten die Hochhäuser, mit vereinzelten roten Lichtern gegen Flugzeuge. Fenster sind wenige hell. Die vorderen Häuser sind zwischen Palmen und dickblättrigen, saftigen Bäumen gebaut. Über allem hängt der trübe, wolkige, graue Himmel, triefend und schwer. 21.30 Uhr, 30 Grad – tropischer geht’s nicht. Urbanisierter Dschungel. Es sieht aus, als ob es dampft. Dazu dieses Licht! Der Himmel wie gesagt grau, schwach bläulich, violett-gelb, fast braun, im unteren Bereich durch die Lichter der Stadt etwas heller angestrahlt. Eine Atmosphäre wie kurz vor dem Sturm, aggressiv, bedrohlich – sehr eindrucksstark, schön ist es aber nicht.

telegraphsurrogate #3, Mai 2003

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

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