Alexander von Bormann: Zu Durs Grünbeins Gedicht „Biologischer Walzer“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Durs Grünbeins Gedicht „Biologischer Walzer“ aus Durs Grünbein: Schädelbasislektion. –

 

 

 

 

DURS GRÜNBEIN

Biologischer Walzer

Zwischen Kapstadt und Grönland liegt dieser Wald
aaAus Begierden, Begierden die niemand kennt.
aaaaWenn es stimmt, daß wir schwierige Tiere sind
aaaaaaSind wir schwierige Tiere weil nichts mehr stimmt.

Steter Tropfen im Mund war das Wort der Beginn
aaDes Verzichts, einer langen Flucht in die Zeit.
aaaaNichts erklärt, wie ein trockener Gaumen Vokale,
aaaaaaWie ein Leck in der Kehle Konsonanten erbricht.

Offen bleibt, was ein Ohr im Laborglas sucht,
aaEine fleischliche Brosche, gelb in Formaldehyd.
aaaaWann es oben schwimmt, wann es untergeht,
aaaaaaWie in toten Nerven das Gleichgewicht klingt.

Fraglich auch, ob die tausend Drähtchen im Pelz
aaDes gelehrigen Affen den Heißhunger stillen.
aaaaWas es heißt, wenn sich Trauer im Hirnstrom zeigt.
aaaaaaJeden flüchtigen Blick ein Phantomschmerz lenkt.

Zwischen Kapstadt und Grönland liegt dieser Wald
aa… Ironie, die den Körper ins Dickicht schickt.
aaaaWenn es stimmt, daß wir schwierige Tiere sind
aaaaaaSind wir schwierige Tiere weil nichts mehr stimmt.

 

Schwierige Tiere

Grünbeins Gedicht ist, für moderne Lyrik ungewöhnlich, ganz melodisch angelegt. Wie schön, wieder einmal einen Gedichtwalzer zu hören! Dazu gehört auch, daß Motive wiederkehren, der Schluß im Anfang vorbereitet ist. Die zentrale Geste bleibt haften – als These schließt sie die erste Strophe, als Befund das Gedicht ab:

Wenn es stimmt, daß wir schwierige Tiere sind
Sind wir schwierige Tiere weil nichts mehr stimmt.

Die Zeilen überzeugen durch ihre Mischung von Vorsicht und Entschiedenheit: Es stimmt ja wirklich nichts mehr. Die Aussage erscheint wie ein Zitat: Jemand muß das behauptet haben; zugleich wie eine Zustimmung, ja Begründung. Sehr gründlich ist die allerdings nicht gemeint. Das Wiederholungsspiel der Formeln, auch das Walzertempo geben den Vorwurf zurück: Wie soll es ein richtiges Leben im falschen geben… Wer glaubte die These nicht. Ernst Bloch etwa hat ihre „Spuren“ gesammelt, als Beispiele eines Weniger oder Mehr, „das in den Geschichten nicht stimmt, weil es mit uns und allem nicht stimmt“. Grünbein, 1962 in Dresden geboren, in Berlin lebend, meint die Formel noch genauer.
Schädelbasislektion hat er seinen Band von 1991 genannt, das Gedicht war ihm dort „ein gehirnphysiologischer Resonanzkörper“. Für eine „Neuro-Romantik“, eine „ biologische Poesie“ hat er sich ausgesprochen, möchte einer Stimme nachgeben, die sich „tief in der Sprache, im Dickicht des Nicht-Ich“ verliert. Grünbeins Interesse für Anatomie und Physiologie bestimmt die Bildlichkeit des Gedichts. Es motiviert sich politisch, reicht aber vermutlich in tiefere Schichten. Die biomechanischen Studien Pawlows, dem Lenin in der Zeit des Bürgerkriegs die Lebensmittelration verdoppelte, und die amerikanische Spielart, der Taylorismus/Behaviorismus, interessieren Durs Grünbein als „die Geheimgeschichte zweier Totalitarismen“. Von dorther, vom Ideal einer perfekten Steuerung aus, erscheint Bewußtsein als Verhängnis. Der Mensch – ein Versuchstier.
Grünbeins Pointe: Die totalitären Träume sind von der Wirklichkeit längst eingeholt, ja überholt worden. Sein Gedicht läßt sich auch als Antwort auf die Frage lesen, ob der Körper als Widerstand gegen Vergesellschaftung, gegen unsere Abrichtung gedacht werden kann. Nun treibt dieses Gedicht freilich die kulturkritische Attitüde nicht so weit wie der Kontext. „Mensch ohne Großhirn“ heißt der folgende Zyklus; durch ein „Museum der Mißbildungen“ streift Grünbein wie einst Benn durch die Krebsbaracke. Der „Biologische Walzer“ hingegen wiederholt den Gang des Menschen in die Zivilisation: Die unerklärliche Gabe der Sprache, aus dem Begehren gewachsen und dieses paradox vertretend, führt zu Kultur und Geschichte. Grünbeins Walzer scheut die Dissonanzen nicht. Das Wort ist Begehren, Tropfen im Mund, und Verzicht, und die vielen Anstalten zur Beherrschung der Natur werden den Menschen wieder zum Affen machen. Ein metaphysisches Tier heißt ihm der Mensch, streunend zerstreut, nur in Widerspruchsformeln faßbar. Was unsere Hochkultur für die Menschwerdung bedeuten kann, wird skeptisch beurteilt. Den Strophen 3 und 4 zufolge ist der Mensch über seine tierische Biologie nicht weit hinausgekommen: bedingte Reflexe, wohin man sieht. Die biologischen Forschungen, denen auch Grünbeins Interesse gilt, haben nichts geklärt, „offen“ und „fraglich“ bleiben deren Schlüsse.
So ist es Ironie, täte man so, als ließe sich der Körper, die Biologie des Menschen, vor dem Gestus unterdrückender Beherrschung retten, ins Dickicht zurückschicken. Fraglich, offen, unerklärt bleibt der Mensch hinter seinen Wissensanstrengungen zurück, ein Tier, dem im Walzertakt vielleicht die sokratische Erkenntnis gelingen könnte zu wissen, wie wenig es weiß.

Alexander von Bormannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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