Alexandru Bulucz: Aus sein auf uns

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alexandru Bulucz: Aus sein auf uns

Bulucz-Aus sein auf uns

ENDE DER VORSTELLUNG

Die Sterne,
erblickt,
schüttelt er aus der Nacht
wie Staub von den Füßen.

Jetzt droht die Nacht
zu platzen, sie platzt nicht.

Er sieht sie
am Dachfenster Weißwäsche
lüften von den Ausdünstungen
des Schlafs.

Jetzt droht die Nacht
zu platzen, sie platzt nicht.

 

 

 

Referenzreich

Es ist ein Unding, dass ich das Nachwort zu Alexandru Bulucz’ Aus sein auf uns schreibe. Weil ich ihm auf seine Anfrage hin mit netten, aber entschiedenen Worten klarmachte, dass ich die Texte, die ich gelesen hatte, nicht wirklich mochte. Er beharrte aber auf seiner Anfrage, gerade deswegen sogar. Das war ebenfalls ein Unding, das fand ich ein bisschen bescheuert und habe deshalb zugesagt.
Es sind auch Undinge, die ich ihm vorgeworfen habe. Es scheine mir in seinen Texten gar keine zeitgenössische Medien- oder Erfahrungswelt zu geben, schrieb ich, und dass das zwar Geschmackssache sein möge, angesichts der den Band durchziehenden Selbstreflexivität jedoch, die mich überhaupt irgendwie störte, zu oldschool für meinen Geschmack. Kurz: Ich sah in diesen Gedichten keine Dinge, nichts Handfestes. Sondern Undinge.
„Hinter dem Geschmack des Dills im Käse aus der Teigtasche“ ist das erste Kapitel von Alexandrus Aus sein auf uns überschrieben. Essen, dieses sehr dingliche Ding, das wir buchstäblich wie auch ganz konkret verinnerlichen müssen, um ihm seinen Wert abzuringen, taucht häufiger auf. Aber es ist nicht, und er isst es nicht. „Nie beim Brot die dunkle Kruste gegessen, / nie die Marmelade“, „Die Rinder und Pferde fressen / nicht“ und so weiter. Stattdessen:

Denn wir essen das
Essen, selbst das erfrorene
Stachelgespräch.

Die Speise heißt food for thought, ihre Zutaten sind genau das: Gedanken.
Alexandru gehört zu den Zwiebelschälertypen der Lyrik, und passenderweise erwähnt er in Aus sein auf uns keine einzige Zwiebel. Er fängt von innen an und schält sich nach außen vor. Eine Methode, die sich nicht in den Dingen zeigen will, sondern sie als Spur durchläuft. Jenseits des Geschmacks des Dills im Käse aus der Teigtasche ist die Welt.
Oder vielleicht Unwelt. Keine Umwelt. Ein Reich aus Zeichen, die nur auf andere verweisen und so weiter und so fort. Ein Referenzreich. Das ist so oldschool daran: dass diese Art der Unwelterfahrung doch eigentlich zum Standard geworden ist. Alexandru und ich haben uns nie getroffen, er fragte mich über Facebook an, und ein paar Mal schrieben wir uns E-Mails. Wir sind einander nicht mehr als kumulierte, amorphe Zeichensäcke. Lyrik funktioniert im Grunde ja genau so wie das Internet, ist ähnlich unzureichend in ihren kommunikativen Einschränkungen und macht ebenso viele wunderschöne Missverständnisse möglich. Alexandru aber ignoriert das, er schreibt aus einer Zeit vor dem Arpanet heraus.
Das heißt, er schreibt sich viel aus Büchern hervor. Aus sein auf uns ist ein Zitat von Emil Cioran vorangestellt:

Fragt mich nicht nach meinem Programm: Atmen, ist das keines?

Das ist ein konzeptueller Witz, genauso wie die „Akte Bulucz“, die sich im Text „Die Wolke im Namen“ als Verleser herausstellt, so als würde beim Schälen das Messer abrutschen. „Akbulut“ steht dort eigentlich, türkisch für „weiße Wolke“. Damit macht Alexandru sein Ich zum Zeichen, das den Fehlinterpretationen preisgegeben wird, und ich muss selbst weiterschälen, um aus der Wolke die cloud zu machen, in der wir uns kennenlernten. Wo wir aus waren auf uns.
Es ist allerdings ein Unding, dass ich ihm das vorwerfe. Ein Unding deshalb, weil – wie ich ja selbst geschrieben habe – Lyrik ganz ähnlich funktioniert wie die Medienwelt, die nicht mit der Unwelt von Aus sein auf uns kompatibel scheint, und Alexandru lediglich eine Entscheidung für eine der beiden getroffen hat. Es ist ein Unding, weil es eigentlich meinen eigenen Grundsätzen widerspricht, Lyrik dafür zu kritisieren, nicht auf ein telos hinzuarbeiten. Ich liebe sie, weil sie genau das nicht tut. Sondern stattdessen ein Referenzreich schafft. „Wenn etwas die Gedichte zusammenhält, dann dies, dass sie physische (nicht ,sinnliche‘) Erfahrungswelt vermeiden“, schrieb Alexandru mir auf meine erste Kritik zurück, und ich konnte das voll und ganz einsehen, zustimmen.
Das Problem, das ich mit Alexandrus Gedichten habe, ist dasselbe, das mir das vorangestellte Cioran-Zitat bereitet, und es ist aus diesem Grund, dass mich die Abwesenheit der Medienwelt in der Unwelt von Aus sein auf uns so stört: Ich finde darin keine Möglichkeit zur Dialogaufnahme. Weil sich Alexandru weiter durch die Zwiebel schält und ich ihn nur einholen kann, wenn ich nach der weißen Wolke auf eigene Faust in Richtung der cloud abbiege und damit wieder in meiner Erfahrungswelt lande, die keinen Platz in seiner hat.
Es fehlte mir, einfacher gesagt, an einer Haltung. Mit der wurde ich erst per Medienwelt konfrontiert, als er auf seiner Anfrage beharrte und mir auf diese Art das nachreichte, was ich in seinen Texten nicht gefunden hatte.
Es ist wohl also doch kein Unding, dass ich das Nachwort zu Aus sein auf uns geschrieben habe. Aber was heißt das jetzt eigentlich: „kein Unding“? Vielleicht, dass Alexandru auf dem meiner Meinung nach richtigen Weg ist. „Ich glaube, mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass es ohne die Erfahrungswelt nicht funktioniert (weder lyrisch noch real). Der Band würde daher mein Denken der letzten fünf Jahre gut zusammenfassen. Mit ihm möchte ich diese Geschichte abschließen“, schrieb er mir. Der Titel Aus sein auf uns, ein Zitat aus dem Gedicht „Und den Rest der Welt“, klingt wie ein Versprechen, in diese vordringen zu wollen. Wir sehen uns da.

Kristoffer Patrick Cornils, Nachwort

 

„Die Poesie wird im Bett gemacht wie die Liebe“,

wusste schon André Breton.

Vom Bett
aus verwischen wir Spuren
von Wasser, von Samen, von Talg,
von Harnstoffen, Säuren und
Salz.

heißt es im Gedicht, das den Debütband von Alexandru Bulucz eröffnet. Im Schlussgedicht:

Er sieht sie
am Dachfenster Weißwäsche
lüften von den Ausdünstungen
des Schlafs.

Zwischen diesen zwei Gedichten wird um Liebe gekämpft. Ob um die Liebe zu einem anderen Menschen oder um die Liebe zur Literatur, macht fast keinen Unterschied. Es geht um Schmerz- und Verlusterfahrungen und um die Möglichkeiten, diese Erfahrungen im Gedicht aufzuheben. Dabei finden auch Bestandteile eines Lebens in Osteuropa oder im Osten Eingang ins Gedicht, so zum Beispiel, wenn von „transsilvanischen Äpfeln“, „orthodoxen Popen“ oder „Russenmützen“ die Rede ist. Der Titel des Bandes Aus sein auf uns ist auch als Ankündigung einer intellektuellen und reflektierenden wie poetischen Auseinandersetzung mit anderen – lebenden wie verstorbenen – Dichtern zu verstehen, die dieselben Erfahrungen teilen oder geteilt haben.

Allitera Verlag, Ankündigung

 

Lyrikkiez

Am Anfang war bekanntlich das Wort. Ob es nun ein leise in eine trostlose Landschaft geflüstertes oder aus vollem Bauch ins Kissen geschrienes ist, es gleicht im besten Falle jener beschwörenden Kraft, aus der wahrhaftige Literatur gezimmert werden kann. Dass Wahrhaftiges an Alexandru Bulucz’ Lyrik haftet, wird schon nach den ersten Seiten der Lektüre seines Debütbands Aus sein auf uns ersichtlich. Es sind sorgfältig gewebte Bilder eines nicht immer präsenten, jedoch sehr aufmerksamen Ich, eines Bruchstückesammlers, der uns LeserInnen in eine Welt einladen möchte, die befremdlich erscheinen mag, von Mal zu Mal archaisch, sanft und zugleich von grobem Handwerk gekennzeichnet. Es sind „hungrige Bilder“, Bilder einer versteckten Sehnsucht, die auf ihrer Sprachsuche auch das leise, folkloristische Pathos nicht scheuen:

[…] Du fragtest nie nach den transsilvanischen Äpfeln,
warum sie in der kühlenden Erde lagern,
nicht nach den Pilzen,
die Majka anbriet und salzte, […]
(„Stumme Geschichte“)

Solche Passagen sind vielleicht auch einer der Gründe, wieso Kristoffer Patrick Cornils in seinem Nachwort zu diesem Band Bulucz’ Gedichte als „zu oldschool für meinen Geschmack“ bezeichnet. Dem Kritiker Cornils nach fehle es dem Band an zeitgenössischer Medien- und Erfahrungswelt, „[e]s fehlte mir, einfacher gesagt, an einer Haltung“. Womit Cornils seine Probleme zu haben scheint, ist vielleicht weniger der Abwesenheit einer wohlbekannten, aus Internet, Beton und Coolness gezimmerten Außenwelt geschuldet, als vielmehr dem Unvermögen vieler ZeitgenossInnen, sich in diese kargen, vom Faschismus und Kommunismus zerfressenen Landschaften eines Ostens hineinzuversetzen. Was oldschool anmutet, ist in meinen Augen ein Anker, eine klare programmatische Entscheidung. Also verwundert es nicht, wenn zwischen diesen und jenen Zeilen Celan kurz den Kortex kratzt oder sich Emil Cioran und sein Demiurg von irgendwoher melden:

Grandola. Mutter, du bist
noch ein kleines
brennendes i. Girandola
nach Mitternacht. Mutter, du
schläfst. Träume vom Rot
am Revers, im Knopfloch, im Gewehr-
lauf, in der Vase, in der Blüte
der Nelke, von der Luft,
der langangehaltnen, mit der
ich damals die Luftballons
aufblies. Insofern
ist keine Revolution
unwiederholbar.
(„Korrekturgelesen“)

Solche Gedichte zeugen nicht nur von einer uns kaum bekannten Welt, sondern auch von den Einflüssen, die Bulucz fast taschenspielerhaft offenlegt und wieder verschwinden lässt. Eine Sehnsucht schwingt hier mit, der man fast das Adjektiv „bukowinisch“ anhängen möchte:

Ausgenüchtert und
glasig, alles glasig und direkt der
Blickkontakt und indirekt die
Gesichter und eng um den Kopf
wie der Rundtanz der Bienen
ums eigene Volk, nur feindlicher, die
Zirbeldrüse, die verschweinernde
Nase, Krachts Steckdosenmenschen
weithin wie Russenmützen ohne Parteibuch
und Familienwappen, ihre Ohrklappen
nutzlos gegen Geräusche und
liturgischen Schüttelfrost. […]
(„Morbus Korsakow“)

Und dennoch, neben all der Sympathie für diese kleinen, in sich geschlossenen Welten, darf nicht unerwähnt bleiben, dass sich manches vor solch einer Bilderflut erschöpft. Man hat zuweilen beim Lesen das Gefühl, als wäre der Hunger zu groß gewesen. Mitunter wirkt die Sprache in Gedichten wie „Der Text, von Beruf Traktor und Heuwender“ bemüht und die Bilder in Gedichten wie „Der Clown unter den Mystikern“ abgegriffen und schal. Hier wäre ein einschlägigeres Lektorat wünschenswert. Streichungen und Straffungen hätten einigen Gedichten sicherlich gut getan.

Nichtsdestotrotz überwiegt die Freude an so viel Balkan, Bukowina und oldschool. In Serbien gibt es ein fast zynisches Sprichwort: Egal wie arm die Serben waren, die Rumänen waren noch ärmer (im materiellen Sinne). Als Kind war ich immer traurig gewesen, diese Sätze zu hören. Doch meine Vorstellung über die zerstörerische Kraft des rumänischen Kommunismus und das größere Leid auf der anderen Seite der Donau reichte nicht aus. Ich konnte mir keine Bild von dieser Not machen. Durch Alexandru Bulucz und seine Gedichte habe ich endlich diese Bilder gefunden:

[…] Für die Stunden des Schlangestehens im
schwitzenden Nacken der Volkswirtschaft     eine Nase
voll überschäumender Milch aus dem Herdtopf, die
einsame Flamme vom Öl der Orangenschalen genährt
und zum Knistern gebracht die frittierten
Kartoffelschalen (rumänische Chips) zum vierten
Geburtstag         eine Tracht Prügel von der Mutter für eine
vor ihrer Zeit geöffnete Limonade. Der Vater, zurück aus
Jugoslawien. Der Krieg, der dem Schwarzarbeiter den
Laufpass gegeben hatte, stimmte die weißen
Kunststoffsaiten. […]
(„Erinnerungen, Defragmentierungen“)

Marko Dinic, Mosaik, Heft 3, 2016

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Tillmann Reik: „Ich habe mich sozusagen verloren.“ Aus sein. Auf uns, Un-s und Unds
fichue, 31.3.2016

Jan Kuhlbrodt: Indirekt direkt
signaturen-magazin.de, 5.3.2016

Ingo Ebener: Spuren, entwischte
fixpoetry.com, 2.5.2016

Stefan Schmitzer: Barockes Placebo, die Zweite
fixpoetry.com, 28.6.2016

Jamal Tuschick: Tourettegesänge
der Freitag, 27.5.2016

 

Celan mit Clownsmaske

– Die Dichtung von Alexandru Bulucz. –

Als Alexandru Bulucz (*1987) zuerst beginnt deutsche Wörter zu sprechen, sind die Karten nicht zu seinem Vorteil gemischt, hat er kein Ass im Ärmel. Er ist 13 Jahre alt. Seine Mutter hatte beschlossen, den Vater zu verlassen und auch Rumänien den Rücken zu kehren. Die Kinder bleiben zunächst in Rumänien, dann kommen die Töchter nach und zum Schluss wird der kleine Alexandru alleine in den Bus nach Deutschland gesetzt.
Sie wohnen im fränkischen Aschaffenburg. Der junge Alexandru jedoch rebelliert gegen diesen Umsturz seiner Kindheit: Er interessiert sich nicht für das neue Leben, das die Mutter sucht. Bald äußert er den Wunsch, selbst fortziehen zu wollen, das neue Haus zu verlassen, und geht in ein Internat. Seine Würfel werden lange rollen, bis sie fallen, denn erst auf sich allein gestellt eignet er sich die neue Sprache an, meistert sie virtuos, sodass bereits seine frühesten Gedichte in der Frankfurter Zeitschrift Otium zahlreiche Themen und Motive mit einer Wucht zum Ausdruck bringen, die immer jenen expressiven Willen verraten, der mehr von der Dichtung erwartet, als den nächsten Poesiewettbewerb der Raiffeisenbank zu gewinnen.
Alexandru Bulucz erkennt, dass Gedichte ästhetische Erfahrungen erzeugen, die Fäden durch die vertracktesten Labyrinthe ziehen:

Habe wie die Zigeuner
Kupfer geklaut
aus Lastern. Stand an
mit Schrott vor den
Menschen. Es lebe das Bare.
Dafür die Münzen auf Schienen gelegt.
Dachte, die Züge entgleisen,
aber sie fuhren
und fuhren.

Geschult sind diese frühen Poeme nicht nur an Lektüren von etwa Paul Celan, sondern auch an umfangreichen Übersetzungsarbeiten, wie etwa eine Werkauswahl zu dem in Bukarest geborenen Dichter Alexandru Vona (1922–2004) aus dem Rumänischen ins Deutsche bzw. Jean-Luc Nancy aus dem Französischen im Auftrag des Diaphanes Verlags.
Es ist erstaunlich, dass ein Jugendlicher, der um ein Haar professioneller Basketballspieler geworden wäre, noch während seines Studiums an der Goethe Universität (Frankfurt am Main) zum Gesprächspartner von Werner Hamacher (1948–2017) wird, auf den er im Tagesspiegel einen ergreifenden Nachruf verfassen wird. Aber mehr noch: In der Frankfurter Edition Faust begründet Bulucz, kaum die Prüfungen des siebten Semesters hinter sich, eine Interview-Reihe und beginnt mit dieser dialogischen Form zu experimentieren. So entstehen buchstarke Gespräche mit den Philosophen Dieter Henrich, Peter Strasser oder Hans-Jörg Rheinberger, die schnell mehrere Auflagen erreichen und das Denkerische mit dem Privaten mischen, sodass faszinierende Charakterstudien entstehen. Es ist ebendieses geistvolle Gespräch, das vielleicht den sonst so stillen und selbstlosen Dichter Alexandru Bulucz auszeichnet. Und spräche man nicht gerne so oft wie möglich mit jemanden, der mit Ende zwanzig schon mehr gelesen hat als das gesamte Personal gewisser Fakultäten?
Aber bald schon lässt sich eine Signatur und Sinnrichtung seines literarischen Irrlichterns erkennen, denn so sehr er etwa mit Dieter Henrich in München stundenlang über den rumänischen Dirigenten Sergiu Celibidache diskutieren kann oder in Stuttgart mit Robert Spaemann streitet, so sehr umkreist sein Denken immer wieder das entlegene Atoll seiner Kindheit, die – weil entrückt und in nur tausend Splittern erinnert – immer fantastischer scheinende Welt der Herkunft „im Osten, im Westen des Siebenbürgischen / Beckens, der Gebärmutter, Eltern Musiker, Vater Gesang / und Gitarre, Mutter Hausfrau und schrill […] / Erinnerung an wer weiß wie viele wertlose Scheinlöwen / (Lei, Münzen und Scheine) in der Pfütze im Plattenbauhof.“
Vielleicht stellt sich jedoch bei der Arbeit zu einem Sonderband der Zeitschrift Die Wiederholung zu dem rumäniendeutschen Dichter Werner Söllner die seltsame Einsicht bei Alexandru Bulucz ein, dass die bisherigen literaturgeschichtlichen Traditionslinien aus Rumänien dominiert waren durch Schriftsteller, die während der 1970er- und 1980er-Jahre aus dem Banat emigrierten.
Doch die Geschichte dieses jungen Dichters ist anders als die der sogenannten Bukowinadeutschen, die sich im 18. Jahrhundert in Rumänien niederließen und dort eine deutschsprachige Minderheit bildeten. Autoren wie Herta Müller, Franz Hodjak, Ernest Wichner, Johann Lippet oder Rolf Bossert erzählten eine andere Geschichte, ihre Themen und Fragestellungen unterschieden sich wesentlich von dem Standpunkt, an dem das Schreiben des 1987 geborenen Alexandru Bulucz einsetzt:

Ich lasse dich wieder dorthin vorrücken, von wo aus du
damals nicht weiter vorrücken konntest, wo du damals
standst. Ich frage mich nur, ob die Neigung des Berges
damals dieselbe war wie heute.
[…] Andererseits gibt es nichts als Ungeduld.
Gäbe es sie nicht, gäbe es nichts zu sehen. Du kennst
meine Gedanken, ich lasse dich vorrücken. Genauer, ich
lasse dir den Vortritt. Es ist dein Wunsch, alles noch
einmal und vor mir zu sehen. Sähe ich nur nicht, dass du
nichts siehst. Als würdest du den Berg zum ersten Mal…

Das eben zitierte Gedicht „Gespräch im Gebirg II“ ist an Paul Celans gleichnamiges Gedicht sozusagen als Fortschreibung angelegt; und überhaupt betreibt Bulucz eine subtile Identitätspolitik in seinen Texten, die ganz frei von den wehmütigen und narzisstischen Selbstbestimmungsversuchen vieler anderer europäischer Dichter ist. Überall finden sich bei Bulucz Anspielungen auf oder Zitate von Paul Celan, Eugène Ionesco oder Emil Cioran, überall, wo er kann, bringt er sich als Brückenbauer zu Literaten in Rumänien und Deutschland ein, wie ein umfangreiches Dossier zur zeitgenössischen rumänischen Literatur zeigt, das Bulucz für die Zeitschrift Lichtungen zusammengestellt hat.
Er hängt nicht in der Vergangenheitsschleife, die großen Teilen der deutschsprachigen Literatur jegliche Offenheit für die Gegenwart verstellt hat. Seine Krisen und Freuden sind ganz heutig, sind ganz bei ihm, doch zugleich nehmen vermeintliche Verdauungsbeschwerden geradezu epistemologische Dimensionen an:

Dieses Magengeschwür ist der Clown
unter den Mystikern, daher plappernd
wie der Tod, barock wie ein Begleitschmerz.

Oder in dem Gedicht „Reader’s Digest“:

Digestion statt Diegese. Schreiben sei Verdauungsstunde, Darmkontrakt.
Ich nehm die Wette an. Die Selbstverdaung – die Form verdaute sich viel
schwerer als der Inhalt, wagt Goethe, dieser Prahlhans, zu behaupten, wo
er’s reflexiv gebraucht – stell ich erstmal hinten an.

Gleichwohl sieht Alexandru Bulucz den wirren Gang der Weltgeschichte, gleichwohl ist ihm die seit Shakespeare gültige Verschränkung von kollektiver und privater Historie geläufig. Seine Texte sind intellektuelle Bausteine für eine Welt, die er mit Sehnsucht und Visionskraft antizipiert. Es ist daher kein Wunder, dass sein erster Gedichtband aus sein auf uns (2016) sofort auf der Liste der besten Debüts des Hauses für Poesie (Berlin) landete.
Momentan entstehen langzeilige Langgedichte, deren rhythmische Genauigkeit und klangliche Schönheit mühelos die selbstironische, intelligente Stimme dieses Dichters fassen:

Als Statussymbol für alle, die keines mehr brauchten, fuhr uns die Dacia dorthin.
& was waren wir hörig am Kreischquell beim Hirtenrumänisch heiliger Mütter.
Die gaben die Schollenpflicht weiter wie an Scheune & Stall seine Helligkeit Heu.
Am Bächlein klebte Agafia mit Spucke Karpatenstummel zusammen.

Die Stimme von Alexandru Bulucz ist in der Lage, die alten Ressentiments und die kleinen Ängste der Gegenwart abzulegen, um der Dichtung neue Resonanzräume zu öffnen: Er beginnt mit Kunst, faltet darin das Leben ein und endet mit Kunst.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 1/2019, 24.3.2019

 

„Heimat ist ein kontroverser Begriff“

– Der Frankfurter Lyriker Alexandru Bulucz spricht in der FR über überflüssige Rätsel und den Wunsch, Leser nicht trauriger zu machen als notwendig. –

Joshua Schößler: Alexandru Bulucz, Ihr Debüt Aus sein auf uns ist 2016 erschienen. Hatten Sie schon vorher etwas veröffentlicht?

Alexandru Bulucz: Ja, in Zeitschriften wie dem Literaturboten. Werner Söllner hat mich da reingebracht. Der war dann auch 2013 mein erster Lektor.

Schößler: Werner Söllner hat Ihren Text für den Literaturboten lektoriert?

Bulucz: Das war meine erste Publikation in einer bekannteren Zeitschrift. Er war der erste, der sich meine Texte angeschaut hat.

Schößler: Das ist interessant, weil Sie und Werner Söllner ja eine Vergangenheit in Rumänien verbindet. Er soll für die rumänische Geheimpolizei als Spitzel gearbeitet und Freunde verraten haben.

Bulucz: Er ist 1982 zu einer Veranstaltung nach Deutschland eingeladen worden und dann auch im Land geblieben. Er gehört ja zur sogenannten Minderheit der Rumäniendeutschen. Er war in der Tat in den 1970ern als Student in Securitate-Machenschaften verwickelt. Aber soweit ich das weiß, wurden er und seine Familie bedroht, es ist also keineswegs ein klarer Fall. 2009 hatte er es selbst an die Öffentlichkeit getragen und ist anschließend von der Spitze des Hessischen Literaturforums zurückgetreten, dessen Team er jedoch weiterhin erhalten geblieben ist. Die Poetik, die ich meine bei Werner Söllner ausgemacht zu haben, kommt meiner sehr nahe. Für mich gehört er zu den raffiniertesten Dichtern im deutschsprachigen Raum.

Schößler: Was Sie beide weiterhin verbindet, ist eine gewisse Zugänglichkeit der Texte. Ihre Texte verrätseln ihre Bedeutung nicht vor dem Leser. In einer gewissen Hinsicht sind sie aber auch konventionell, unexperimentell. Hatten Sie mal eine experimentelle Phase?

Bulucz: Ich hatte quasi eine „Plagiatsphase“. Ich komme aus der Ecke von Paul Celan.

Schößler: Der ebenfalls in Rumänien geboren wurde.

Bulucz: Ich war sehr von seinen Gedichten beeinflusst. Aber ich nehme davon zunehmend Abstand. Ich möchte nicht unverständlich sein, denn ich hege nicht die Befürchtung, völlig enträtselbar zu sein. Das sage ich auch im Vorwort zu meinem neuen Manuskript. Ich zitiere dort Oswald Egger, mit dem ich große Probleme habe. Zum Beispiel wird immer wieder ein Satz von Francis Bacon im Zusammenhang mit seiner Poetik zitiert. Sinngemäß: „Der Künstler muss das Geheimnis vergrößern.“ Welches Geheimnis? Was ist das für eine Gegenaufklärung? Was ist das für ein Obskurantismus? Ich bin kein Geheimnis-Vergrößerungs-Poet. Ich meine, es kann ja durchaus die Notwendigkeit geben, dunkel zu schreiben, siehe Paul Celan, aber das ist für mich eher eine Ausnahme. Was er in seinen Gedichten verhandelt, hat keine Präzedenz. Es ist die Shoah. Aber ich sehe das bei Oswald Egger nicht. Ich meine, er ist in den Sechzigern geboren. Welche schlimme Erfahrung hat er gemacht?

Schößler: Sie sind im Jahr 2000 mit 13 nach Deutschland gezogen. Wie hat Sie das Erlernen einer neuen Sprache dichterisch beeinflusst?

Bulucz: Das Erlernen ist ja noch nicht abgeschlossen. Mir fehlen zum Beispiel Redewendungen. Die 13 Jahre in Rumänien sind mir so wichtig, weil ich sie vergesse. Sie entgleiten mir und werden mythisch. Es waren turbulente und schöne Jahre. In meinem Debüt zitiere ich auch Auguste Deter, die erste Alzheimerpatientin. Sie hat in ihrer Demenz den Satz gesagt „Ich habe mich sozusagen verloren“. Diese 13 Jahre in Rumänien habe ich verloren. Es gab 2000 einen Bruch und vielleicht versuche ich, indem ich dichte, eine Brücke zu schlagen zwischen diesen Gedächtnisgeografien.

Schößler: Welche Bedeutung hat für Sie der Begriff der Heimat?

Bulucz: Heimat ist ja ein kontroverser Begriff. Ich würde ihn nicht unbedingt in den Mund nehmen. Ich kann aber sagen, dass ich in der besten aller möglichen Welten lebe. Die Verhältnisse in Rumänien sind bei weitem nicht so gut wie die in Deutschland für mich.

Schößler: Es gibt in Rumänien bestimmt nicht so eine gute Infrastruktur zur Förderung zeitgenössischer Autoren wie in Deutschland. Glauben Sie, Lyrik ist in Deutschland ohne Beatmungsmaschine überlebensfähig?

Bulucz: Ganz bestimmt würde Lyrik auch ohne diese Infrastruktur überleben, aber nicht in diesem Maße. Diejenigen, die gerade von Stipendien und Preisen leben, würden sich von der Lyrik verabschieden. Von irgendwo muss ja der Lebensunterhalt kommen.

Schößler: Reden wir noch einmal über Ihr Vorwort zu Ihrem Manuskript „Stundenholz“, das 2020 erscheinen soll. Das Vorwort ist selbst eine Poetologie. Sie zitieren Eugene Ionesco, der gesagt haben soll „Wer nicht weiß, dass er stirbt, ist in gewisser Weise verkrüppelt. Wer weiß, dass er stirbt, ist unglücklich.“ Anschließend schreiben Sie davon, eine Dichtung „vom Ende her zu schreiben“, also eine Dichtung zu verfassen, die stets die Perspektive des Todes im Blick hat. Ist es dann nicht eine sehr unglückliche Angelegenheit, Ihre Gedichte zu lesen?

Bulucz: Ich will ja nicht, dass meine Leser traurig werden. Ich will aber, dass der Mensch sich bewusst wird, dass der Tod immer in Sichtweite ist. Im Kontext dieses Zitats geht es um einen Freund von Ionesco, der eigentlich todkrank ist und weiß, in zwei Monaten stirbt er. Trotzdem macht er Pläne für die nächsten drei Jahre. Das meint Ionesco damit, dass man, wenn man kein Todesbewusstsein hat, geistig verkrüppelt ist. Den Tod und den Sterbeprozess empfinde ich als etwas Unzumutbares. Die Medizin zeigt, was möglich ist, damit wir am Leben erhalten werden, und trotzdem gibt es ein biologisches Alter, das nicht überschritten werden kann. Warum soll ein Familienangehöriger sterben müssen? Natürlich ist das Todesbewusstsein ein trauriges Bewusstsein. Was soll es sonst sein? Ich will nicht sterben.

Schößler: Aber ich denke mir zum Beispiel manchmal, dass ich mir im Alltag besser nicht so viele Gedanken um den Tod mache, damit ich leben kann. Ist es nicht gut, so zu leben?

Bulucz: Doch, aber das ist eine Eigenschaft, die man haben muss. Ignoranz ist eine Errungenschaft. Aber als Schriftsteller kommt man nicht drumrum, darüber nachzudenken. Dazu kommt, dass ich ein großer Hypochonder bin, jede kleine Veränderung an meinem Körper nehme ich wahr. Diese Prozesse des Körpers, über die der Geist keine Kontrolle hat, erschrecken mich. So entstehen Gedichte.

Schößler: Das klingt alles so, als würden Sie mit dem Dichten bestimmte Unzulänglichkeiten Ihres Körpers kompensieren wollen. Ihre schwindende Erinnerung an Ihre Heimat und Ihre Sterblichkeit. Gibt es noch andere Hoffnungen, die Sie an die Lyrik haben?

Bulucz: Krankheit garantiert keine gute Literatur. Aber man kann fast immer davon ausgehen, dass gute Literatur einen pathologischen Hintergrund als Grundlage hat.

Schößler: Vielleicht hat Ihre Hypochondrie auch etwas mit Ihrem Drang zur guten Dichtung zu tun. Auch in Dostojewskis Verbrechen und Strafe, das Sie in Ihrem Vorwort erwähnen, spielt Krankheit eine wichtige Rolle. Raskolnikow fällt immer wieder in fiebrige Delirien. Für Sie symbolisieren die ewig langen Straßen Russlands, Prospekte genannt, Ihre Poetologie „vom Ende her zu dichten“. Wie meinen Sie das?

Bulucz: Das sind schnurgerade Straßen und ich stehe ganz am Anfang dieser Straße etwas am Rand. Der Anfang ist auch immer das Ende. Eine ganz simple Dialektik. Das Leben stellt einem den Tod in Aussicht.

Schößler: Schauen wir mal in Ihr neues Manuskript „Stundenholz“ hinein. Es fällt sofort auf, dass die Gedichte, wie Sie vorhin schon gesagt haben, im Gegensatz zu Ihrem Debüt viel voluminöser sind. Was war der Grund für diese Entwicklung?

Bulucz: Ich traue dem einzelnen Wort nicht mehr. Wenn du sehr knapp verfährst, übersemantisierst du die Wörter. Ich möchte einen größeren Kontext schaffen, aus dem heraus man das Einzelne besser versteht. Ich arbeite viel stärker mit Spannung und Entspannung. Bei knappen Gedichten ist die Spannung groß. Das versucht auch Oswald Egger zu tun. In seinen Gedichten wird oft die ganze Zeit nur Spannung suggeriert. Ich bin der Überzeugung, dass man in der Literatur auch Entspannung braucht.

Schößler: So viel Tod steckt aber nicht in allen Gedichten. Oft geht es um Religiöses und Kulinarisches. Letzteres spielte in Ihrem Debüt schon eine große Rolle. Woher kommt das?

Bulucz: Diese Passagen, in denen Essen vorkommt, stehen für genau das, was ich am Anfang des Gesprächs gesagt habe: Was ist verdaulich, was nicht? Kindheiten in Rumänien können unter Umständen unverdaulich sein. Das Unverdauliche ist das, was nicht deutbar ist. Da möchte ich mich mit meinen Gedichten hindurchbohren. Verdauung als Verstehensprozess.

Schößler: Warum heißt Ihr neuer Gedichtband Stundenholz?

Bulucz: Das Stundenholz ist ein Glockenersatz. Toaca ist der rumänische Begriff dafür. Es ist ein Stück Holz, auf das ein orthodoxer Mönch schlägt, um zum Gebet zu rufen. Dieses Bild des Stundenholzes habe ich in einer kulinarischen Sequenz entdeckt: Auberginen-Salat rumänischer Art entsteht, indem eine Aubergine erst gebraten, dann gehäutet und schließlich mit einem Holzäxtchen kleingehackt wird. Schon als Kind habe ich das gemacht. Beim Hacken entstehen die gleichen Geräusche, wie wenn der Mönch die Toaca schlägt. Wo kehren die religiösen Praktiken im Alltag wieder?

Schößler: Was macht in Ihrem Titel-Gedicht „Stundenholz“ das Dichten vom Ende her aus?

Bulucz: Diese Poetologie ist eine kondensierte Form. Ich versuche dort lediglich, ein Ideal zu formulieren, wie ich am liebsten immer dichten würde. Nicht jedes Gedicht schreibt vom Ende her, aber unterschwellig ist es immer eine Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit. In Bezug auf das Gedicht „Stundenholz“ sind es verstorbene Menschen, die ich herbeizitiere: Rose Ausländer und Gertrude Stein. Dort geht es um die Identität. A rose is a rose is a rose is a rose. Das letzte Wort „rose“ bedeutet schon nicht mehr, was das erste bedeutet.

Frankfurter Rundschau, 15.1.2020

 

 

Katharina Kilzer: Turbulent und schön: Alexandru Bulucz war Gast des Lyrik-Abends in der Romanfabrik Frankfurt am Main

Miriam Zeh: Heimat ist immer Verlust“

Alexandru Bulucz im Gespräch mit Andra Rotaru: „Kein dauerhaftes Zurück“

Alexandru Bulucz beim Literarischen März 2019

 

Das Gedicht in seinem Jahrzehnt II im Haus für Poesie am 15.2.2021. Alexandru Bulucz und Orsolya Kalász tauschen sich über Gedichte aus, die sie in den zurückliegenden Jahrzehnten besonders geprägt haben.

 

Textland Tape Nr. 1 – Im Gespräch mit Alexandru Bulucz

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