Alfred Kelletat: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Wiederkehr“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Wiederkehr“ aus Johannes Bobrowski: Sarmatische Zeit. 

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

Wiederkehr

Holzbank, ein hartes meuble.
Dort, zwischen Kiefernbäumen,
die Schaukel – ein Brett, zwei geschälte
Stangen. Vorbei kommt der Kuckuck,
Blaurake und Wiedehopf,
Nachtigall, die ein Sprosser ist,
kürzer singt, lakonischer,
rauher, gebs Gott. 

Aber ich kam zu schlafen
unter der Balkenwand,
Schlaf aus Spinnweb und Krötengold,
fliegenbeinigen Schlaf. Zurück
geht das Licht. Um ihre Schatten herum
tappen die Kühe. Der Fisch
reißt ein schäumendes Zeichen
über das Wasser. 

Aber ich schlaf nur.
Ich bin nicht hier.
Ich such eine Stelle,
nur ein Grab breit, den kleinen Berg
über den Wiesen. Von dort
kann ich sehen
den Fluß.

 

Johannes Bobrowskis „Wiederkehr“

Es ist überliefert, daß der Autor dieses Gedicht sein „persönlichstes“ genannt hat (Gajek/Haufe, S. 27). Als Hilde Domin für ihre Sammlung Doppelinterpretationen (1966) ihn um einen Vorschlag anging, fiel seine Wahl auf ebendieses Gedicht. Der frühe Tod hat seine Absicht verhindert. Wir wollen diese auszeichnende Wertschätzung zu verstehen suchen und hoffen dabei zum Primum movens, zum innersten Anstoß seiner Dichtung vorzudringen. Außerdem wollen wir das sarmatische Gedicht sarmatisch zu erklären versuchen, in einem lyrischen Lokaltermin sozusagen, ein Verfahren, dessen Vorteil sich zeigen müßte. Der Text wird dem Leser keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bereiten, ihn nicht hermetisch schrecken – liest er ihn nur direkt und genau und wollte er der Versicherung so vieler Dichter Glauben schenken, daß das wahre Geheimnis im Sichtbaren liege und die Tiefe an der Oberfläche versteckt sei – da muß man sie suchen (Hofmannsthal). Beobachten wir in diesem Sinne das Gedicht im Dreischritt des lyrischen Vorgangs.

I. Einer, der abwesend war, ist zurückgekehrt. Ein menschliches Anwesen tief in der Natur, in der Weite der östlichen Ebene. Da steht eine Holzbank, dort eine Schaukel, diverse Vögel kommen vorbei. So wenige einfache Dinge, und doch sind sie ganz unverwechselbar. Wie z.B. die Schaukel. Der Bobrowski-Leser erkennt in ihr „Ambrassats Schaukel“ aus der (übrigens sehr familiär-nahen) Prosaskizze „Lobellerwäldchen“, das an der Szeszuppe liegt, wo sie fast wortgleich erscheint als „die große, mit Stangen an zwei Kiefern aufgehängte Kiste“. Diese statt mit Schnüren oder Ketten an zwei dünnen Stangen zwischen Bäumen aufgehängte Schaukel ist eine preußisch-litauische Spezialität, die „Alwieteschockel“ (von litauisch „alvytos/elvytos“; „alvyte“ heißt die Weidengerte), weil Gestänge und Sitzbrett mit Schlaufen aus Weidenruten verbunden wurden – ein besonders zu Ostern, auch sonst zu Festen für die Kinder auf dem Dorf üblicher Brauch. Wald- und Wiesenvögel beleben die dörfliche Flußlandschaft. Wird der Leser schon die auffällige zoologische Präzision dieser lokalen Ornis von Kuckucksvögeln (auch die bunte Blaurake und der drollige Wiedehopf auf den Viehweiden gehören dazu) bemerken – es sind eben nicht „alle Vögel schon da“ –, so dürften ihn vollends die Bemerkungen der Verse 6–8 erstaunen. Sie gelten der „Nachtigall, die ein Sprosser ist, / kürzer singt, lakonischer, / rauher, gebs Gott“. Es ist bekannt, daß in unsern östlichen Provinzen weit nach Sarmatien hinein nicht die Nachtigall, sondern eine größere Abart, der Sprosser (so nach der muschelfleckigen Zeichnung der Brust, die ihn unterscheidet), vorkommt. Ob er wirklich kürzer und rauher singt, wie das Gedicht sagt und worüber die Meinungen divergieren („singt noch lauter, aber weniger angenehm“, Brockhaus 1895), ist hier nicht entscheidend, vielmehr, daß man in Ostpreußen diese Minderung als Auszeichnung empfand und auf diese Kürze und Rauheit stolz war. Das ist der Stolz der entlegenen Provinz gegenüber den berühmteren, reichbegabteren Zentren, ganz im Sinne des dort verbreiteten Gedichts von Johanna Ambrosius „Sie sagen all: du bist nicht schön, / Mein trautes Heimatland“, das August Ambrassat 1912 seinem Ostpreußen-Buch als Motto voranstellte. Der Abschnitt schließt mit einem „gebs Gott“. Die Ausdrucksvielfalt dieser reich entwickelten Optativformel ist kaum zu fassen. Sie reicht von Wunsch, Erstaunen, Verdutztheit, Befürchtung, Zurückweisung bis zu einem ,ich weiß nicht‘, vielleicht, meinetwegen. Wie weit das Ostpreußische darin geht, zeigen Beispiele wie „Dei breckt, Gott gêw, noch den Hals!“ oder „Gott gêw, dei Krät versöpt noch!“ oder „Gott gêw, hei starwt wo! noch!“ (Hermann Frischbier: Preußisches Wörterbuch; einiges auch bei Grimm). Keinesfalls läßt sich eine religiöse Note daraus lesen, wie man gemeint hat; es ist eher ein redensartliches Augenzwinkern und hat die Leichtigkeit eines ,je ne sais quoi‘, eines ,mag sein‘ – gebs Gott!
So summiert die erste Stufe des Gedichts in wenigen Zeichen das Bild einer aufgerauhten regionalen Wirklichkeit. Es scheint, es hätte der Autor diesem Bild ironische Lichter aufsetzen wollen (wovon seine Prosatexte voll sind, im Gedicht geschieht das selten), vielleicht um Schwere zu vermeiden. Denn wie sonst soll man es verstehen, daß er die einfache Holzbank beim Bauernhaus „ein hartes meuble“ nennt, mit einem altertümlichen Wort, das man eher in seinen Interieurs des 18. Jahrhunderts gewärtigte; dahin gehört die ganze Sprosser-Erörterung, wie das reduplizierende „lakonischer“ (über das sich spekulieren ließe) und das schillernde „gebs Gott“ zuletzt.

II. „Aber“ – wie in vielen Gedichten bewirkt Bobrowski den Progreß auch hier durch eine adversative Stufung, die nicht unbedingt den logischen Widerruf des Vorangehenden bedeutet, sondern vor allem auf die rhythmische Aktion, auch im Leser/Hörer, zielt – „ich kam zu schlafen / unter der Balkenwand“ (9f.). Es sind die Holzhäuser Sarmatiens, wie jenes „über der Wilia“, wo das Lied vom alten Haus, mit verschränkten Händen gesungen, zugleich das Lied von der alten Zeit ist. In der späten Betrachtung eines Bildes (1965) heißt es:

Holzhäuser. Wer in solchen Häusern gelebt hat, vergißt es nicht. Du erwachst, und dehnst dich, läßt den Atem ein und aus gehn, langsam, noch mit geschlossenen Augen, und spürst: das Haus atmet ebenfalls, und dehnt sich […]. Und im Winter scheint es sich dichter um dich zu schließen, die Wände kommen näher, das Dach sinkt ein bißchen, dichter um die Wärme, näher um deinen Schlaf herum. Und die schönen, aus runden Stämmen gefügten Wände […].

Hier zu schlafen, kehrte er wieder, doch wohl weil wir im Schlaf am tiefsten versinken, am nächsten zu Hause und eins mit dem Dasein sind. Darum auch erscheint der Schlaf in vierfacher Annominatio im Gedicht. Den beiden folgenden Versen gelingt wieder jene unerklärliche Melange aus der spröden Wirklichkeit des Schlafens in einem Bauernhaus (bei Spinnen, Kröten, Fliegen) und ihrer Versetzung in den Kunstausdruck, auf die alles ankommt.
Hier reichen die Realia unversehens in die goldene Tiefe des Märchenbrunnens und des Volksglaubens und -wissens. – Es wird Abend, das Licht sinkt, die Schatten des weidenden Viehs werden irritierend stark, und abends springen die Fische im Fluß, das Wirkliche reißt ein schäumendes Zeichen ins Irreale. 

III. Die abermalige Opposition der dritten Stufe ist nicht so leicht zu verstehen. Man wird der paradoxen Feststellung „ich schlaf nur. / Ich bin nicht hier“ (17f.) folgen müssen. Das fällt nicht schwer, rechnet man mit der Diskontinuität des modernen Gedichts, mit seiner mühelosen Spaltung von Ort, Zeit und Person. Eine solche Translation des lyrischen Ichs, das sich in vierfacher Nennung wiederholt, geschieht hier. Man dürfte darin einen neuen Sinn, eine neue Qualität, ein letztes Ziel der Wiederkehr erwarten. Auch könnte man zusätzlich bedenken, daß Bobrowski seine Schlüsse gern in eine wirbelnde Bewegung versetzt, als enggeführte mehrstimmige und mehrsinnige Kadenzen. Und obgleich hier die Versbewegung in schöner daktylischer Bändigung verläuft (es lassen sich V. 17–19 korrekt als Hexameter, V. 21–23 mit einer geringen Abweichung als Pentameter lesen, dazwischen Ditrochäus + Dijambus), so wirbelt hier doch unser Verständnis. Denn es heißt: Ich bin nicht hier, sondern anderswo; von dort aus such ich eine bestimmte Stelle, nur ein Grab breit, sie liegt auf dem kleinen Berg über den Wiesen. Von da aus kann man den Fluß sehn. Das ist eine Zickzackbewegung. Jüngst hat Minde in seiner gewichtigen Untersuchung (S. 112–116) den Endpunkt des Gedichts in diesem Grab gesucht und es unter konsequenter Einbeziehung aller andern Aussagen (Holz als Sarg, Schlaf als Tod, alle genannten Tiere hätten einen Bezug zum Tode) als Todesgedicht gedeutet. Das dürfte in so direktem Sinne nicht nötig sein, zumal vom Tod bisher noch keine Rede war. Wir versuchen es anders.
Außer Zweifel handelt es sich um den auf einem kleinen Berg über den Wiesen gelegenen Friedhof. Nun benutzte Bobrowski häufig und gern eine bekannte Wendung, mit der man die auserwählte Schönheit eines Ortes und die eigne Anhänglichkeit an ihn bezeichnet. Er schrieb mir z.B. einmal, als ich ihm eine Ansichtskarte aus Ahrensburg geschickt hatte:

In die Ahrensburger Gottesbuden hab ich mich eingelebt, kann das Bild auswendig. Lieber dort begraben sein, als anderswo leben. Soll Barlach gesagt haben, an anderer Stelle. (27. August 1963)

Barlachs Ausspruch aus dem Jahre 1919 gilt „dem Kirchhofe von Babendiek bei Güstrow“ (zit. nach Schult, S. 28). Er meint also mehr die Wohllebigkeit eines Ortes als einen Todeswunsch. Ebendas dürfte auch auf diese „Stelle, / nur ein Grab breit“ (19f.) zutreffen. Der Ort und der Friedhof dieser Wiederkehr sind bekannt; es ist die eigentliche Stelle seines größten Glücks im Sinne des obigen Satzes, es ist sein sarmatisches Urhaus und der Quellpunkt der sarmatischen Dichtung.
Als ich dieses Gedicht in Sarmatische Zeit zum erstenmal gelesen hatte und seine unmittelbare Nähe zur Person des Autors, von dessen näheren Lebensumständen ich wenig wußte, fühlte, sagte ich ihm, „ich möchte genau die Stelle wissen, wo sie war, und die Stunde“. Das verleitete ihn zur prompten Antwort, er schrieb am 22. Januar 1963:

[… ich] bin ganz erschüttert, daß Sie nach Ort und Zeit fragen, das tut niemand sonst. Also WIEDERKEHR, das ist an der Jura, welche ein Fluß, nicht an der Memel, die heißt immer Strom. Ort: Dorf Motzischken, Blick: vom linken Ufer, Nähe Friedhof, aufs rechte Ufer, das Wiesenufer, von dort dann vice versa.

Und abermals vom linken Ufer auf den Fluß – hätte er hinzusetzen können. Meine Frage nach der Stunde hat er nicht beantwortet, wohl weil sie zu weit in die private Sphäre reichte. Niemand weiß sie. Trotzdem läßt sie sich annähernd bestimmen. Gewiß ist es einer der wenigen Besuche, die er vom Krieg beurlaubt in Motzischken machen konnte. Außerdem ist in zeitlicher Nachbarschaft zu „Wiederkehr“ das Gedicht „Einmal haben / wir beide Hände voll Licht“ entstanden – abermals kein Todes-, sondern ein Lebens- und Liebesgedicht –; unter diesem Titel übrigens der Erstdruck am 12. November 1960 in der Neuen Zeit in Berlin. Dieses wiederum arbeitet mit Materialien eines früheren, aus dem Nachlaß veröffentlichten Gedichts, das als Titel lediglich die Jahreszahl 1943 trägt (Im Windgesträuch, S. 29), das sogar das Versprechen an die geliebte Frau enthält:

Später
kehr ich zurück.

In diesem Umkreis ist der biographische Ort unsers Gedichts zu suchen.
Damit soll nicht dem Irrtum Vorschub geleistet werden, die Summe solcher Details ergäbe das Gedicht, denn die ließe sich auf vielerlei Art wiedergeben. Doch gehört die verläßliche Historizität ihres Ursprungs zu Bobrowskis Dichtung. Nur aus ihr vermochte er das, was er sein „Thema“ nannte, nämlich „die Deutschen und der europäische Osten“, die lange Geschichte voll Unglück und Schuld, und seine Wirkungsabsicht auf eine bessere Zeit ohne Angst durchzuführen. Darum gehört die Gebundenheit an Selbstgesehenes und Selbsterfahrenes unverzichtbar in seine Poetologie; die immerwache Sorge um die richtige, gerechte Benennung der Dinge treibt ihn, durch Sprache das Wirkliche zu wollen („An Klopstock“), und nur so, nicht durch Kopfgeburten oder Phantasiespiele, vermag er ihr den moralischen Anspruch, die persönlich verbürgte redliche Absicht anzuschließen. Sein ganz erstaunliches Gedächtnis für einmal Wahrgenommenes, eine blitzartige bewahrende Aufzeichnung diente ihm dabei. Wenn er an Peter Jokostra schrieb (11. Juni 1959): „,Ilmensee‘ ist eine 25. Fassung. […] Ich hab mit ihm einen Eindruck von 1941, der örtlich und zeitlich auf Zentimeter und Minute festliegt, eingeholt“, so bezeugt das diese Technik, der auch unser Gedicht folgt: Gewesenes in der Kunstgestalt genau zu manifestieren.
Natürlich versetzt das Gedicht das einmalig Gewesene in den Zustand einer höhern und weitern Gültigkeit, die Chiffren des Momentanen fügt es zu einem dauerhaften Zeichen. So hat Bobrowski aus den Wäldern und Strömen, Dörfern und Klöstern, den Häusern und Menschen Sarmatiens „Gedenkzeichen, Warnzeichen, beides“ einer osteuropäischen Schicksalsgemeinschaft gemacht. So auch die poetische Stufenfolge dieser erinnerten Wiederkehr – mit der Unverwechselbarkeit des Ortes, dem tiefen Glück des Dortseins und dem Wunsch nach Bleiben, nach der Dauer des Verlorenen, das er „mit allem Recht verloren“ genannt hat. Der Topos der Wiederkehr, d.h. der unlösliche Widerspruch zwischen ihrer realen Unmöglichkeit und der Aufhebung der Trennung im Gedicht, begegnet bei ihm in vielerlei Verwandlungen immer wieder. Dafür müssen wenige Andeutungen genügen.
Dem Beobachter seiner Texte fallen die zahlreichen Ortsbestimmungen in Frageform auf, die etwa lauten: „Wo befinde ich mich?“ – „ Wo denn / wollen wir bleiben?“ – „Wie leb ich hier?“ – „Wie lang noch bleibe ich hier?“ – „Hier sind wir. Wo ist das?“ In der kleinen Friedrichshagener Erzählung „Das Käuzchen“ durchbricht der abendliche Ruf des Vogels die äußere Gegenwart und erweckt das ferne unnennbare Land, wo die Traumhäuser aus Holz sind und wo „der Ort [ist], wo wir leben“. Und in der nah dazugehörigen Szene „Ich will fortgehn“ heißt es: „Ich kenne einen Friedhof. […] Dort […] im Wiesenland, geht ein Fluß. […] Und der kleine Hügel erhebt sich mit Holzkreuzen […], der Sandhügel, nahe am Ufersturz. […] Wer hier steht, sieht den Fluß […].“ „Das ist wohl nicht so weit?“ fragt eine Stimme. Solche Zitate machen uns den immergleichen Ort immer bekannter. (Vgl. meinen Aufsatz „Wo bin ich?“)
In der mit den Initialen D. B. H. betitelten Buxtehude-Erzählung drängt sich gegen Ende eine unabweisliche Identifikation des Verfassers mit dem Lübecker Komponisten auf (vgl. Haufe, Behrmann), den eine visionäre Sehnsucht nach Helsingör am dänischen Sund erfaßt, der mythischen Stadt seiner Jugend. Er wird sie nicht mehr sehn. Andere, Jüngere, seine Schüler, werden hingehn „für mich“ – „sieh es für mich“. Ähnlich verklingen die Litauischen Claviere, Bobrowskis letzter Text, der doch so scheinbar genau als ein politischer Roman um den Johannistag des Jahres 1936 im Memelland beginnt, zwar auf dem exakt fixierbaren trigonometrischen Punkt auf dem Rombinus, dennoch ins Imaginäre außer Raum und Zeit gehend. Und abermals herrscht leitmotivisch der eindringliche Fragegestus: Wo bin ich? – was ist das? – wo ist man da? – wann war das? Als Antwort tönt:

Das von früher, das geht nicht mehr. […] Hingehen, das geht nicht mehr. Hingehen nicht.

Und „Herrufen, hierher. Wo wir sind“, das ist Potschkas letztes Wort. Und der unentrinnbare Zirkel; denn „wo wir sind?“, hatte „Das Käuzchen“ beantwortet: dort – wo die Traumhäuser aus Holz sind.
Der bereits zitierte Brief Bobrowskis vom 22. Januar 1963 über „Wiederkehr“ und Motzischken schloß mit folgendem Diktum:

Also, ich bin ein Heimatdichter, sagen Sie. Dabei mache ich bloß so ein Schlußpanorama für die zuendegehende Epoche der Seßhaftigkeit, welche im Neolithikum bekanntlich anfing, damit die Leute wissen, wie das war.

Man wird die oft depravierte Vokabel ,Heimat‘ nicht entbehren können, man muß sie reinigen; auch Bobrowski hat sie zwar sparsam gebraucht, aber keineswegs vermieden – und die unentbehrlichste zur Beschreibung unseres Weltzustandes heißt ,Heimatlosigkeit‘ (vgl. Nigg). Heimat und die Trennung von ihr oder ihr Verlust waren immer starke Antriebe der Dichter. Homers Odyssee ist der lange Gesang von der Wiederkehr nach Ithaka, und Vergils Epos erzählt, wie Äneas den greisen Vater und die Penaten aus dem brennenden Troja hinausträgt und eine neue Heimat findet, Ovids Tristien beklagen die Verbannung in den fernen Pontus – so ließe sich fortfahren in der Reihe der großen Heimatdichter, bis zu Joyce’ Ulysses oder den Danziger Romanen von Günter Grass. Das ist eine Catena Homeri, eine goldene Kette der Exulanten und Fremdlinge, der unsre Gegenwart nicht wenige Glieder hinzugefügt hat. Bobrowski hat sich ihr zugehörig gewußt. „Anruf“, das Eröffnungsgedicht der Sarmatischen Zeit, schließt:

Heiß willkommen die Fremden.
Du wirst ein Fremdling sein. Bald.

Das blieb sein Status. In den Tagen der Wiederkehr hat Bobrowski Nelly Sachs’ Flucht und Verwandlung gelesen (Gajek/Haufe, S. 27), die Gedichte der Berliner Jüdin in Stockholm, der er später Verse gewidmet hat, denen er das Jesus-Wort „Die Tiere haben Höhlen und die Vögel unter dem Himmel haben Nester“ (Matth. 8,20) vorangestellt hat. Vielleicht las er in Flucht und Verwandlung auch diese Verse: 

Ein Fremder hat immer
seine Heimat im Arm
wie eine Waise
für die er vielleicht nichts
als ein Grab sucht.

Im Gedicht hat der Fremdling „eine Stelle, nur ein Grab breit“ gefunden; und wo das Grab ist, da ist man für immer zu Hause. Und vielleicht kannte der Vielkennende auch seines Landsmanns Herder palingenetisches Wort:

So sind wir Menschen, wir dichten uns Hoffnungen der Wiederkehr.

1

Alfred Kelletat, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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