Alfred Margul-Sperber: Jahreszeiten

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alfred Margul-Sperber: Jahreszeiten

Margul-Sperber-Jahreszeiten

VERSE, AUF SCHNEE GESCHRIEBEN

Verse, auf Schnee geschrieben:
Wort für Wort
Küßt der glühende Frühling fort
Wie unser Lieben.

Verse, auf Schnee geschrieben…
Sieh des Grases Kräuseln nur:
Es wahrt die Spur,
Die Schrift ist geblieben!

 

 

 

Nachwort

Die intensive Beschäftigung mit dem Werk Alfred Margul-Sperber, dem Mentor zahlreicher Lyriker aus der Bukowina, brachte mich auf die reizvolle Idee, seine Gedichte unter dem Aspekt der Jahreszeiten auszuwählen. Das Ergebnis zeigt, daß Sperber zwar in einem Gedicht die „vier Jahreszeiten“ „anruft“, sein lyrisches Interesse aber mit dem Sommer beginnt, den Frühling also gänzlich ausspart. Es ist die volle Blüte, die den langsamen Untergang geweiht ist:

Und soll man mit Bedauern
Um welke Blätter trauern?

IMMERHIN

Zu sterben ist nicht schwer, wenn du bedenkst,
Daß du vielleicht dich neuen Formen schenkst.

Bernhard Albers, Nachwort

 

Begegnungen mit Alfred Sperber

Storoshynetz, 1933–1936:
Auch noch der Schwung, mit dem man, der Reihe nach, um drei Ecken bog, um ins Zentrum zu gelangen, ist mir gegenwärtig: man wandte sich nach rechts, dann nach links und wieder nach rechts, jeweils um 90 Grad. Dann war man in der kurzen, belebten Geschäftsstraße, in der es die Buchhandlung Faust gab, das Kolonialwarengeschäft Hammerling („Von Afrika nach Storosynetz laufe ich willig / denn bei Hammerling kaufe ich gut und billig!“, stand auf dem Firmenschild, auf dem ein kleiner Mohr abgebildet war), hier hatte Doktor Menczer sein Kabinett und Herr Lockspeiser seinen Friseursalon, hier gab es Metzger, Bäcker und Anwälte und her kam, wer „Leute sehen“ wollte.
Hier trafen wir oft auch den Dichter Alfred Sperber, von dem meine Mutter sagte, man müsse ihn immer erst am Rockärmel ziehen, um sich bemerkbar zu machen, auch wenn man sich mit ihm verabredet hatte: Erstens sei er einen halben Meter länger als die anderen Leute und schaue nicht nach unten, zweitens sei er kurzsichtig und drittens so in Gedanken vertieft, dass er einfach an einem vorüberging.
Sperber pendelte damals zwischen Storoshynetz und Czernowitz, wo er Redakteur des Morgenblattes war, und später zog er sogar dreimal so weit fort, nach Burdujeni, in den Süden der Bukowina: Das hatte sein Schwiegervater, der Weinhändler und Kinobesitzer Drimmer von ihm verlangt, weil reiche Leute oft kein Verständnis für musisch begabte Schwiegersöhne mit geringem Einkommen haben. Sperber arbeitete dort als Fremdsprachenkorrespondent und Übersetzer für den großen Schlachthof in Burdujeni, von wo aus Tonnen Fleisch in die verschiedensten Länder der Welt exportiert wurden. Die Freunde machten sich Sorgen um den verbannten Dichter, selbst mein Vater, der sonst immer für Fleiß und geregelte Lebensverhältnisse eintrat, gab zu bedenken: Sperber, so ein sensibler Mensch, soll im Schlachthof arbeiten?
Und Sperber klagte. Aber er wirkte weiterhin als großer literarischer Animator, und im Stadtgespräch der Storoshynetzer war er nach wie vor präsent. Meine Großmutter zum Beispiel, konnte den spektakulären Zweikampf nicht vergessen, den er sich mit der Koryphäe einer anderen Czernowitzer Zeitung über Wochen geliefert hatte. Und meine Mutter, die Sperbers schönste Gedichte auswendig konnte, die gemeinsam mit ihm für Hofmannsthal und Dauthendey, für Dehmel und die Lasker-Schüler schwärmte, verteidigte, allen Angriffen gegenüber, ihren Freund: „Er ist im Grunde ein Idealist“, sagte sie, „und ein großes Kind!“

Bukarest, 1945 und 1954–1967
Die Maria Rosetti ist eine breite, schattige Straße der Bukarester Stadtmitte. Sie ist nicht so zauberhaft wie die kleinen, verschlungenen Gassen, die, nur ein wenig weiter östlich, doch ebenso nahe an den Hauptschlagadern des Verkehrs und des Tagesgeschehens, dicht an unsere Batistei heranreichend, ihr anachronistisches Dasein fristen. Nein, mit diesen ihren Schwestern, die Namen tragen wie „Morgenweg“ und „Abendgasse“, hat die Maria Rosetti kaum etwas gemein: Sie ist eine moderne Straße. Nur ihr Anfang ist noch ein wenig anders: da, wo sie beginnt, liegt ein kleiner, zwischen Hochhäusern eingeklemmter Platz, in dessen Mitte eine der ältesten Volksschulen Bukarests steht. Und hierher habe ich, im Herbst 1963, meine kleine Tochter gebracht und in die erste Klasse eingeschrieben.
Aber neun Jahre vorher, bald nach unserer Ankunft in Bukarest, als ich zum ersten Mal auf der Maria Rosetti die Hausnummer 31 suchte, wusste ich noch nichts über die Schauplätze der nächsten Umgebung, nichts von den Schicksalen, die uns da erwarteten, und der ganze, weitläufig im Flachland zerfließende, vielfach in sich verschlungene Körper der großen Stadt war mir unbekannt.
Ich suchte damals die Wohnung eines Freundes meiner Eltern, Alfred Sperber. Das Haus, in dem er wohnte und an dem ich auch heute noch, seiner gedenkend, emporschaue, wenn ich in Bukarest bin und daran vorüber gehe, ein „kubistischer“ Bau aus den dreißiger Jahren, kehrt der Straße eine seiner Schmalseiten zu. Die breite Front blickt auf den langgestreckten Hof und seine hohen Kastanienbäume. Und so schaute ich damals, im Herbst ’54, als ich zum ersten Mal in Sperbers Arbeitszimmer saß und zum Fenster hinaussah, direkt ins noch dichte, bewegte Grün.

Ich wurde aufgefordert zu erzählen, was alles passiert war, seit wir uns zuletzt, im Frühling 1945, gesehen hatten. Damals nämlich waren meine Mutter, mein Bruder und ich, Anfang März als Flüchtlinge zum Quadrat sozusagen, in Bukarest eingetroffen. Wir hatten Buziasch, jenen kleinen Ort im äußersten Westen des Landes, wohin die Familie aus Czernowitz geflüchtet war, bei Nacht und Nebel verlassen, weil meine Mutter zufällig von einem russischen Soldaten erfahren hatte, dass in wenigen Stunden alle jüngeren Deutschen ausgehoben und nach Sibirien deportiert werden sollten.
Am 6. März – viele Straßen und Plätze sollten in den kommenden Jahren nach diesem Datum benannt werden, denn gerade an dem Tag, am 6. März 1945, wurde die erste kommunistische Regierung eingesetzt – waren wir in Bukarest angekommen, wo mein Vater, der noch im Staatsdienst war, mit uns vorübergehend eine kleine Wohnung in der Nähe der Piaţa Victoriei bezog. Es war die Wohnung einer jungen Deutschen, die nach Russland verschleppt worden war, die also das Schicksal erleiden musste, dem wir entronnen waren: Zwei Zimmer, komfortabel eingerichtet – da stand ein Klavier, Kleider und Hüte füllten die Schränke, und die zahlreichen Nummern der Zeitschrift Signal, die überall herumlagen, versprachen noch immer den Sieg der Wehrmacht an allen Fronten.
Hierher also war damals auch Sperber gekommen, um uns zu begrüßen. Es war gerade einiges von unserem Gepäck aus Buzasch angekommen, wo meine Großmutter zurückgeblieben war. Unter anderem die Lieblingsplatten des Großvaters und das Grammophon.
Das wurde aufgestellt und als Relikt einer Zeit bestaunt, die jetzt weit zurückzuliegen schien. Ans Klavier gelehnt, sang Sperber mit:

Ich bin die Himmelsjungfrau nicht, ich bin die Elfenkööönigin…

Wie anders erschien mir der gealterte Mann neun Jahre später, also im Herbst 1954, bei meinem ersten Besuch in der Maria Rosetti! Eigentlich war er ja erst 56, aber sein Haar war weiß, sein langes, faltiges Gesicht ebenfalls – weiß wie Papier! –, und seine Schultern hingen müde nach vorn. Er hatte immer schon Schwierigkeiten mit dem Kreislauf gehabt, wegen seiner zu hoch aufgeschossenen Gestalt, und die Kriegsjahre, in denen auch er in Bukarest, als Jude, der aus der Bukowina stammte, von Verschleppung bedroht gewesen war, hatten ihn stark mitgenommen.
Als ich ihm jetzt sagte, dass mein Vater seit zwei Jahren im Gefängnis sei, reagierte er betroffen:

So ein anständiger Mensch! So ein hochanständiger Mensch!

Sperber und mein Vater, sie hatten einander nicht nur gut gekannt, sie wussten auch einiges übereinander, das mir unbekannt war. Während unseres vorhin erwähnten Bukarestaufenthalts im Jahr 1945, wurde mein Vater aus dem Staatsdienst entlassen und musste sich, wie alle, die unter dem gestürzten Regime höhere Ämter bekleidet hatten, vor einem sogenannten „Volkstribunal“ verantworten. Sperber, Ewald Rupprecht Korn und andere, die in den Jahren 1940–44, von Bukarest aus, in den jüdischen Hilfskomitees für die Bukowina tätig gewesen waren, sind damals vor diese Instanz gegangen, um zu erklären, dass mein Vater der jüdischen Bevölkerung geholfen hatte, wo er nur konnte.

Manchmal habe ich mich auch gefragt, ob Sperber nicht vielleicht auch davon gewusst hat, dass im Winter ’43 ein jüdisches Mädchen eine Zeit lang in der Czernowitzer Wohnung meiner Eltern versteckt war. Sie stammte nicht aus der Bukowina, überhaupt nicht aus Rumänien. Sie sei, erzählte mir meine Mutter, als ich in den Weihnachtsferien nach Hause kam, in Polen, also im deutschen Verwaltungsgebiet, aus einem Transport geflüchtet, da sei sie in ganz großer Gefahr gewesen.
Wer die Fremde meinem Vater anvertraut hatte, das sagte mir die Mutter nicht, sie wusste es wahrscheinlich selber nicht genau. Wir gingen in den Keller, wo unser geheimer Gast versteckt war und solange ich in Czernowitz blieb, war ich es, die dem Mädchen das Essen brachte und ihr Gesellschaft leistete. Sie mochte in meinem Alter oder etwas älter gewesen sein und beeindruckte mich durch ihre Ruhe. Sie war schön und sprach ein sehr gepflegtes Deutsch. Als ich mich von ihr verabschiedete, um zurück nach Hermannstadt zu fahren, legte sie mir einen Schal um den Hals, den sie in ihrem Versteck gewebt hatte. „Den habe ich für dich gemacht“, sagte sie, „trag ihn, du wirst immer glücklich sein!“

In den vielen Jahren, die seither vergangen sind, habe ich oft daran denken müssen, ob das fremde Mädchen mit dem Leben davongekommen ist, wo sie später gelebt hat, wer sie war?
Auch was mein Vater damals erfahren hatte, über die Todestransporte in Polen, weiß ich nicht. Meine Mutter hat mir viel später erzählt, dass sie einmal, als sie noch in Czernowitz lebten, also vor dem März ’44, nach Hause gekommen war und meinen Vater so verzweifelt vorfand, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. „Eigentlich“, sagte er zu ihr, „hätte ich heute meinen Dienst quittieren müssen.“

Sperber hat über diese Dinge nicht gesprochen. Damals, während meines ersten Besuches bei ihm, im Herbst ’54, nicht und auch später nie. Er hatte mich aufgefordert, zu erzählen, das tat ich und schließlich stellte ich ihm die Frage, die für mich, seit meiner Ankunft in Bukarest, von größter Bedeutung war: Sollte ich zum Neuen Weg gehen, oder nicht?
Es verhielt sich nämlich so, dass Ernst Breitenstein, der Chefredakteur der Bukarester deutschen Zeitung, zwei Jahre vorher, als ich noch in Klausenburg für die Akademie arbeitete, bei mir gewesen war und mir eine Stelle in der Bukarester Redaktion angeboten hatte: Man wolle eine bessere Zeitung machen als die, die man jetzt herausgab, hatte er gesagt, und er sei zu einer Rundfahrt durch die Universitätszentren des Landes aufgebrochen und habe sich überall erkundigt, ob es nicht unter den deutschsprachigen Absolventen der letzten Jahrgänge junge Leute gäbe, die für den Journalistenberuf in Frage kämen. Und jemand habe ihm meinen Namen genannt. Ich sagte damals ab: ich wollte in Klausenburg bleiben und zu einer Zeitung wollte ich schon gar nicht gehen. Jetzt sah das freilich anders aus.
Sperber riet mir, auf jeden Fall zu Breitenstein zu gehen. Der sei zwar nicht mehr Chefredakteur, nur noch Stellvertreter – in seinem Lebenslauf wären einige unklare Stellen aufgetaucht und man habe vorübergehend seine Mitgliedschaft in der Partei suspendiert – aber trotzdem sei er es, der die Entscheidungen träfe; und er selbst, Sperber, wolle auch ein Wort für mich einlegen. Nur solle ich, um Gottes willen, keinem Menschen mehr sagen, dass mein Vater im Gefängnis sei, vielleicht bekäme es ja niemand heraus, die Bukowina sei weit. In meinen Lebenslauf solle ich schreiben, mein Vater sei Rentner und lebe auf dem Land. Und auf die Liste der Personen, die Referenzen über mich und meine Familie abgeben könnten, solle ich nur Leute setzen, denen ich vertrauen könne, möglichst viele, damit man nicht auf den Gedanken käme, andere zu suchen.

So kam ich denn, im Dezember ’54, zum Neuen Weg – fast drei Monate hatte es gedauert, bis mein „Dossier“ mit genügend Referenzen gespickt war und ich angestellt werden konnte.
Meine Arbeit beim Neuen Weg hab ich zu einem günstigen Zeitpunkt begonnen: Stalin war tot, in Moskau regierte man angeblich kollektiv und kämpfte in Wahrheit um die Macht, während in Rumänien Gheorghiu-Dej seine Rivalen ausgeschaltet hatte (hingerichtet wie Lucreţiu Pătrăşcanu oder in die Wüste geschickt wie Ana Pauker, Vasile Luca und andere), und es sich zeitweise leisten konnte, an die Verbesserung seines Ansehens und an das Ansehen seines Landes zu denken. Jeder wollte, nach den ersten Stürmen der Diktatur, sein Image wieder verbessern, auch der Neue Weg, und so war man bei der Zeitung vorerst über jedermann froh, der es verstand, wie ein „Zivilist“ zu schreiben. An der ideologischen Front wurde im Moment auch nicht mehr so besessen gekämpft: Schließlich waren die Gefängnisse voll und die Angst saß den Menschen in den Knochen.
Auch einem wie Sperber, der doch, in jüngeren Jahren, an den Kommunismus als befreiende und Gerechtigkeit stiftende Macht geglaubt hatte und irgendwie, im Tiefsten, wohl immer noch glaubte. Es muss ihn verstört, ja, innerlich gebrochen haben, zu erfahren, wie ungerecht und hart die „Diktatur des Proletariats“ in Wirklichkeit war. Und bestimmt hatte er schon viel früher von den Verbrechen Stalins erfahren… Und dennoch schrieb er Lobeshymnen auf den Tyrannen. Er hatte zwei Söhne in den Vereinigten Staaten, einer von ihnen soll Offizier gewesen sein, in Rumänien gab es einen hohen Parteifunktionär, der davon Kenntnis hatte, und der erpresste ihn damit.
Alles, was ich über diese Umstände weiß, hat mir der Schriftsteller Alfred Kittner, ein gemeinsamer Freund, erzählt. Sperber selbst sprach nie darüber. Was ich aber im Umgang mit ihm in jenen Jahren erkennen konnte und was er sich auch nicht zu zeigen scheute, war seine tiefe Resignation.
Er kam, in der ersten Zeit, öfters zum Neuen Weg, später rief er nur an, wenn er ein Gedicht oder eine Erklärung abzugeben hatte, und ein Chauffeur holte den Text ab. Man traf ihn bis gegen Ende der fünfziger Jahre noch bei verschiedenen Gelegenheiten, so zum Beispiel auf der Geburtstagsfeier der Zeitung, die jedes Jahr Anfang März stattfand. Als Sperber für seine Übersetzungen aus der rumänischen Volkslyrik den Staatspreis bekam, wurde beim Schriftstellerverband ein Empfang organisiert; diese Übersetzungen waren wirklich schön und den Originalen innerlich verwandt, jenen hoch poetischen Texten, die immer wieder die Liebe zur Natur und zugleich eine entwaffnend fatalistische Schicksalsergebenheit zum Ausdruck bringen. Das kam wohl Sperbers eigener Gemütslage und seiner Begabung entgegen und er hatte viel Freude an diesen Texten, wie auch an seinen Übersetzungen aus der Weltliteratur.
Mit den Jahren ging er immer seltener aus, und ich besuchte ihn öfter in der Maria Rosetti. Manchmal war ein kurzes Gespräch für die Zeitung zu führen, dann kam allerdings sehr bald der Zeitpunkt, an dem er sagte:

Stecken Sie den Bleistift in die Tasche, Lieselchen, ich kann nicht sprechen, wenn ich einen Bleistift sehe!

Dann ging er zu einem seiner hohen Regale, schlug ein Buch auf, hob es dicht an seine kurzsichtigen Augen heran, und fing an, mir vorzulesen: halb klagend, halb singend, wehrlos der eigenen Ergriffenheit ausgeliefert. Immer aber war, was ich zu hören bekam, bedeutend und schön.

Ich sollte den Bleistift wegstecken… dabei hat ihm einmal gerade mein Bleistift große Freude bereitet. Es war im Dezember 1956, Rilkes Todestag jährte sich zum dreißigsten Mal und Sperber schrieb für unsere Zeitung einen Gedenkartikel über den Dichter, an den zu erinnern noch drei-vier Jahre früher niemand gewagt hätte. „Sieh den Text durch und gib ihn ab!“ sagte mir der Abteilungsleiter. Das tat ich auch und der Artikel gefiel mir, als ich aber plötzlich an einen Absatz kam, der gar nicht zu dem Übrigen passte, in dem von Fäulnis und von der imperialistischen Gefahr die Rede war, die von solcher Dichtung ausgehe, handelte mein Bleistift selbsttätig und strich die ärgerlichen Zeilen. Am nächsten Morgen rief mich Sperber in aller Früh zu Hause an und bedankte sich, wie es seine Art war, mit überschwänglichen Worten:

Ich weiß, das haben Sie getan und ich küsse Ihnen das Herz dafür!

Einmal dann – es muss bei meinem letzten oder vorletzten Besuch in der Maria Rosetti gewesen sein – las Sperber mir nicht mehr Shakespeare, Dante oder Eliot vor, sondern eigene Verse, die ich noch nicht kannte: eine ganze Reihe schöner, erschütternd trauriger Gedichte. Von den steigenden Wassern des Todes war die Rede, vom Wunsch nach dem Ende.

… Wenn dein gequälter Mund, schon schief von Trotz und Alleinsein,
Aufstöhnt, vermauere ihn…

Jessika, Sperbers zierliche Frau, hatte uns auch an jenem Tag, wie gewöhnlich, Tee gebracht, und sich dann, nach einigen freundlichen Worten, zurückgezogen. Nur einmal, als ich meine kleine Tochter mitgebracht hatte, blieb auch sie mit uns, sprach ganz vorsichtig, fast schüchtern mit dem Kind und ließ sich von der zutraulich Gewordenen Verse aufsagen.

Am 3. Januar 1967 kehrten wir, T. und ich, spät abends aus Brăila zurück, wo wir hingefahren waren, weil sich zu Silvester der damals noch nicht lange zurückliegende Todestag meines Schwiegervaters jährte. Zu Hause erwartete mich eine dringende Nachricht: Sperber sei gestorben, war mitgeteilt worden, ich solle am nächsten Morgen so früh wie möglich in die Redaktion kommen, um eine Sonderseite der Kulturbeilage vorzubereiten.
An diese Seite und an die Beiträge, die dort erschienen sind, erinnere ich mich nicht mehr, umso eindringlicher aber an Sperbers Begräbnis: Es war bitter kalt, als man den Leichnam, nach jüdischer Sitte, in einem einfachen Brettersarg auf dem Bukarester israelitischen Friedhof beisetzte, die Erde war gefroren. Ein kaltes Bett für diesen Toten: ich dachte an Storoshynetz, an die Wiesen am Rande der Stadt, an den Flondorschen Wald: hier hatte auch er seine Kindheit verbracht. Und der Kantor sang die Totenklage mit so wildem Gefühl, als hätte er soeben selbst um sein Leben gespielt und verloren.

Am 23. September, an Sperbers Geburtstag, bei mildem Spätsommerwetter, versammelte Alfred Kittner uns alle – Sperbers Freunde, wie er sagte – wieder am Grab. Und es wurde beschlossen, jedes Jahr, an diesem Tag, den gemeinsamen Besuch nach Möglichkeit zu wiederholen. Was eine Zeitlang auch eingehalten wurde.

Sperbers Freunde – das hätten nicht wenige sein sollen, denn dieser im Leben ungeschickte, in seine Träume versponnene und leicht zu verwirrende Mensch hat anderen viel Gutes getan: ob er jemanden materiell unterstützte oder einen Empfehlungsbrief schrieb, ob er Aufträge von Verlagen übernahm, um sie heimlich von Autoren ausführen zu lassen, die gerade als politisch unzuverlässig galten oder ob er jungen Schriftstellern mit Rat und Tat zur Seite stand – all dies erledigte er eifrig, diskret, freudig.

Fuhr ich nach Hermannstadt, so kam es vor, dass er mir ein Übersetzerhonorar für Wolf Aichelburg mitgab, wenn dieser wieder einmal persona non grata war, somit selbst keine Aufträge bekam. Und der Prosaautor und Essayist Oscar Walter Cisek hat mir einmal erzählt, dass er, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, außer dem geringen Entgelt, das seine Frau für Schreibarbeiten bekam, überhaupt kein Einkommen hatte, und dass Sperber ihm damals 1000 lei monatlich gab: die dringend benötigte Überlebenshilfe!
Im Nachlass des „guten Riesen“ – wie man Sperber nannte – haben sich Hilferufe und Dankesschreiben von den verschiedensten Leuten gefunden.

Elisabeth Axmann, aus Elisabeth Axmann: Wege, Städte, Rimbaud Verlag, 2005

 

GUTE STIMME
Für Alfred Margul-Sperber

Tot sind die Wiesen, alle Straßen führen
Den müden Schritt in Irrsal nur und Stein;
Der Mund bleibt stumm: nicht kann die Lippe rühren
Das Lied der Klage und der Sang der Pein.
In Not und Qual der heißen Stadt geschlagen,
Der Mauern Beute und der Trauer Spiel,
Kann ich dir nur die alten Weisen sagen
Der frühem Tage. Sieh, sie sind nicht viel:

Doch send ich sie dir, Sänger, in die Triften,
Worin du Herr bist, machtvoll und verträumt,
Dann blühn sie auf und prangen in den Lüften,
Dann fühl ich glücklich: sie sind nicht versäumt!
Ihr Atem weht zu deinem tiefen Wissen
Um ihre scheue, bange Melodie…
Und ist ihr Klang zerstört, das Wort zerrissen,
Du hegst sie gütig, du vergißt sie nie.

Die Pfade, die zu deinem Wald sich neigen,
Sie sind verwachsen meinem schweren Fuß;
Dort darfst du weilen in dem großen Schweigen,
Die Bäume brausen, und der alte Fluß
Hat für dich Kühle, und des Brunnens Dunkel,
Aus dem du Schwermut und Vergessen trinkst,
Spiegel des Himmels heiligen Karfunkel,
Des Lied du in den klaren Nächten singst.

Ich aber muß stets fremde Worte sagen
In fremden Wind, in ewig fremder Nacht;
Laternenschein und dumpfe Wände ragen
In meine Schale und verlorne Wacht.
Kaum weiß ich noch, daß ferne Wälder rauschen
Und Sterne blühn dem Wandrer ins Gesicht…
So laß mich deiner guten Stimme lauschen,
Sie sei mir Tröstung, sei mir Gruß und Licht.

Alfred Kittner

 

 

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