Andreas Degen (Hrsg.): Sarmatien in Berlin

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Andreas Degen (Hrsg.): Sarmatien in Berlin

Degen (Hrsg.)-Sarmatien in Berlin

JOHANNES BOBROWSKI

Du kommst
mit dem Wind alter Tage,
die Farne locken,
du vergißt nicht

das Holzhaus
über der Wilia
,
die Hand
inmitten der Einsamkeit,
im wartenden Licht
niemals vergangener Fotos,
vergilbt
wie Schreie,
wie Flüstern.

Aus der dunklen Sprache
das Zuhaus
redet
die Tür
zu dem
heutigen Gestern.

Offen bleiben
Märztage,
nicht ausgesprochene Stimmen,
die Sekunde,
in der die Trommel über den Hang rollt,
verfolgt von Blicken,
die wie die Ebene stöhnen
zu uns.

Wolfgang Trampe
(1979)

 

– Waren Sie schon bei Johannes Bobrowski
Jeder der nach Berlin kam, wurde gefragt:
– Waren Sie schon bei Johannes Bobrowski
in Friedrichshagen
Da hatten früher Strindberg verkehrt und Steiner und
Erich Mühsam, Fidus,
– Ich war gestern bei Johannes Bobrowski
in Friedrichshagen
Sagte wenigstens einmal jeder, der nach Berlin
gekommen war
Johannes hatte mich in Saulgau eingeladen:
– Wenn du nach Berlin kommst, besuch mich
Ich zögerte.
Ich wußte nicht, ob ich dieser Gewalt von Expressionismus,
Slawentum, Bildung und Hans-Henny-Jahnnreminiszenz
gewachsen sei.
Und die deutsch-deutsche Betriebsamkeit.
Raddatz ging hin, Buch, Antje Ellermann, Klaus Völker,
Klaus Wagenbach.
Jimmy Baldwin hatte Johannes Bobrowski in Finnland
getroffen.
Alle waren bei Johannes Bobrowski
Der Bertelsmann Verlag wollte ihn in den Westen holen.
Bobrowski arbeitete an zwei Romanen gleichzeitig.
So geht das, wenn man den Preis der Gruppe 47
bekommen hat.
Man bot Johannes Bobrowski ein Einfamilienhaus,
Prämien, Swimmingpool.
Ganze Zirkel bauten sich um ihn auf
Kongresse.

Johannes Bobrowski kam zu einer Lesung nach Westberlin.
Er machte das blendend.
Er hatte den Charme eines Arbeiters, er war der Mann von
der Straße, dazu Hans Henny Jahnn und Hagedorn und
Buxtehude
Und seine gefühlvollen kalkulierten Geschichten.
Jeder stand auf ihn.
Wir teilten uns das schmale Bett in der Pension Hirsch.

(…)

Johannes Bobrowski wurde mit einer verschleppten
Blinddarmentzündung aus den Ferien geholt.
Sepsis.
Johanna nahm mich mit ins Krankenhaus.
Wir fuhren durch ein graues friderizianisches Berlin.
Johannes lag in einer dunklen Kammer
Schläuche und Röhren an seinem Gesicht.
Er schreckte hoch.
Die letzte Angst in den Augen.
Er erkannte mich nicht mehr.

Johannes war gegen Antibiotika allergisch.
Ich brachte den Chefarzt dazu, mir die Mittel zu nennen,
die versucht worden wären, die Sepsis niederzuschlagen.
Irma holte von ihrem Cousin die fehlenden.
Wir schmuggelten die Ampullen zusammen mit
Klaus Wagenbach durch die Mauer.
Irma hatte die Medikamente im Brillenfutteral versteckt.
Als die Kontrolleurin an die Handtasche ging, ließ Irma das
Brillenfutteral fallen, sagte:
O meine Brillen.
Hob es auf und legte es zu den bereits kontrollierten
Gegenständen.
Wir waren durch.
Der ungebräuchliche Plural, eine grammatische Form hatte
uns gerettet.

Irmas Cousin, mit den paraffinierten Gehirnschnitten
wollte eine Kultur mit Johannes Bobrowskis Blut anlegen.
Johannes’ Blut.
Noch warm.
Ich schmuggelte Johannes Bobrowskis Blut durch die Mauer,
in der Achselhöhle versteckt.
Johannes reagierte nicht auf die neuen Antibiotika.
Das Blut wuchs nicht an.

Als ich nach der Mittagspause in das Wahlbüro der SPD
zurückkam, sagte Klaus Röhler:
– Ja, der Johannes Bobrowski ist uns gestorben.
Irmas Cousin aus dem Virchow-Krankenhaus rief an:
– Die Blutkulturen sind angewachsen.
Johannes Bobrowskis Blut im Laboratorium hatte begonnen,
die tödlichen Keime zu nähren
– Johannes ist tot.

Ich brachte Johanna meine Lösung
Zur Beerdigung waren alle da. Christoph Derschau weinte.
Hohe Regierungsmitglieder.
Born machte mich darauf aufmerksam, daß mein Schlitz
offen sei. Johnson. Eine solche Beerdigung ließ man sich
nicht entgehen.
Hans Werner Richter las ein Telegramm von Günter Grass,
der sich auf Wahlreise befand.
Die Träger ließen den Sarg an den Kirchenstufen aufschlagen.
Johanna unter den vielen schwarzen Anzügen.
Die verweinten Gesichter der Kinder.
Fremde und Rauch auf dem Sofa und vor dem Spinett. 

Hubert Fichte
Aus: Hubert Fichte: Die zweite Schuld. Glossen, S. Fischer Verlag, 2006

 

 

 

Nachwort 

Sarmatien ist der alte Name für die eurasische Ebene, die sich zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, Weichsel und Wolga erstreckt. Kein anderer deutscher Autor des 20. Jahrhunderts ist so eng mit diesem Namen verbunden wie Johannes Bobrowski. Sein erster, 1961 erschienener Gedichtband trägt den Titel Sarmatische Zeit, wenig später folgte der Band Schattenland Ströme. Anteil genommen an diesem Großraum hat Bobrowski in dreierlei Hinsicht: durch seine Herkunft aus dem nördlichen Ostpreußen, durch seine Teilnahme am Vernichtungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion und durch vier Jahre Kriegsgefangenschaft im Donezbecken.
Sarmatien in Berlin ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es bezeichnet die Position des Lyrikers und Prosaautors Bobrowski, der von 1950 bis zu seinem frühen Tod am 2. September 1965 im Osten der Stadt lebte und arbeitete. Der von hier aus, im Büro oder in der S-Bahn sitzend, Landschaften und Menschen einer fernen Welt und einer anderen Zeit aufsuchte. Diese andere, diese sarmatische Zeit nimmt in seinen Texten vielerlei Gestalt an: die Gestalt der Sesshaftigkeit, der lebendigen Traditionen, des Völkergemischs, die Gestalt der Grenzenlosigkeit und des nahen Aufbruchs. Sarmatien in Berlin bezeichnet zugleich die Position des Autors in der geteilten Stadt, dem Fortschritt der einen wie der anderen Seite skeptisch gegenüberstehend. Er setzt auf die evokative Kraft der deutschen Dichtung, um das unwiderruflich Vergangene gültig darzustellen: nicht als Idylle, sondern in den historischen Ursachen und Umständen seines Vergangenseins – als Selbstvergewisserung und Mahnung. Sarmatien in Berlin bezeichnet somit ein Schattenland, das Schattenland der Dichtung: das Fast-Wirkliche der Imagination in jenem Moment, in dem literarische Kommunikation derart gelingt, dass ihre Wirkung zu einer realen Erfahrung wird. Greifbar wird die Realität solcher Wirkung von Literatur in den Erfahrungen und Reaktionen anderer Autoren.
Das Anliegen dieser Anthologie ist es, die Reaktionen auf Leben und Werk Johannes Bobrowskis zu sammeln und vorzustellen. Dabei geht es weniger um Vollständigkeit als um Vielfalt. Reibungen in Hinsicht auf die eingenommenen Blickwinkel oder verwendeten Aussageformen und Stile sind dabei erwünscht. Die ausgewählten Texte stammen aus fünf Jahrzehnten. Autoren verschiedener Generationen kommen zu Wort, unter ihnen gute Freunde und ferne Verehrer Bobrowskis, aber auch solche, die ihm erst in großem zeitlichem Abstand lesend begegnet sind. Die Anthologie entwirft ein offenes, facettenreiches Bild eines Dichters und seines Werkes. Darüber hinaus will sie anregen, die Lektüre jener Autoren, die hier mit ihren Reminiszenzen an Bobrowski zu Wort kommen, auf eigenen Wegen fortzusetzen. 

Schattenrisse
Bobrowski hat zahlreiche Gedichte geschrieben, die sich ausdrücklich oder versteckt an einen Dichter, einen Musiker oder an eine andere historische Person wenden, diese ansprechen oder durch Zitate exemplarisch vorstellen. Derartige Porträtgedichte haben verschiedene Autoren auch über Johannes Bobrowski verfasst. Es sind Porträts aus größerem Abstand, entworfen auf der Basis von Gelesenem und Gehörtem. Eva Strittmatter etwa vergleicht ihn mit einer schwarzblütigen Malve, der aus dem Iran stammende Cyrus Atabay verweist auf Shakespeares Figur Prospero. Rose Ausländer porträtiert ihn durch die zwiespältige biografische Begründung seiner Dichtung, Ulrich Grasnick und Gabriele Eckart durch deren Wirkung. Wolfgang Trampes lyrischer Schattenriss spielt auf das Gedicht „Das Holzhaus über der Wilia“ und Bobrowskis Erzählung „Der Tänzer Malige“ an.
Neben Porträtgedichten enthält die erste Abteilung der Anthologie persönliche Erinnerungen und Briefe. In einem vermutlich Entwurf gebliebenen Brief an Johanna Bobrowski berichtet Uwe Greßmann über seine Begegnungen mit ihrem verstorbenen Ehemann. Der russische Intellektuelle Lew Kopelew, dem Bobrowski während des Zweiten Weltkrieges am Ilmensee gegenüberstand, dankt Gerhard Wolf für dessen Studie Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski und schildert seine wachsende Begeisterung für diesen Dichter. Gerhard Wolf und seine Frau Christa kommen an anderer Stelle mit eigenen Bobrowski-Erinnerungen zu Wort. Einen Schattenriss im Dissens zeichnet hingegen der Brief von Peter Huchel, der Bobrowski während der 1950er-Jahre entdeckt und entschieden gefördert hatte. Huchel war Ende 1962 durch die Kulturpolitik der DDR zur Aufgabe seines Redaktionspostens bei der renommierten Literaturzeitschrift Sinn und Form genötigt worden, die anschließend der linientreue Bodo Uhse weiterführte. Während Huchel öffentlich und beruflich ins Abseits gedrängt wurde, erfuhr Bobrowski durch den Preis der Gruppe 47 im Westteil Berlins zunehmende Beachtung und Anerkennung, auch in der DDR. Angespannt war das Verhältnis beider vor allem dadurch, dass Bobrowski während des legendär gewordenen, von Stephan Hermlin eigenverantwortlich und zum Missfallen der Partei veranstalteten Lyrik-Abends unbekannter junger Autoren in der (Ostberliner) Akademie der Künste am 11. Dezember 1962 die direkte Begegnung mit Huchel vermieden hatte. An jenem Abend wurden unter anderem erstmals öffentlich Gedichte von Sarah Kirsch, Uwe Greßmann, Volker Braun und Bernd Jentzsch vorgetragen, die in der Anthologie auch zu Wort kommen. Huchels Brief sollte man in Zusammenhang mit den Erinnerungen Christoph Meckels lesen, den über die Grenze hinweg eine enge Freundschaft mit Bobrowski verband. Die erste öffentliche Anerkennung, den Alma-Johanna-Koenig-Preis, erhielt Bobrowski im Juli 1962 in Wien; Erich Fried erinnert eine Episode am Rande dieses Wien-Aufenthaltes. 

Berlin / Berlin
Bobrowski verstand den Verlust Ostpreußens und die Teilung Deutschlands als selbstverschuldete Folge des Krieges. Literarisch und mit vielen Autoren-Freundschaften war er im Westen verankert; gelebt und gearbeitet hat er im Ostteil Berlins. Wer von ihm verlangte, Stellung zu beziehen, bekam die Dringlichkeit des Gesprächs zur Antwort.
Eine ihnen gemeinsame Position der doppelten Nichtzugehörigkeit bezeichnet der als Kind aus dem nationalsozialistischen Berlin nach England emigrierte Michael Hamburger, der Bobrowski mehrfach am Müggelsee besuchte. Günter Bruno Fuchs aus Berlin-Kreuzberg erinnert an einen gemeinsamen Besuch um 1957 mit dem Friedrichshagener Schubladen-Autor bei Christa Reinig im Bezirk Prenzlauer Berg. Wie schnell sich die Situation veränderte, nachdem die Mauer gebaut und Bobrowski mit dem Preis der Gruppe 47 geehrt worden war, lässt sich bei Reinhard Baumgart und Hubert Fichte nachlesen. Eine Außensicht bieten der Wiener H.C. Artmann und – in einer veränderten, den Zweikampf der gesellschaftlichen Systeme um das Reich Gottes erweiternden Perspektive – der Schweizer Kurt Marti. Bei Christoph Meckel erscheinen die west-östlichen Gespräche im Garten des verstorbenen Freundes schon wenige Jahre später als eine vergangene, fast unwirkliche Utopie.
Die westlichen Stimmen in dieser Abteilung werden durch zwei ostdeutsche Stimmen ergänzt, für die eine Epoche später Bobrowski zum Inbegriff dessen wurde, was nach 1989 an Geltung nicht verlor. Wilhelm Bartsch umgibt sich, den Fall der Berliner Mauer einsam in Tübingen erlebend, mit Hölderlins Rhein-Hymnus, Pablo Nerudas Gesang auf Deutschlands Ströme und Bobrowskis Gedichten „Die Memel“ und „Hölderlin in Tübingen“. Unweit des englischen Sterbekaffs von Uwe Johnson spricht Heinz Czechowski seinen aus Dresden und Leipzig nach Darmstadt verzogenen Freund Kurt Drawert auf die Bindekraft des Vergangenen an. 

Gruppenbilder
Bobrowskis Haus stand vielen offen, seine Herzlichkeit war legendär. Als prominenter Autor wurde seine Nähe von vielen gesucht. Die hier ausgewählten Gruppenbilder in Prosa- oder Gedichtform halten tatsächlich erlebte oder auch bloß imaginierte Zusammenkünfte und Konstellationen mit Freunden oder Kollegen fest. Rolf Haufs und Walter Gross erinnern sich an Besuche im Garten der Ahornallee 26 in Berlin-Friedrichshagen, Günter Bruno Fuchs, einer der bewährtesten Freunde, gedenkt in seiner „Widmung an Johannes Bobrowski“ des „Neuen Friedrichshagener Dichterkreises“. Dieser wurde, zur „Beförderung der schönen Literatur und des schönen Trinkens“, von Bobrowski und einigen Freunden 1962 ins Leben gerufen, spaßeshalber in der Nachfolge des berühmten Dichterkreises im Friedrichshagen der Wilhelminischen Zeit, dem unter anderen Julius und Heinrich Hart, Wilhelm Bölsche, Bruno Wille, Johannes Schlaf, der bei Fuchs erwähnte Peter Hille und kurzzeitig August Strindberg angehörten. Den neuen Dichterkreis bildeten die Westberliner Fuchs und Robert Wolfgang Schnell, die Ostberliner Lothar Kusche und Manfred Bieler sowie, als korrespondierendes Mitglied, der noch in Frankfurt am Main lebende spätere Verleger Klaus Wagenbach. Als Ausdruck der Gesinnung dieses Kreises darf Manfred Bielers Bobrowski-Parodie „Der Milchmann“ angesehen werden; die versteckte Selbstironie wird erst erkennbar, wenn man Heiner Müllers Auskunft über Bieler hinzuzieht. Müller selbst hat nur mittelbar Platz in dieser Anthologie, da er – den Grund nennt er – keinem der denkbaren Gruppenbilder mit Bobrowski angehörte.
Der zweite Typus der gesammelten Gruppenbilder betrifft eine Generation jüngerer Autoren, meist Lyriker, die in der DDR lebten. Diese kannten Bobrowski nur ausnahmsweise näher, wussten jedoch, was sie ihm in ihrem Bemühen um mehr poetische Freiheit verdankten. Bernd Jentzsch, der wie die meisten der bei ihm genannten Autoren zeitweise in Friedrichshagen lebte und seit 1961 mit Bobrowski selbst in Kontakt stand, beschreibt das Fantasiebild eines Berliner Dichtergartens. Neben Bobrowski und drei Autoren der Jahrhundertwende – Arno Holz, Paul Scheerbart und Otto zur Linde – werden, meist mit Partnerin, genannt: Karl Mickel, Volker Braun, Fritz Rudolf Fries, Günter de Bruyn, Günter Kunert sowie Sarah Kirsch und Jentzsch selbst. Als lyrisches Pendant zu diesem „Dichtergarten“ lässt sich das im Zyklus „Reisezehrung“ entworfene Gruppenbild von Sarah Kirsch auffassen. Kirsch, 1977 in die Bundesrepublik übergesiedelt imaginiert eine abendliche Runde vor dem Künstlerheim im brandenburgischen Wiepersdorf, in der die Freunde und Kollegen von einst in einer für ihr literarisches Selbstverständnis charakteristischen Geste karikiert werden: Heinz Czechowski, Adolf Endler, Richard Leising, Elke Erb sowie Mickel, Braun und Fries. Abseits, im Wintergarten des einstigen Schlösschens, sitzt Bobrowski. Historisch gerahmt wird das Dichterbild durch Barthold Heinrich Brockes, Christian Dietrich Grabbe und die einstige Bewohnerin des Anwesens, Bettine von Arnim. Bernd Jentzsch fehlt im Bild, da er wie Kirsch die DDR verlassen hatte. Dafür taucht er, als Adressat, später in Uwe Kolbes kleinem Friedrichshagener Gruppenbild „Gelber Spruch“ auf. Michael Augustins Gruppenbild hingegen entwirft eine Anordnung über die Zeiten hinweg. 

Sterbemonat
Am 30. Juli 1965, zwei Tage nach Abschluss des zweiten Romans Litauische Claviere, wurde Johannes Bobrowski mit einem Blinddarmdurchbruch in das Krankenhaus Berlin-Köpenick eingeliefert. Nach weitgehendem Nierenversagen und anderen Komplikationen starb er, 48 Jahre alt, am 2. September. Die Umstände der letzten Tage und einen dramatischen Rettungsversuch beschreibt Hubert Fichte, ebenso die Beerdigung am 7. September auf dem Evangelischen Friedhof in Berlin-Friedrichshagen, die zu einem kulturpolitischen Ereignis wurde. Neben Freunden und zahlreichen Autoren aus der DDR und der Bundesrepublik wie Erich Arendt, Ingeborg Bachmann, Manfred Bieler, Wolf Biermann, Nicolas Born, Rolf Haufs, Hermann Kant, Wolfgang Kohlhaase, Günter Kunert, Christoph Meckel, Klaus Roehler, Franz Tumler, Klaus Völker und Klaus Wagenbach nahmen auch der Kulturminister der DDR Hans Bentzien und andere staatliche Vertreter daran teil. Der nach Westberlin übergesiedelte Uwe Johnson durfte unbehelligt ein- und wieder ausreisen. Für die (Ostberliner) Akademie der Künste sprach Stephan Hermlin am Grab, für die Gruppe 47 Hans Werner Richter. Als sich die Nachricht von Bobrowskis Tod in den Medien verbreitete, reagierten einige Autoren in literarischer Form: so die westdeutschen Freunde Günter Bruno Fuchs und Manfred Peter Hein und die ostdeutschen Autorinnen Brigitte Reimann und Sarah Kirsch. Vor allem bei Kirsch, die ihre Klage mit Hölderlins Ode „Geh unter, schöne Sonne“ anheben lässt, wird die große Bedeutung Bobrowskis für junge Autoren in der DDR vor dem Hintergrund einer nun erwarteten Verödung der Literaturlandschaft erkennbar. In dem späteren, auf den ersten Todestag 1966 datierten Gedicht „Eine Schlehe im Mund“ ganz am Anfang dieser Anthologie bekräftigt sie dies. Optimistische Trauerhymnen wie die von Helmut Bartuschek konnte man beispielsweise am 12. September 1965 unter dem Motto „In memoriam Johannes Bobrowski“ in der (Ost-) CDU-Zeitung Neue Zeit lesen. Einen Mittelweg, im Stil ganz von dem Verehrten geprägt, versucht Uwe Grüning anlässlich des zehnten Todestages. Vereinnahmungsversuche post mortem werden von Reiner Kunze sarkastisch registriert. Bei Adolf Endler und Hermann Kant, beide in sehr unterschiedlicher Weise als Autoren in der DDR lebend, scheint die Konfrontation mit dem plötzlichen Tod des „Dichters aus Friedrichshagen“ eine kurze Infragestellung des eigenen Tuns zu provozieren. 

Fortgesetzte Gespräche
Den Ton Bobrowskis zu kopieren war verführerisch. In einigen der Texte ist jene von Erwin Strittmatter 1969 kritisierte „Bobrowski-Manier“ jüngerer Autoren in der DDR spürbar. Im besten Fall verhalf jedoch die Begegnung mit dem Werk Bobrowskis dazu, eine eigene Ausdrucksweise zu entwickeln. Davon zeugen Erinnerungen wie die von Christa Wolf, Herta Müller, Durs Grünbein oder Ingo Schulze, der sich auf Bobrowskis Roman Levins Mühle bezieht. Andere Texte wie die Nicolas Borns, Hans Magnus Enzensbergers, Walter Gross’ und Gerhard Wolfs nehmen den persönlichen Gesprächsfaden mit Bobrowski auf, fragen zurück, geben Antworten. Nach 1965 wurden literarische Gespräche mit Bobrowski in der Bundesrepublik vor allem von jenen fortgeführt, die ihn persönlich gekannt haben; es gibt aber Ausnahmen, wie Christoph Heubner. In der DDR waren es immer wieder Jüngere, die sich auf Bobrowski beriefen. Auch Schweizer Autoren setzten das Gespräch literarisch fort: etwa Walter Gross, der nach mehreren Besuchen in Friedrichshagen Bobrowski sein Gedicht „Aus den Wäldern“ zusandte, das den Adressaten zu dem Gedicht Antwort veranlasste, oder – Bobrowskis Gedicht „Ankunft“ zitierend – Erika Burkart sowie Kurt Marti und Urs Faes. Ähnliches gilt für die rumäniendeutschen Autoren Klaus Hensel, der auf den Schluss von Bobrowskis „Antwort“ reagiert, und Herta Müller. Auch andere Autoren spielen auf konkrete Gedichte Bobrowskis an: Günter Grass auf „Die Memel“, Franz Fühmann auf „Kindheit“, Kathrin Schmidt auf „Gestorbene Sprache“, Reiner Kunze auf „Das Wort Mensch“ und Mirko Bonné auf „An Klopstock“. Die Passage aus dem Roman Liebesarchiv von Urs Faes folgt den Gedichten bis in die Kindheitslandschaft des Autors am litauischen Memelufer.
Auch im 21. Jahrhundert suchen junge Lyriker das Gespräch mit dem älteren: „ein Gespräch wäre gut“, schreibt Tom Schulz in seinem Gedicht „Bobrowski in Friedrichshagen“. 

Ferne Winke
Bobrowski hat in seine Texte häufig Namen und Wendungen aus Texten anderer montiert, er war ein Meister des kryptischen Zitats. Einige Autoren führen das Gespräch in ähnlicher Weise mit ihm fort – verborgen, ohne ihn zu nennen, oder aus großer Distanz. Bei Ursula Krechel lässt sich die Wendung aus Bobrowskis Gedicht „Anruf“, weil sie recht bekannt ist, noch leicht erkennen, ebenso die Verse aus „Die Memel“ in Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster. Wie Wolf bestimmte Gefühle bei der späten Wiederbegegnung mit ihrer Kindheitslandschaft durch Verse Bobrowskis ausdrückt, bezieht Manfred Peter Heins Gedicht „Kaunas 1941“ das Wissen um mittelbare Berührungspunkte mit der Vernichtung von Juden auf das gleichnamige Gedicht Bobrowskis, in dem es um Mitwisser- und Mitläuferschaft von Wehrmachtsangehörigen geht. Gewichtig ist der Einspruch, den Paul Celans Gedicht „Hüttenfenster“ angesichts der Mitverantwortung des ,in Sarmatien‘ einmarschiert seienden Bobrowski gegen eine nachträgliche und allzu umstandslose Identifikation mit den Ermordeten erhebt. Hendrik Birus hat gezeigt, dass Celan, der Ende 1959 in einem kurzen Briefwechsel mit Bobrowski stand, in der ersten Hälfte des Gedichtes „Hüttenfenster“ Formulierungen und Bilder aus Bobrowskis Gedichten „Die Heimat des Malers Chagall“ und „Litauische Lieder“ übernommen hat. Eine frühere Fassung des zeitweise auch „Pariser Elegie“ oder „Hommage à quelqu’un“ überschriebenen Gedichtes von Celan enthält Wendungen aus „Die Spur im Sand“. Celans prinzipieller Einspruch gegen die Legitimität Bobrowskis zu solchen einfühlenden Gedichten wird in einer Vorfassung von „Hüttenfenster“ auf den Punkt gebracht. Dort heißt es, im Kontext mit Zitaten Bobrowskis: „Und wollen im Mordjahr / gewesen sei[n] die sie gemordet“. Ein prägnantes Kryptozitat aus Bobrowskis Prosastück „Ich will fortgehn“ findet sich in Werner Bräunigs Roman Rummelplatz; Bräunig war erklärtermaßen Bobrowski-Leser. Die Passage aus Rummelplatz, die kurz nach 1945 im alliierten Berlin spielt, stellt die bei Bobrowski vor dem Hintergrund eines Fortgehens in den Westen diskutierte Frage für den umgekehrten Fall. Verstreut über mehrere Teile ihres Romans Lenas Liebe zitiert Judith Kuckart Motive und Formulierungen aus dem Schlusskapitel von Bobrowskis Roman Litauische Claviere. Ihr Reise- und Liebesroman ist im polnischen Oświȩcim/Auschwitz der späten 1990er-Jahre angesiedelt, die Thematisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit eröffnet entfernte Parallelen zu Bobrowskis Roman. Kuckart verwendet jedoch die programmatischen Formulierungen Bobrowskis für vergleichsweise banale Zusammenhänge. Ulrich Schacht hat seinem Gedicht „Zwischen den Dünen“ und weiteren Gedichten ein Bobrowski-Zitat als Motto vorangestellt: Thematik, Stil und Aufbau dieser Gedichte reagieren auf die Poetik des späten Bobrowski. Ein ähnlich ferner, nur aus auffälligen sprachlich-stilistischen und strukturellen Parallelen in der Behandlung eines analogen Themas ablesbarer Wink ist Volker Brauns Gedicht „Richtplatz bei Mühlhausen“; um die Reminiszenz zu erkennen, muss Bobrowskis „Friedhof“ danebengelegt werden. Keinen kryptischen, aber einen sehr entfernten Wink geben die Texte von Ulrich Zieger, Christiane Grosz, Günter de Bruyn und Friederike Mayröcker. De Bruyn parodiert nahezu Satz für Satz den berühmten Anfang von Levins Mühle. Dagegen ist die Szene aus Ziegers Theatertext „Über die Mandelbrotmenge“ lediglich durch eine nachgestellte, auf das Gedicht „Sprache“ anspielende Widmung als Bobrowski-Reminiszenz zu erkennen. Ein weiterer Theatertext, Friederike Mayröckers „Bobon oder das wirkliche Zimmertheater“, empfiehlt sich durch die wiederholte Wendung „bobrowski & seine kinder“; Mayröcker und Bobrowski kannten sich seit 1962. Dass bei Christiane Grosz Bobrowskis Werk dem Werk Tschaikowskis vorgezogen wird, bedarf keiner weiteren Erläuterung.

Andreas Degen, Nachwort

 

Sarmatien ist der alte Name

für die eurasische Ebene, die sich zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, zwischen Weichsel und Wolga erstreckt.
Kein anderer deutscher Autor des 20. Jahrhunderts ist so eng mit diesem Namen verbunden wie Johannes Bobrowski (1917–1965), eine der markantesten Stimmen der deutschen Literatur der Nachkriegsjahrzehnte: nicht laut, aber durchdringend und faszinierend bis heute. Seine Gedichte und Prosaarbeiten zeugen von höchster sprachlicher Präzision und einem ungebrochenen Vertrauen in die Sinnlichkeit des Wortes.
Bobrowski wurde in beiden deutschen Staaten anerkannt und geehrt – ein singulärer Fall während des Kalten Krieges. In den wenigen Jahren seines öffentlichen Wirkens wurde sein Haus in Berlin-Friedrichshagen zu einem heimlichen Treffpunkt zahlreicher Autoren.
Er war, so Hans Werner Richter 1965 in seiner Trauerrede, ein „Genie der Freundschaft“.
Diese Anthologie stellt Reaktionen auf Leben und Werk Johannes Bobrowskis vor, sie versammelt Gedichte und Prosastücke aus fünf Jahrzehnten. Mehr als sechzig Autorinnen und Autoren verschiedener Generationen kommen zu Wort, unter ihnen gute Freunde und ferne Verehrer Bobrowskis, aber auch solche, die ihm erst in einem großen zeitlichen Abstand lesend begegnet sind.

verlag für berlin-brandenburg, Klappentext, 2015

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

Johannes Bobrowski liest Gedichte und Prosa 1962 und 1965 für die Quartplatten des Klaus Wagenbach Verlages.

Johannes Bobrowski liest Gedichte und Prosa 1962. Bei dieser Aufnahme handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um die Lesung Johannes Bobrowskis zur Tagung der Gruppe 47 in Berlin, auf der Bobrowski den Preis der Gruppe 47 erhielt.

 

Gerhard Wolf: Johannes Bobrowski: Leben und Werk

Gerhard Wolf: Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski

Walter Gross: Der Ort, wo wir leben
DU, Heft 2, Februar 1965

Jürgen Joachimsthaler: Bobrowskis Häutungen
literaturkritik.de, 5.4.2017

Andreas Degen: Kafka zum Beispiel
literaturkritik.de, 9.4.2017

Thomas Taterka: Der letzte Talissone
literaturkritik.de, 5.4.2017

Sabine Egger: Martin Buber und Johannes Bobrowski
literaturkritik.de, 16.4.2017

Andreas F. Kelletat: Vom Ende der Sesshaftigkeit
literaturkritik.de, 5.4.2017

Reiner Niehoff: Bobrowski-Fragmente
SWR2, 19.6.2017

Zum 1. Todestag von Johannes Bobrowski:

Jürgen P. Wallmann: ich hab gelebt im Land, das ich nenne nicht“
Die Tat, 3.9.1966

Zum 50. Geburtstag von Johannes Bobrowski:

Gerhard Desczyk: „… so wird reden der Sand“
Neue Zeit, 9.4.1967

Zum 10. Todestag von Johannes Bobrowski:

Peter Jokostra: Gedenkzeichen und Warnzeichen
Die Tat, 29.8.1975

Zum 60. Geburtstag von Johannes Bobrowski:

Gerhard Rostin: Der geht uns so leicht nicht fort
Neue Zeit, 9.4.1977

Zum 15. Todestag von Johannes Bobrowski:

Jürgen Rennert: Von der Sterblichkeit der Dichter
Das Literaturjournal, 3.9.1980

Zum 20. Todestag von Johannes Bobrowski:

Gerhard Wolf: Stimme gegen das Vergessen
Freibeuter, Heft 25, 1985

Reinhold George: Brober
Schattenfabel von den Verschuldungen. Johannes Bobrowski zur 20. Wiederkehr seines Todestages, Amerika Gedenkbibliothek, Berliner Zentralbibliothek, 1985

Zum 70. Geburtstag von Johannes Bobrowski:

Michael Hinze: Mitteilungen auf poetische Weise
Berliner Zeitung, 9.4.1987

Eberhard Haufe: Der Alte im verschossenen Kaftan
Neue Zeit, 9.4.1987

Zum 50. Todestag von Johannes Bobrowski:

Annett Gröschner: Der sarmatische Freund
Die Welt, 29.8.2015

Christian Lindner: Mit dem dunklen Unterton der Melancholie
deutschlandradiokultur.de, 2.8.2015

Lothar Müller: Nachrichten aus dem Schattenland
Süddeutsche Zeitung, 1.9.2015

Zum 100. Geburtstag von Johannes Bobrowski:

Helmut Böttiger: Große existenzielle Melodik
Süddeutsche Zeitung, 6.4.2017

Dirk Pilz: Dem großen Dichter zum 100. Geburtstag
Berliner Zeitung, 6.4.2017

Dirk Pilz: Ostwärts der Elbe
Frankfurter Rundschau, 7.4.2017

Arnd Beise: Ein Christenmensch und ein großer Geschichtenerzähler
junge Welt, 8.4.2017

Klaus Walther: Johannes Bobrowski: In „Sarmatien“ eine poetische Heimat gefunden
FreiePresse, 7.4.2017

Richard Kämmerlings: Der Deutsche, der an der Ostfront zum Dichter wurde
Die Welt, 9.4.2017

Cornelius Hell: Wer war Johannes Bobrowski?
Die Presse, 7.4.2017

Klaus Bellin: Erzählen, was die Leute nicht wissen
neues deutschland, 8.4.2017

Tom Schulz: Mein Dunkel ist schon gekommen
Neue Zürcher Zeitung, 9.4.2017

Manfred Orlick: Die Deutschen und der europäische Osten
literaturkritik.de, 5.4.2017

Oliver vom Hove: Der Dichter verlorener Welten
Wiener Zeitung, 9.4.2017

Wolf Scheller: Poetische Landnahme im Osten
frankfurter-hefte.de, 1.4.2017

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 12 +
Internet Archive + KLGIMDbUmzug
Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Johannes Bobrowski: Der Sonntag ✝ Die ZeitSZ
Kürbiskern ✝ Kunze ✝ Grabrede 1 & 2

 

Klaus Wagenbach spricht über Johannes Bobrowski und Günter Grass liest die Erzählung „Rainfarn“.

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