Andreas F. Kelletat: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Bericht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Bericht“ aus dem Band Johannes Bobrowski: Schattenland Ströme. –

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

Bericht

Bajla Gelblung,
entflohen in Warschau
einem Transport aus dem Ghetto,
das Mädchen
ist gegangen durch Wälder,
bewaffnet, die Partisanin wurde ergriffen
in Brest-Litowsk,
trug einen Militärmantel (polnisch),
wurde verhört von deutschen
Offizieren, es gibt
ein Foto, die Offiziere sind junge
Leute, tadellos uniformiert,
mit tadellosen Gesichtern,
ihre Haltung
ist einwandfrei.

 

Die Wehrmacht und das Mädchen

Ein Partisan, so belehrt uns 1989 das Universalwörterbuch des Mannheimer Dudenverlages, kämpft „als Angehöriger bewaffneter, aus dem Hinterhalt operierender Gruppen gegen den in sein Land eingedrungenen Feind“. Partisanen, so bestimmt es die in diesem Punkt erst 1949 geänderte Haager Landkriegsordnung von 1899, genießen bei Ergreifung keinen Schutz, wegen ihrer Hinterhältigkeit. Kurzen Prozeß kann man mit denen machen. So werden sie auch mit Bajla Gelblung verfahren sein, dem Mädchen aus dem Warschauer Ghetto, das bis Brest-Litowsk gelangt war, auf seiner Flucht durch die Wälder. Vielleicht wurde vor der Erschießung noch ein Protokoll, ein „Bericht“ aufgesetzt, und das Mädchen hat erzählen müssen, wo und wie es an die Waffe und an den „Militärmantel (polnisch)“ gekommen ist und wie in diese Partisanengruppe.
Nach dem Krieg aber werden sie verdrängen und bestreiten, von den Ghettos, den Massenerschießungen, den jüdischen Partisanen je etwas gehört zu haben. Wehrlos waren die Juden immer gegen ihre Verfolger, das weiß man doch. Und die Verfolger dieser wehrlosen Juden waren die SS-Schergen und Himmlers Sonderkommandos in den Dörfern und Wäldern um Brest-Litowsk – weit hinter der tapfer kämpfenden Front. Die haben all das Schreckliche begangen. Aber die Wehrmacht, die hat damit nichts zu tun, deren Offiziere haben sich einwandfrei verhalten. Hat Hitler nicht selber wegen der zögerlichen Befolgung seines „Kommissarbefehls“ vom Juni 1941 das Oberkommando des Heeres beschimpft, es wolle aus „dem Soldatenberuf möglichst einen Pastorenstand“ machen, und hat er nicht selber geklagt, was noch alles unterblieben wäre, wenn er seine SS nicht hätte?
Johannes Bobrowski, der 1917 in Tilsit geboren wurde und 1965 in Berlin gestorben ist, hat als Soldat der deutschen Wehrmacht an den Überfällen auf Polen und die Sowjetunion teilgenommen. In Kaunas erlebte er am 28. Juni 1941 das Pogrom, bei dem 3.800 Juden erschlagen wurden. Lange war er an der russischen Nordfront stationiert, sah das zerstörte Nowgorod. Auch von Partisanen sprechen Notizen in seinem Nachlaß:

Moor, Nacht, Peipus-See
Partisaneneinsatz, Friedr. abgesprengt, Stimmen, Partis.gr. – Lager, dort alles ☨.

Bis Weihnachten 1949 blieb er in russischer Kriegsgefangenschaft. Unmittelbar danach schrieb er über seine ersten Jahre in der Gefangenschaft eine autobiographische Skizze, in der immer wieder das Wort „Haltung“ abgeklopft wird, bis es schließlich ganz hohl klingt. Denn „Haltung“ zeigten die Soldaten nur in „allen Kleinigkeiten, im Essen und ebenso in der Frage der Notdurftverrichtung“, aber es fehlte diesem vermeintlichen Zeichen männlicher Charakterfestigkeit jeder Inhalt, jede klare Überlegung, jede innere Entscheidung. „Haltung“, das war „eine Schale, eine Hülle, der der Kern fehlte“. Und kam das Gespräch der Gefangenen auf die Kriegsverbrechen, so hieß es nur:

Ein anständiger Mensch erwähnt so etwas nicht einmal!

An dieses Schweigegebot der „Rußlandkämpfer“ hat sich Bobrowski nicht gehalten. Sein im Januar 1961 entstandener „Bericht“ versucht zwar nicht, Wehrmacht und SS-Einsatzkommandos auf eine Stufe zu stellen, aber er sagt, daß die Angehörigen der Wehrmacht gewußt haben, was in den von ihnen eroberten Ländern geschehen ist. In dieser Feststellung steckt die Provokation des Textes. Noch 1983 diskutiert Heinrich Böll in einem „Mordnachweis“ überschriebenen Essay die Frage, ob die Wehrmacht „es“ gewußt habe:

Wo sind die Augenzeugen, wo ihre Fotos?

Drohend klingt in solchem Kontext von Verdrängung, Leugnung und Unfähigkeit zur Trauer der genau zwischen die doppelte Nennung der „Offiziere“ gesetzte Hinweis:

es gibt
ein Foto

Oder ist es weniger Drohung als Aufruf an das Erinnerungsvermögen des Lesers von 1961: Denk nach, ob du nicht auch dieses Bild gesehen hast…?
Denn das Foto existiert tatsächlich. Es erschien während des Krieges in einer deutschen Zeitschrift, um den Haß gegen die hinterhältigen Partisanen und die jüdischen „Flintenweiber“ zu schüren. Durch diese Veröffentlichung während der Nazi-Zeit wurde der Name des jüdischen Mädchens aus dem Warschauer Ghetto bewahrt. Bobrowskis Beschreibung des Verhörs der Bajla Gelblung stimmt. Auf dem Foto erkennt man das Mädchen und die jungen deutschen Offiziere – mit tadellosen Uniformen in einwandfreier Haltung.

Andreas F. Kelletat, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Insel Verlag, 2000

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