Andreas Okopenko: Affenzucker

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Andreas Okopenko: Affenzucker

Okopenko-Affenzucker

ZU EINEM SPRICHWORT

„Die Zeit bricht jeden Strick,
und wär er noch so dick.“
– Doch ist es dann zu spät
für den, der heut dran weht.

 

 

 

Autorgedanken

Liebenswert finde ich die tierfreundliche Einstellung von uns Verschrullten:

WIR
Sogar der Waffenschlucker
gibt seinem Affen Zucker.

Damit, natürlich mit einem Lockergedicht, ist der Buchtitel erklärt.

Was Lockergedichte sind, habe ich mancherorts, zuletzt im 1992 hier erschienenen Band Immer wenn ich heftig regne, definiert. Ich wiederhole das Wesentliche:
Lockergedichte nenne ich Gedichte, die dem Autor in besonderem, angeregtem Zustand durchwegs „auf einen Schlag“, ohne praktisch merkliches Nacheinander oder gar Erarbeiten, eingefallen sind, so daß er Mühe hatte, mit dem Stenographieren nachzukommen oder die Gedichte, die wie aus einem Schnelldrucker ins Bewußtsein brachen, in den Sekunden danach kurzschriftlich zu rekonstruieren. Von der Spontaneität ausgenommen sind öfters Titel, Interpunktionen, Abschnittbildungen und Wortformen, etwa bei der Transkription der Umgangsprache.

Eine Unart, die ich schon in Immer wenn ich heftig regne ausnahmsweise geübt und deren Wechselbälger ich auch, voll poetical correctness, im Inhaltsverzeichnis ausgewiesen habe, ist, bei manchen Gedichten entgegen der puristischen Definition noch Hand – wenn auch nur Händchen – angelegt zu haben: eine letzte kleine Änderung vorgenommen. Ich zeige ein Beispiel (an einem Gedicht, an dem ich diese Unart nicht geübt habe): Das Gedicht (hier im Band nachzulesen) lautet:

CORTEZ ZU DEN SEINEN
Seid nicht panisch:
Gott ist spanisch.

Etwas später ist mir eingefallen, daß die Verse vielleicht besser gelautet hätten:

Nicht so panisch!
Gott ist spanisch.

Ich habe mir diese Änderung aber verkniffen, wie immer, wo ich es poetisch verantworten kann. Darum bleibt „Cortez“ ein reines Lockergedicht und wird im Inhaltsverzeichnis nicht gewechselbalgmarkt.

Manche Leser wundern sich, daß mir Lockergedichte meist so lupenrein entschlüpfen. In Wahrheit bleiben viele, zum Teil gut begonnene, im Keim stecken oder werden von mir in der spontanen Fortsetzung unrettbar verpatzt. Der Großteil meiner Lockereinfälle wird vor der Notiz abgetrieben oder landet spätestens bei der Schlußredaktion im Papierkorb meines Computers.

Nur damit ich auch für solche Keimlinge ein Beispiel gebe: Einmal fiel mir – genug schwungvoll – ein:

… gab’s Spanier mit stiernen Stirnen
und Dänen (denen dienen Dirnen).

Das blieb, mangels Anschlußverse, Müll.

In Verlegenheit geraten bin ich bei diesem Buch um eine thematischen Gliederung. Mir ist gedämmert, daß diese Gedichte eigentlich wieder genau die Themenkreise meines Immer wenn ich heftig regne anzielen – eine Eigenheit meines Unterbewußten, für die ich rational nicht kann. Zu dem einen Themenkreis gibt es diesmal vielleicht nur ein Gedicht, zu dem anderen hingegen viele – die Gliederung von Immer wenn ich heftig regne auch für diesen Band wieder in aller Äußerlichkeit aufzunehmen, wäre daher brüchig, eine neue aber an den Haaren herbeigezogen. So greife ich meine in zwei anderen Büchern bewährte Reihung – die alphabetische, diesmal nach Gedichttiteln – auf. Und ich schlage vor, dieses Buch als Fortführung meines Immer wenn ich heftig regne aufzufassen und die neuen Gedichte geistig irgendwo in den Kontext des vorigen Buches einzufügen, wo sie dem Leser gerade hineinpassen.

Andreas Okopenko, Vorwort

 

Beiträge zu diesem Buch:

anonym: Busserl am Teich
Wiener Zeitung, 29.10.1999

Kristina Pfoser:
ORF/Ex Libris, 29.12.1999

Christiane Zintzen: o.T.
kolik, Heft 9, 1999

JD: Locker vom Vers-Hocker. Okopenkos Affenzucker
Neue Ruhr Zeitung, 2.2.2000

 

Es lebe das Klischee!

– Spielarten eines verpönten Stilmittels bei Ernst Jandl, Andreas Okopenko und Oskar Pastior. –

„Ein phantasiearmes Nachschwätzen, ein Leerlauf der Gedanken, ein Mittel, die Zunge beschäftigt zu halten, während der Geist schläft“ – diese Verurteilung sprachlicher Klischees dürfte für Stilkunden repräsentativ sein.1 Die Virulenz der Kritik am Klischee rührt nicht zuletzt daher, dass die Abhängigkeit des Individuums von kulturell fundierten Denkmustern und der gemeinsamen Alltagssprache aufzeigt.2 Während das Klischee oft eher als Merkmal eines schlechten Stils oder minderwertiger literarischer Gattungen (z.B. Trivialroman) gesehen wird, findet es sich prinzipiell in jeder Stilhöhe und Textsorte – so auch in der Lyrik. Als Klischee erfahren wird ein sprachliches Element erst dann, wenn es sich als unoriginell profiliert oder als störend empfunden wird. Dementsprechend ist die Literatur in Mittelalter und Renaissance Verkanntermaßen durch etablierte Topoi gekennzeichnet, während eine romantisch geprägte Dichtungsauffassung eine solche offenbare Anbindung an etablierte Formeln ablehnt. Gerade die spätromantische Lyrik verdeutlicht jedoch die Problematik einer Poetik der Originalität, wobei die Dichter unterschiedlich mit der Gefahr des Klischeehaften umgehen. Während Eichendorff die Wiederholung von Bildern und Formeln durch subtile Veränderungen der lexikalischen Form oder des Kontextes variiert, nutzt Heine das reizvolle Spiel mit der nicht immer klar erkennbaren Grenze zwischen dem Klischee und dessen ironischer Brechung. Insbesondere seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist das Klischee ein auffälliger Aspekt deutschsprachiger Lyrik – allerdings macht es mit unterschiedlichsten Mitteln auf sich aufmerksam und meidet damit jene unterschwellige Eingängigkeit, die sonst seine Wirkung kennzeichnet:

a cliché […] is an expression that does your thinking for you: an expression so well established in the language that you know exactly how it is going to end once someone has started saying it, and which conveys instant meaning.3

Im Klischee stellt das Gedicht seinen Bezug zum Alltagsdiskurs zur Schau, um in immer wieder anderen Konstellationen eine komplexe Interaktion zwischen Sprache, Denken und außersprachlicher Wirklichkeit anzuregen.
Verschiedenen Spielarten des Klischees soll hier unter Bezug auf drei Dichter nachgegangen werden, die sich mit besonderer Abenteuerlust auf die Erkundung sprachlicher Prozesse eingelassen haben: Ernst Jandl (1925–2000), Andreas Okopenko (geb. 1930) und Oskar Pastior (1927–2006). Sie gehören einer Dichtergeneration an, der Ludwig Wittgenstein maßgebliche theoretische Impulse lieferte. Sie entwickeln ihre Lyrik jeweils aus einer komplexen Erfahrung von Sprache heraus: In der Dichtung des Wieners Jandl spielt neben der deutschen Schriftsprache auch der Dialekt eine bedeutende Rolle, womit zugleich die Identität des Deutschen und des Österreichischen sowie die Hierarchie von ,Hochsprache‘ und anderen Varietäten in Frage gestellt wird;4 für den in der Slowakei geborenen, seit 1939 in Wien lebenden Okopenko hat die sprachliche Vielfalt des ehemaligen österreich-ungarischen Reiches eine grundlegende Bedeutung,5 vor allem aber fordert sie dazu heraus, auch sprachlich auf den „heutigen Alltag“ einzugehen;6 und der in Rumänien aufgewachsene, seit 1969 in Berlin lebende Pastior arbeitet durchgehend in, mit und zwischen mehreren Sprachen. Es soll hier – eher stichpunktartig – auf Ausführungen zum Klischee in der Poetik dieser versierten Sprachexperimentatoren eingegangen werden sowie auf dessen Funktionsweise in späteren Gedichtsammlungen, um einen Einblick in das Leben des Klischees in der deutschsprachigen Lyrik um die Jahrtausendwende zu gewinnen.
Für ein Verständnis des Klischees als Phänomen bieten Stilkunden einen nützlichen Ausgangspunkt, da sie dem Benutzer die „Spielregeln“ erklären, mittels derer er beim Verfassen seiner Texte die Postulate der „Logik, Verständlichkeit und Eleganz“ erfüllen kann.7 Das Klischee verstößt auf mannigfaltige Weise gegen die Ideale des guten Stils, wie aus der Definition des Begriffs im Duden hervorgeht: als „eingefahrene, überkommene Vorstellung“ entbehrt es der unmittelbar auf den spezifischen gedanklichen Zusammenhang bezogenen logischen Stringenz; als „abgegriffene Redensart, Redewendung“ behindert es die effiziente, genau auf die Kommunikationssituation abgestimmte Verständigung; und als „unschöpferische Nachbildung, Abklatsch“ begibt es sich jeglichen ästhetischen Anspruchs und somit der Eleganz.8 Der Begriff bezieht sich etymologisch auf Reproduktion mit technischen Mitteln9 und erhält seine normative Wertigkeit aus einer romantisch-idealistisch geprägten Ästhetik: alles, was „formelhaft“ ist, wird abgelehnt, weil es „dem Stil als innerer Form des Ausdrucks [widerspricht]“.10 Indem das Klischee das Gesagte als gedankliches und sprachliches Imitat kennzeichnet, entzieht es dem kommunikativen Akt seine Wirksamkeit, denn im postromantischen Umfeld beruht Aussagekraft auf der kommunizierten Authentizität des einzigartigen, individuellen Fühlens und Denkens.
Im Bereich der literarischen Ästhetik ist die Ablehnung des Klischees eine schon mit dem Begriff gegebene Selbstverständlichkeit, da es als reproduziertes Teil den Forderungen nach authentischer Einmaligkeit und Individualität zuwiderläuft. Im ,schöpferischen‘ Akt des einzigartigen Genies manifestiert sich im Zeitalter der Säkularisierung die Übertragung des christlichen Schöpfungsmodells auf die Dichtung, und das ,autonome‘ sprachliche Kunstwerk verkörpert in der Nachfolge der Französischen Revolution die Werte der geistigen Freiheit und Unabhängigkeit, was im sprachlichen Bereich die Unabhängigkeit von anderen Diskursen und von den Diskursen anderer impliziert.11 Dass mit der Verschiebung von einem sprachlich sich ,äußernden‘, öffentlich wirksamen Dialog hin zum innerlich gefühlten und gedachten, privat sich entfaltenden Monolog zwar ein poetologischer Paradigmenwechsel gegeben war, nicht aber ein ewig gültiger Fortschritt der ästhetischen Erkenntnis, zeigte sich mit Nietzsches rhetorisch schlagkräftiger Unterminierung der platonischen Wahrheit, mit Freuds Infragestellung des organischen Individuums und dann vor allem mit Wittgensteins philosophischen Erkundungen der Grenzen und Möglichkeiten natürlicher Sprache. Die im zwanzigsten Jahrhundert sich vollziehende Veränderung der Perspektive auf die Sprache destabilisiert die Voraussetzungen für den Begriff des sprachlichen Klischees, weil nun nicht nur die Individualität der sprachlichen Kommunikation an Überzeugungskraft verliert, sondern auch das von gemeinschaftlicher Sprache unabhängige Denken. Wenn Wittgenstein es in seinen Philosophischen Untersuchungen unternimmt, auf den Wegen der natürlichen Sprache „ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen“,12 und dabei nicht das kulturunabhängige „Wesen des Dings“ zu bestimmen sucht, sondern den Worten in ihre sprachliche ,Heimat‘ folgt,13 so entwirft er mittels seiner topographischen Metaphorik eine Matrix für das individuelle Denken, die von der Sprache einer spezifischen Kulturgemeinschaft strukturiert ist.
Ins Zentrum des Interesses rückt von dieser Warte aus die Interaktion von kognitiven und sprachlichen Prozessen, von individueller Denkfähigkeit und gemeinschaftlichen, sprachlich vermittelten Denkmodellen, die auch die Praxis der Alltagswirklichkeit reflektieren bzw. bestimmen. Das Klischee wird damit zum Teil eines komplexen Spannungsfeldes, in dem sich die Interaktion von Sprache und Denken vollzieht, und das von Tradition und Konvention einerseits sowie Veränderung und Innovation andererseits bestimmt wird. Der Begriff verliert seine ästhetisch-normative Legitimation, bleibt jedoch als Metapher aus dem Bereich der Drucktechnik hilfreich, weil er die sprachlich-gedankliche Tradition und Konvention als physischen Prozess der Reproduktion eines gleichbleibenden Bildes vorstellbar und kommunizierbar macht. Die tradierten normativen Assoziationen des Begriffs bleiben als Spannungsmoment erhalten, das die gegensätzliche Möglichkeit der Individualität, Einzigartigkeit, Flexibilität und Originalität der Lyrik vergegenwärtigt.
Auf den Bereich der Lyrik bezogen erlaubt der Begriff des Klischees die Identifikation von Sprachteilen, die ,reproduziert‘ wirken, weil sie mit etablierten Worten ein bekanntes Bild vermitteln oder weil sie als Wortgefüge aus einem bestehenden Diskurs übertragen erscheinen, ohne als Zitat auf einen anderen Autor zu verweisen. Es handelt sich demnach um eine Art der Intertextualität, die Gedicht und Alltagssprache zueinander in Bezug setzt. Im Gegensatz zu ,Modewörtern‘, die typischerweise aus nur einem Wort bestehen (z.B. „Anliegen“, „Synergie“, „thematisieren“),14 bestehen solche Teile zumeist aus mehr als einem Wort, denn es ist die ,feste‘ Verbindung, welche an die rigide Form, das eingefahrene (Gedanken-)Gleis und die mechanische Nachbildung eines Ganzen erinnert.15 Diese sprachlichen Gebilde lassen sich entweder ,nahtlos‘ in einen eher konventionellen, unauffälligen Diskurs einfügen, oder aber mittels ihrer festen internen Verbindung von einer abweichenden sprachlichen Umgebung unterscheiden. Auch lassen sich diese Gebilde abwandeln, auflösen, verflüssigen, beleben, mit anderen Elementen kombinieren oder in ihr Gegenteil verkehren – Prozesse, in denen nicht nur die Interaktion verschiedener Diskurse, sondern potentiell auch die Interaktion von Sprache und Kognition für den Rezipienten erfahrbar wird. Auf diese Weise vermag das Klischee mittels einer überraschenden Abwandlung genau jene Frische und Originalität zu vermitteln, die es in seiner konventionellen Form negiert, wenn es die Erwartung des Rezipienten erfüllt.16 Dabei setzt jedoch das Klischee immer die sprachliche Teilnahme des Rezipienten an der Gemeinschaft voraus und vermag zugleich diese Teilnahme zu vermitteln.
In Bezug auf die Lyrik ist das Klischee nicht zuletzt deshalb interessant, weil es reichhaltiges Potential für das Spiel mit Sprache bietet. Dass es sich bei sprachlichen Spielen nicht um eine Sonderform der Sprache handelt, sondern um einen grundlegenden Aspekt menschlicher Kommunikation, hat David Crystal in seiner Studie Language Play aufgezeigt.17 Dabei vermag jedes Element der Sprache das Spiel anzuregen:

We play with language when we manipulate it as a source of enjoyment, either for ourselves or for the benefit of others. I mean ,manipulate‘ literally: we take some linguistic feature – such as a word, a phrase, a sentence, a part of a word, a group of sounds, a series of letters – and make it do things it does not normally do. We are, in effect, bending and breaking the rules of the language. And if someone were to ask why we do it, the answer is simply: for fun.18

Das dichterische Spiel mit Sprache lässt sich zu dem von Crystal konstatierten ,normalen‘ Spiel mit Sprache durchaus in Beziehung bringen. Insbesondere die konkrete Poesie nutzt die Mittel solcher Sprachmanipulation, wobei auch hier jedes Element das dichterische Spiel anzuregen vermag. Crystals Ansatz ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil er es ermöglicht, auch jene Formen der Dichtung, die sich so weit wie möglich von der zweckbestimmten Form der Kommunikation entfernen, als Teil allgemeinsprachlicher Kommunikation aufzufassen. Entsprechend wird hier davon ausgegangen, dass Dichtung immer mit den Möglichkeiten der allgemeinen Sprache arbeitet, auch wenn sie den Hörer oder Leser dazu herausfordert, die Alltagssprache auf ungewohnte Weise wahrzunehmen.19 Das Klischee ist aufgrund seiner geradezu penetrant wahrgenommenen Alltagssprachlichkeit besonders geeignet, spielerisch aufgelockert zu werden, weil die Erwartung fest programmiert ist und der Überraschungseffekt neue gedankliche Assoziationen stimuliert.

(…)

Jandl ist inzwischen zu einem Klassiker avanciert, dessen gesammelte poetische Werke die enorme Vielfalt und Sprachenergie seines Werkes verdeutlicht haben. Vergleichsweise wenig beachtet wurde bislang Andreas Okopenko, wiewohl die Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises für Literatur im Jahre 1998 und des Georg-Trakl-Preises für Lyrik im Jahre 2001 ihm die lange ausbleibende Anerkennung verschaffte. Seine Dichtung lebt aus dem Kontakt mit der Alltagssprache. Wie Jandl suchte er im Wien der 1950er Jahre poetisch Fuß zu fassen, ohne der zunehmend erfolgreichen Wiener Gruppe anzugehören.20 Die persönliche Krise, welche die eigene dichterische Produktion viele Jahre lang hemmen sollte, ergab sich seiner eigenen Aussage zufolge aus der spannungsvollen Beziehung zur Poetik der Wiener Gruppe, zumal diese sich als Avantgarde projizierte und damit öffentliche Aufmerksamkeit beanspruchen konnte. Okopenko erfährt die Krise als Aufeinandertreffen zweier Sprachauffassungen:

Ihre neue Richtung, mit der ,Sprache‘ im Zentrum des Interesses, siehe zum Beispiel die konkrete Poesie, stand gegen meine Intention, die seit langem trotz allem Talent fürs Sprachspiel hieß: Sprache als Vehikel zur Mitteilung außersprachlicher Realität.21

Diese Aussage ist nicht nur biographisch von Bedeutung, denn es manifestiert sich hier die Spannung zwischen zwei letztlich inkompatiblen Sprachauffassungen, die für die Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts von nicht zu überschätzender Bedeutung ist: Während die Wiener Gruppe die Sprache gewissermaßen als einen von den realen Dingen unabhängigen Bereich erforscht und zugleich als frei verfügbares Material benutzt, steht für Okopenko hier der Bezug zu den Dingen als unabdingbare Forderung an die Sprache im Vordergrund. Auch der „poetischen Sprachkritik“ eines Peter Handke oder Michael Scharang in den 1960er Jahren steht er „sprachverwirrt und sprachbehindert“ gegenüber, da sich „aus lauter Genieren für den ausgeleierten Sprachgebrauch“ der poetisch akzeptable Wortschatz extrem reduziert hatte.22 Er konstatiert allerdings den Einfluss der Sprachkritik auf die eigene Sprache – zu dieser Zeit Prosasprache –, wenn er seinen zunehmend vorsichtigen Umgang mit dem Klischee hervorhebt:

Ich drehte die Wörter viel skeptischer als früher um, mied noch scheuer und wacher das Klischee. Oder aber arbeitete es heraus, übertrieb es.23

Als weitere Phase erfährt er Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre die „soziale Sprachkritik“ und Rehabilitation des Realismus – eine Richtung, der er wiederum nicht in ihre extremen Ausprägungen folgte. Bei aller Distanz zu den vorherrschenden Richtungen manifestiert sich in Okopenkos Darstellung seiner schriftstellerischen Laufbahn der für die österreichische Nachkriegsliteratur kennzeichnende hohe Stellenwert der Sprache – mit ihren poetologischen Möglichkeiten und Grenzen, ihren mentalen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Indem sich die Dichtung von der Alltagssprache absetzt, macht sie hellhörig für deren Strukturen und Bezüge zur Wirklichkeit.
Okopenkos Lyrik seit den 1970er Jahren steht im Zeichen der Spontaneität, mit welcher er die zuvor als hemmend erfahrenen Spannungen produktiv werden lässt. Er inauguriert die Gattung des „Lockergedichts“, das in kurzen, oft aphorismusartigen Formen den sprachlichen Einfall zelebriert und sich als „Beitrag zur Spontan-Poesie“ versteht.24 1976 erklärt er in einer Vorbemerkung zu einer Reihe solcher „Lockergedichte“, dass sie „dem Autor in besonderem, angeregtem Zustand durchwegs „auf einen Schlag“, ohne praktisch merkliches Nacheinander oder gar Erarbeiten, eingefallen sind, so daß er Mühe hatte, mit dem Stenographieren nachzukommen“.25 Arrangiert sind sie in der Sammlung Immer wenn ich heftig regne (1992) in thematischen Sektionen und in Affenzucker (1999) alphabetisch. In Streichelchaos (2004) ist die Gattung dahingehend abgewandelt, dass Okopenko nun die „puristische Disziplin“ des Nicht-Änderns zugunsten einer leichten Überarbeitung des Einfalls aufgibt; er bezeichnet diese Gedichte nun als „Spontangedichte“, wobei sich diese Sammlung durch eine „chaotische“, „aleatorische“ Anordnung auszeichnet.26 In Bezug auf die „Lockergedichte“ betont er, diese Gedichte seien der ethischen und literarischen Verantwortung sowie der Selbstkritik enthoben.27 Indem sie jedoch eine Poetik des Augenblicks verkörpern, stehen sie in Bezug zu Okopenkos auf den Mitmenschen ausgerichtetem Bedürfnis, den Wert der unmittelbaren Erfahrung mitzuteilen, so wenn er in „Spielen mit Gelebtem“ die Formen des Tagebuchs und Tagebuchauszugs mit dem Ziel der Mitteilung des Erlebten pflegt,28 wenn er im Protokoll durch eine „subjektive Wiedergabe des Augenblicks […] ein verwandtes Gefühl im Leser bewirken [will]“,29 oder wenn er in seinen Erläuterungen zur Erfahrung vom „Fluidum“ das Ziel verfolgt, sich „dort, wo ich mich besonders stark am Leben fühle und die anderen das nicht bemerken oder verstehen oder auch-tun, mit aller Kraft verständlich zu machen“.30 In den Lockergedichten manifestiert sich dieser Drang zur Mitteilung nicht zuletzt in der Aktivierung einer Sprache, die dem Autor und dem Leser gemeinsam ist und die im Lesen einen Moment der Gemeinsamkeit stiftet.
In Okopenkos „Lockergedichten“ wird nicht ein außersprachliches Erlebnis mittels Sprache kommuniziert, sondern gewissermaßen ein sprachliches Erlebnis direkt und prozessual vermittelt. Denn anders als die Dichter der Wiener Gruppe experimentiert Okopenko nicht mit den Elementen der Sprache, sondern mit den Auswirkungen eines Abbaus jeglicher semantischer und ästhetischer Kontrolle über die Sprache. Es wird eine instinktive sprachliche Kreativität freigesetzt, welche frei die diversesten sprachlichen Prozesse walten lässt. Durch semantische Entsprechungen, Lautkorrespondenzen und rhythmische Muster entstehen sprachliche Gebilde, die unter Bezug auf etablierte Gattungen als geformtes Ganzes erfahrbar werden, obwohl sie die mit diesen Gattungen verbundenen ästhetischen oder funktionalen Kriterien unterminieren. Dabei bewirkt gerade die Absurdität eine erfahrbare Lockerung der sprachlichen Kontrolle.
Manche Verse erzielen ihre Wirkung auf ganz einfache Weise, indem sie z.B. eine Redewendung wörtlich nehmen und mit einer witzigen Pointe versehen, so der Zweizeiler „Fall“:

Mir fällt ein Stein vom Herzen
und direkt auf die Zeh
31

Ähnlich besteht der Dreizeiler „Bilanz“ aus einer Eingangszeile mit einer Redewendung, die den weiteren Verlauf bestimmt:

Unsre Kinder haben Hand und Fuß –
das ist aber auch das einzige
in unsrer Ehe
.32

Auch literarische Klischees werden auf diese Weise „aufgelockert“, so insbesondere romantische Vorlagen, wie in dem folgenden „Vorschlag für ein Volkslied“:

Gehst mer net aus dem Sinn?
Bleib halt drin
.
33

Heines „Lorelei“ wird hier umgangssprachlich banalisiert und mit Dialektformen verfremdet, die den Kurzdialog zudem vom Rhein nach Österreich verlegen. Der Zweizeiler „Mythisch“ basiert auf einem Wortspiel zu einer festen, in der Mythologie gründenden Assoziation (Leda und der Schwan):

O je, heut hat mein Schwan
die Ledahose an
.
34

Diese Kurzgedichte wirken im Moment. Durch die Konzentration auf eine einzige Pointe ermöglichen sie es dem Leser, an dem spontanen Einfall des Dichters teilzunehmen.

Komplexer ist die sprachliche Wirkung des folgenden Gedichts, das einen Wiener Hund zur Sprache kommen lässt:

NOUVELLE LIBERTÉ
Die Freiheit, die ich meine,
ist nicht die lange Leine,
ist die, auf dich zu scheißen
und dich ins Bein zu beißen.
Ja, Herr! und du Frauerl,
jetzt kommt das doggy powerl.
(S. 80)

Die ,toten‘ Metaphern in den Redewendungen „an der langen Leine“ und „auf etwas/jemanden scheißen“ erhalten durch die Assoziation mit dem Hund ihre wörtliche Bedeutung. Der Wiener Dialekt erscheint selektiv lediglich in der Endung „-erl“, in der sich die Sentimentalität manifestiert, die typischerweise dem „Hunderl“ entgegengebracht wird. Indem Okopenko dem Hund mit „doggy power“ englische Worte ins Maul legt und die Dialektendung darauf überträgt, spielt er auf die Modeerscheinung solcher Anglizismen (bzw. Amerikanismen) an sowie auf eine zum Klischee gewordene politische Korrektheit, die zuvor untergeordneten Bevölkerungsgruppen Macht zuspricht und dies in der Wortverbindung GRUPPE + „power“ (z.B. „black power“) ausdrückt. Den geschichtlichen Kontext dagegen liefert der französische Titel, der die Aussage des Hundes in die Tradition der Französischen Revolution stellt. Das Gedicht bezieht seine witzige Wirkung aus einer abwandelnden Aktivierung verschiedener Arten von ,festen‘ Wortverbindungen und kulturellen Allgemeinplätzen, die durch die verfremdende Perspektive des Hundes eine zusätzliche Komik erhalten.
Ihren Sprachduktus beziehen Okopenkos Gedichte oft aus der Welt des populären Reims und Rätsels sowie aus der Werbung. Die Bedeutung des Spiels mit solch einfachen Formen für Okopenkos Dichtung geht aus seiner autobiographischen Skizze hervor, in der er die Freude des Jungen an den „Spielen anderer mit der Sprache“ vermittelt und ein Beispiel der Werbereime aus Reklameheftchen zitiert, die ihm Verwandte aus Wien mitbrachten:

Wo bedient man dich reeller
als im Strumpf- und Wäschehaus Heller
denn ob Mann, Frau oder Kind –
alle dort zufrieden sind
.35

Das folgende Gedicht aus Streichelchaos erinnert sowohl in der Einfachheit seiner Form als auch durch den Einsatz von Markenprodukten an solche traditionelle Werbelyrik:

TUNNEL SONG

Hast du Feuer unterm Orsche,
ists egal, ob Golf, ob Porsche.
Flammenauto schmerzt dich jedes.
Auch Rolls-Royce. Und auch Mercedes
.36

Das Gedicht entwickelt sich aus der Redewendung „Feuer unterm Arsch haben“, wobei sowohl die verfremdete Schreibweise und der Reim mit „Porsche“ einen humorvollen Effekt erzielen. Entgegen einem Werbereim sind hier vier konkurriende Marken genannt, deren Unterschiede in Status, Qualität und Preis in der Zusammenschau nivelliert sind. Eine entsprechende Nivellierung erfolgt in der Sprache durch die Zusammenführung verschiedener sprachlicher Ebenen mit dem vulgären „Arsch“, dem eher umgangssprachlichen „egal“ und dem gehobenen, in eine invertierte syntaktische Konstruktion eingebetteten Verb „schmerzen“. Die Zweckorientierung von Werbedichtung wird damit unterminiert. Allerdings steht diese sozialkritische Dimension nicht im Vordergrund. Die Wirkung des Gedichts beruht vor allem auf dem witzigen Einsatz sprachlicher Effekte, indem es eine bildlich kraftvolle Redewendung mit Reim, Rhythmus und der Dynamik schneller Fortbewegung assoziiert. Effektvoll ist zudem der Titel, denn indem er die Aussage in einem Tunnel situiert und eine Verbindung zur Popmusik herstellt, intensiviert er die imaginierte Klangwirkung.
Okopenkos Poetik der Spontaneität fördert einen Umgang mit Sprache, der ihre semantischen, lautlichen und rhythmischen Dimensionen gleichwertig zur Geltung bringt. Seine Lyrik lässt sich schwer in die deutsche „Hochliteratur“ einordnen, da es ihm weder um eine philosophisch gewichtige Aussage geht, noch um ein analytisch fundiertes Experiment mit der Sprache, und da auch die Form sich bescheiden gibt, ohne doch an die Liedform anzuknüpfen. Vielmehr sucht er „linearen, rationalen, ,reduktionistischen‘ Begriffskäfigen“ einen „intuitiven, ,holistischen‘, auf die untrennbare Ganzheit des sonst Polarisierten“ Diskurs entgegenzusetzen.37 Die Leistung seiner Gedichte besteht gerade im deutschsprachigen Kontext darin, die unbeschwerte Lust an der Sprache zu wecken, ohne über sie hinauszuweisen oder ihre Tiefenstruktur durchdringen zu wollen. Es ist vor allem eine Lyrik, die auf vielfältigste Weise zum Spiel mit Sprache anregt.

(…)

Katrin Kohl, in Karen Leeder (Hrsg.): Schaltstelle. Neue deutsche Lyrik im Dialog. Editions Rodopi, 2007

 

 

Adolf Haslinger – Laudatio zum Großen Österreischischen Staatspreis 1998.

Konstanze Fliedl – Laudatio zum Georg-Trakl-Preis 2002.

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Daniel Wisser: Der sanfte Linke
Die Presse. 13.3.2020

Zum 10. Todestag des Autors:

Karin Ivancsics: Eine Freundin erinnert sich
Die Presse, 25.6.2020

Fakten und Vermutungen zum Autor + ÖM + KLG + Tagebücher +
Nachlass + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachrufe auf Andreas Okopenko: Die Presse ✝ sonne & mond ✝
NZZ ✝ in|ad|ae|qu|at

 

Andreas Okopenko: Anarchistenwalzer gesungen von Palma Kunkel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00