Ann Cotten: Zu Liesl Ujvarys Gedicht „Kleine Lebenshilfe“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Liesl Ujvarys Gedicht „Kleine Lebenshilfe“ aus dem Gedichtband Sicher & Gut. Was die Welt zusammenhält. Gedichte über Gedichte Romane über Romane Ich Autobiographie mit Anleitung. −

 

 

 

 

LIESL UJVARY

Kleine Lebenshilfe

Ihre Bettdecke macht hässliche kleine Fallen, wenn Sie zufällig anstreifen. Streichen Sie mit der Handfläche leicht darüber und die Bettdecke ist wieder glatt.

Beim Essen fallen Brotkrumen, Reiskörner, Nudelreste oder ein Stück Wursthaut auf den Boden und kleben dort unappetitlich fest. Nehmen Sie ein feuchtes Tuch und wischen Sie den Boden nach jeder Mahlzeit sorgfältig sauber.

In Ihrer Wohnung herrscht unerträgliche Hitze. Sie haben Durst, Durst, Durst… Drehen Sie die Wasserleitung auf und trinken Sie ein Glas klares kaltes Wasser.

Fast täglich bringt Ihnen der Briefträger Werbesendungen, Prospekte, Kataloge ins Haus. Werfen Sie diese Postwurfsendungen in den Mülleimer, nachdem Sie sie gelesen haben.

Nach drei oder vier Tagen bekommt Ihre Leibwäsche einen eigenartig unangenehmen Geruch. Waschen Sie sich gründlich und ziehen Sie frische Wäsche an.

Ihre Augen schmerzen und tränen vom stundenlangen Fernsehen. Mit einem Knopfdruck ist der Fernseher ausgeschaltet und Ihre Augen können sich erholen.

Ihr Anzug sieht schäbig aus, die Ärmel sind abgestossen, die Hose glänzt und ist fleckig. Gehen Sie in ein Kaufhaus und kaufen Sie sich einen neuen Anzug.

Sie interessieren sich für alles, was um Sie herum vorgeht. Lesen Sie Zeitungen, hören Sie Radio, sehen Sie fern, halten Sie Ihre Augen und Ohren offen.

Sie wollen heraus aus der Stadt, die Grossstadt macht Sie krank. Lösen Sie am Fahrkartenschalter der Bundesbahn eine Fahrkarte ans Ziel Ihrer Wünsche und fahren Sie los.

Beim Spazierengehen fallen kleine Steinchen in Ihre Schuhe. Bleiben Sie einen Augenblick stehen und leeren Sie Ihre Schuhe aus.

Von unangenehmen Diskussionen im Familienkreis bekommen Sie starke Kopfschmerzen. Nehmen Sie ein Aspirin mit etwas Wasser und legen Sie sich eine Viertelstunde ruhig hin.

Sie können nicht schlafen, jedes kleinste Geräusch erschreckt Sie. Schliessen Sie alle Fenster und warten Sie, bis der Schlaf kommt.

Wenn Sie in der Stadt zu tun haben, begegnen Sie Leuten, die Sie lieber nicht sehen würden. Wenden Sie den Blick ab und tun Sie, als ob Sie den Betreffenden nicht erkannt hätten.

Sie kommen nie mit Ihrem Geld aus. Führen Sie über alle Ihre Ausgaben genau Buch und sparen Sie, wo es geht.

Sie sind abends nicht gern allein. Rufen Sie einen Freund oder eine Freundin an und verbringen Sie den Abend in netter Gesellschaft.

Fettes, schweres Essen verursacht Ihnen Magendrücken und Übelkeit. Trinken Sie ein Gläschen Schnaps und Ihr Magen ist in Ordnung.

Sie sind kein Morgenmensch, nach dem Aufstehen fühlen Sie sich schwach und krank. Trinken Sie zwei Tassen schwarzen Kaffee und Sie sind munter.

Vom Maschineschreiben bekommen Sie Rückenschmerzen. Machen Sie regelmässig Morgengymnastik und Ihre Rückenmuskulatur lockert sich.

Verwandte und Bekannte erkundigen sich bei jeder Begegnung nach Ihrem Befinden. Antworten Sie darauf „danke, gut“.

Sie sind verärgert über eine ablehnende Antwort, die Sie erhalten haben. Zünden Sie sich eine Zigarette an und Ihre Nerven beruhigen sich.

Bei Ihnen läutet den ganzen Tag das Telefon. Heben Sie den Hörer ab und nennen Sie Ihren Namen.

Ihre Wohnung ist unaufgeräumt und verdreckt. Legen Sie alles an seinen Platz und putzen Sie gründlich.

Sie lieben die Natur. Machen Sie einen Spaziergang durch den Stadtpark.

Sie haben Hunger. Essen Sie!

Sie frieren. Ziehen Sie sich etwas an!

Sie sind müde. Gehen Sie schlafen!

Sie sind einsam. Heiraten Sie!

Sie sind krank. Gehen Sie zum Arzt!

Sie haben Angst. Sperren Sie die Tür zu!

 

 

Sicher & Gut ist 1977 erschienen, ich bekam es wohl ungefähr 2007 von der Autorin. Sie hatte mir auch mündlich Hinweise zu geben versucht, was ihrer Meinung nach Literatur ist, doch ich kapierte erst nach und nach, was es mit ihren Gedichten auf sich hat. Hatte ich vorher so eine landläufige Einschätzung der Konkreten Poesie als eine Art Formalismus – wenn auch positiv konnotiert – ist mir bei Sicher & Gut aufgegangen, wie sehr die Konkrete Poesie das Leben, die Erfahrungen des Lesers als Material verwendet. Zumindest die gute, die fette Art. Es gibt natürlich auch eine Konzeptkunst, die gedacht ist, in einer nicht unbedingt reflektierten Intelligenzhierarchie mit Sauberkeit zu prunken, so selbstzufrieden im bloßen Präsentieren von „abstrakten“ Mustern wie die mimetische Kunst im „Nachahmen“ ihrer geliebten „Wirklichkeit“, und darunter wie immer auch die, die das alles bloß machen, um in einem bestimmten Soziotop zu punkten.
Bei Liesl Ujvary ist die saubere Machart wohl ein sehr wichtiger Teil des Schönheitsideals: das Schnörkellose, Klare, Freigestellte, wo, wie bei Science Fiction, die Empfindungen aus der skizzierten Situation und nicht durch übernommenes atmosphärisches Mobiliar (Nebelmaschine) entdampfen. Das Poetische, wie es oft gemeint wird – mit Freude an schweren Neologismen, undeutlichen Suggestionen, Metaphernstopfleberpasteten von Gedichten, Verschwommenheit und Vergnügen an klassischen Topoi, weil sie einem die Atmosphäre eines bestimmten erwünschten Klischees einrichten −, meidet Liesl Ujvary und hält sich lieber in ihrem eigenen Kanon an technoiden, intelligenten, transluzenten Welten auf, deren sentimentaler Hall im Bewusstsein ihrer Virtualität, Isolation und Kontingenz liegt. Echte Freude an Systemen verbindet sie dabei mit echter Menschenliebe – und einer Abneigung gegen die Bedingungen, die mehr oder weniger erzwungene Rollenspiele den menschlichen Beziehungen auferlegen. Es ist eine Abneigung gegen die bloße Ausschmückung einer Zwangsgesellschaft mit hübschen Kunstprodukten. In ihrem Empfinden verdeckt solch ein nur vordergründig hedonistischer Plüsch die Sicht auf die wirklichen strukturellen Verhältnisse in Gehirn, Außenwelt und virtueller Realität, die sie gerade versucht, durch Reduktion und deutliche Sprache zu klären und in ihrer Schönheit… freizustellen.
Sicher & Gut – Ujvarys erster eigener Gedichtband, nachdem sie 1975 eine Anthologie mit inoffizieller sowjetischer Dichtung übersetzt und herausgegeben hatte – wendet diesen Blick auf das alltägliche Leben an. Das Leben im Wien der 70er Jahre. Als Kontext seiner Entstehung kann man sich einige erfahrene Kontraste vorstellen: nach mehrjährigen Aufenthalten in Russland und Japan immer wieder die Rückkehr ins muffige Wien, und dort wieder der Kontrast zwischen Szenen und inoffiziellen Freiräumen, deren Infiltration durch zähe Chauvinismen und ungebrochener, bloß umgewerteter Ideologiegewohnheit, wie man sie immer noch bei Österreicherinnen und Deutschen in unterschiedlicher Prägung vorfindet. Der Beginn einer virtuellen internationalen Szene, wo die Kybernetik eine aufregende neue Anschaulichkeit der Strukturen menschlichen Denkens bot und parallel dazu psychologische Theorien wie von Lacan die Zirkelschlüsse der Emotionen und Kulturgüter aufzeigten.

Die Kleine Lebenshilfe habe ich ausgewählt aus diesem Band, der mich in seiner Gesamtheit beeindruckt hat, weil ich sie ganz besonders liebreizend finde und sie auch für sich alleine begreiflich sein dürfte. Beobachten Sie, wie das lyrische Subjekt graduell hervortritt und sich dann wieder unsichtbar, ungreifbar macht; wie der Schalk sich aufbäumt und sich wieder versammelt, wie die Wahrheit und die Wirklichkeit, das Bekannte und die neue Information so etwas wie ein epistemiologisches Moiré bilden. Und das Material dieses Stoffs, wegen dem Sie lachen, sind Sie selbst!
Konsequenter könnte ein Gedicht nicht sein, und auch nicht mit so vollendeter Distanz die vom Menschen auf den Menschen angewendete Logik – vorführen.

Ann Cotten

Die Texte wurden entnommen aus: die horen, Heft 246, Wallstein Verlag, 2. Quartal 2012

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