Anna Achmatowa: Unsrer Nichtbegegnung denkend

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Anna Achmatowa: Unsrer Nichtbegegnung denkend

Achmatowa-Unsrer Nichtbegegnung denkend

DER LESER

Nicht unglücklich sei und mitnichten
Verschlossen der Dichter. O nein!
Um jedem verständlich zu dichten,
Weit offenes Tor muß er sein.

Und Einsamkeit auf der Estrade,
Gespenstisch im Lichte am Rand…
Der Stirn hat die kaltweiße Flamme
Der Rampe ihr Mal eingebrannt.

Doch jeglicher Leser – ein Rätsel,
Ein Schatz, als Geheimnis vermacht,
Ein Zufall am End – der erstbeste,
Der’s Leben nur schweigend verbracht.

Da ist, was Natur wird kaschieren
Vor uns, so’s ihr günstig erscheint.
Da kann es zu Zeiten passieren,
Daß hilflos ein Mensch vor uns weint.

Ob dunkelste Nacht oder Dämmer,
Ob Finsternis, Kälte uns plagt,
Da sind jene Augen, mir fremde,
Sie reden mit mir, bis es tagt,

Sie tadeln mich und kritisieren,
Und manchmal stimmen sie zu,
Und stumm ergießt sich die Beichte
Beglückenden heißen Disputs.

Eng ist der Kreis uns bemessen,
Leben auf Erden fließt schnell,
Ewig nur er und verläßlich,
Namenlos: Dichters Gesell.

 

 

 

Unsrer Nichtbegegnung denkend:

Erich Ahrndt übersetzt auch Anna Achmatowa

Der Mann ist 80, war Dolmetscher, hat schon für den Verlag Volk und Welt wichtige Bücher aus dem Russischen übersetzt. Doch so etwas wie ein gepflegtes Rentnerdasein kennt der Leipziger Übersetzer Erich Ahrndt nicht. Im Gegenteil: Er scheint sich vorgenommen zu haben, die komplette Dichtergarde der russischen Moderne ins Deutsche übersetzen zu wollen.
Ist ja nicht so, dass sie noch nicht da wären. Doch mit dem, was ein paar Leute so gern „Wende“ nennen, scheint auch die Beschäftigung mit der Avantgarde der russischen Literatur abrupt beendet worden zu sein. In Ost wie in West. Mit dem abgewickelten Stalinismus wurde auch alle Literatur, die sich von innen her kritisch, selbstbewusst und menschlich mit dem Leben in den grauen Regimen beschäftigte, obsolet geworden zu sein. Nur noch was für die Nische und die kleinen Verlage. Oder ist das alles jetzt zu kompliziert geworden für eine Rezeption, die sich in Gefühligkeit und Nabelschau verliert und auch nur den kleinsten Ansatz gesellschaftlicher Kritik in literarischen Texten mit Missachtung straft?
Ein kleiner Schritt, und man ist mittendrin in den Problemen einer Medienlandschaft, die zu ihrer eigenen Überflüssigkeit jahrelang selbst beigetragen hat. Was nicht in die Erwartungsraster passt, wird einfach nicht mehr rezipiert. Das kann gewaltig in die Hose gehen. Es ist immer die Ahnungs- und Gefühllosigkeit, die die Wege bereiten in Gesellschaftsformen, die anfangs niemand so gewollt hat.
Die russischen Dichter haben unter den Widersprüchen ihrer Zeit und ihrer Verheißungen tief gelitten. Nicht nur in Texten. Reihenweise gerieten sie ab 1925 in die Mühlen der stalinschen Herrschaftsmechanismen, erhielten Veröffentlichungsverbot, wurden in Zeitungskampagnen diffamiert, wurden verhaftet und starben auch – wie Ossip Mandelstam – in der Gefangenschaft. Manche wurden nur mit Verbannung bestraft. Andere gingen an den Widersprüchen ihrer eigenen Erwartungen kaputt und brachten sich um – wie Majakowski.
Stalin kannte seine Dichter. Und er wusste um ihre Qualitäten, auch wenn er seine Satrapen das zusammengeschusterte Unding von „sozialistischem Realismus“ durchpeitschen ließ. Stalin wusste auch, dass nicht seine Siege im Krieg das letzte Wort der Geschichte sein würden, sondern die Gedichte und Erzählungen der guten Dichter. Und die konnte man zwar zwingen, Ruhmeslieder auf den Großen Führer zu verfassen – aber das würde den eigenwilligen, eindringlichen „Rest“ nicht verdrängen. Höchstens in den Augen von späteren Besserwissern, die nie unter der Knute leben mussten und die auch nicht ernst nehmen, was Dichterinnen wie Anna Achmatowa schrieben.
Ein Band mit Achmatowa-Gedichten war einst auch für den Osten prägend: Poem ohne Held, 1979 bei Reclam in Leipzig erschienen, 1993 noch einmal aufgelegt. Sarah und Rainer Kirsch, Uwe Grüning und Heinz Czechowski gehörten zu den Übersetzern der Gedichte. Wer will, kann also vergleichen, was Erich Ahrndt jetzt gelungen ist. Der Band bietet die Gedichte in russisch und deutsch. Wer des Russischen ein bisschen mächtig ist, bekommt auch so ein Gefühl dafür, dass es ganz bestimmt nie leicht sein wird, diese Sprachmusik ins Deutsche zu übersetzen, dass es sich für begabte Übersetzer also auch künftig immer wieder lohnen wird, in diese Lyrik einzutauchen.
Die der Lyrik von Jessenin (den Ahrndt 2011 in Übersetzung vorgelegt hat) und Mandelstam natürlich sehr nah ist – in den Bildern, der Stimmung, den Farben, der Haltung. Was auch an den gemeinsamen Wurzeln liegt: Mandelstam und Achmatowa gehörten beide zur Gruppe der sogenannten Akmeisten, die sich vor dem ersten Weltkrieg als Gegenströmung zu den russischen Symbolisten herausbildete (zu der Majakowski gehörte). Kopf der Akmeisten war der Dichter Nikolai Gumiljow, der erste Ehemann von Anna Achmatowa – der aber schon 1921 von der Tscheka erschossen wurde. Später – 1935 – wird auch ihr dritter Ehemann Nikolai Punin verhaftet.
Doch Druckverbot hatte Anna Achmatowa schon seit 1922. Ab 1927 wurde sie vom Geheimdienst überwacht. Als Dichterin an die Öffentlichkeit zurückkehren konnte sie tatsächlich erst wieder nach Stalins Tod. Einen Großteil ihre Lebens lebte sie in Angst. Und viele ihrer Gedichte erzählen davon. Auch die eindrucksvollen Verse sind im Band enthalten, in denen sie das Warten vor den Gefängnismauern schildert, als sie ihren ebenfalls verhafteten Sohn Lew Gumiljow besuchen will. Sie erlebte die Belagerung Leningrads mit. Und sie erlebte das Sterben ihrer Dichterfreunde und -kollegen mit. Natürlich finden sich ihre Künstlerfreunde in ihren Texten gewürdigt – Pasternak, Mandelstam, auch Schostakowitsch. Selbst ein spätes Gedicht auf Majakowski hat sie geschrieben, in dem sie tiefes Verständnis zeigt für den einstigen Dichter der Revolution. In ihren späteren Gedichten aber gewinnen zwei andere russische Dichter immer mehr Präsenz: Alexander Blok und Alexander Puschkin. Denn der große Atem der russischen Literatur riss ja nicht ab 1917. Auch die russische Moderne ist ein Teil dieser Strömung, die – wesentlich intensiver als etwa die zeitgleiche deutsche Lyrik – immer wieder die Frage nach den menschlichen Maßstäben stellte.
Eine Fragestellung, die sich logischerweise unter Stalin keineswegs erübrigte. Und danach erst recht nicht, auch wenn die Knute hinter einer alles überwuchernden Bürokratie verschwand. Am Ende ist der Mensch immer auf sich selbst zurückgeworfen, auf die Hoffnung, die Liebe, die Angst und den Mut, die er hat. Hochmut und Ruhmsucht waren der Achmatowa fremd. Davor fürchtete sie sich sogar. Auch 1958, als die Welt die Dichterin endlich feierte. „Hilf mir gegen die Hochmutsgelüste, / Alles andere schaff ich allein.“

Zur Quelle Ralf Julke, Leipziger Internet Zeitung, 9.12.2012

Eine treffende Auswahl der Achmatowa’schen Dichtung

Mit dem vorliegenden Band wurde eine Auswahl aus fünf Schaffensjahrzehnten der Dichterin getroffen, die sehr ansprechend den Zeitgeist der jeweiligen Jahre wiedergibt. Bei manchen Werken wäre noch nicht einmal die dazu gebotene Jahreszahl nötig, um einzuschätzen, wann und unter welchen Umständen sie entstanden sein könnten.
Besonders ansprechend ist, dass Anna Achmatowa in ihrer Dichtung ihre Umstände zwar wertet, aber nicht verurteilt, so dass auch die Grundstimmung dieser Ausgabe insgesamt positiv ist und Mut macht, auch entgegen widriger Umstände nach vorn zu schauen.

Zur Quelle S. Dorn, amazon.de, 6.3.2013

Erinnerungen an Anna Achmatowa

III
In ihrer frühen Jugend kannte ich A. A. nicht. Nur aus ihren Erzählungen kann ich mir zusammenreimen, wie es kam, dass ihre Ehe mit Gumiljow sofort scheiterte. Mir wurde einmal erzählt, jemand, ich weiß nicht mehr, wer, habe seine Geliebte wie eine Festung bestürmt, eine regelrechte Belagerung durchgeführt und schließlich sein Ziel erreicht. Ich sagte zu A. A., es sei wahrscheinlich angenehm, wenn ein Mann so viel Mühe für den Sieg aufwende, und beschwerte mich darüber, dass O. M. im Grunde gar keine Mühe aufgewandt habe, um mich zu bekommen. A. A. widersprach, sie meinte, auch wenn eine Frau durch Beharrlichkeit erobert werde, komme nichts dabei heraus. „Gumiljow?“, fragte ich, und sie bejahte.
In Kiew, als sie, vernachlässigt, sich im Leben nicht zurechtfand, in einer Problemfamilie, wo nichts funktionierte, willigte sie ein, Gumiljow zu heiraten, der eine lange Belagerung durchgeführt hatte. Sie war schockiert, dass ihre Brüder und die Schwester nicht einmal zu ihrer Trauung in die Kirche kamen – die Zerrüttung der Familie hatte die Geschwister absolut gleichgültig werden lassen. Ihr Bruder Andrej Andrejewitsch erzählte mir, einem ganz jungen Mädchen – wir lernten uns in Sewastopol kennen, als ich fünfzehn (oder sechzehn?) Jahre alt war –, aus irgendeinem Grund, dass die Familie entsetzt über Anjutas Leichtsinn gewesen war, als sie Nikolai Stepanowitsch heiraten wollte, den sie gar nicht liebte. Diese Ehe war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, erklärte mir Andrej Andrejewitsch, während ich noch nicht einmal ahnte, was eine Ehe überhaupt war. Aber ich behielt diesen gutaussehenden, ungewöhnlich düsteren Mann im Gedächtnis, der in einem solchen Maße nicht mit sich zurechtkam, dass er Trost und Entspannung in ernsthaften Gesprächen mit einem fremden kleinen Mädchen suchte.
Dem Chaos der eigenen Familie entkommen, fand sich A. A. in Gumiljows Haus wieder, das ihr völlig fremd war. Gumiljow brachte sie her und reiste sofort nach Abessinien. Das war seine besondere Eigenart: Sobald er sein Ziel erreicht hatte, verließ er die Frau, doch Anna Andrejewna emanzipierte sich rasch, umgab sich mit Freunden und führte ihr Leben unabhängig von Gumiljow.
A. A. erzählte, dass sie, in Zarskoje Selo allein gelassen, ein gerade erst erschienenes Bändchen von Annenski kaufte (ich weiß nicht, ob es Der Zypressenschrein oder Leise Lieder war) und darin las, während sie sich am Fenster das Haar kämmte. Und da wurde ihr plötzlich klar, was zu tun war. Als Gumiljow zurückkam, fand er den fast fertigen Abend1 vor. Früher hatte er für seine junge Frau eine Beschäftigung gesucht:

Du könntest sogar zum Ballett gehen, Anitschka, du bist ja schlank…

Er dachte nicht daran, dass sie fürs Ballett zu groß war, aber man hätte ja auch Szenen für eine große Tänzerin entwerfen können, nicht fürs klassische, sondern für ein experimentelles Ballett.
Auch Gumiljows dichterischer Einfluss hielt nicht lange vor. Aus irgendwelchen Gründen überredete er sie, Balladen zu schreiben, und sie ließ sich sogar kurz darauf ein. Mit Odojewzewa hatte er mehr Glück, aber eine Dichterin wurde nicht aus ihr. Ob Gumiljow nicht Opfer seiner eigenen Theorien [zum literarischen Mentorentum] war, die ein klein wenig nach Brjussow rochen? Generell habe ich aus A. A.s Erzählungen über Gumiljow den Eindruck gewonnen, dass er seinem inneren Wesen nach in die Kategorie der Lehrer gehörte und am liebsten Schüler hatte, die seinen Ratschlägen lauschten. Auch O.M. hat in einer Situation auf Gumiljow gehört.2 Anna Andrejewna musste sich ebenfalls Ratschläge anhören, doch sie fand schneller als O. M. ihren eigenen Weg. Jetzt war Gumiljow an der Reihe zu beobachten, was sie und O. M. taten. Das sind exakt A. A.s Worte. Sie meinte, Gumiljow sei auf die Idee des Akmeismus gekommen, als er ihren und O. M.s neuen Zugang zur Dichtung sah. Nun war er es, der sich ihrem Einfluss unterwarf, und zum ersten Mal zeigte sich das im Fremden Himmel, insbesondere im Gedicht vom „Verlorenen Sohn“. Dieses Gedicht attackierte Wjatscheslaw Iwanow (auf einer Sitzung der symbolistischen „Versakademie“) mit aller Kraft, was den letzten Anstoß zur Abspaltung einer Gruppe Dichter und zur Gründung der „Zunft“ gab [im Herbst 1911].
Jetzt zeigte sich, dass Gumiljow auch organisatorische Fähigkeiten hatte. N.I. Chardschijew wies darauf hin, wie wichtig die Rolle von Organisatoren während der Entstehung einer neuen literarischen Richtung ist. In der Anfangsphase fällt der Organisator mehr auf als diejenigen, denen es beschieden ist, ihr Wort zu sagen. Was die Zeitgenossen in verzerrten Relationen wahrnehmen, gleicht sich später wieder aus. Gumiljows Browning-Hypothese wurde klar widerlegt.
Nachdem Gumiljow erschossen worden war, erwies sich A. A. als wahre Freundin und Gefährtin. Sie hatte alle persönlichen Rechnungen mit ihrem Ex-Mann und Ljowas Vater schon lange beglichen oder wenigstens der Vergessenheit anheimgegeben. Nur ein Mal kam sie darauf zurück, als sich herausstellte, dass Ljowa einen Bruder fast im gleichen Alter hatte. „Nicht sehr angenehm, so etwas zu erfahren“, sagte sie, und ich sah sie verwundert an: Ihr müsste es doch egal sein, schien mir, sie war doch „keine irdische Frau…“ Und sie benahm sich wirklich nicht wie eine Ex-Frau, sondern wie die Freundin eines Dichters, eines erschossenen Dichters – über jeden Vorwurf erhaben.
Sie nahm regen Anteil an Luknizkis Arbeit, sammelte alle möglichen Informationen über Gumiljow, studierte seine Gedichte. Seit Gumiljows Tod und bis zu ihrem Lebensende interessierte sie sich verstärkt für den Akmeismus. Ständig plante sie Treffen mit mir, um mir weitere Überlegungen zu dem Thema mitzuteilen. „Wir müssen uns zum Arbeiten treffen, Nadja…“ Sie sprach auf alle ihre Bekannten ein, als bespräche sie Schallplatten, wenn sie ihnen darlegte, was der Akmeismus war und worin seine Bedeutung bestand.
A. A. vergaß alte Kränkungen von einem „Meister“ nicht, und als sie Memoiren oder Tagebücher von Jewgenija Gerzyk gefunden hatte, zeigte sie mir triumphierend eine Reihe von Stellen, die das schlechte Verhältnis des Turmherrn3 zu den drei Dichtern belegten – zu Gumiljow, O. M. und ihr. Er plante, Gumiljows Frau öffentlich „zu demontieren“, obwohl er sie am selben Tag lobte, als er sie in sein Arbeitszimmer führte. Die ganze Gesellschaft bereitete sich auf die übliche Unterhaltung vor: Mandelstam herunterputzen und Ähnliches. A. A. entging der Demontage, weil sie es ablehnte, vor den Gästen Gedichte zu rezitieren.
Am „Akmeismus“ hing A. A. bis ans Ende ihrer Tage. Am meisten befürchtete sie, man könnte ihre Gruppe für einen Ableger des Symbolismus halten. „Als Literaturwissenschaftlerin weiß ich das“, sagte sie. „Sie sollten diese Dinge nicht unterschätzen…“ Und außerdem: Wie es wohl kam, dass der Akmeismus nur einen Moment existiert hatte, aber allen im Gedächtnis blieb, während andere literarische Gruppierungen – die Imaginisten, die Nitschewoki, die „Zentrifuge“4 und andere – vollkommen vergessen waren. „Also war da etwas…“
Ich unterschätzte „diese Dinge“ tatsächlich, obwohl ich wusste, dass etwas daran war. Für die Gruppe als solche interessierte sich auch die damalige Literaturwissenschaft, insbesondere Tynjanow, der die ganze Literaturgeschichte für einen einzigen Strom widerstreitender Tendenzen hielt. Tynjanow äußerte manchmal sogar – ich denke, wegen seiner Jugend –, der Dichter konstruiere seine Biographie und sein lyrisches Ich entsprechend den Normen seiner literarischen Schule. Die normale Verbindung mit der Zeit, ihren Ideen und Begriffen setzte Tynjanow mit der Abhängigkeit von literarischen Strömungen gleich; in gewisser Weise erinnert der Wechsel literarischer Figuren in seiner Deutung an einen Karnevalsumzug: Die Dichterbiographie, so Tynjanow, wird durch den Wechsel des lyrischen Ichs „hervorgerufen“ und verändert.
Ich glaube nicht an eine solche Konzeption, obwohl mir klar ist, welche Bedeutung das Umfeld, vor allem von Kameraden und Gleichgesinnten, für das Werden eines Dichters hat. Dasselbe gilt für die Künstler mit ihren idiotischen Manifesten, denn trotz der Dummheiten, die sie in ihrer Jugend schwatzen, vollzieht sich in den ersten Diskussionen und Konflikten, in den Zusammenschlüssen mit den „eigenen Leuten“ und in der Opposition zur Kunst der restlichen Welt ihre Selbstfindung. Eine kleine Gruppierung, die ihre Position sucht – genau das ist das gesellschaftliche Modell zur Entwicklung von Kunst, das Modell zur ersten Verständigung innerhalb des Handwerks, und meinen jungen Zeitgenossen fehlt das ganz extrem. Dankbarkeit ist das einzige Gefühl, das man diesen Jugendvereinigungen gegenüber hegen kann, und Pasternak zollt einer anderen Epoche Tribut, nämlich der assyrischen, wenn er sich von Bobrow distanziert, dem Kameraden seiner Jugend. Von diesem Standpunkt aus verstehe ich A. A.
Doch mich interessiert etwas anderes: Wie kam es, dass drei Dichter, Gumiljow, Achmatowa und Mandelstam, deren Werke fast nichts miteinander gemeinsam haben, bis zum Lebensende an ihrem Akmeismus festhielten und auf ihm bestanden? Die drei Manifeste des Akmeismus5 sind fast konträr, sie verbindet nichts. Was vereinte dann die drei Menschen? Vielleicht sind es keine literarischen, sondern ganz andere Bindungen? Auf dem Gedenkabend für Mandelstam an der Moskauer Universität [1965] erwähnte Schalamow das Schicksal der Akmeisten. Aus irgendeinem Grund wurden sie alle verfolgt. Ist das Zufall?

Gorodezki muss sofort gestrichen werden. Dass er in diese Gruppe kam, war reiner Zufall, eine Laune des allzu praktischen Organisators Gumiljow. Er befürchtete plötzlich, er würde nur mit kleinen Jungen und dazu noch mit dem Mädel Anjuta auftreten, und beschloss, sich den reifen, angesehenen Dichter Gorodezki zu Hilfe zu holen, den „Sonnenknaben“ der Symbolisten. Zusammen mit Gorodezki verwarf Gumiljow Mandelstams Manifest „Der Morgen des Akmeismus“. Heute kennen wir den Preis für Gorodezkis rasche Anerkennung und den Ursprung seiner „Sonnigkeit“. Übrigens war er der Erste, der damals das Modethema vorchristliches Russland aufbrachte – vom Christentum hatte man die Nase gestrichen voll –, das später von Chlebnikow und Strawinsky (Le sacre du printemps) bearbeitet wurde. Vielleicht war er auch nicht der Erste, aber es ist nicht wichtig, wer als Erster auf das Heidentum setzte – damals gefiel das vielen.
Gorodezki sah ich zum ersten Mal 1921, als der Funktionärswaggon, in dem wir nach Tbilissi fuhren, auf Abstellgleisen vor Baku herumstand, weil der Chef (der Künstler Lopatinski) und einige Mitarbeiter an Cholera erkrankt waren. Gorodezki kam zu uns in den Waggon, wo wir ein ganzes Coupe mit zugezogenen Vorhängen bewohnten, stellte eine Flasche und Klappgläser aus Plastik auf den Tisch, lobte seine Weitsicht, stieß mit uns an und lobte sich weiter. Worüber wir sprachen, weiß ich nicht mehr, aber Gorodezki machte den Eindruck eines senilen alten Kerls auf mich, obwohl er noch keine vierzig war. Ich fragte O. M. erstaunt, wie er sich mit diesem Kretin zusammentun konnte. O. M. antwortete widerwillig, gab dann aber zu, dass das Gumiljows Idiotie gewesen war – er wollte nun einmal Organisator, Aktivist und Kopf der Gruppe sein.
Später in Moskau gingen wir ein oder zwei Mal zu Gorodezki, und er kam manchmal zu uns – ich begreife nicht, warum, und mir fiel auf, dass O. M. seine Frau Anna Nikolajewna nannte (ich glaube, so hieß sie) und nicht Nymphe wie alle anderen. O. M. gestand, er brächte diesen Namen – Nymphe – nicht über die Lippen. Gorodezki schwatzte meistens Unsinn über seine gefeierten Fabeln, die Gemächer von Boris Godunow, in denen er logiert hatte, seine Morgenspaziergänge, eine spezielle Art, Tomaten zu schmoren, ganz besondere Hemden, die die Luft durchließen, so dass die Haut überall atmete… Nymphe schnitt ausgerollten Teig über Kreuz in Pelmeni und stimmte ihrem Mann zu. Gorodezki führte ständig patriotische Reden und wurde nicht müde, die Revolution zu preisen. Als ich mich darüber aufregte, erklärte mir O. M., dass er sich so ins Zeug legte, damit man ihm sein Büchlein verzieh, den „Empfang des Zaren“.6 Frappierend, wie leicht die neue Macht diejenigen anwerben konnte, die früher widerliche Kriecher gewesen waren – sie verstanden einander sofort. Und die Söhne von Großbürgern hängten ebenfalls ihr Mäntelchen nach dem Wind und besetzten „verantwortungsvolle Posten“, wie zum Beispiel Brik.
Meine letzten Begegnungen mit Gorodezki fanden während der Evakuierung in Taschkent statt. Er wohnte im selben Haus wie A. A., wo evakuierte Schriftsteller der Mittelklasse untergebracht waren. Ihr gab man ein winziges Kämmerchen im ersten Stock, ihm eine Wohnung unten. Ich begegnete ihm nur auf dem Hof, wenn ich Wasser holte oder zur Toilette ging, einer unerträglich schmutzigen Grube, die ich heute mit dem Akmeisten Gorodezki assoziiere. Er passte mich auf dem Weg ab und fragte jedes Mal mit gleichmütigem Grinsen:

Wie geht es meiner Halbgebildeten?

Damit meinte er Anna Andrejewna, und wie man mir berichtete, erzählte er allen, die zu ihm kamen, horrende Dinge über sie und schwärzte sie in dichterischer und vor allem in politischer Hinsicht an. Das war Briksche Propaganda plus RAPP und Lelewitsch7 plus der senile Schwachsinn dieses Pseudo-Akmeisten.
Wenn man jung ist, versteht man nichts von Menschen und tut sich mit den Erstbesten zusammen, und deshalb darf man Gumiljow den Bund mit Gorodezki nicht zu sehr nachtragen, aber wie konnten die Symbolisten, erwachsene Menschen, über den Dichterjüngling Gorodezki in Begeisterung und Rührung geraten? Sie fielen ja alle auf ihn herein, Blok eingeschlossen… Wenn er sprach, hatte ich Angst, ihn anzusehen – mir kam es vor, als würde aus seinen Mundwinkeln Speichel fließen wie bei einem richtigen Kretin. O. M. verhielt sich ihm gegenüber gleichgültig und zeigte weder Sympathie noch Abneigung.

Zwei andere Akmeisten – Narbut und Senkewitsch – gaben die Lyrik früh auf. Narbut, hundertprozentiger Kleinrusse, auf naive Art zynisch und mutwillig, wie ein Ukrainer eben sein soll, liebte O. M. sehr. Ich habe gesehen, wie seine Augen freudig aufleuchteten, wenn O. M. zu ihm ins Direktorzimmer des Verlags Sif trat [Semlja i fabrika, Land und Fabrik]. In den zwanziger Jahren war er ein Parteiasket, wollte um keinen Preis Privilegien nutzen, lehnte einen Dienstwagen ab und klammerte sich lieber an die Haltegriffe der schrecklich überfüllten Moskauer Straßenbahn. Sein Unternehmergeist fand nur in Sif Trost, dem Verlag, der winzige Mittel hatte, als er ihn übernahm, und den er in wenigen Jahren zu unerhörtem finanziellem Erfolg brachte. Er wollte ihn auf amerikanische Weise leiten, wollte Gewinne erzielen, ihn kommerziell machen, mit reißerischen Umschlägen, Sensationen und Bestsellern. Er hatte den Elan eines wahren Unternehmers und eine ukrainische Mutwilligkeit, die ihn auf die albernsten Dinge brachte: Zum Beispiel ließ er bei seinem guten Bekannten Assejew für einen Vorschuss, den der Verkauf nicht wieder eingebracht hatte, Möbel pfänden und feilschte mit allen Autoren, O. M. eingeschlossen, um jede Kopeke. Später gab er selber zu, er habe nur aus Freude an der Sache gefeilscht: Autorenhonorare waren zu der Zeit so gering, dass sie sich bei der Kalkulation eines Buches überhaupt nicht niederschlugen.
1927 wurde er mit Pauken und Trompeten aus der Partei geworfen. Anscheinend hatte Woronski gegen ihn intrigiert, der die „Poputschiki“, die Weggefährten, unterstützte, während Narbut auf die „Schnurrbärte“ setzte, die Kaderleute der RAPP. In seiner Verlagstätigkeit lag ein gehöriger – wenn auch gutartiger – Zynismus. Was hatte Narbut, der sechste Akmeist, mit den Romanen und Erzählungen zu schaffen, die er veröffentlichte? Ihn amüsierten bloß das kommerzielle und politische Spiel und die seltsame Macht über die Sif-Belegschaft, wofür er erstaunlicherweise ein ganzes Raritätenkabinett von Angestellten zusammengesucht hatte, brave, unterwürfige, rothaarige, kurzbeinige, friedliche, freche, die aber immer brav seinen Willen erfüllten und erst nach seinem Sturz gegen ihn revoltierten. O. M. hielten sie für eine Kreatur Narbuts, und sobald der gestürzt war, fuhr die ganze Truppe auch auf ihn los.
Narbut litt an der gefährlichen Krankheit des Machtwillens – wenn auch auf spezifische Weise, auf ukrainische Gutsbesitzerart: Der fröhliche junge Herr vergnügt sich mit seinen Jagdhunden. Geheilt wurde er erst nach seinem Sturz, und da begann er von neuem über Dichtung zu reden und stellte beispielsweise Fragen dieser Art:

Ossip, was denkst du über wissenschaftliche Lyrik? Das ist doch genau das, was heutzutage gebraucht wird…

Oder:

Wenn sie nur mehr Initiative zuließen – dann könnte auch etwas daraus werden! Ein Dichter ist ja ein Erfinder, nicht wahr, Ossip?

Senkewitsch war in dieser Hinsicht unschuldig wie ein neugeborenes Kind. Er arbeitete so still und leise unter Narbut, dass niemand etwas von ihrer alten Freundschaft ahnte. Jedenfalls gelang es ihm, rechtzeitig zu verschwinden und jeder Hetze zu entkommen. Wenn Senkewitsch vielleicht keinem etwas Gutes getan hat, so hat er jedenfalls auch keinem etwas Böses zugefügt. Seine Haupteigenschaften waren eine behäbige Saratowsche Gutmütigkeit, Zurückhaltung und Vorsicht, die er mit der Muttermilch eingesogen oder von kleinen Beamten aus den Wolgaprovinzen geerbt hatte, und äußerlich eine träge Schlaffheit sowie eine rührende Anhänglichkeit an seine Akmeismus-Vergangenheit.
Als A. A. plante, alle Ereignisse im Zusammenhang mit dem Akmeismus zu rekonstruieren, rief sie Senkewitsch zu Hilfe, und er erwies sich als hervorragende Auskunftsinstanz. In den letzten Jahren trafen sie sich oft, und Senkewitsch diente als lebende Chronik von Ereignissen, die vor einem halben Jahrhundert stattgefunden hatten. Von dazwischen liegenden Ereignissen wusste er nichts mehr, und sie interessierten ihn im Grunde auch nicht.
Von sechs Akmeisten wurde einer zum Antagonismus der anderen (Gorodezki), zwei waren im Grunde nur Jugendfreunde (Senkewitsch und Narbut), und drei hielt ein unsichtbares Band zusammen, das bis zu ihrem Tod – zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten – nicht zerriss. War dieses Band nur der Aufstand gegen Theoriegeschwätz und dichterische Praxis der Symbolisten? Anna Andrejewna erzählte, dass Gumiljow zahm und sogar begeistert Iwanows Belehrungen anhörte, seine Artikel studierte und durchdachte und plötzlich verkündete, dass hinter alldem Wortpomp nichts steckte. Als ihm die Augen aufgingen, fühlte er sich direkt proportional zu seiner früheren Anziehung abgestoßen, nämlich sehr stark. Es tat ihm leid, dass er in jeder Äußerung des Meisters so lange herumgestöbert und sich selbst Dummheit vorgeworfen hatte, weil er den versprochenen esoterischen Sinn nicht finden konnte, um dann plötzlich zu entdecken, dass die Lehre gar keinen Sinn hatte.
O. M. lernte seine Lektion bei W. Iwanow leichtsinniger und vergnügter. Er revoltierte sehr früh. A. A. erzählte, dass O. M., nachdem er ihr auf einem Abend bei Sologub zu Ehren Iwanows allen möglichen Unsinn zugeflüstert hatte, plötzlich sagte:

Ein Meister – das ist grandios, zwei – das ist lächerlich…

Und mir hat O. M., als ich ihn noch in Kiew nach W. Iwanow fragte, mit einem Märchen geantwortet: Fahren zwei mit der Kutsche und lesen Gedichte von Wjatscheslaw, und plötzlich dreht sich der Kutscher um und sagt:

Ein vergiftetes Vergnügen…

Äußerlich verhielt sich O. M. Meistern gegenüber sehr respektvoll (auch noch in meiner Gegenwart), doch innerlich fühlte er sich schon seit ewigen Zeiten völlig unabhängig. W. Iwanows Einfluss endete vermutlich, als O. M. kaum zwanzig Jahre alt war.
Der Einzige, den alle drei als Lehrer akzeptierten, war Innokenti Annenski.8 Ich habe den starken Verdacht, dass O. M. sich sofort, gleich bei unserer ersten Begegnung, zu mir hingezogen fühlte, weil er in meinem Kinderschrank mit den Lieblingsbüchern den Zypressenschrein und das Buch der Spiegelungen fand. Geschenkt hatte mir die Bücher Wolodja Otrokowski, mein Lateinlehrer und Freund, erst russischer, dann ukrainischer Dichter, der früh an Flecktyphus starb. Er hatte Blok besucht und ihm sehr gefallen.9 Im Artikel seines Kollegen B. Larin (eines Linguisten) über Annenski stieß ich auf lauter Gedanken von Wolodja Otrokowski. Annenski, der sich abseits hielt und keine Ambitionen hatte, Meister zu sein, übte den größten Einfluss auf die aufkommende junge Dichtung aus.
Weder O. M. noch A. A. wandten sich außer Armenski je wieder einem Symbolisten-Dichter zu. Nur ihn kannten sie auswendig, und nur ihn zitierten sie in Gesprächen. Mit seinen Artikeln der Jahre 1921–23 resümierte O. M. gleichsam seine Beziehung zu den Symbolisten.
Von den Zeitgenossen schätzte und las er Pasternak, weniger Majakowski – es machte ihn traurig, wie Majakowski sich an Agitprop-Lyrik wegwarf –, außerdem Zwetajewa, Kljujew, zu schweigen von A. A. Er hat tatsächlich einmal gesagt, er sei „Anti-Zwetajewaner“, doch das bezog sich auf Marinas Methode: das Spiel mit den Wurzeln phonetisch ähnlicher Wörter, die Wiederholungen, das Stakkato der Wörter. Den Menschen Marina liebte und bewunderte er.
Er schätzte auch Pawel Wassiljew (den frühen, mutwilligen) und Klytschkow (der am Ende seines Lebens großartige Gedichte schrieb, die aber in einem Sack mitgenommen wurden, als man den Autor abholte, um ihn in den Folterkellern des Jahres 1937 umzubringen). Von Chlebnikow wählte O. M. Einzelnes aus und hatte große Freude daran. Die letzte Begegnung mit Chlebnikow fand 1938 in Samaticha statt, unmittelbar vor der Verhaftung.
A. A. sagte über Marina, das Wichtigste an ihr sei die Kraft: Kein anderer russischer Dichter habe eine solche Kraft gehabt. Über Majakowski sagte sie, er sei zwar heute vergessen, doch nur vorübergehend. Auf Majakowski musste man ihrer Ansicht nach zurückkommen, weil er dem Poem eine neue Form gegeben habe. Außer O. M. schätzte sie noch Pasternak, aber nicht alles: In fast jedem Text ärgerte sie etwas. Von seinen letzten Gedichten hob sie „Krankenhaus“ hervor (vielleicht wegen des religiösen Themas), von den Gedichten aus dem Schiwago das über die Frau, die nassen Schnee kaut.10 „Und dein ganzes Bild ist aus einem Guss“ – das hielt A. A. für eine Reminiszenz an O. M. und fragte sich, wie es zu Pasternak gelangt sein könnte, der fremde Gedichte bekanntlich mied, sie nicht las. „Es wird ihm jemand vorgelesen haben“, entschied sie. In reifem Alter ging A. A. nicht gerade verschwenderisch mit „Erfolgsmeldungen“ über Dichter um – sie war skeptisch gegenüber allen Jungen und lobte ihre Gedichte nicht (bis auf die von Marussja Petrowych!), während sie als alte Frau alle Gedichte aller Autoren mit Lob überschüttete. Vielen schwirrte davon der Kopf.
O. M. und A. A. lasen Dichter unterschiedlich – er suchte nach Gelungenem, sie nach Fehlschlägen.
In all den Jahren erwähnten sie Gumiljow häufig:

Kolja hat gesagt… Kolja wollte, dass…

Aber auf Gumiljows Gedichte bezogen sie sich nicht. Damals im Zarskoje-Selo-Frühling stellte A. A. fest, dass ich ein Gedicht von Gumiljow (eines seiner besten) kannte, das davon handelte, wie er sich von ihr trennte („Stanzen“) – „Womöglich richt ich mich damit zugrunde,11 doch sag ich mich auf ewig von dir los“. Ich hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und diente O. M. oft als Nachschlagewerk – vor allem 1922 in Rostow, Charkow und Kiew, als er Artikel über Lyrik schrieb, aber keine Bücher zur Hand waren. Er nutzte den Umstand, dass ich mir auf Kommando alles merken konnte, was er brauchte. Sein Gedächtnis – es war phänomenal – war von anderer Art als meins: Er merkte sich nach dem Gehör sofort riesige Textstellen, vergaß sie aber schnell wieder.
A. A. freute sich, dass ich mir ein ihr gewidmetes Gedicht gemerkt hatte, und zeigte mir gleich alles, was sich auf sie bezog, aber die Stellen kannte ich schon von O. M. Doch weder mit Luknizki – er kam häufig nach Zarskoje – noch mit O. M., noch mit mir sprach sie damals je über ihre Einschätzung von Gumiljows Gedichten. Ich erkläre das damit, dass sie ihnen ablehnend gegenüberstand, das aber nicht zugeben wollte. Erst in den letzten Jahren, als sie das Fazit aus ihrer Tätigkeit zog und viel über den Akmeismus nachdachte, hatte sie den Wunsch, den wahren Charakter ihrer Beziehung zu Gumiljow auszuloten und seine Dichtung (für sich selbst) einzuschätzen. Gumiljow wurde extrem früh gedruckt, und in die Bücher geriet viel Unfertiges – das, was Dichtung vorausgeht. Als einzige Rechtfertigung für Gumiljows frühe Gedichte ließ sie seinen Zustand gelten, nämlich dass er lange in sie verliebt war und um sie warb – daher der „jugendliche Strom“. Sich vom Einfluss der Symbolisten (Brjussow und W. Iwanow) zu befreien, fiel Gumiljow schwerer als ihr und O. M., die fast sofort mit der Abgrenzung anfingen. Bei ihm war der Prozess (der mit dem „Verlorenen Sohn“ begann) quälender, und deshalb entwickelte er sich erst fast am Ende seines Lebens zum Dichter. Doch bereits in den frühen Gedichten fand sie deutliche Spuren von Annenskis Einfluss, direkter als bei ihr und O. M.
A. A. schreibt [in den „Tagebuchblättern“], dass O. M. keine Lehrer oder Ahnen hatte. Das stimmt natürlich nicht. Richtiger wäre, dass O. M. nicht von einem Dichter herkam, sondern von mehreren. Er sagte selbst, er „imitiere“ alle, sogar Benedikt Liwschiz (im Gedicht über die Sängerin mit der tiefen Stimme).12 Es sind kompliziertere, umfassender überarbeitete Einflüsse als bei vielen anderen, deshalb fallen sie nicht so sehr auf. Mir scheint, das hängt mit seiner Fähigkeit zusammen, beim Lesen fremder Gedichte nach Gelungenem zu suchen. Er hörte nicht auf, von den gelungenen Werken anderer Dichter zu lernen, und das aufmerksame Hinsehen erweiterte auch seine Perspektive auf die eigene Arbeit.
Wenn sie sich darüber wunderte, wie zäh Gedichte sind, sagte A. A. immer wieder:

Gedichte sind überhaupt nicht das, was wir in unserer Jugend dachten…

Ihre Jugend – das war Gumiljow mit seinem Manifest. In der Dichtung kann man quasi zwei Texttypen unterscheiden – einerseits erlauschte, andererseits geschriebene Gedichte. Im einen Fall ist die gesamte geheime Natur des Dichters beschlossen, im anderen ist Geschick oder Könnerschaft wirksam. Das bezieht sich nicht auf die Arbeitstechnik – „erlauschte“ Gedichte können auf der Stelle zu Papier gebracht werden. Hier ist ein wesentlicherer Unterschied gemeint. Die größten Dichter haben viele Sachen geschrieben, die rein auf Könnerschaft basieren. Als Beispiel kann man Puschkin nennen, und selbst in einer so „erlauschten“ Sache wie dem Lied des Vorsitzenden in „Das Gelage während der Pest“ fand Marina zwei „geschriebene Zeilen“ (die letzten). Anders gesagt, Könnerschaft vermag ganze Gedichte oder einzelne Zeilen von „erlauschten“ Gedichten hervorzubringen. Durch Könnerschaft entstandene Gedichte grenzen an die Massen von lyrischem Kunstgewerbe aus unserer Zeitschriftenliteratur (und nicht nur daraus). Lyrisches Kunstgewerbe schließe ich aus meiner Erörterung aus. Wie jedes Surrogat erinnert es nur äußerlich an das, was es zu sein vorgibt.
Mir tun diejenigen, die diese ungesunde Nahrung zu sich nehmen, nicht einmal leid: Es geschieht ihnen recht. Außerdem sind die Konsumenten dieser Gedichtproduktion in den meisten Fällen keine Leser, sondern literarische Politikaster – es gibt sie überall, wenn auch nicht immer der Staat hinter ihnen steht. Durch Könnerschaft entstandene und „erlauschte“ Gedichte sind gleichermaßen Dichtung, aber zwischen ihnen besteht ein gewaltiger Unterschied. Das sind Texte, die unter ganz unterschiedlichem Druck verfasst wurden, doch die Differenz kann nicht nur in Bar gemessen werden. Wenn Dichtung (wie andere Künste) eine besondere Form der Welterkenntnis ist, dann gehören „erlauschte“ Gedichte zur tiefsten Erkenntnisart, dann bedeuten sie das Eindringen in das Wesen des Objekts, das heißt ins eigene Selbst, denn das Subjekt ist hier gleichzeitig das Objekt, und durch dieses Objekt werden Sein und Außenwelt in ihrer ursprünglichen Harmonie erkannt. Wenn ein Mensch in vollem Maße erkennt, dass er ein Mensch ist, offenbart sich dann etwa nicht die Welt vor ihm? Menschengöttlichkeit fußt nicht auf der Selbsterkenntnis als Mensch, sondern auf der falschen Deutung seines freien Willens, seiner Fähigkeit zur Zerstörung anderer und seiner selbst, seiner Gabe, Werte zu schaffen, echte (und das ist wahrlich eine Offenbarung!) und – häufiger – falsche. Laufen Offenbarungen etwa nur auf das hinaus, was in den Heiligen Schriften steht? Enthalten sie etwa keine umfassenderen Arten der Welterkenntnis?
Könnerschaft in der Dichtung kann sein, was sie bei Mandelstam war – Erlerntes. Der ganze Mittelteil von „Stein“ – Mandelstams im engeren Sinne „akmeistische“ Periode – ist nur Erlerntes. Vor dem Erlernen hatte O. M. großen Respekt:

Welches Lösegeld müsste man zahlen für die Lehre des Universums, den Bergesgriffel so anzuspitzen, dass die Notiz entschlossen wird und blitzesschnell…

Doch häufiger läuft Könnerschaft nicht auf Erlerntes hinaus, sondern stellt ein ganz anderes Phänomen dar. Durch Könnerschaft werden einfachste Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt verwirklicht, die auf bereits vorgefundenen, von Verstand, Gefühl, Wille und Bewusstsein geleiteten Gesetzen basieren. Ein Gedicht ist die Verdichtung der Seele seines Trägers, in ihm lebt er mehr als in jedem anderen Selbstausdruck, und deshalb hängt die Bedeutsamkeit des Gedichts letztlich von der Intensität und Offenheit des Dichters ab. Wenn man das Eindringen des Subjekts ins Objekt als Offenbarung begreift, hängt der Wert des Gedichts auch von der Fähigkeit ab, eine Offenbarung zu empfangen.
Mandelstam war ein Dichter der Intensität, und dem Lauschen gab er sich voll und ganz hin, mit seinem ganzen Wesen – nicht nur geistig, auch körperlich. Er vernahm die innere Stimme mit Gehör und Tastsinn. Um ein verlorenes Wort zu finden, brauchte er Finger, und diese Finger waren „sehend“:

O käme sie zurück,13 die Scham der sehenden Finger und die plastische Freude des Erkennens… Den Sterblichen gegeben ist die Macht, zu lieben und zu erkennen, für sie gießt auch der Laut sich in die Finger…

Ich möchte dieses für Mandelstam zentrale Gedicht einem Satz aus einem Artikel derselben Zeit gegenüberstellen, der die Natur seiner dichterischen Gabe erhellt:

Wenn der Liebende in der Stille14 mit den zärtlichen Namen durcheinandergerät und sich plötzlich erinnert, dass das schon einmal da war: diese Worte und dieses Haar, und dass der Hahn, der vor dem Fenster gekräht hat, schon in Ovids Tristien gekräht hat, ergreift ihn die tiefe Freude der Wiederholung, diese schwindelerregende Freude:

Dunklem Wasser gleich – tieftrübe Luft hier zu atmen,
Die Rose war Erdreich, und die Zeit ist gepflügt.

Auch hier gibt es die Suche nach dem verlorenen Wort („mit den zärtlichen Namen durcheinandergerät…“) und alle fünf Sinne, obwohl der Gesichtssinn am schlechtesten wegkommt. Vielleicht liegt darin einer der Schlüssel zur Verbindung von Dichtung und Eros, aber sicher nicht der einzige.
Pasternak ist in seinen am meisten „erlauschten“ Gedichten15 ganz Sinnesempfindung, ein Seismograph äußerer Einwirkungen auf Auge und Hirn des Dichters. Er ist ein Dichter der Weite und Vielfalt, denn die Welt der Sinneseindrücke ist unendlich weit – und ebenfalls eine Art Offenbarung. Bei ihm rauscht Wasser direkt vor den Ohren, er kann vor nichts die Augen verschließen. Die Welt strömt durchs Zimmerfenster zu ihm hinein, und er ist frappiert von ihrem Abbild im Standspiegel:

Der riesige Garten16 im Saale zittert… und zerbricht nicht das Glas!

Das Staunen des frühen Pasternak ist ebenfalls die große Freude des Erkennens, und es setzt sich mit gebieterischer Kraft auch später durch:

Da – was ist das denn, neue Flausen?17 Ungereimtes Zeug, Klatschbasengeschwätz. Welcher Satan hat sie verwirrt?… Er ist’s, er ist’s, seine Wundertätigkeit ist’’s und sein Zauber, seine Wattejacke ist’’s hinter der Weide, seine Schultern sind es, sein Haarschopf, seine Gestalt und sein Rücken…

Erst mit dem Gehör, dann mit dem Sehsinn erkennt Pasternak den Frühling. Hier gibt es also dasselbe Thema des Erkennens, der Wiederholung und des Begreifens im Staunen.
Charakteristisch für Achmatowa ist die Suche nach der Großtat, der Entsagung, dem Verzicht auf irdische Güter um höherer Ziele willen. Ihr Leben orientiert sich an moralischen Kategorien, nicht an Sinneseindrücken oder einer Ontologie. Und in der inneren Stimme liegt ein Element des Mitleidens, des gemeinsamen Leidens mit den Menschen: „Aus unerkannten und gefangenen Stimmen18 formt sich für mich ein Klagen und ein Stöhnen“, aus dem „der eine, alles übertreffende Laut“ aufsteigt. Marina verzichtet in ihren Gedichten auf das weibliche Element – als Dichterin der Kraft ist sie ungemein aktiv. A. A. bewahrt sich die passive weibliche Natur, und im Mitgefühl findet sie ihren intensivsten Ausdruck als Frau:

Wer wird diese Frau beweinen?19

Ihr ganzes Leben lang erträgt sie gefasst die Empfindung von Unglück, das Warten auf Unglück, den Gedanken an Unglück: „Da muss ich gleich zurück zum Tor,20 das neue Leid begrüßen.“ „Doch ich kann ihn nicht vergessen,21 den Geschmack gestriger Tränen.“ Das Thema ihrer letzten Gedichte ist die Nicht-Begegnung, das der reifen die Trennung, das Zugrundegehen mit anderen Menschen: „Ich war damals bei meinem Volk,22 dort, wo mein Volk zu seinem Unglück war“, das der frühen die Verlassenheit, der Liebesverzicht:

Und ich, die Hände vors Gesicht geschlagen23 wie zu ewiger Trennung, lag da und wartete auf das, was noch nicht Qual hieß.

Die Hände vors Gesicht schlagen war eine typische Geste von ihr:

Die Hände vors Gesicht geschlagen, flehte ich zu Gott…24

A. A.s Stärke liegt in exakten Formulierungen, in einer unerhörten Kargheit (auch eine Form der Selbstentsagung), während ihr wichtigster Impuls die Annäherung an den Tod ist, weil für ewiges gemeinsames Leiden die Kraft nicht reicht.
Gumiljow ist ein geradliniger und naiver Charakter mit voluntaristischen Anwandlungen – kommt seine Lust am Belehren vielleicht daher? Er ist durch und durch rational und strebt nur Könnerschaft an. Das führt zu Eintönigkeit und Strukturarmut. Es bringt ihn auch zur Erzählung, die er Ballade nennt. Daher auch die Eintönigkeit und Strukturarmut. Seine Innenwelt besteht aus unerfüllten Wünschen, und einer von ihnen ist der sechste Sinn; in seiner letzten Schaffensphase machte Gumiljow quasi einen Satz nach vorn, und bei ihm zeigte sich tatsächlich erstmalig der „sechste Sinn“. Ihm wurde das Leben nicht in der Blütezeit des Schaffens, sondern in der Annäherung an die Poesie genommen. Er wurde daran gehindert, sein Wort zu sagen, und das ist vielleicht ein noch größeres Verbrechen, als den zu vernichten, der es gesagt hat und weiterhin sagt.
Majakowski ist ein Dichter kindlicher Gekränktheit. In der Natur seines Talents ist ein Moment der Unreife eingeschlossen. Diese unreife Stimme hätte leicht versiegen können. Als Brik die Erziehung des Hinterwäldlers übernahm, hatte er vielleicht gar nicht so unrecht, ihn auf Agitprop anzusetzen – das verlängerte Majakowskis Tätigkeit, gab ihm Sicherheit, wenn auch nicht für lange. Schwache Menschen benötigen eine Autorität, die alle überzeugt, und was könnte überzeugender sein als die Sieger, die Starken, die Mord- und Hinrichtungsmeister, die Führer, die auf allen Zeitungsblättern des Riesenlandes zum Volk sprechen… Brik hat Majakowskis Leben nicht verkürzt, sondern verlängert, denn seine Kräfte hätten kaum gereicht, eine reife Stimme und eine reife Rolle im Leben zu finden.
Was ist über Chlebnikow zu sagen? Verblüffendes Aufblitzen in einem amorphen Strom… Der Charakter eines Erzählers, nicht eines Dichters… Ein breiter Fluss, der über beide Ufer tritt und seinen Lauf ändert. Das ist kein Dichter, der auf eine Stimme lauscht, die in den tiefsten Tiefen erzeugt wird, sondern jemand, der die Worte auf der Zungenspitze trägt – daher die erfundenen, unmöglichen und unrealisierbaren Wörter, doch weil er sich immer im Wort aufhielt, musste er im Wörter-Erz auch auf wunderbaren echten Glimmer oder Quarz stoßen.
Man hat mir ständig versucht zu beweisen, dass Mandelstam und Chlebnikow Dichter einer Art waren. Damit beschäftigte sich Berkowski, auch Buchstab, der zu mir sagte: Bei beiden sind die Wörter wie große wilde Tiere. Ich weiß, dass das Wesen der Dinge nicht zu erfassen ist und man ihm manchmal – nur ein wenig natürlich – mit einer Metapher näherkommen kann. Aber „große wilde Tiere“ erklärt mir nichts. Mandelstam ist kein Wortschöpfer, für ihn ist das Wort eine objektive Gegebenheit:

Und auf den Lippen glüht und quält wie schwarzes Eis Erinnerung.25 Da fehlt ein Wort. Ich kann es nicht erdenken: Es tönt von selbst, es schwingt die Glocke des nächtlichen Nichterinnerns…

Und das gefundene Wort schärft, wie ich schon sagte, alle Sinne: Es wird nicht nur mit dem Gehör gefunden. O. M. tastet es ab wie ein Blinder ein vertrautes und geliebtes Gesicht, wie ein Liebender die Geliebte in der nächtlichen Dunkelheit:

Wie kann man nur dies Plastische, die Freude wiedergeben,26 wenn unter Tränen uns das Wort zulächelt, doch habe ich vergessen, was ich sagen wollte, und der sehenden Finger Scham gibt sich nicht jedem preis…

Ich habe aus irgendwelchen Gründen immer an die „sehenden Finger“ von Rembrandts Vater gedacht, der den verlorenen Sohn betastet – genau das ist die Freude des Erkennens. Und mich hat frappiert, dass O. M., als wir uns nach unserer Trennung wieder trafen, die Augen schloss und mit der Hand über mein Gesicht strich, Stirn, Augen, Lippen berührte… Als wir uns zum ersten Mal begegneten, sagte er immer wieder, dass er mich gleich erkannt habe, und er sprach von der Freude des Erkennens. Aber ich habe das zu spät verstanden. Erkannt werden kann nur das objektiv Existente, Einzelne, vom Subjekt Unabhängige: Das Wort kann man nicht erfinden, man kann es nur „erkennen“ wie eine Frau.
Das ist natürlich nicht Chlebnikows Einstellung zum Wort. Chlebnikow dreht und wendet es auf der Zunge, zu Mandelstam kommt es bereits erkannt, entdeckt, willkommen geheißen auf die Lippen. Mandelstam und Chlebnikow sind nicht gleichartig, sondern eher konträr.

Achmatowa weiß, dass die Quellen eines Gedichts objektiv sind:

Vieles möchte wohl noch27 von meiner Stimme besungen werden: Was, als Wortloses, dröhnt oder im Dunkeln den unterirdischen Stein schärft oder aus dem Rauch hervortritt…

Hier zeigt sich das Unbekannte, das im Gedicht erscheint, als Laut („dröhnt“) und in visueller Gestalt, die aber quälend flüchtig ist – sie muss erst erblickt werden, muss aus dem Rauch hervortreten, der ihre Umrisse verbirgt. In einem programmatischen Gedicht, das einen kleinen Einblick ins innere Labor des Dichterschöpfers erlaubt, breitet A. A. wieder eine Lautlandschaft aus:

Von fern das Grollen28 leiser werdenden Donners. Aus unerkannten und gefangenen Stimmen formt sich für mich ein Klagen und ein Stöhnen… Doch aus dem Abgrund von Geflüster, Tönen, steigt auf der eine, alles übertreffende Laut… Doch nun kann man schon Wörter hören und das Signalgeklingel zarter Reime…

Ähnlich wie bei Mandelstam gibt es hier die Anspannung des Gehörs, das Lauschen auf sich selbst und den sich ankündigenden Wortausbruch. Doch gesucht wird nicht nach dem einzelnen Wort, das zu Vers und Strophe führt, sondern nach Stimmen, Klagen, Stöhnen. Und sobald das Warten ein Ende hat, tritt nicht ein Wort auf, sondern Wörter, Sätze. Deshalb löst sich alles durch die Niederschrift der „diktierten Verse“, und sie legen sich ruhig ins Heft.29 Zu Achmatowa kommt gleichsam der Grundton, und dann vollzieht sich das Weitere ohne Lauschen, das bei ihr in einer früheren Phase als bei Mandelstam endet. Wenn der Ton – der „alles übertreffende Laut“ – aufgefangen ist, vereinfacht sich der Prozess, und deshalb ist es möglich, dass fertige Elemente in ihre Gedichte eindringen (das Moment der Könnerschaft). Vermutlich ertrug sie das Warten nicht und gab auf, bevor sich die tiefste Schicht hätte herauskristallisieren können. Dazu noch dies:

Geheimes wandert umher – kein Laut und kein Licht, kein Licht und kein Laut –, zerkantet sich, ändert sich, wirbelt davon, und liefert sich lebend nicht aus… Und ohne mir ein Wort zu sagen, entstand es durch Schweigen erneut…

Das ist prinzipiell dieselbe Arbeitsweise, doch ein anderer Grad der Anspannung.
Es ist verblüffend, dass auch T.S. Eliot in seinem grimmigsten Gedicht [„Ash Wednesday“ (Aschermittwoch), 1930] vom verlorenen Wort spricht. Er hat seine Beziehung zu diesem flüchtigen Wort endgültig festgelegt: Das Wort wird nur dort gefunden, wo das WORT ist, anders gesagt, das Wesen der Dinge offenbart sich nur in der Erkenntnis des Seins. Dichter, die nichts voneinander wissen, zwischen denen eine undurchdringliche Barriere liegt, die von der Epoche, vielleicht sogar vom Leben selbst errichtet wurde, suchen in derselben Richtung. Zu Eliots Versen darüber, dass er nicht hoffen kann, in einen konkreten Raum und eine konkrete Zeit zurückzukehren, bilden Achmatowas Zeilen das Echo:

Doch ich warne euch,30 ich lebe zum letzten Mal…

Im selben Gedicht gibt es auch eine Übereinstimmung mit Mandelstam, der schon in kindlichen Versen naiv sagte: „Dennoch lieb ich sie:31 arm, meine Erde – eine andre hab ich nie gekannt“ und in seinem Aufsatz „Der Morgen des Akmeismus“ – dem abgelehnten Manifest der neuen Schule – schrieb, diese Welt sei uns gegeben, um zu bauen.
Dichter aus unterschiedlichen Weltgegenden und Kulturen und mit unterschiedlicher Lebensweise wurden dem Symbolismus untreu und widmeten sich naheliegenden Fragen nach Leben und Tod. Allzu unterschiedlich waren die Kulturen allerdings nicht, weil ich von drei hellenisch-christlichen Dichtern spreche.

Die Akmeisten revoltierten nicht gegen den Symbolismus schlechthin, sondern gegen die literarische Schule der russischen Symbolisten, die die originäre Natur menschlicher Erkenntnis ablehnten. Diese ist, ob es um mathematische Zeichen oder um Worte geht, ihrem Wesen nach symbolisch, sollte aber von der planmäßigen Erfindung von Symbolen ersetzt werden, denen es der symbolistischen Theorie nach oblag, zu Platzhaltern von Bedeutungen zu werden. An der planmäßigen Fertigung einer Symbolik ist hauptsächlich der Verstand beteiligt, der für den sechsten Sinn nun einmal kein Organ weckt.
Sehr viele Symbolisten waren Nietzscheaner oder Anhänger Schopenhauers. Und das betrifft nicht nur diejenigen, die sich auf die eine oder andere Weise für Philosophie interessierten. Balmont zum Beispiel würde man kaum eine philosophische Tätigkeit unterstellen, doch auch er teilt mit den Symbolisten Eigenschaften, die man nietzscheanisch nennen könnte. Man kann es auch anders interpretieren: Philosophen und Dichter, Schriftsteller, Künstler und andere Aktivisten gingen damals ähnliche Wege, deren gemeinsamer Ausgangspunkt ein areligiöser Humanismus war. Daher der Kult um den Menschen, die Überschätzung seiner Möglichkeiten, also wieder die Willkür, die in der Literatur auf unterschiedliche Weise ausgedrückt wurde, insbesondere aber durch die eigenmächtige Suche nach Symbolen und die Erfindung eigener Symbolsysteme. Von den russischen Symbolisten schuf allerdings keiner Systeme wie Yeats; ihre Symbole waren unverbunden und zufällig, gleichsam Erfindungen, die dem Gewissen des Einzelnen überlassen blieben. Die vielfältige Praxis der Symbolisten machte sie zu keiner Schule im eigentlichen Sinne, der Kampf konnte sich nur gegen ihre Theorie richten. Und ihre revoltierenden Gegner, die sich Akmeisten nannten, suchten eine neue Theorie zur Untermauerung der eigenen Praxis.
Die Futuristen wiederum hatten immer noch denselben Ausgangspunkt, mit all der Willkür, dem Menschenkult und dem daraus hervorgehenden Voluntarismus. Nicht zufällig ließen die meisten von ihnen sich vom Kult der Stärke und vom Willen zur Macht anstecken. Bei Letzterem, das heißt beim Willen zur Macht, war Chlebnikow eine Ausnahme – dieser Wanderer und Wisperer gab der Verführung unserer Epoche nicht nach und nutzte nicht einmal seine Macht, die Macht des Dichters. Anscheinend ist Chlebnikow genau darin – in freiwilliger Wanderschaft und Entsagung, beseelt von ununterbrochenem „Fabulieren“ – ein zutiefst nationaler, ein Volksdichter. Er kam gleichsam aus den Tiefen des Volkes und hat sich im Grunde nicht von ihm gelöst. Und an ihm zeigt sich in gewisser Weise die besondere Anlage des russischen Volkes – die Vagheit, das wellengleiche Auf und Ab, die Neigung, plötzlich zu einer Bö zu werden. Chlebnikow gleicht einem Fluss, der seine Ufer auswäscht. Wenn man von ihm spricht, greift man unwillkürlich zu Vergleichen, denn sein Wesen lässt sich von einer exakten begrifflichen Erklärung und Analyse nicht fassen.
Theorie und Praxis des Symbolismus brachte die drei vereinigten Akmeisten und in Moskau Chlebnikow, Pasternak und Zwetajewa gegen sich auf. Doch nur die Akmeisten kämpften gegen die Symbolisten und wurden von ihnen nicht anerkannt. Während diese mit Achmatowa nachsichtig verfuhren und über den verlorenen Sohn und aufsässigen Schüler Gumiljow herfielen, schenkten sie Mandelstam gar keine Beachtung. Blok, subtiler als die lupenreinen Symbolisten vom Schlage W. Iwanows, wollte von Mandelstam erst nichts wissen und schlug vor, ihn durch einen Rubanowitsch oder Rafalowitsch zu ersetzen, merkte dann aber plötzlich auf und sah nicht nur den Drecksjuden, sondern, wie er sich ausdrückte, den „Artisten“ in ihm.
Zu Blok hatten zwar weder Mandelstam noch Achmatowa oder Gumiljow engere Beziehungen, doch ich habe gemerkt, dass ihm Respekt entgegengebracht wurde, und zwar echter. O. M. erzählte mir voller Staunen, er habe Blok einmal bei einer denkwürdigen Arbeit angetroffen – er überarbeitete das Gedicht „Die Heldentat, die Tapferkeit, den Ruhm…“, O. M. sagte, dass ein Gedicht, das alle kennten und das in den russischen Literaturkanon eingegangen sei, nicht überarbeitet werden dürfe. Das ist natürlich kein Zitat, ich gebe nur die Bedeutung des Gesagten wieder, Tatsache ist aber, dass er das Gedicht zu der Sorte Text zählte, die bei uns normalerweise Klassik genannt wird. In dieser Episode zeigt sich O. M.s Verhältnis zu Blok, das dem ähnelt, was er in seinem Aufsatz über ihn geäußert hat. A. A. schreibt, O. M. sei Blok gegenüber wahnsinnig ungerecht gewesen, aber ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. In den letzten Jahren hat er Blok kaum noch erwähnt. Vermutlich waren ihm Bloks vorgefertigte Elemente fremd, das, was Lidija Ginsburg „Gewürznelken“ nennt – all die Schwerter, Zepter, Dolche, die noch dazu vergiftet waren, die Nebelschwaden, Zauberkräfte und so fort. Außerdem waren Bloks Antichristentum und seine Vorliebe für kleine Geheimnisse und böse Geister – Ausdruck seines Interesses am vorchristlichen Russland – für O. M. ebenfalls unverträglich. Deshalb mochte er vor allem Bloks Poem „Die Skythen“ nicht, hat das aber meines Erachtens nie öffentlich geäußert.
Drei unterschiedliche Dichter mit unterschiedlicher lyrischer Praxis und zwei unterschiedlichen Manifesten traten gleich am Anfang ihres literarischen Weges gegen die Symbolisten auf und sagten sich von der siegreichen Strömung unwiderruflich los. Was hatte sie verbunden? Ich habe lange nach einer Antwort auf diese Frage gesucht. Weder O. M. noch A. A. konnten sie beantworten. Stattdessen versuchten sie, sich mit dem Hinweis auf die Leere des Symbolismus, die Verteidigung des Sinns und eine neue Einstellung zum Wort herauszureden.
Aber hatten Achmatowa, Mandelstam und Gumiljow denn dieselbe Einstellung zum Wort? Ich glaube, sie verband etwas anderes, etwas Außerliterarisches, das eher mit Weltanschauungen zu tun hatte als mit Könnerschaft, Technik oder dem Kampf literarischer Schulen. Diese drei brachten eine ganz andere Einstellung zu Leben und Werten mit als die Symbolisten und die Futuristen, aus denen später die LEF hervorging. Allerdings hatten auch die drei keine einheitliche, bis ins Detail übereinstimmende Weltanschauung. Sie waren sich aber in so wesentlichen Punkten einig, dass ein unauflösliches Band sie zusammenhielt und einem gemeinsamen Schicksal zuführte.
Berdjajew, der den Symbolisten nahestand, verzichtete bei der Suche nach dem Himmel auf die Erde – das hiesige Leben belastete ihn, entsprach seinen verfeinerten Gefühlen nicht. Die Erben des areligiösen Humanismus entfernten sich, jeder auf seine Art, vom Christentum und gingen zum Schopenhauerschen Buddhismus, zu heidnischen Mysterien, zu unterschiedlichen Formen von Anthroposophie und Theosophie über. Sogar Wladimir Solowjow mit seiner Lehre von der Sophia suchte im Grunde genommen nach einer Vereinigung von Natur- und Geistesreligion. Kennzeichnend für das Ende des 19. und besonders für den Anfang des 20. Jahrhunderts sind die Abkehr vom Christentum und ontologische Spekulationen, die von einem überspannten Glauben an den Menschen ausgehen, an ein Wesen, das höhere Vernunft besitzt und eigenmächtig ins Geheimnis der Geheimnisse vorzudringen vermag.
Doch welches Geheimnis der Geheimnisse kann der Mensch schon offenbaren, wenn er nicht einmal zu sich selbst, zu Mensch, Geschichte und Gesellschaft den Schlüssel finden kann und stattdessen armselige Nachschlüssel aufstöbert, die nur einmal zu gebrauchen sind? Daher die Überraschungen, die uns Mensch und Geschichte präsentieren. Sind wir nicht alle frappiert von dem, was wir in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen haben?
Die Weltanschauung der Symbolisten führte unweigerlich zu Willkür und Verantwortungslosigkeit. Während der Mensch nach W. Iwanows Überzeugung in die Welt kommt, um die Sonne zu sehen oder „eine Kultur zu schaffen“, kann er doch tatsächlich nur Empfehlungen geben, wie man sich am besten mit diesen Dingen beschäftigt, und Gesetze formulieren, die von den eigenen Zielen und Wünschen abgeleitet sind. Folgt man W. Iwanows Theorie, ist der Symbolismus eine Blütezeit der Willkür, ist Raserei der Verantwortungslosen, Kult der Freiheit und die grenzenlose Fortentwicklung des Individualismus.
Den Symbolisten war vermutlich nicht ganz klar, warum es ihnen relativ leicht fiel, mit dem Lager der Sieger einig zu werden. Die Grundsätze ihrer Lehre stimmten in vielem mit den Theorien derer überein, die den Machtwillen zur Entfaltung brachten. Die direkten Nachfahren der Symbolisten – die Futuristen – schlossen sich einfach mit den Siegern zusammen. Ich habe auch bemerkt, dass Leute von rein bürgerlicher Gesinnung leichter Berührungspunkte mit unseren Herren fanden als diejenigen, die die Wertvorstellungen des Christentums nicht ablehnten. Ein Beispiel dafür sind Brik und unsere Technokraten.
Für all das mussten die sogenannten Akmeisten die Zeche bezahlen, doch die Erklärung dafür findet man nicht in Gorodezkis und Gumiljows Manifesten, sondern in Mandelstams abgelehntem Manifest, dessen Positionen Achmatowa teilte.
O. M. stellte fest, die Symbolisten seien „schlechte Stubenhocker“, das heißt, sie unterschätzten das irdische Leben, machten sich ihre Pflicht auf dieser Erde nicht bewusst. Für die Akmeisten ist unser Leben nicht nur eine Gegebenheit, sondern auch ein Gegebenes, und daher rührt der Respekt, sogar die Pietät, wie O. M. sagt, den drei Dimensionen und der Zeit gegenüber, innerhalb derer jeder seine Pflicht erfüllen muss. O. M. erklärt hier auch seinen Hang zur Architektur als der materiellsten Kunstform. Wenn uns das Leben gegeben ist, um unsere Pflicht zu erfüllen, müssen wir auf die Willkür früherer Generationen verzichten und das Gegebene widerspruchslos hinnehmen. Bei einer solchen Weltsicht fühlt der Künstler sich nicht mehr als Auserwählter, dem alles erlaubt ist – er ist einer aus der Menge, einer von allen, nicht besser und nicht schlechter, und alle historisch errungenen Werte sind für ihn unerlässlich. Insbesondere bezieht sich das auf die prinzipielle Ablehnung eines Systems neu erfundener Symbole. Die Symbolik ist schon vorgegeben, in der Sprache, die die Gesellschaft teilt, im Bewusstsein, das die Menschen teilen.
Was im Laufe der Zeit errungen wurde, ist ein allgemeiner Schatz, aus dem die Künstler schöpfen. Neuheiten ohne historische Wurzeln sind ebenso Willkür wie eigenmächtig erdachte Symbole. Nachdem sie auf „Kristallpaläste“ und das Schaffen einer neuen Kultur verzichtet hatten, fanden alle drei Akmeisten ihren Platz in der christlichen Welt, in der christlichen Kultur, in der historischen Tradition.
Auch Pasternak gelangte dorthin. In unserem Leben war das der schwierigste und gefährlichste Weg. Das Schicksal der Menschen ergab sich direkt aus ihrer Weltanschauung. Jeder von ihnen vollbrachte seinen Kräften gemäß die Großtat seines Lebens. Zwei wurden zu Opfern der Gewalt, während Achmatowas Großtat darin bestand, dass sie nicht mitten auf dem Weg stürzte, sondern eine großartige weibliche Eigenschaft bewies – Standhaftigkeit. Standzuhalten und nicht umzufallen war in dem Leben, an das ich auf ihr Drängen hin zurückdenke, eine große Tat. Es wäre viel leichter gewesen, sofort unwiderruflich zugrunde zu gehen, doch das wäre Willkür gewesen, und darauf hatten wir kein Recht.

Damals sprachen wir viel über das Sterben. 1938, als O. M. und Ljowa schon verhaftet waren, stiegen wir einmal in einem hohen Haus in der Nikolajewskaja-Straße die Treppe hinauf. Jetzt heißt sie, glaube ich, Marat-Straße. Dort starb in dem winzigen dunklen Kämmerchen einer großen Wohnung meine Schwester Anja an Krebs. „Wie lange man stirbt“, sagte Anna Andrejewna. Sie beneidete Anja, die sich bereits dem anderen Ufer näherte. Wir dagegen hatten noch einen ungeheuren Weg vor uns. Hätten wir seine Länge damals gekannt, wären wir womöglich abgebogen – in den Fluss, den Sumpf, den Tod. Gut, dass der Mensch seine Zukunft nicht kennt – dieses Wissen würde niemandem bekommen.
Einige Tage später begleitete A. A. mich nach Anjas Beerdigung zum Bahnhof. Wieder die überfüllten Säle, die verwilderten Menschen auf Säcken, der aufgestörte menschliche Ameisenhaufen – die Folgen der Entkulakisierung. „Das wird jetzt immer so sein“, sagte A. A. Sie konnte einen Teil des uns bevorstehenden Weges erkennen, ich zog es vor, im gegenwärtigen Moment zu leben – die Sendung für O. M., die Beerdigung, das zurückgekommene Päckchen, der Kampf gegen den Hunger, die Evakuierung, wieder der Hunger – viele bittere Leiden und Sorgen, und immer die Plackerei mit den Gedichten, erst bringst du sie zum einen in die Wohnung, dann zu einem anderen, und die ganze Zeit lernst du sie auswendig: so viele Zeilen in diesem, so viele in jenem, hier hab ich mich offenbar geirrt, das muss ich überprüfen, und dann die Meldebescheinigung – meldet mich die Miliz hier an oder nicht, und wohin soll ich dann mit meinem dichterischen Reichtum ziehen? Hauptsache, ich lerne alles auswendig, denn wenn man mich ins Lager schafft, was habe ich dann noch, wenn ich die Gedichte nicht mehr weiß?
Wenn man zurückblickt, schwirrt einem der Kopf – wie konnten wir das ertragen? Aber wir ertrugen, erlitten, erduldeten es… „Wer hätte gedacht, dass wir das noch erleben?“, wiederholte A. A. unermüdlich.
Jetzt ist sie nicht mehr, und ich frage mich: Was muss ich noch erleben? Liegt nicht alles Gute, das uns zugemessen war, schon hinter uns? Wer weiß… Meine Verpflichtungen habe ich erfüllt, alles Übrige ist mir egal. Nein, nicht alles. Für mich mag kommen, was will, aber ich will nicht länger zusehen, wie andere Menschen gequält werden, ich will nicht länger von Gefängnissen, Lagern, Vernehmungen, Prozessen und ähnlichem Elend hören. Ich habe Alexander Herzens Worte noch gut im Gedächtnis, dass in Russland schon immer als Verbrechen gegolten hat, was nirgendwo sonst auf der Welt als Verbrechen gilt.
Wir leben jetzt in einer neuen Welt, wo die Menschen aufgewacht sind (wir waren „frühwach“ oder vielleicht gar nicht eingeschlafen) und nun anfangen zu denken und unsere Gedanken, unsere Leiden, unsere Freuden zu erleben oder zu beherzigen. Doch vor allem unsere Werte. A. A. sagte einmal:

Eure Kinder werden euch meinetwegen verfluchen…32

Sie irrte sich nur in einem. Zu uns kamen nicht die Kinder unserer Zeitgenossen, sondern die Enkel. Wir sprachen darüber, dass unter normalen Umständen, also unter solchen, die wir uns Anfang des 20. Jahrhunderts noch vorstellen konnten, aber schon seit langem nicht mehr, unser Alter ganz anders ausgesehen hätte. Um uns herum wären literarische Leidenschaften entflammt, junge Leute hätten sich zu Zirkeln, Gesellschaften, Zünften zusammengeschlossen, hätten Manifeste herausgegeben und die lange kanonisierten und allseits anerkannten Dichter gar nicht beachtet: Wer braucht die schon, wenn das Heute so kostbar ist? Und sie, gekränkt und erfolgreich, hätte die neuen Schulen missbilligt und nicht gewusst, wohin mit sich.
Das Leben ist anders verlaufen. Nicht nur wir haben die befreiende Kraft der Dichtung empfunden, sondern auch unsere Enkel. Tausende von Gästen auf ihrer Beerdigung – das ist kein Zufall. Mandelstams Gedichte, die in Abschriften im ganzen Land verbreitet sind und das Bewusstsein einer neuen, gerade im Entstehen begriffenen kulturellen Schicht formen, der neuen Intelligenzija der Enkel – das ist auch kein Zufall. Offenbar haben wir nicht vergeblich gelebt. Und es ist unser Glück, dass wir nach diesem langen Leben in die Zukunft blicken durften. Die Prozesse bei uns im Land sind unumkehrbar. Die Epoche des Übermenschen ist abgeschlossen. Die Epoche des Willens zur Macht ist vorbei, hat sich erschöpft. Irgendein qualitativer Umschwung des Bewusstseins hat sich vollzogen, und wir haben es gesehen. Das bedeutet nicht, dass das Neue einfach die alten Gewohnheiten ablöst – die Enkel haben noch viel zu bezahlen für das Recht auf Gedankenfreiheit, für all das, was dem Leben von neuem abgerungen werden muss. Doch das Wichtigste ist vollbracht, und wir haben nicht umsonst gelebt.
Was fällt mir noch zu meiner Freundin ein? Wie sie mich plötzlich konzentriert ansah und dann plötzlich etwas sagte, und ich riss vor Verwunderung die Augen auf: Sie hatte meinen Gedanken erraten und antwortete darauf. Oder wie ich sagte: „Anousch, wir kriegen Besuch“, und sie fragte:

Ach, da muss ich wohl gut aussehen?

Und sah sofort – auf Kommando – großartig aus. Oder wie sie in irgendwelchen Memoiren aus dem Ausland (von einer Frau, natürlich) las, sie sei nicht schön gewesen (offenbar schrieb eine Einzellerin) und Gumiljow habe sie nicht geliebt. „Nadja, erklären Sie mir, warum sollte ich schön sein? War Walter Scott schön? Oder Dostojewski? Wer würde auf die Idee kommen, so etwas zu fragen?“
Ich dachte schon, es liefe glimpflich ab und sie würde diese Memoiren vergessen, aber weit gefehlt. Von dem Tag an begann das Sammeln von Fotografien. Alle Bekannten brachten ihr Fotos:

Wissen Sie noch, Anna Andrejewna, dieses hier hatten wir Ihnen abgebettelt… Brauchen Sie es?

Anna Andrejewna sammelte die Fotos, natürlich die, auf denen sie schön war, und klebte sie in ein Album. Es kamen so viele zusammen, dass sie nicht zu zählen waren: Berge, ganze Berge… Gedichte aufzuschreiben schaffte sie nicht mehr – die Zeit fehlte. Eine Menge Gedichte blieb ungeschrieben. Und dann weiß ich noch, wie sie fürchtete, dass nach ihrem Tod Streitigkeiten um ihr Erbe ausbrechen könnten. Ihr war der Gedanke widerlich, die armen Hefte würden zum Gegenstand von Geschacher werden. Sie zeigte mir, dass sie in Ordnern und Heften notiert hatte, wohin, in welches Archiv jedes Stück gegeben werden sollte. Ich hatte Angst vor Archiven. Es kam ja vor, dass man dort systematisch Manuskripte vernichtete: Die Papiere der Autoren A, B und C sind zu vernichten… Und es waren Bücher verbrannt worden. Doch Anna Andrejewna war fest entschlossen, ihre Sachen in Archive zu geben: Ljowa lebte allein, in einer Kommunalwohnung – das ging nicht. Alles musste ins Archiv. Ich widersprach nicht.
Nach ihrem Tod passierte etwas Scheußliches. Ira rief aus Leningrad an und verlangte, ihr schleunigst den Totenschein zu schicken. Sie hatte beschlossen, zum Notar zu laufen und als erste Anspruch auf Achmatowas Erbe zu erheben; ihr schien offenbar, Erbschaften eigne man sich an wie die Claims am Klondike in den Erzählungen von Jack London: Wer zuerst kommt, kriegt sie. Man hielt sie auf und erklärte ihr, der Erbe sei Ljowa, der Sohn… Vielleicht wusste sie auch, dass beim Notar noch bis zuletzt ein Testament von Achmatowa zu ihren Gunsten gelegen hatte. Es war so gewesen, dass A. A. nach Ljowas zweiter Verhaftung tatsächlich ein solches Testament gemacht hatte – wenn Ljowa zurückkommt, meinte sie, gibt Irotschka ihm das Erbe, ein bisschen wird ja da sein, dann ist er nicht ganz ohne Mittel…
Ich hatte da meine Zweifel: Ira schmeißt ihn raus und gibt ihm gar nichts… A. A. war bekümmert: Alle denken so schlecht von Ira! Ljowa kam zu Lebzeiten seiner Mutter zurück, A. A. zerriss das Testament. Alles beruhigte sich. Doch zum Glück erfuhr ich, dass das entscheidende Dokument beim Notar lag, und wenn das nicht vernichtet wurde, bekam Ira alles… A. A. scheute sich lange, zum Notar zu gehen – wenn Ira das nun erfährt und gekränkt ist, dass ich ihr nicht vertraue… Ira hielt sie in Furcht und Schrecken: Wenn sie von der alten Frau nicht genug Geld bekam, ging sie wohl auch einmal aus dem Haus und vergaß, ihr etwas zu essen zu bringen. Im Winter schickte sie sie nach Moskau, um sich nicht mit ihr abzuplagen. Und Winter um Winter zog A. A. von einer Freundin zur anderen – bei jeder blieb sie zwei bis drei Wochen, um ihr nicht zur Last zu fallen: Ljubotschka, Nika, Nina Ardowa, Marussja, Schengels Witwe, irgendein Sapadow und einmal sogar Aliger… Vor dem Frühling wagte sie nicht, zu Ira zurückzukehren. In die Wohnung, die sie persönlich vom Schriftstellerverband bekommen hatte…
Im Alter hatte sie überhaupt kein Heim, nur wenn sie im Sommer in „der Bude“, der hässlichen Datscha vom Literaturfonds war, kam die Illusion eines Zuhauses auf, und dann gab es zum Glück noch die Leningrader Dichterjünglinge – Brodsky, Naiman und einige andere ließen sie nicht im Stich, besuchten sie auf der Datscha, waren mit ihr befreundet und taten alles für sie. Sie hatte ja praktisch keinen Sohn mehr – Ira duldete ihn nicht. Ich werde nie vergessen, wie Emma [Gerstein] uns aus Moskau anrief – ich war bei A. A. zu Besuch- und sagte, Ljowa komme heim. Das war zur Zeit der massenhaften Rehabilitationen. Vorher war es nicht geglückt, Ljowa rauszubekommen. Nach dem 20. Parteitag versprach Surkow zu helfen, machte aber gleich darauf einen Rückzieher. Und als sie nun die Freudennachricht erhalten hatte, stürzte A. A. zu Ira: Er kommt in den nächsten Tagen heim! Ich stand noch am Telefon, als Iras Geschrei und Geschluchze zu mir drang. Was war los? Sie heulte, weil Ljowa zurückkam. „Ist sie verrückt geworden?“, fragte ich Anna Andrejewna, und A. A. erklärte verstört: „Ira weint, weil ihr Vater nicht mehr wiederkommt…“ „Soll ich auch anfangen zu weinen?“, fragte ich. „Ossja kommt ja auch nicht wieder.“ Wäre es nach Ira gegangen, hätte Ljowa bis ans Ende seiner Tage im Lager gesessen. Und zwar aus einem ganz bestimmten Grund, nämlich der Einkünfte wegen, die sie von der alten Frau bekam.
Wenn ich Ira ansah, dachte ich immer daran, wie sich Kinder oft dagegen sträuben, die Kultur ihrer Väter, ihre Gewohnheiten, ihre Vorstellungen von Gut und Böse zu übernehmen. Punin war ein Schreihals, ein Grobian, aber er hätte es nie über sich gebracht, Achmatowas aus dem Lager heimgekehrtem Sohn die Tür zu weisen. Iras Mutter, Anna Jewgenjewna, hatte allen Grund, A. A. nicht zu mögen, doch sie übertrug das nicht auf Ljowa und hatte ein gutes Verhältnis zu ihm. Die verwilderten Kinder sowjetischer Väter zeigten sich von ihrer schlechtesten Seite. Alle Papiere von A. A. fielen Ira in die Hände – sie nutzte es aus, dass sie mit ihr in einer Wohnung lebte, und jetzt hält sie sich für den Verlust des Erbes schadlos, indem sie mit ihnen schachert. Und die erste Frage, die Ira mir stellte, als wir zufällig einmal zu zweit waren – A. A.s Leichnam lag noch in der Kirche, und die Totenmesse wurde gelesen –, bezog sich auf das Erbe: Was ich vom Testament wüsste, ob es ein Testament zu ihren Gunsten gebe, ob sie das Erbe bekomme, ob es etwa Ljowa zufalle, wieso das denn?!
Warum hatte Anna Andrejewna sich nicht schon längst von Ira distanziert und sie rausgeworfen, warum gab sie sich mit ihr ab und ertrug ihre Unverschämtheiten? Ich weiß es nicht. Sie beklagte sich oft über Ira, aber sie blieb bei ihr. Vielleicht hatte sie einfach Angst davor, allein zu sein, oder sie dachte daran, dass sie Iras Vater in Taschkent versprochen hatte, sie und ihre Tochter Anja nicht im Stich zu lassen. „Ira hat zwei Mütter“, sagte Punin damals. Vielleicht hat dieses Versprechen A. A.s Schicksal besiegelt… Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie bis zum Ende ihres Lebens eine heimatlose, obdachlose, einsame Streunerin war. Offenbar ist das Dichterschicksal. Und sie hörte nicht auf, sich über ihr Schicksal zu wundern: Alle haben irgendetwas – Mann, Kinder, Arbeit, wenigstens irgendetwas oder irgendjemanden… Warum habe ich nichts?

Aber wir haben ausgeharrt und alles getan, was wir konnten. Auch dafür danke, dass Kraft und Standhaftigkeit gereicht haben. Wir merken uns auch weiterhin die nicht notierten Gedichte, wir stellen sie zusammen, wir vergessen sie nicht.

Nadeschda Mandelstam, aus Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa, Suhrkamp Verlag, 2011
Übersetzung: Christiane Körner

 

 

WAHRLICH
Für Anne Achmatowa

Wem es ein Wort nie verschlagen hat,
und ich sage es euch,
wer bloß sich zu helfen weiß
und mit den Worten –

dem ist nicht zu helfen.
Über den kurzen Weg nicht
und über den langen.

Einen einzigen Satz haltbar zu machen,
auszuhalten in dem Bimbam von Worten.

Es schreibt diesen Satz keiner,
der nicht unterschreibt.

Ingeborg Bachmann

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

 

Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.

 

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

Zum 2. Todestag der Autorin:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

Fakten und Vermutungen zur Autorin + dekoderKalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Anna Achmatowa Begräbnis.

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