Anna Altschuk: schwebe zu stand

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Anna Altschuk: schwebe zu stand

Altschuk-schwebe zu stand

AUgenSTERN
MUschelmuND
bLEIB auf grund
wellenwasserhahn
RUMPFwälder
dickicht der ereigNISSE
der geheimNISSE
wie eine muschel
verGRABen die TITANik

 

 

 

„Die Wurzeln gekappt…“

− Die Poesie im Leben von Anna Altschuk. −

1
Am 25. November 2007 kamen meine Frau Anna Altschuk und ich in Berlin an. Zum ersten Mal waren wir nicht geflogen, sondern mit dem Zug gefahren; an Büchern und anderem Gepäck hatten wir wesentlich mehr dabei als sonst. Wir hatten schon häufig längere Zeit in Frankreich, den USA, in England und Deutschland verbracht, aber diesmal war es keine gewöhnliche Ankunft – wir hatten Moskau wenn nicht für immer, so doch für eine lange, vielleicht sogar sehr lange Zeit verlassen müssen.
Noch bis Ende der neunziger Jahre hatte sich Anna Altschuk mit Kunstprojekten beschäftigt, Rezensionen und Artikel geschrieben, sie hatte literarische Abende veranstaltet, Künstler und Autoren miteinander ins Gespräch gebracht und in einem großen Freundes- und Bekanntenkreis dafür gesorgt, daß das Gespräch über Poesie und bildende Künste nicht abriß. Doch all das war Vergangenheit. Seit man sie im Verfahren um die Ausstellung Achtung, Religion! vor Gericht gestellt hatte, waren ihr in Rußland alle Türen verschlossen. Das gesellschaftliche Klima, das sich seit dem Machtantritt Wladimir Putins 1999 und dem Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs entwickelt hatte, erwies sich als extrem ungünstig. Der Kulturjournalismus, der Feminismus und die aktuelle Kunst hatten zu Beginn des neuen Jahrtausends ihren kritischen Schwung verloren, teilweise hatten sie sich kommerzialisiert, teilweise einfach aufgelöst.
Was Anna Altschuk noch blieb, war die Poesie, eine sehr persönliche und viel weniger von den äußeren Umständen abhängige Kunst. Die Lyrik war der einzige Bereich, in dem man sein Wort noch sagen konnte. In der Poesie, das war Annas Trost, herrschten, anders als in der zeitgenössischen bildenden Kunst, weder das große Geld noch staatlicher Druck; hier gab es noch Menschen, die sich der künstlerischen Wahrhaftigkeit verschrieben hatten. Während ihres Strafprozesses träumte sie, wie sie mit bildenden Künstlern am Ende eines riesigen Tisches sitzt, unter ihnen nicht wenige Freunde, Menschen, die sie bei der ersten Andeutung verstehen. „Aber am anderen Ende des Tisches tauchen Lyriker auf. Und obwohl ich mit diesen nicht so gut bekannt bin wie mit den Künstlern, ist mir klar, daß ich bei ihnen sein sollte, daß ich jetzt zu ihnen gehöre.“ (Tagebuch von Anna Altschuk, Eintrag vom 5. April 2004)
2006 wollte Anna gemeinsam mit einer Berliner Freundin einen Film darüber drehen, wie Menschen Gedichte verstehen. Sie wollte zuerst Kinder befragen, mit gewöhnlichen Menschen und mit Amateur-Dichtern sprechen, die Gelegenheitslyrik schreiben, und dann mit Philologen; zuletzt sollten professionelle Lyriker ihre Gedichte vortragen. In dem Film wollte sie „delikat, unaufdringlich und mit Humor“ zeigen, was Lyrik ist, die Spreu vom Weizen trennen.
Ein Jahr später kam sie auf dieses Projekt nicht mehr zurück – ihre Stimmung hatte sich geändert.
Die Poesie blieb ihr, aber Anna empfand sich immer mehr als „Dichter in dürftiger Zeit“. Voller Wehmut dachte sie an das literarische Leben in Moskau zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Verlage nahmen Manuskripte an, poetische Texte wurden gelesen und besprochen. „wieauchimmereswar, nur nicht wie heute“, so ihr Ausruf im Zyklus „h(n)immel(r)WERDs“, und sie erinnerte sich nostalgisch an den Idealismus der Studentenbewegung von 1968:

IDEA LISTY
abgefallen
36 aufgeschichtete Jahre

Schmerzlich spürte sie das Inaktuelle ihrer Lyrik zu einer Zeit, in der Nationalismus und ein primitives, überdrehtes Konsumverhalten triumphierten.
Der Entschluß, der Heimat den Rücken zu kehren, fiel ihr sehr schwer. Während ihrer Auslandsaufenthalte hatte sich Anna immer nach Moskau gesehnt, nach den Freunden, der Familie, ihrem Milieu, ihrer Muttersprache. „Das Russische ist mein größter Reichtum, mein einziger Luxus“, schrieb sie im Tagebuch, „aber es ist auch mein goldener Käfig. In anderen Sprachen kann ich nicht Hundertstel dessen ausdrücken, was mir auf russisch möglich ist.“ (13. Dezember 2005)
Die Erfahrung, als Künstlerin monatelang vor Gericht zu stehen, bedeutete einen tiefen Einschnitt in ihr Leben. Sie hatte sich im Januar 2003 an der Ausstellung Achtung, Religion! im Moskauer Sacharow-Zentrum beteiligt, die kurz nach Eröffnung verwüstet wurde. Doch nicht die Vandalen – sechs Mitglieder einer russisch-orthodoxen Kirchengemeinde – sahen sich öffentlicher Ächtung und juristischer Verfolgung ausgesetzt, sondern die Ausstellungsmacher und Künstler. Sie wurden 2004 des „Schürens nationalen und religiösen Zwistes“ angeklagt und mit Gefängnisstrafen bedroht. Als einzige von mehr als vierzig Teilnehmern der Ausstellung wurde Anna Altschuk vor Gericht gestellt. Seit dieser Zeit tauchte in ihrem Tagebuch zunehmend häufiger ein Gedanke auf, der früher undenkbar gewesen wäre: In diesem Land kann man nicht leben. Sobald der Prozeß zu Ende ist, müssen wir es verlassen. Und obwohl das Gericht sie nach einem fünfzehnmonatigen Prozeß freisprach, änderte sich an der Entscheidung, Moskau zu verlassen, nichts.
In Berlin angekommen, war Anna bemüht, sich und andere glauben zu machen, daß es ihr hier gut gehe, daß wir uns in der „Zone der Meistbegünstigung“ bewegten. In Berlin hatte sie Freunde, sie lernte die Sprache, richtete sich am neuen Ort ein.
All das hätte man glauben können, doch die zu jener Zeit geschriebenen Gedichte sagen etwas anderes. Die Lyrik ist ein Spiegel des Unbewußten, ein sehr viel feineres und zuverlässigeres Barometer, und der Zeiger dieses Barometers zeigte auf Sturm. In den letzten Gedichten dominiert ein einziges Thema: Weggehen, Tod und das Beenden eines Lebens, das als „blankes ufer“, als „Unsinn“ imaginiert wird. Die Autorin verabschiedet sich von der kalten Welt und verlangt – außerhalb ihrer – nach einer anderen, besseren Welt. Am 7. Februar 2008 schließt sie „unbeschwertheit leb wohl“ ab, ihr letztes Gedicht, in dem alle Fäden zusammen- und auf den Kulminationspunkt zulaufen. Wie auch viele frühe Gedichte steht es in der ersten Person Singular. Verlassen, von allen verraten („nicht zur andacht / zum ausverkauf / bringt man mich“), einsam, „E LaEND“ (d.h. unglücklich und zugleich vor der Schwelle des „landes eden“ befindlich) steht die Dichterin am „rAND“ (am äußersten Punkt dieser Welt und zugleich auf der Schwelle einer anderen, des Paradieses), bereit, den „rubikon“ zu überschreiten, mit dem Urgrund der Poesie (der „PAN flöte syrinx“) zu verschmelzen, der schon nicht mehr hier liegt, in der Welt, die sie verraten hat, sondern jenseits des Lebens, hinter dem „rAND“. Ihre Heimat liegt nun dort, nur „sie verrät nicht / erfriert nicht den atem“. Unter den Autoren, die sie beeinflußt haben – Zwetajewa, Mandelstam, Chlebnikow, García Lorca −, ist auch die japanische Dichterin der Heian-Zeit Ono no Komachi. Anna führte immer wieder ein und denselben Fünfzeiler an:

Gekappt die Wurzeln
des treibenden Trauerkrauts.
So bin auch ich ohne Obdach.
Leichten Herzens werde ich schwimmen mit dem Strom,
sobald ich höre: „Schwimm“

Annas letztes Gedicht ist gewissermaßen ein Palimpsest, es reproduziert exakt alle Themen des Fünfzeilers von Ono no Komachi.
Am 21. März 2008 ging Anna Altschuk in Charlottenburg aus dem Haus und kam nicht zurück. Drei Wochen suchte man sie vergeblich. Am 10. April wurde ihr Körper im Zentrum Berlins, bei der Mühlendammschleuse, gefunden.

2
Als wir uns kennenlernten, war Anna Altschuk 18 Jahre alt.
Gedichte hatte sie schon als Schülerin geschrieben. Als Dichterin aber fühlte sie sich erst später, seit Herbst 1976. Der früheste und darum unauslöschliche Einfluß auf ihre Gedichte ging von Marina Zwetajewa aus, von einer Lyrik, der es um den Ausdruck des unverstellten – wie Puristen damals fanden, provozierend unverstellten – weiblichen Gefühls mittels eines virtuos gereimten, rhythmisch raffinierten Verses geht.
Ihr Lieblingsdichter blieb jedoch Ossip Mandelstam. Ihm ist eines der frühesten Gedichte (1977–1979) im vorliegenden Band gewidmet: „Für Ossip Mandelstam. Der Lüfte Orgel unsichtbar“. Verdeckte Zitate aus Mandelstams „Schwalbe“ („Das Wort vergaß ich“, 1920) bilden das Gerüst des Gedichts „im fenster – / blumen und vögel“; Epigraphe von Mandelstam geben die Themen ihrer letzten Gedichte vor: „mach (dich) los…“ (2007) und „berliner bahnhof“ (2006).
Wir kennen das tragische Schicksal Zwetajewas und Mandelstams: Die Dichterin brachte sich, zu Tode gehetzt, mit 48 Jahren um; Mandelstam wurde zweimal mit der Strafe der Verbannung belegt und verhungerte mit 47 Jahren in einem Durchgangslager bei Wladiwostok.
Anna begann mit gereimten Gedichten (sie bilden ihren ersten Gedichtband Namen, 1977–1981), die man in der russischen Tradition mit den Namen der Klassiker verbindet; aber schon bald wandte sie sich dem vers libre zu, der zeitgemäßeren poetischen Form. In rhythmisch freiem, ungereimten Vers ist der größere Teil der Gedichte geschrieben, die in einen nächsten Band mit dem Titel Syrinx (1981-1984) eingingen.
Damals gab es für Lyriker, die nicht Mitglied im Schriftstellerverband waren, zwei Möglichkeiten, über fremde Gedichte zu sprechen und die eigenen zu lesen: die Lyrikzirkel (damals nannten sie sich Literaturvereinigungen) an der Moskauer Staatsuniversität und bei der Zeitschrift Junost (Jugend) oder private Wohnungen, in denen man literarische Abende bei Tee und belegten Broten veranstaltete. Anna las ihre Gedichte sowohl in den Vereinigungen als auch in Wohnungen. In einer dieser Wohnungen hörte sie zum ersten Mal Genrich Sapgir, und sie lernte den 19jährigen Gleb Zwel kennen. Beide sollten ihre eigene Arbeit beeinflussen.

3
Etwa ab 1984 ist Anna Altschuk mit der bisherigen Metrik ihres Verses – dem strengen Rhythmus, der drängenden Intonation und dem energischen Schluß nicht mehr glücklich. „Sie hängt mir zum Hals heraus“, bekennt sie im Tagebuch (27. Oktober 1984). Sie schreibt jetzt fragmentarischer und in formaler Hinsicht freier, inspiriert von Vorbildern der japanischen Poesie, die auf Russisch in guten Übersetzungen von Viktor Sanowitsch vorlagen. „Meine Verse neigen immer mehr der japanischen Dichtung zu, auch wenn sie wegen ihrer rhythmischen Freiheit niemals damit verschmelzen werden.“ (Tagebuch, 29. Oktober 1984) In zwei Jahren glückten Anna Altschuk nur zwölf kleine Gedichte, mit denen sie zufrieden war und die das Bändchen Zwölf rhythmische Pausen (1984–1985) bilden. Diese Texte sind stärker meditativ, „weniger autoritär im Rhythmus“, wie die Autorin selbst befindet: Der letzte Satz bleibt in jedem Gedicht offen, bricht gewissermaßen ins Unendliche ab.
1987 gründet Anna Altschuk gemeinsam mit Gleb Zwel den Klub der Geschichte der zeitgenössischen Poesie und veranstaltet Ausstellungen, Lesungen und Vorträge. Parallel dazu gibt sie die Samisdat-Zeitschrift Paradigma heraus, die der zeitgenössischen Literatur, besonders der Lyrik gewidmet ist. In dieselbe Zeit fallen ihre ersten öffentlichen Lyrikabende, sowohl solo als auch gemeinsam mit anderen Lyrikern.
1986 lernt Anna Altschuk Autoren und bildende Künstler aus dem Kreis des Moskauer Konzeptualismus kennen und freundet sich mit ihnen an: mit Andrej Monastyrskij, Pawel Pepperstein, Wladimir Sorokin, Dmitrij Prigow und anderen. Es war eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Aus der literarisch und künstlerisch verheerenden sowjetischen Erfahrung hatten die Konzeptualisten eine wichtige Lehre gezogen: keinerlei „unverstelltes Gefühl“, keinerlei Pathos, keinerlei Überschwang. Ausdruck war nur zulässig als Parodie oder in ironischer Form, unter unbedingter Wahrung der Distanz. Obligatorisch war in den Arbeiten der Künstler dieser Schule die Reflexion über die soziale Funktion der Sprache, eine originelle Variante der Dekonstruktion der totalitären Ideologie.
Anna hat von den Konzeptualisten viel gelernt. Im Herbst 1988, einer außerordentlich produktiven Phase, entstanden konzeptuelle, experimentelle Gedichtzyklen – die „Einzeller“, „Weiß“ und „WORTSTÜCK“. Einer der führenden Lyriker der älteren Generation der Konzeptualisten, Wsewolod Nekrassow, nannte die „Einzeller“ „Anna Altschuks vielleicht glücklichsten Wurf“. Die langjährige Freundschaft mit den Konzeptualisten und deren Einfluß auf die eigenen Arbeiten bedeutete nicht, daß Anna alle Postulate dieser Schule übernommen hätte. Sie blieb in mehrerer Hinsicht eine Dichterin im klassischen Sinne des Wortes. Ebenfalls 1988 schloß sie den Band all ein (1986–1988) ab, der die Ästhetik der Zwölf rhythmischen Pausen in eine Richtung weiterentwickelte, die frei war von unmittelbaren Assoziationen zur japanischen Lyrik.
all ein nimmt charakteristische Eigenheiten der späteren Gedichte vorweg. Ihr stimmlicher Vortrag ist nur unter Verlust von wichtigen Bezügen innerhalb eines Verses möglich, doch handelt es sich, anders als bei den „Einzellern“ und „WORTSTÜCK“, nicht um visuelle Poesie. Die Sprache verharrt hier in einem präsernantischen, „vorgrammatischen“ Zustand: Teile von Wörtern überschneiden sich, gehen ineinander über, Neologismen werden zur Regel, Wörter in ihrer vertrauten, ihrer „Wörterbuch“-Bedeutung dagegen zur Ausnahme. In diesem poetischen System ist die Sprache gewissermaßen noch im Werden, in einem lavaähnlichen Zustand. Der Sinn dieser Verse läßt sich durch den stimmlichen Vortrag allein nicht ausschöpfen; sie verlangen dem Lesenden phonetisch Unmögliches ab – einen Vortrag mit mehreren Stimmen zugleich. Die optimale Art sie zu lesen ist der „stumme“ Vortrag von mehreren, simultanen inneren Stimmen. In all ein werden gezielter und wirkungsvoller als früher runde Klammern eingesetzt, die ein Wort vom anderen trennen und es wiederum mit anderen zusammenschweißen, ebenso Großbuchstaben, die zusätzliche Lesart. En eröffnen, sowie miteinander verwachsene und zertrennte Wörter; in diesem Band gibt es praktisch keine Satzzeichen, die Anfang, Ende und Mitte des Verses markieren. Gelenkt wird die so gewonnene poetische Lava von einer eigenwilligen, komplexen Rhythmusmelodie, die in jedem der 19 Teile des Zyklus einen anderen „Zug“ hat.

4
Nach den vielfältigen Experimenten des Jahres 1988 tritt in Anna Altschuks poetischem Werk eine Pause ein, die ganze sieben Jahre dauert – von 1989 bis 1996. Anna beschäftigt sich mit zeitgenössischer Kunst, Photographie und Journalismus. In den USA, wo wir 1992/93 lebten, begann sie sich für den Feminismus zu interessieren, doch übertrug sie seine Konzepte nicht mechanisch auf Rußland. Dort hatten sich die Frauen in der sowjetischen Zeit fast sämtliche traditionell männlichen Berufe erobert, darunter so angesehene wie Ärztin, Universitätsprofessorin oder Juristin. Oft waren sie es, nicht die Männer, die das Familieneinkommen bestritten. An dieser Situation änderte sich auch nach dem Zerfall der Sowjetunion wenig. Ein neuer russischer Feminismus, fand Anna, hatte von dieser Realität auszugehen, statt ihr fremde Konzepte überzustülpen.
Gedichte schrieb Anna erst wieder 1996, und von da an ohne Unterbrechung bis zu ihrem Tod.
So läßt sich ihre Arbeit mit dem Wort – und bei aller Vielfalt ihrer Interessen betrachtete sich Anna vor allem als Lyrikerin – in zwei gleich lange, sogar in den Endziffern der Jahreszahlen übereinstimmende Perioden von jeweils zwölf Jahren einteilen: 1976–1988 und 1996–2008.
In den letzten zwölf Jahren schrieb sie ELAKOV / ETROW (Gedichte 1996-1999), h(n)immel(r)WERDs (Gedichte 2000–2004) und AUSSER DEM (Gedichte 2005-2008).
Beginnend mit ELAKOV / ETROW entfernt sich Anna Altschuks Lyrik noch stärker vom Narrativen und begibt sich entschlossen auf die präsernantische Ebene. Kritiker schrieben von „Sinnkompression“, von „nächtlichen Sprachlandschaften, wo alles noch halb geschmolzen ist“, von der besonderen „Graphik und Energie der Großbuchstaben“. Zu Recht wurde auch angemerkt, daß diese Gedichte vom Leser nicht passive „Aufnahme“ verlangen, sondern schöpferische Beteiligung, im Idealfall eine eigene, von der des Autors unabhängige Interpretation.
Man hat Anna Altschuks Gedichte dem Postfuturismus zugerechnet. Diese Strömung vertritt ein vergleichsweise kleiner Kreis von Lyrikern (Konstantin Kedrow, Jelena Kazjuba, Sergej Birjukow, Sergej Sigej, Ry Nikonowa, Gleb Zwel), die das von Chlebnikow, Majakowskij und Krutschonych begonnene und in der Stalinzeit gewaltsam abgebrochene Experiment an der poetischen Sprache fortführen.
Anna fühlte sich diesen Dichtern tatsächlich verwandt, sie hielt die eigenen Verse für experimentell und stimmte ihrer Zuordnung zum Postfuturismus zu.
Doch aus der Beschreibung der poetischen Verfahren wird nicht klar, warum sie eben in dieser Weise schrieb. Woher dieses unablässige Bestreben, zum präsernantischen Zustand der Sprache zurückzukehren? Worauf gründet die Überzeugung der Dichterin, daß „die Sprache auf jeder Mikroebene Struktur besitzt, ihre MonuMENTALITÄT beweist“, wie sie im Mai 2003 in Moskau auf einer Konferenz über „Neue Sprachen in der Poesie“ behauptete?
Anna Altschuk schätzte an Dichtern besonders die Fähigkeit, die reale Welt mit der virtuellen zu verschmelzen. Von den älteren Zeitgenossen hatte der bekannte Kinderschriftsteller und Dichter Genrich Sapgir wohl den größten Einfluß auf ihr Verständnis der Poesie. Insbesondere schätzte Anna sein ausgeprägtes Vermögen, „leicht, ohne sichtbare Anstrengung und Pathos über die Grenzen des engen Raums hinauszugehen, den man gewöhnlich ,Realität‘ nennt“. Die Kunst des Dichters liegt in der Fähigkeit, den Leser die Nichtigkeit des Umgebenden spüren zu lassen, dafür überzeugende und kompakte Metaphern zu finden. Anna freute sich, als Sapgir nach ihrem Auftritt in der Tschechow-Bibliothek im November 1998 sagte, daß „meine Lyrik jetzt stärker geerdet und zugleich geistreich sei, daß ich eine russische Lyrikerin geworden sei, weil meine Verse eben auf diese Realität Bezug nehmen, daß ich vorangekommen bin.“ (Tagebuch, 2. November 1998) Den Tod Genrich Sapgirs im Herbst 1999 bezeichnete sie als ersten großen Verlust ihres Lebens.
Anna Altschuks Lyrik unterscheidet sich in Intonation, Rhythmik, Zeichensetzung und dem Verhältnis von Groß- und Kleinbuchstaben von der Sapgirs. Aber etwas Wesentliches, das hinter all dem steht – die Zuversicht, mit Hilfe der Sprache einen Punkt zu erreichen, an dem die pragmatischen Beziehungen verschwinden −, verband sie. Das Aufweichen der Sprache durch das Ineinanderfließenlassen der Worte, das Akzentuieren der Pausen, das Herstellen immer neuer Binnenbezüge auf der Ebene der Silben und selbst der Buchstaben wurde zum „Züchten von Sprachkristallen“, zum Ausbilden einer Welt an der Grenze von Virtuellem und Realem. „Für mich“, unterstrich die Dichterin, „bleiben die traditionellen poetischen Werte aktuell, vor allem der Rhythmus. Man muß ihn jedes Mal neu aufbauen, wie in der Jazz-Improvisation. Bei aller augenscheinlichen Transrationalität sind meine Gedichte mit Sinn erfüllt, allerdings so notiert, daß man sie auf zweierlei, manchmal dreierlei Weise lesen kann. Mit den Mitteln des russischen Alphabets versuche ich den Effekt einer Hieroglyphenschrift zu erzielen.“ Die formalen Verfahren waren, mit anderen Worten, nicht Selbstzweck, sie dienten der Wiedergabe einer Stimmung; trotz des freien Flottierens im Ozean der Rhythmen und des Verlassens der klassischen Metrik behält der poetische Text seine lyrische Intention. Oft zeigt sie sich bei Anna unverhüllter als bei traditionell Dichtenden.
Von Virtuellem zu sprechen, ohne mit dem Realen zu brechen das war lange Zeit Anna Altschuks Devise. Im Verlust der Realität sah sie die Gefahr des Zerfalls der Sprache. „Die Worte“, sagte sie, „binden uns ans Leben.“ In ihren Versen spürt man ein feines Netz, das die beiden genannten Welten verbindet und zugleich trennt; das Netz muß so zart geknüpft wie möglich sein, doch es ist lebensnotwendig, unverzichtbar. Die Poesie läßt es zu, sich im Entschlüpfen gegen das Gesellschaftliche zu behaupten, die Welt der menschlichen Hierarchien hinter sich zu lassen, die vom Wort verwandelte Realität in ihrer übersinnlichen Schönheit zu betrachten.

Oft stelle ich mir mich als großen Vogel vor. Meine Flügel gleiten ruhig vor dem Abendhimmel, und in einem bestimmten Moment kommt es zu einem unmerklichen Hinübergleiten in die virtuelle Welt jenseits des Spiegels, meine Silhouette wird durchsichtig und verschwindet vom Schirm. Im Moment des Verschwindens verlieren die Worte ihre Festigkeit und zerstreuen sich wie eine Staubwolke (Tagebuch, 16. April 1997).

Die Realität verlangt, mit anderen Worten, nicht nach Dekonstruktion, sondern nach Verwandlung und aufhebender Überwindung. Die Sprache vermag deren offene Kehrseite zu zeigen; dann aber, jenseits des Übergangs, endet ihre Zuständigkeit und es beginnt das, wovor sich der Dichter in acht nehmen muß. Man muß die Realität zwingen, bis an die eigenen Grenzen zurückzuweichen, darf diese aber keinesfalls überschreiten; man muß sich das Medium (die Sprache) erhalten, das die Bewegung erst möglich macht. Die Poesie besitzt ein eigenes Ethos, dessen unabdingbarer Teil die Achtung vor dem spezifischen Gewicht der Sprache ist, vor ihrem Recht, uns an das Leben zu binden.

5
Parallel zum Schreiben von Gedichten notierte Anna seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ihre Träume. Die Gedichte verwandelten sich darin in die überraschendsten Gegenstände. Einmal träumte sie von einem Buch, in dem die Gedichte als Pflanzschema für dekorative Pflanzen angeordnet waren. In einem anderen Traum fand sie ein Buch von Chlebnikow in Gestalt eines Kreuzes, das aus kleinen Quadraten bestand, in denen die Gedichte standen; es waren Farbphotographien von Kreidehalden, von graugelben Hügellandschaften.
Ihre Gedichte sprach Anna – nicht nur nach meiner Meinung – unangestrengt, artistisch, deutlich die rhythmische Zeichnung akzentuierend. Sie fand Kontakt zum Saal, und die Reaktion des Publikums war gewöhnlich emotional, manchmal begeistert.
(Dabei war eines der wiederkehrenden Sujets ihrer Träume folgendes: Vor einem Auftritt stellte sich unerwartet heraus, daß sie ihren Gedichtband vergessen hatte oder nicht finden konnte, und als sie ihn gefunden hatte, war das Publikum schon gegangen und der Saal leer.) Paradoxerweise war Anna ungewöhnlich kontaktfreudig und zugleich ein schüchterner, nichtöffentlicher Mensch. Öffentliche Auftritte bereitete sie schriftlich vor, trotzdem haderte sie mit ihrer Befangenheit. Dabei trat sie oft mit Musikern und Videokünstlern auf, ihre Gedichte wurden, parallel zum Vortrag durch die Autorin, von Musik begleitet und auf den Bildschirm projiziert. Einmal las sie ihre Gedichte im Ural, in der Stadt Solikamsk: Der Saal war voller Studenten des Pädagogischen Instituts, und nach jedem Gedicht – sie las vor allem frühe Gedichte – gab es begeisterten Applaus.
In einem der letzten Interviews antwortete Anna auf die Frage, wie sie dazu stehe, daß Lyriker Computeranimation verwenden, um ihren Texten mehr Ausdruck zu verleihen, das sei interessant und in unserer Zeit unausweichlich, doch oft wirke die Poesie „auf dem Hintergrund der durchschlagenden visuellen Effekte“ ziemlich kläglich, wie eine fakultative Zugabe:

Aufs ganze gesehen ist die Poesie absolut selbstgenügsam und braucht keinerlei zusätzliche Effekte. Ich zum Beispiel lese meine Gedichte am liebsten stumm.

In ihrer Zusammenarbeit mit Musikern, mit bildenden Künstlern (ihre Gedichtbände wurden mehrmals von Künstlern illustriert) und Videokünstlern bewahrte sie sich die eigene Stimme, verschmolz sie auch durchaus mit den Ausdrucksmitteln der anderen Künste (Computergraphik und Musik waren niemals einfache Begleitung ihrer Lesungen), ließ aber nicht zu, daß sie sich darin auflöste. Sie fand, daß die poetische Intonation auf ihre Weise musikalisch, die poetische Notation auf ihre Weise originär graphisch ist und diese Werte vom Zusammenwirken mit der Musik und der bildenden Kunst nur profitieren können. Ihre Poesie war nicht für die Bühne gedacht, ihre stimmliche Realisierung gab nur einzelne Möglichkeiten des schriftlichen Textes wieder. Doch die Grundausrichtung ihrer Texte, ihr Rhythmus und der Charakter ihrer Intonation wurde von einem kundigen Publikum – und in Moskau gehen zu Lesungen avantgardistischer Lyrik ausschließlich solche Leute gut über das Ohr wahrgenommen.

6
Von 1991 bis 2003 stellte Anna ihre feministisch, sozialkritisch oder kontemplativ-ästhetisch orientierten Kunstprojekte aus; sie war an insgesamt 70 Gruppenausstellungen beteiligt und konnte ihre Arbeiten in zehn Einzelausstellungen zeigen. Sie schrieb auch über Kunst, besonders über die Kunst von Frauen. Das, so bekannte sie in einem Interview, erlebte sie manchmal „wie eine Spaltung der Persönlichkeit“. „Als Dichterin“, fuhr sie fort, „verließ ich mich auf Spontaneität und automatisches Schreiben, während ich mich als bildende Künstlerin vor allem für den Kontext interessierte, in dem die zeitgenössische Kunst möglich ist. Das erste erforderte vollkommene Vertiefung und Hingabe, das zweite dagegen intensives Kommunizieren und eine kolossale nach außen gerichtete Energie.“ Das gewaltsame Ende dieser „Spaltung“ war die bereits erwähnte Zerschlagung der Ausstellung Achtung, Religion! durch eine Gruppe von orthodoxen Fundamentalisten im Januar 2003.
Seit 2001 wandelte sich Anna Altschuks dichterische Arbeit. Ein früher tabuisiertes Thema setzt sich durch: das Überschreiten der Grenzen der Sprache; der Bruch mit ihrem spezifischen Gewicht, das an das Leben bindet. Im Zyklus „h(n)immel(r)WERDs“ erscheinen immer häufiger Worte wie „pFORTe“, „Null“, „Zero“ (eine Variante der Null), das große „O“ (im Grunde wieder die Null) graphisch hervorgehoben. Merklich wächst die Zahl der Palindrome, die das poetische Gewebe gewissermaßen mit sich selbst kurzschließen und verhindern, daß es sich in der Zeit entfaltet. Das Kontemplative aus früheren Zeiten, die Bewahrung jener feinen Membran, die die virtuelle Welt von der realen trennt, gibt es nur noch in Naturgedichten und Gedichten über neue, die Phantasie ansprechende Landschaften (die Toskana, Spanien, die Krim).
In diesen Jahren spürte Anna immer akuter den Druck des, nach ihren Worten, „muffigen“, der Kunst ungünstigen sozialen Klimas. Besonders provoziert fühlte sie sich von der gewaltsam forcierten äußerlichen, rituellen Religiosität, die widerspruchslos mit dem Konsumdenken einhergeht und zum Wiedererstarken des Nationalismus beiträgt. Das Empfinden der Ausweglosigkeit fand bildlichen Ausdruck in einem ihrer Träume:

Man hat mir ein Vorabexemplar meines Lyrikbandes gebracht. Es ist übersät mit bunten Bildchen von russischen Gemächern, die Texte schauen verschwommen und verwischt daraus hervor. Ich war verärgert: Warum konnte man die Texte nicht klar und deutlich drucken, auf weißem Papier? Man sagt mir: „Bezahle 380 oder 400 Dollar, und du bekommst, was du willst.“ Mir ist klar, daß ich dieses Geld nicht habe, und ich verzichte auf den Band. (Tagebuch, 20. Februar 2003)

Der Traum führt die Hauptthemen der neuen Zeit zusammen: den Nationalismus (die durch die poetischen Texte hindurchschimmernden Gemächer) und die Orientierung am Konsum (Erfolg bemißt sich in Geldwert).

Die Notwendigkeit, zu emigrieren und sich von der Muttersprache zu trennen, das Leiden an der eigenen Ruhelosigkeit vollendete das, was ihre Verfolger begonnen hatten, und die tragische Lösung ließ nicht lange auf sich warten.

7
Bis Anfang der neunziger Jahre tippte Anna ihre Gedichte in fünf, sechs Exemplaren mit Durchschlag auf der Schreibmaschine, klammerte die Blätter zusammen und verteilte sie an Freunde. Später ließ sie sie auf eigene Kosten in geringer Auflage drucken, oder Kleinverlage brachten sie heraus. Viele ihrer Gedichte erschienen zuerst in Zeitschriften und Anthologien mit geringer Auflage, auch im Ausland. An Übersetzungen ihrer Lyrik erschien zu ihren Lebzeiten nur wenig.
Auf die Frage einer Zeitschrift, ob sie ihre Gedichte gern übersetzt sähe, antwortete sie:

Ich wäre froh, wenn meine Gedichte übersetzt wären und im Ausland gelesen werden könnten. Allerdings ist mir klar, vor welchen Schwierigkeiten meine Übersetzer stehen. Eine solche Übersetzung bedeutet intensive Koautorschaft, denn der Übersetzer muss im Grunde zu einem Autor werden wie ich selbst und in seiner Sprache Analogien zu meinen Schachzügen finden, ohne dabei dem Gedicht das Lebendige, d.h. alle komplexen rhythmisch-phonetischen Bezüge zu nehmen.

Ihr Traum von einer Übersetzung und Koautorschaft hat sich erfüllt. Gabriele Leupold und Henrike Schmidt begannen noch zu Annas Lebzeiten, ihre Gedichte zu übersetzen, später kam Georg Witte dazu, Der Band, den der Leser hier in der Hand hält, ist der (nicht nur in Deutschland, sondern überhaupt) erste Versuch, die unterschiedlichen Etappen von Anna Altschuks Werk gemeinsam vorzustellen.
Mir bleibt nur, dem Suhrkamp Verlag und der Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz – daß dieses Buch erscheinen möge, war ihr persönlicher Wunsch – meinen besonderen Dank auszusprechen; außerdem den Übersetzerinnen, die für die Wiedergabe dieser höchst komplexen Texte im Deutschen titanische Arbeit geleistet haben; und schließlich der Lektorin Katharina Raabe, die die Arbeit aller Beteiligten zu einem Buch, einem gemeinsamen Ganzen gemacht hat.

Michail Ryklin, Nachwort, März 2010
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold

 

Im Frühjahr 2008

wurde die russische Lyrikerin und Künstlerin Anna Altschuk tot aus der Spree geborgen. In Deutschland wußte man zwar, daß sie wegen Teilnahme an der Ausstellung Achtung, Religion! in Moskau vor Gericht gestanden hatte, nicht aber, daß sie eine Dichterin in der Tradition der russischen Avantgarde war und einer Akademie für transrationale Kunst angehörte. Der vorliegende Band präsentiert einen Querschnitt ihres Schaffens von den freien, rhythmischen Versen der 70er Jahre bis zu den hochkonzentrierten, aufgeladenen Kürzestgedichten der jüngsten Zeit. Anna Altschuk, die Chlebnikow und Zwetajewa, García Lorca und Sej Shonagon verehrte, spricht über Natur, Liebe und Tod. Sie zerbricht Wörter und Sätze, die ihre verborgenen Bedeutungen freigeben, und fügt die Bestandteile neu zusammen – zu schillernden, auch visuell hochkomplexen, luftigen Gebilden.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2010

 

Eine Auswahl aus Anna Al‘čuks Œuvre

– Anagramm, Klammer und andere Sprach-Verzweigungen. −

schwebe zu stand. Im Schwebezustand, im zweisprachigen, sind fast alle Texte dieses Bandes, einem kleinen Werkpanorama der Künstlerin Anna Al‘čuk. Da schieben sich Buchstaben übereinander. Auch laden Klammern und Versenden zu doppelten und dreifachen Lesarten ein wie ein manchmal buntes Durcheinander von Majuskeln und Minuskeln.  Folgt die Leserin dem Imperativ und verfolgt die schwebenden Fäden, bis sie zum Stand kommen – vor allem in den neueren Texten (seit Mitte der 1980er Jahre) zu vielfältigen Bedeutungen – dann gerät das anfängliche Vers- und stellenweise Buchstabengewirr zu poetischen Bildern.

Die Zweisprachigkeit potenziert bei diesen Gedichten, bei denen die Übersetzung nur Koautorschaft sein kann (wie Anna Al’čuk in einem von Michail Ryklin im Nachwort zitierten Manuskript schrieb) das Schweben, legen die beiden Sprachen doch wechselseitig Spuren bloß, die in der einen gar nicht unbedingt auffallen. Sehr schön, dass es immer wieder zwei, einmal auch drei Varianten zu einem russischen Gedicht gibt:

ра(дости гнуть)
испеПЕПЕЛинию
феникс (ли
кующий)
ил ЛИ БО
пьяный

———

GLU(cksen)T
aus der asche LUGt
phönix lü
stern
o der WE der BE
trunken

———

freuden schmiedend
aus der lineASCHE
ist das phö
nix jubel
oder LI(e) be(r) BO
trunken

———-

freud(voll führen)
ausASCHEerstehen
jubi LI
erender phönix
trunkener PO
et

Der Einfallsreichtum des Übersetzertrios, Gabriele Leupold, Henrike Schmidt und Georg Witte, beeindruckt in diesem fortwährenden Balanceakt aus Textnähe und der Loslösung vom russischen Original, derer es bedarf, um die Wort- und Bedeutungsspiele im Deutschen  nachzuempfinden. Gabriele Leupold und Henrike Schmidt beschreiben diese Suche in ihrem „Werkstattbericht“, in dem sie anhand einzelner Gedichte „die beiden wichtigsten Verfahren – Anagramm und Verklammerung, Zerlegen und Verdichten“ und ihre Nachdichtungen im Deutschen illustrieren:

Um das Wesentliche dieser Lyrik zu treffen, muss die deutsche Übersetzung die Methode der Autorin aufgreifen und versuchen, mit einem in ihrem Sinn gewählten Wortmaterial eine ähnliche Gestalt und dieselbe Verdichtung zu erzeugen wie im Original.

Nicht alle Texte sind so filigran wie das zitierte Gedicht. Die frühen aus den 1970er Jahren, auch diese immer wieder klangvoll, auch diese mit verschiedenen Auflösungsfiguren, folgen durchaus bekannteren Versformen (wenn Al‘čuk sie auch kreativ weiterschreibt). Von ihnen aus scheinen die „rhythmischen Pausen“ eine Brücke zu bilden zu den Texten der letzten Werkphase, der das obige Zitat entstammt. Mit den „Einzellern“ (1988), gewissermaßen dem dichterischen Pendant zu Malevičs „Schwarzem Quadrat“ – „Schwarze Buchstabenquadrate“ nennt sie das Übersetzertrio – stellt der Band die verschiedenen Schaffensphasen und -weisen der Künstlerin vor.

Die beiden Nachworte erzählen von ihr, von ihrem Leben, ihrer Zeit und dem Kunstschaffen, Wer hier weiterlesen möchte, erfährt viel über Anna Al’čuks Werk, aber auch das sowjetische und postsowjetische kulturelle Leben. Mit dem Nachwort ihres Ehemanns Michail Ryklin, einem Nachruf, erhält die Auswahl einen in anderer Hinsicht persönlichen Ton und zugleich einen politischen: Anna Al’čuk und Michail Ryklin verließen Moskau 2007. Den Entschluss, so berichtet Ryklin, hat Al’čuk 2004 gefasst, als sie in einem Strafprozess in der Folge der Ausstellung Achtung Religion! vor Gericht stand; auch der Freispruch vom „Schürzen nationalen und religiösen Zwistes“ änderte nichts daran. In seinem Nachwort liest man auch von dichterischen Vorbildern und Einflüssen: Marina Cvetaeva, dem Lieblingsdichter Osip Mandelstam (Widmungsgedichte und Epigraphen in der Auswahl von Gedichten künden bereits davon), Sapgir, Cvel (mit dem sie 1987 den Klub der Geschichte der zeitgenössischen Poesie gründete), die japanische Lyrik, deren Einfluss sich vor allem in der späteren Lyrik zeigt. Das Nachwort und der Werkstattbericht ergänzen sich: erzählt das eine vom Leben der Künstlerin, widmet sich der andere der Gemachtheit der Gedichte. Gabriele Leupold und Henrike Schmidt lassen in den Beschreibung ihrer Übersetzerinnenarbeit die Verfahren der Dichterin anschaulich werden, ihre Anagramme, Verschiebungen, ihre „Elementarlehre, die linguistische Separationskunst und poetische Naturphilosophie zusammenführt“.

schwebe zu stand ist eine Einladung, eine hierzulande bislang kaum bekannte, vielseitige Künstlerin kennenzulernen. Und der Band lädt mit weit geöffneten Türen zu einer Bekanntschaft ein, bietet er doch sowohl in der Textauswahl als auch in den Beigaben von Werkstattbericht und Nachwort unterschiedliche Zugänge zu einem Werk, das – wie in dem Gedicht auf dem Buchrücken angekündigt – Raum und Zeit außer Kraft setzt:

matt setz ich dich
Raum
schach dir –
Zeit

Anja Burghardt, novinkiblog.wordpress.com, 8.9.2010

Luppe und Augenstern

Seit dem gewaltsamen Sterben der Romantiker Puschkin und Lermontow gehört ein früher Tod in der russischen Literaturgeschichte fast notwendig zur Biografie eines Lyrikers. Diese traurige Regel hat sich auch in den Lebensläufen von Anna Altschuk (1955–2008) und Alexei Parschtschikow (1954–2009) niedergeschlagen – Anna Altschuk beging vermutlich Selbstmord; ihre Leiche wurde in der Berliner Spree gefunden, Parschtschikow starb nach längerer Krankheit. – Altschuk ist dem deutschen Publikum höchstens als Angeklagte im Moskauer Skandalprozess gegen die Ausstellung Achtung, Religion! (2003) ein Begriff. Dabei gehört sie zu den innovativsten lyrischen Stimmen ihrer Generation in Russland. In ihren experimentellen Gedichten hat sie der russischen Sprache ein Maximum an Ausdrucksmöglichkeiten abgetrotzt. Erstmals liegt nun eine Auswahl von Anna Altschuks Lyrik in einer kongenialen Übersetzung von Gabriele Leupold, Henrike Schmidt und Georg Witte vor. Ihre Texte hintertreiben die grundsätzliche Linearität von Sprache und stossen in eine neue Dimension vor:

AUgenSTERN
MUschelmuND
bLEIB auf grund
wellenwasserwahn.

Altschuk ist von der doppelten Materialität der Sprache in Laut und Buchstabe fasziniert und formt daraus Kunstwerke, die an Wortskulpturen erinnern.

Ulrich Schmidt, Neue Zürcher Zeitung, 9.8.2012

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin

 

Anna Altschuk Lesung in Berlin am 9.10.2006.

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