Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Delia II“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Delia II“ aus dem Band Pablo Neruda: Das lyrische Werk – Band 2. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Delia II

Die Menschen wurden still und schliefen ein,
wie ein jeder war und werden wird:
vielleicht erwuchs in dir kein Groll,
denn geschrieben steht, wo nichts zu lesen ist,
dass die erloschne Liebe nicht der Tod,
sondern eine bittere Form ist des Geborenwerdens.

Verzeihung für mein Herz, in dem
der Biene großes Rauschen wohnt:
ich weiß, dass du, gleich allen Wesen,
den erhabnen Honig anrührst
und vom Stein des Mondes,
von dem Firmament
ablöst deinen eigenen Stern,
und kristallhell unter allen bist du.

Ich verachte nicht, schmälere nicht, ich bin
des Meeres Schatzmeister, lausch kaum
den Worten des Verlusts
und baue wieder
meine Wohnung, meine Wissenschaft und meine Freude auf,
und könnte ich die Traurigkeit
meiner abwesenden Augen dir beigesellen, so nützte mir
Vernunft und auch die Torheit nicht:
ich liebte abermals, es hob die Liebe
in mein Leben eine Welle, und ich ward ausgefüllt
von Liebe, nur von Liebe,
ohne jemandem den Kummer zuzudenken.

Deshalb sanfteste
Vergangene,
Faden aus Stahl und Honig, der meine Hände
an die klingenden Jahre band,
du lebst nicht als ein Schlinggewächs
im Baum, sondern mit deiner Wahrheit.

Ich werd vorübergehn, wir gehn vorüber,
sagt das Wasser
und singt die Wahrheit hin zum Stein,
der Fluss tritt übers Ufer und verliert sich,
es wachsen da die tollen Gräser
am Uferrand:
ich werd vorübergehn, wir gehen vorüber,
sagt die Nacht zum Tage,
der Monat sagt’s zum Jahr,
die Zeit
flößt Aufrichtigkeit dem Zeugnis ein
aller, die verlieren, und aller, die gewinnen,
unermüdlich aber wächst der Baum
und stirbt der Baum und ins Leben eilt
ein andrer Keim und alles dauert fort.
Und nicht Abneigung ist es, was die Menschen
trennt, sondern
das Wachstum,
niemals starb eine Blume: sie wird wieder und wiederum geboren.

Deshalb verzeih mir dennoch,
und ich verzeih,
und er und sie sind schuldig,
und hin und her gehen
die Zungen,
die gebunden sind, Bestürzung
und Schamlosigkeit,
Wahrheit
ist,
dass jeder hat geblüht,
und Narben kennt die Sonne nicht.

 

Ein intelligentes Gedicht

angesichts einer heiklen Lage. Der Dichter ist mit seiner Geliebten Matilde Urrutia aus Capri zurückgekehrt, und trotz aller Umsicht sickert die Nachricht allmählich durch und kommt auch seiner Ehefrau Delia del Carril zu Ohren. Der Gatte schuldet ihr eine Erklärung.
Es wird ein dramatischer Seiltanz: Er will die Frau, die er liebt und achtet, nicht kränken. Darüber hinaus müssen seine Argumente einer Dame würdig sein, die ihm dank ihrer Beziehungen und ihrer Bildung den Weg zum Ruhm geebnet hatte. Zuneigung, Dankbarkeit und die schmerzliche Tatsache, dass sie zwanzig Jahre älter ist als er (was mit der Zeit immer stärker ins Gewicht fällt), zwingen den Mann, der sie verlässt, zu leisen Tönen.
Der Dichter konnte um ihretwillen nicht zurückstecken: Mit dem Fingerspitzengefühl eines Zauberers musste er sie zugleich verletzen und trösten. Die Formel mag rhetorisch klingen, doch belegt die Erfahrung ihre Richtigkeit:

dass die erloschne Liebe nicht der Tod,
sondern eine bittere Form ist des Geborenwerdens.

Diese Erkenntnis hat er wohl als so hellsichtig empfunden, dass er viele Jahre später einem Band seiner Lebenserinnerungen den Titel Um geboren zu werden gab. Das zweite Argument ist ebenso klar:

[…] es hob die Liebe
in mein Leben eine Welle, und ich ward ausgefüllt
von Liebe, nur von Liebe,
ohne jemandem den Kummer zuzudenken.

Liebe ist ein triftiger Grund; und deshalb kommt er zu dem Schluss, dass sich Lebewesen, fast einem Naturgesetz folgend, während ihres Wachstums voneinander trennen müssen. Die Dialektik des Gedichts schlug sich auch im wirklichen Leben nieder. Die Freunde ergriffen Partei für Delia oder Pablo, und beide Gruppen standen sich lange unversöhnlich gegenüber.
Ich habe Delia del Carril nie kennengelernt, aufgrund ihrer Biografie und der bruchstückhaften Erzählungen älterer Schriftsteller jedoch ein positives Bild von ihr gewonnen. Matilde dagegen kannte ich und habe ihr mit dem folgenden Satz mein Buch Mit brennender Geduld gewidmet: „Für Matilde Urrutia, die Neruda inspirierte und damit auch seine bescheidenen Plagiatoren“. Ich habe sie zu verschiedenen Anlässen begleitet und bin ihr zu größtem Dank verpflichtet. Sie war es, die die Theaterfassung des Romans ans Teatro Nacional in Caracas brachte und die Direktion davon überzeugte, das Stück auf die Bühne zu bringen. Dort in Venezuela wurde es uraufgeführt, auf Spanisch mit Julio Jung, der inzwischen chilenischer Diplomat in Spanien und der überragende Protagonist von Coronación ist, der Verfilmung des Romans von José Donoso.
Oft werde ich gefragt, warum ich Matilde, obwohl ich sie so gern hatte, keine größere Rolle in meinem Roman zugedacht habe und sie nur gegen Ende einmal flüchtig auftreten lasse. In dem Film Ardiente paciencia, bei dem ich selbst Regie geführt habe, kommt sie gar nicht vor.
Für diese schwerwiegende Unterschlagung gibt es zwei Gründe. Erstens einen dramaturgischen: Hätte ich der starken Beziehung zwischen Neruda und dem Postboten eine dritte Figur beigefügt, so hätte diese ein ebensolches Gewicht haben müssen und damit den Sinn der Geschichte in eine andere Richtung gelenkt.
Der zweite war ein eher politischer Grund: Während ich als Amateurregisseur meinen ersten Film drehte, konnte ich nicht ahnen, dass dieser vom Tag der Premiere an solche Erfolge bei Kritik und Publikum feiern und so viele Preise gewinnen würde. In Anbetracht meiner Unerfahrenheit hatte ich das Gegenteil befürchtet und mit einer Katastrophe gerechnet.
Und da sich Matilde in Chile für den Widerstand gegen Pinochet engagierte, wollte ich ihr Ansehen nicht gefährden. Eine kleine Szene als Hommage an sie und ihre Schönheit wollte ich mir aber dennoch gestatten. Zwar wäre sie nicht die Matilde aus dem Roman Mit brennender Geduld, doch sollte sie in einer Einstellung mitspielen, in der sich zwei einsame Spaziergänger am Strand begegnen. Eine der beiden Gestalten wäre Neruda, die andere Matilde. Nachdem sie aneinander vorbeigegangen sind, würde der Dichter, plötzlich von einer vagen Unruhe erfasst, den Kopf wenden und der Frau stirnrunzelnd nachblicken.
Ich erzählte die Idee Matilde, die sich damals in Europa aufhielt, und sie war begeistert. Sie kannte das Drehbuch und sagte, das müsse unbedingt hinein. Sie werde für die Aufnahmen zu dieser Szene anreisen.
Die Produktionsgesellschaft schickte ihr das Ticket von Paris nach Lissabon, wo die Dreharbeiten stattfanden. Am Vortag ihrer Abreise wurde Matilde mit dem Rettungswagen in ein französisches Krankenhaus eingeliefert, weil die Krankheit wieder ausgebrochen war, die sie wenige Jahre später das Leben kosten sollte.
Die Muse entschwebte.

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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