Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Der unsichtbare Mensch“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Der unsichtbare Mensch“ aus dem Band Pablo Neruda: Der unsichtbare Fluß. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Der unsichtbare Mensch

Ich lache,
ich lächle
über die altmodischen Dichter,
ich liebe leidenschaftlich alle
Werke der Dichtung,
den ganzen Tau, der
Mondlicht, Diamant, Tropfen
überschwemmten Silbers,
der Rose sich zugesellend,
mein ewiger Bruder war,
aber
ich lächle,
immer sagen sie „ich“,
bei jedem Schritt
widerfährt ihnen etwas,
immer ist es „ich“,
durch die Straßen
gehen sie allein
oder die Herrliche, die sie lieben,
sonst niemand,
kein Fischer,
kein Buchhändler geht vorüber.
kein Maurer geht vorbei,
niemand stürzt
von einem Baugerüst,
niemand leidet,
niemand liebt,
nur mein armer Bruder,
der Dichter,
ihm widerfährt
und seiner süßen Geliebten
alles Geschehen,
niemand anderes lebt,
nur er allein,
niemand weint vor Hunger
oder Zorn,
in ihren Versen leidet niemand,
weil er die Miete
nicht zahlen kann,
niemanden in der Dichtung setzt man
mit Betten und Stühlen
auf die Straße,
und in den Fabriken
ereignet sich ebenfalls nichts,
nichts geschieht,
man stellt Schirme her, Gläser,
Waffen, Lokomotiven,
die Hölle durchwühlend,
fördern sie Erze,
sie streiken,
Soldaten kommen
und schießen,
schießen gegen das Volk,
will besagen,
gegen die Dichtung,
doch mein Bruder,
der Dichter,
war verliebt
oder litt,
denn seine Gefühle
gehören dem Meer,
er liebt,
ihrer Namen wegen,
die fernen Häfen
und schreibt über Ozeane,
die er nicht kennt,
er geht am Leben vorbei,
das wie der Mais voll von Körnern
ohne zu wissen, wie er
es entkörnen soll,
er steigt, ohne die Erd
zu berühren, aufwärts und hinab,
und zuweilen
fühlt er sich unergründlich
und dunkel,
so groß ist er,
dass er in sich selbst nicht hineinpasst,
es verwirrt sich, entwirrt sich,
tut seine Verdammnis kund,
trägt die Kreuzeslast,
die Finsternis mit Beschwerde,
glaubt, er sei verschieden
von aller Welt,
alle Tage isst er Brot,
doch einen Bäcker hat er noch niemals
gesehen,
noch ist er in eine Gewerkschaft
der Brotbäcker gegangen,
und so spielt er den Dunklen,
mein armer Bruder,
windet und krümmt sich
und findet sich
interessant,
interessant,
das ist das Wort,
ich stehe nicht über ihm,
meinem Bruder,
aber ich lächle,
und ich geh durch die Straßen,
und nur ich bin nicht da,
das Leben strömt
all den Flüssen gleich dahin,
ich bin der einzig Unsichtbare,
es gibt kein dunkles Geheimnis,
es gibt keine Finsternis,
alle Welt spricht mit mir,
sie möchten mir mitteilen, was geschehen,
sie erzählen von ihrer Familie,
von ihren Nöten
und ihren Freuden mir,
alle gehen vorüber, und alle
sagen mir etwas,
und was alles sie tun!
Sie schneiden Holz,
ziehen elektrische Drähte,
kneten bis spät in die Nacht
das tägliche Brot,
mit einer Lanze von Eisen
durchbohren das Innre
der Erde sie
und verwandeln das Eisen
in Schlösser,
fliegen zum Himmel und führen
Briefe, Seufzer und Küsse mit,
hinter jeder Tür
lebt ein Mensch,
erblickt jemand das Licht der Welt,
wartet auf mich sie, die ich liebe,
und ich gehe umher, und die Dinge,
sie bitten mich, dass ich singe,
ich hab keine Zeit,
muss an alles denken,
muss nach Hause gehen,
die Partei aufsuchen,
was soll ich tun,
alles verlangt von mir,
dass ich rede,
alles verlangt von mir,
dass ich singe und in einem fort singe,
alles ist voller
Träume und Klänge,
das Leben, es ist ein Schrein
voll von Gesängen, er öffnet sich,
und auffliegt und senkt sich
ein Vogelschwarm,
sie wollen mir etwas erzählen
und ruhen sich auf meinen Schultern aus,
das Leben ist ein Kampf,
einem Strome gleich, der vorwärtsdrängt,
und die Menschen
wollen mir sagen,
dir sagen,
warum sie kämpfen,
und so sie sterben,
warum sie sterben,
und ich gehe dahin und habe
für so viele Leben nicht Zeit,
ich wollte,
sie alle lebten
in meinem Leben
und sängen in meinem Gesang,
ich bin nicht wichtig,
habe für meine Dinge
keine Zeit,
des Nachts und am Tag
muss ich niederschreiben,
was geschehen,
und darf keinen vergessen.
Es ist wahr, ich werde leicht müde
und blick zu den Sternen auf
und leg mich ins Gras, ein geigenfarbenes
Insekt fliegt vorüber,
ich lege die Hand
auf die kleine Brust
oder um die Hüfte
der Lieblichen,
die ich liebe,
und blicke empor zum schweren
Sammet
der Nacht, die bebt
mit ihren eisstarren Gestirnen,
dann
fühl ich die Woge der Geheimnisse
in meine Seele dringen,
die Kindheit,
das Schluchzen im Winkel,
die Jugend wehmutvoll,
und ich werde schläfrig
und schlafe ein
wie ein Apfelbaum,
ganz plötzlich bin ich
eingeschlafen
mit den Sternen oder ohne die Sterne,
mit meiner Liebsten oder ohne sie,
und wenn ich erwache,
ist verschwunden die Nacht,
die Straße ist vor mir aufgewacht,
zu ihrer Arbeit
gehen die armen Mädchen,
die Fischer kehren
vom Weltmeer zurück,
die Bergleute
mit neuen Schuhen fahren
ins Bergwerk ein,
alles lebt,
alle haben es eilig,
hasten vorüber,
ich habe kaum Zeit,
mich anzuziehen,
ich muss mich beeilen:
Keiner darf
vorübergehn, ohne dass ich weiß,
wohin er geht, was ihm
geschah.
Ich kann ohne das Leben
nicht leben,
nicht Mensch sein ohne den Menschen,
und ich eile und sehe und höre
und singe,
die Sterne gehen mich
nichts an,
die Einsamkeit trägt nicht
Blüte noch Frucht.
Gebt für mein Leben mir
die Leben alle,
gebt mir den Schmerz
der ganzen Welt,
ich will ihn in Hoffnung
verwandeln.
Gebt
alle Freuden mir,
auch die geheimsten,
denn so es nicht geschähe,
wie sonst sollte man es erfahren?
Ich habe sie zu erzählen,
gebt mir
den Kampf
eines jeglichen Tags,
denn sie sind mein Gesang,
und so werden wir vorwärtsschreiten,
Schulter an Schulter,
alle Menschen zusammen,
es vereint sie mein Lied:
des unsichtbaren Menschen Gesang,
der mit allen Menschen singt.

 

Pablo Nerudas Dichtkunst.

Seine entschiedene Distanz zu einer Lyrik der Seufzer und Düsternis, Ichbezogenheit und Besserwisserei, von veilchenhaft zitternden Poeten, überheblichen Egoisten, die sich selbst interessant finden. Eine Spezies, die auch heute, in Zeiten der Ernüchterung, unter den chilenischen Intellektuellen gedeiht. Manifest für eine Poesie des Volkes, für Worte, die über die Nabelschau hinausgehen. Das Hohelied der Neugierde, des sinnlichen Überschwangs und der Nähe zu anderen. Schlichtheit und Eleganz. Lachendes Vertrauen in einen Organismus, der mehr ist als der Körper.
Der Dichter Neruda wirft sich mit diesen Zeilen nicht zu Unrecht in die Brust. Er machte sich zum Wortführer des Volkes, seiner Freuden und Leiden, und fand auch noch ein wenig Zeit für private Lieder und leises Summen, womit er die Karikatur des aufgeblasenen Schundpoeten, die seine Widerstreiter von ihm zeichnen wollten, Lügen strafte.
Die kleinen Leute scharten sich um ihn und waren stolz, ihre anonyme Existenz zum epischen Thema erhoben zu sehen. Kernpunkt der Attacke Nerudas gegen die wehleidigen Schwärmer war seine Interpretation der Einsamkeit, eine Vokabel, mit der Dichter zu gurgeln pflegen. Für ihn war die Einsamkeit der Flughafen, auf dem die Musen landen. Dieser unsichtbare Mensch findet überall Inspiration.
Solidarität statt Einsamkeit.
Die chilenische Dichterin Cecilia Vicuña zerlegt Wörter und macht daraus knappe Texte, die vor Geist und Sinn nur so sprühen.
So:

Solidaridad es sol y dar y dar.
(Solidarität ist Sonne und geben und geben.) 

Der unsichtbare Mensch, dieses fröhliche, transparente, einfache, große Gedicht Nerudas, ist keine simple rhetorische Pose und entbehrt jeglicher Demagogie. Es singt der unsichtbare Mensch, und die Protagonisten sind die unsichtbaren Menschen. Die Wirkung geht über den Bereich der Poesie hinaus.
Als Neruda stirbt, in einem Land im Belagerungszustand, drängen sich die unsichtbaren Menschen um seinen Sarg, und der Leichenzug murmelt seine Verse in den Straßen.
Auf den Bürgersteigen die Gewehre Pinochets.
Ein Gebaren, das an jenem Tag im September den Kopf kosten konnte.
An jenem Tag waren die unsichtbaren Menschen sichtbar.

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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