Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Ode an die Luft“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Ode an die Luft“ aus dem Band Pablo Neruda: Elementare Oden. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Ode an die Luft 

Auf einem Wege wandernd,
traf ich die Luft,
ich grüßte sie und sprach zu ihr
voll Ehrerbietung:
„Ich freue mich,
dass du einmal
abgelegt hast deine Transparenz,
so können wir miteinander sprechen.“
Die Unermüdliche
tanzte,
bewegte das Blattwerk,
schüttelte mit ihrem Lachen
von meinen Sohlen den Staub,
und indem sie ihr ganzes
blaues Takelwerk aufspannte,
ihr gläsernes Skelett,
die Augenlider von Zephir,
blieb sie stehen, und steif
wie ein Mast, hörte sie mich an.
Ich küsste ihren himmlischen
Herrschermantel,
hüllte in ihre Fahne
aus himmelblauer Seide mich ein
und sprach zu ihr:
Regentin oder Kamerad,
Faden, Blütenkrone oder Vogel,
ich weiß nicht, wer du bist, aber
um etwas bitt ich dich,
verkaufe dich nicht.
Das Wasser hat sich verkauft,
und in den Rohren
in der Wüste
sah ich die Tropfen
versiegen
und die Welt der Armen,
das Volk hinwandern
mit seinem Durst
wankend über den Sand.
Ich sah das rationierte Licht
der Nacht,
das prächtige Licht im Haus
der Reichen.
Alles ist Morgenröte in den
neuen hängenden Gärten,
alles ist Dunkelheit
in dem schrecklichen Schatten
der engen Gasse.
Von dorther naht
die Rabenmutter Nacht
mit einem Dolch in
den Eulenaugen,
und ein Schrei, ein Verbrechen,
erhebt sich und erlischt,
vom Dunkel verschlungen.
Nein, Luft,
verkaufe dich nicht,
auf dass sie dich nicht kanalisieren,
auf dass sie dich nicht in Leitungen zwängen,
auf dass sie dich nicht in Kisten packen
noch zusammenpressen,
auf dass sie dich nicht zu Tabletten verarbeiten
und in eine Flasche tun,
gib acht!
Ruf mich zu Hilfe,
wenn du mich brauchst,
ich bin der Dichter: Sohn
armer Leute, Vater, Onkel,
Vetter, leiblicher Bruder
der Armen, aller,
meines Landes und der andern Länder,
der Armen, die am Ufer des Flusses leben,
und derer, die in den Höhen
der steil abfallenden Kordillere
Steine klopfen,
Bretter nageln,
Kleider nähen,
Holz zerkleinern,
Erde zermahlen,
und darum
will ich, dass sie atmen,
du bist das Einzige, was sie haben,
darum bist du
transparent,
damit sie sehen,
was bringen wird der morgige Tag,
darum bist du da,
Luft,
lass dich atmen,
lass dich nicht in Fesseln legen,
traue keinem,
der da in einem Auto naht,
um dich zu untersuchen,
lass dich nicht mit ihnen ein,
lach über sie,
reiß ihnen den Hut vom Kopf,
willige nicht
in ihre Vorschläge ein,
lass uns beide
tanzen rings um die Welt,
des Apfelbaums Blüten
herunterreißen,
in die Fenster steigen,
gemeinsam pfeifen,
Melodien pfeifen
von gestern und morgen,
es wird kommen der Tag,
an dem wir befreien werden
Licht und Wasser,
die Erde, den Menschen,
und alles wird da sein
für alle, wie du es bist.
Darum, pass auf,
zu dieser Stunde!
Und komm mit mir,
wir haben noch viel
zu tanzen und zu singen,
gehen wir
den Saum des Meeres entlang,
hinauf in die Bergeshöhen,
lass uns dort
hingehn, wo der neue Frühling
in Blüte steht,
und mit einem Windstoß
und Gesang
lass uns die Blumen verteilen,
den Duft, die Früchte,
die Luft
von morgen.

 

Dieses Gedicht ist ein Tanz.

Ich habe es seit frühester Jugend getanzt und rezitiert. Die Silben waren für mich Geschosse der Freude, und fast unwillkürlich konnte ich es bald auswendig. Die Beschwörung dieses Gedichts ist so gauklerisch, so voller Magie sind seine Metaphern, die Personifizierung dieses unverzichtbaren Grundelements unseres Lebens ist so schlichtweg bezaubernd, dass alles zusammen zu einem Fest des Lebens, einer überzeugenden politischen Rede wird. Die Luft ist das einzige Naturelement, das Sekunde für Sekunde allen gehört. Was für ein großartiges Transportmittel für die sozialen Utopien des Dichters!
In seinen Oden zeigt sich die fruchtbare, intime Verbundenheit des Lyrikers mit der Natur. Hier geht es nicht um die tragischen oder pathetischen Szenarien der Romantik, sondern um etwas Alltägliches, jedermann Zugängliches. Der Dichter betrachtet die Welt nicht pragmatisch, um sie zu manipulieren, sondern denkt nur an ihre prachtvolle Erscheinung, ihr frei verfügbares Wesen.
In den Oden gibt es einen natürlichen Pakt zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Die Luft kann Regentin oder Kamerad sein, doch in beiden Fällen gelingt es dem Dichter, seine Leser durch den innigen Dialog in den Bann zu ziehen, durch die hellsichtige Sprache, die sich schließlich zum ökologischen Appell aufschwingt: „Verkaufe dich nicht.“ Die politische Absicht kommt sympathisch daher, unbelastet von jeglicher ideologischen Feierlichkeit. Indem Neruda die Luft in Bezug zur Freiheit setzt, präsentiert er seine Utopie als etwas Volkstümliches und Erstrebenswertes: 

darum bist du
transparent,
damit sie sehen,
was bringen wird der morgige Tag

Die Oden stellen ein Einvernehmen zwischen den Menschen und der Welt her.
Und indem er sich so naheliegender Elemente bedient, erzeugt der Dichter darüber hinaus das Gefühl in uns, alles ließe sich singen, was hieße, dass das Leben mehr Weite und Tiefe, mehr Fantasie haben könnte.
Nach meinem Schulabschluss unterzog ich mich einer Aufnahmeprüfung, bei der ich einen Text dramatisieren sollte. Ich wählte die „Ode an die Luft“, die ich von „Ich freue mich, / dass du einmal / abgelegt hast deine Transparenz, / so können wir miteinander sprechen bis die Luft von morgen“ mit komödiantischem Eifer aufsagte, während ich wie ein Zauberlehrling einen Hut umherfliegen ließ.
Der Prüfer trat zu mir. Noch keuchend, weil ich die Arme wie Windmühlenflügel herumgewirbelt hatte, harrte ich angstvoll seines Urteils.
„Gut, Skármeta. Aber wenn Sie Schauspieler werden wollen und sich die „Ode an die Luft“ aussuchen, sollten Sie atmen lernen. Sie sind verkrampfter als eine Frau in den Wehen.“
„Tut mir leid, Maestro.“
„Atmen Sie tief durch, legen Sie sich ein Weilchen hin, und dann möchte ich, dass Sie mir den zweiten Teil vortragen.“
„Welchen zweiten Teil, Maestro? Das war alles.“
„Nein, mein Herr. Sie haben nur den Dichter gespielt, jetzt spielen Sie mir die Luft.“
„Aber wie denn?“
„Ganz einfach: Zeigen Sie mir das blaue Takelwerk, das gläserne Skelett, die Augenlider von Zephir.“
„Ich glaube nicht, dass ich das kann, Maestro.“
„Mögen Sie Literatur?“
„Ja. Mehr als alles andere auf der Welt.“
„Dann schreiben Sie, junger Mann. Um auf einer Bühne zu stehen, braucht man nämlich dramatisches Vorstellungsvermögen.“
„Darf ich nächstes Jahr wiederkommen?“

Erstaunlich ist auch, wie selbst hochfliegende Poesie ihre Logik hat. In seinem herausragenden Buch L’air et les songes (Die Luft und die Traumbilder) analysiert Gaston Bachelard Ecce Homo von Nietzsche und kommt zu dem Schluss, dass „die reine Luft das Bewusstsein des freien Augenblicks ist, eines Augenblicks, der Zukunft eröffnet“. Der geschätzte Leser vergleiche diese treffende Aussage mit der Eingebung Nerudas: 

darum bist du
transparent,
damit sie sehen,
was bringen wird der morgige Tag…

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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