Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Sonett XCIV“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Sonett XCIV“ aus dem Band Pablo Neruda: Das lyrische Werk – Band 2. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Sonett XCIV

Sterb ich, so überlebe mich mit all deiner reinen Kraft,
dass du den Zorn der Blässe erweckst, der Todeskälte,
von Süd hin zu Süd, erheb deine unauslöschlichen Augen,
von Sonne zu Sonne tönen soll dein Gitarrenmund.

Will nicht, dass dein Lachen noch deine Schritte zögern,
will nicht, dass meiner Freude Vermächtnis stirbt,
rufe nicht meine Brust, ich bin fern.
Lebe in meiner Abwesenheit wie in einem Haus.

So groß ist das Haus der Abwesenheit,
dass du in ihm durch die Mauern gehst
und die Bilder aufhängen wirst in der Luft.

Ein so durchsichtiges Haus ist die Abwesenheit,
dass ohne Leben ich dich leben sehn werde,
und leidest du, meine Liebe, werde ich nochmals sterben.

 

Fast alle Hundert Liebessonette sind zierliche Schmuckstücke,

erfüllt von Nachdenklichkeit, Lebensgeschichte und Huldigungen an Matilde, und die elegante Form des Sonetts trifft wohl am besten den Ton dieser nun reifen Liebe, die in Die Verse des Kapitäns noch mit frischem Feuer gespielt hatte.
Pablo und Matilde herrschen jetzt souverän über ihr Schicksal, und das Buch hat eine gewisse Ausgewogenheit. Ohne die bitteren Momente im Leben des Paares zu leugnen, rechtfertigt ihre unausweichliche Liebe alles Geschehene, und der Dichter tritt den Vorwürfen entgegen, indem er sich im „Sonett LXXVIII“ einen gütigen Menschen nennt („Ich entgalt Niedertracht mit Tauben“). Guten Mutes, beseelt von der überschwänglichen Vision einer Liebe, die sich in den Küssen anderer Münder materialisieren würde, stellt sich der Dichter einer Zukunft, die, so glorios sie sich auch anlässt, bereits mit dem Tod rechnen muss.
Neruda sieht in Matilde nicht nur die Überlebende, die einsam und allein ihre Liebe würde bewahren müssen, sondern auch die Frau, die der Zersplitterung des Universums entgegenwirken muss. Rückt der Tod näher, ist es Zeit für das Testament. Die Hundert Liebessonette erhalten ihre besondere Bedeutung dadurch, dass der Dichter selbst die Güter bestimmt, aus denen seine Hinterlassenschaft bestehen soll: im Grunde seine Gefühle und sein Kampf.
Zum einen fordert der Liebende das ganze Buch hindurch sein Recht auf Schatten und eine gewisse Traurigkeit, die zugunsten eigenwilliger Heldengesänge aus seinem Programm verschwunden waren; und zum anderen rückt er ein starkes Wort in den Mittelpunkt seines Vermächtnisses: Freude.
Obwohl alle Sonette schön sind, nehme ich in diese meine persönliche Auswahl das 94. auf, das ich Matilde in einer sehr angespannten Situation habe vortragen hören. Es war 1983, und Pinochets Repressionen waren an der Tagesordnung. Die demokratische Bewegung, die sich dennoch mit Riesenschritten ausbreitete, stand dauernd unter Beschuss.
Der zehnte Todestag des Dichters näherte sich, und der Zustrom zur Gedenkfeier würde gewaltig sein. Nerudas Name war das Bindeglied zwischen vielen unterschiedlich denkenden Menschen, deren Herzen jedoch vereint gegen die Diktatur schlugen.
Der „kulturelle“ Akt war unumgänglich und fand im Caupolicán statt, einem riesigen Stadion, in dem sich Tausende von Menschen versammelten und trotz aller strategischen Vorsichtsmaßnahmen, die einen Abbruch der Veranstaltung verhindern sollten, den Bütteln Pinochets einstimmig und aus voller Lunge „Mörder, Mörder“ entgegenbrüllten.
Als Letzte sprach Matilde – ganz Witwe und Würde – und nahm mit schlichter Selbstverständlichkeit die an sie gerichteten Worte des „Sonetts XCIV“ als kämpferisches Erbe an. Sie sagte: „Ich war und bin Pablos Gefährtin“ und kam nach einer kurzen Einleitung zur Kernaussage ihrer Rede:

Sterb ich, so überlebe mich mit all deiner reinen Kraft,
dass du den Zorn der Blässe erweckst, der Todeskälte.

Und mit ihrem rauschenden Finale weckte sie in dem von einer unüberwindlich geglaubten Diktatur verschüchterten Volk jene Kräfte, die die chilenischen Demokraten befähigen sollten, Pinochet 1988 durch eine weder schmutzige noch wehleidige Kampagne zu stürzen und ohne Groll zuversichtlich in die Zukunft zu blicken:
„Er liebte die Freude. Darum werde ich hier nicht darum bitten, seiner mit einer Schweigeminute zu gedenken.Nein! Ich fordere euch zu einer Freudenminute für Pablo auf, einer Minute Krach und Applaus!“
Dieser Moment ist in einem mitreißenden Film des Regisseurs Carlos Flores festgehalten, und wann immer ich die Szene sehe, geht sie mir so unter die Haut wie damals.
Viele Menschen, nicht nur Zyniker und Skeptiker, sind der Meinung, die Poesie sei zu nichts nütze. Ich möchte ihnen in aller Bescheidenheit widersprechen und sagen: Die Poesie ist zu fast nichts nütze.
Ein Beweis gefällig? Am 5. Oktober 1988 entschieden sich die Chilenen – gegen alle Prognosen, die den Diktator Pinochet siegreich aus der Volksabstimmung hervorgehen und damit praktisch zum Präsidenten auf Lebenszeit gewählt sahen – mehrheitlich gegen ihn und warfen ihn aus der Regierung.
Die massive Kampagne, die zu diesem Triumph führte, stand unter dem Motto:

Chile, la alegría ya viene.
(Chile, bald herrscht Freude.)

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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