Aribert Rothe: Zu Michael Wüstefelds Gedicht „Gleichberg im Mai“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Michael Wüstefelds Gedicht „Gleichberg im Mai “ aus Roland Bärwinkel / Helge Pfannenschmidt (Hrsg.): Fest in der Landschaft. Gedichte für Wulf Kirsten. 

 

 

 

 

MICHAEL WÜSTEFELD

Gleichberg im Mai
für Wulf Kirsten

Also stiegen wir auf den Gleichberg

Nicht Gleichschritt gleichwie Gleichmacherei
waren uns aufgetragen noch einmal studierten wir
„die Geographie der beiden Halbkugeln“1
Gegen Osten und Westen hatten wir rapsgelbe Flicken
lag Schlag um Schlag Vergangenheit offen zutage
Grabfelder Randlage ein einziges Minenfeld
Auf Römhilds Gräberfeld ließ sich häuslich
unter falschem Namen und echtem Basalt
ein Dichter im Exil nieder
Ein stadtbekannter Eremit
überzeugte seinen Siebenschläfer
für eine Nacht die Maske des Marders zu tragen

Noch einmal von der Steinsburg die Haßberge sehen
„die verkrüppelten, kleingeisterischen, rohen, anmaßlichen,
unwissenden, trägen Jünglinge“
2
des uns nachgefolgten Jahrhunderts
zu fühlen plötzlich sind wir museumsreife Kelten
zu wissen dagegen ist keine Hexenzwiebel gewachsen
auch wenn sie blühend den Basaltkegel überwuchert

Noch einmal auf den Gleichberg gestiegen
Nicht Gleichmut gleichwohl Gleichklang
waren uns angetragen
und gleichzeitig zu sehen
„zum Ende meines – unsres – Horizonts“3

 

Nachricht vom Thüringer Olymp

Ab und an treibt es den Dresdner Taldichter aus freien Stücken ins Thüringer Land. Mit seinem Kollegen Wulf Kirsten besteigt er dann grüne Hügel und erwandert urige Orte, die ihm Stoff zum Verdichten geben. Das Entschlüsseln ist sein Angebot lyrischer Entschleunigung. Immer auf der Suche nach poetischem Mehrwert, beackert er so manches wüste Feld, klopft Flur- und Pflanzennamen nach Wortspielen ab und verbindet sie mit dunkler Geschichte und schillernden Tageseinfällen. Das scheint er sich und seinem Namen schuldig zu sein. Gleich kein Wunder, dass es ihm das kleine Mittelgebirge der Gleichberge angetan hat. Malerisch zwischen Fränkischem und Thüringischem gelegen, gewinnen Hölderlins Halbkugeln hier topographischen Witz. Deutsch-deutsche Teil-Habe, urzeitliche Hügelgräber und neuzeitliches Militärgelände sind im Erinnern verbunden. So tritt heute „Schlag um Schlag Vergangenheit offen zutage“. Doch der Auftritt eines verrätselten Eremiten bedarf direkter Nachfrage. Wer weiß schon, dass der ewige Heimatsucher Harald Gerlach (1940–2001), dereinst Erfurts geschätzter Dramaturg und Stückeschreiber, jahrelang in Römhild gelebt hat und viel zu früh im Leimener Exil verstarb? Wüstefeld dichtet wider die Vergesslichkeit, auch zugunsten der eigenen Zunft. Doch die spärlichen Reste der Keltenfestung geben ihm auch den Blick frei auf Haßberge, wie sie sich freilich überall auftürmen können, wo sich die „Kleingeisterischen, Rohen, Anmaßlichen, Unwissenden“ gern versammeln zu allen Zeiten. Und er fragt, wie wohl Nachgeborene auf uns, einst „Museumsreife“, schauen mögen? Angesichts dieser Assoziationen verbietet sich „Gleichmut“ – also besser „noch einmal auf den Gleichberg gestiegen“ und eine Art „Gleichklang“ gesucht, der über den eigenen Horizont hinaus schwingt. Wüstefeld schlägt die Glocke der Poesie an, und wir lauschen nach dem, was bleibt.

Aribert Rotheaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

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