Armin Ayren: Zu Robert Walsers Gedicht „Mikrogramm III“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Robert Walsers Gedicht „Mikrogramm III“ aus Robert Walser: Das Gesamtwerk. Werkausgabe. 12 Bände. –

 

 

 

 

ROBERT WALSER

Mikrogramm III

In dem Reisekorb oder Wäschekorb,
der in meinem Schlafgemach steht,
räuspert es sich nachts,
als läge dort jemand
und als säße auf dem Korb
im umspannenden Talar, mein grausamer
Diener, mein fester Entschluß,
mir selbst zu gehören. Mein Gedanke,
der kennt mich. Wie ist oft, was ich denke,
fürchterlich, und ich steige aus
der Nachtzeit wie aus granitenem Grab
und aus gespenstischem Schlaf wie aus vieler
armer geplagter Seele bleiche
Bilder um ihre Schläfen schleudernder
Vergangenheit
und kann am Morgen meines Lebens wieder froh sein.
Niemandem wünsche ich, er wäre ich.
Nur ich bin imstande, mich zu ertragen:
So vieles zu wissen und so viel gesehen zu haben und
so nichts, so nichts zu sagen.

 

So nichts, so nichts zu sagen

In den Jahren 1924–1928, also vor seinem freiwilligen Eintritt in die Heilanstalt Waldau im Jahre 1929, hat Robert Walser 526 Blätter und Zettel mit winziger, nur äußerst mühsam und teilweise gar nicht zu entziffernder Bleistiftschrift bedeckt. Dabei handelt es sich einerseits um Entwürfe zu später ins reine geschriebenen Prosatexten, andererseits aber um vieles, was zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht blieb, vor allem um den „Räuber-Roman“, die „Felix“-Szenen und um zahlreiche Gedichte, von denen erst wenige entziffert sind. Die 1978 im Suhrkamp-Verlag erschienene Ausgabe des Gesamtwerks enthält deren ganze drei, mit römischen Ziffern numeriert. Das hier abgedruckte Gedicht ist das „Mikrogramm III“. Es ist in Walsers Handschrift vierzig Millimeter hoch. Die Höhe der Kleinbuchstaben beträgt durchschnittlich einen Millimeter. Im Konvolut aller Mikrogramme hat es die Nummer 236.
Auf Äußerungen Walsers, vor allem auf zwei Prosastücke und einen Brief an Max Rychner gestützt, vermutet der Herausgeber Jochen Greven, der Dichter habe eine Zeitlang so klein geschrieben, um „die Bedrohung durch eine sich bis ins Körperliche auswirkende Schreibhemmung zu „unterlaufen“. Weiter habe die Schrift Walser erlaubt, sehr rasch zu notieren, rascher als ihn Zweifel am Niederzuschreibenden hätten befallen können. Und schließlich sei die winzige Schrift auch als Ausdruck von Walsers „Minimalismus“, „seines oft formulierten sozialen und moralischen Ideals des ,Kleinseins‘ zu verstehen“.
Lohnt es sich, diese oft nur als vorläufige Skizzen gedachten Mikrogramme zu entziffern? Die Mehrzahl der über zweihundert Gedichte, die Walser in den Jahren 1925–1933 geschrieben und teilweise auch veröffentlicht hat, werden von Kommentatoren als „inhaltlich oft banal oder skurril“ eingestuft (Robert Mächler). Für manche Gedichte mag dies zutreffen – es entspricht im übrigen Walsers Selbsteinschätzung. Aber Walser hat auch an Hölderlin gedacht und an seine in den Jahren der Krankheit entstandene Lyrik.
Anmaßung, Selbstüberschätzung, Verkennung von fundamentalen Unterschieden? Ich glaube: nein.
Im „Mikrogramm II“ steht:

Ich verlange mehr von mir, als was sie fordern, daß ich wäre. Wie ist jeder Tag ein unverstandenes Schauspiel.

Daß er den an sich selbst gestellten Forderungen nicht gerecht werden zu können fürchtete, davon spricht das „Mikrogramm III“. Ehe er sich in das endgültige, viele Jahre dauernde Verstummen begab, in das granitene Grab, in den gespenstischen Schlaf, aus dem er einst wieder aufzusteigen hoffte wie aus der Vergangenheit vieler armer geplagter Seelen, die bleiche Bilder um ihre Schläfen schleudern, hat Robert Walser diese Angst in kompromißloser Ehrlichkeit ausgesprochen, in harten Fügungen, die sich nicht mehr um grammatische Klarheit kümmern, in denen vielmehr das Versagen des Dichters vor seiner Berufung selbst Sprache wird.
Wo gibt es, neben Hölderlin, noch einen deutschen Dichter, der, ehe er sich in den Wahnsinn zurückzog, die Gründe, die ihn dorthin trieben, so unerbittlich hellsichtig.

Armin Ayrenaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983

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