Arthur Rimbaud: O Zeiten, o Schlösser

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Arthur Rimbaud: O Zeiten, o Schlösser

Rimbaud-O Zeiten, o Schlösser

DIE EWIGKEIT

Sie ist neu gefunden.
Wer? – Die Ewigkeit.
Ist das Meer, entschwunden
Mit dem Sonnenschein.

Raun dein Einverständnis,
Seele auf der Wacht,
Mit des Tages Bränden,
Wesenloser Nacht.

Von Beifallsgeschreie,
Von niederem Trieb
Dich lösend ins Freie
Schwingst auf du und fliegst.

Denn euch nur entstammt,
Ihr Gluten aus Samt,
Der Hauch einer Pflicht,
Die nimmer erlischt.

Dort laß Hoffnung fahren,
Kein orietur.
Harren und gewahren;
Qual ist sicher nur.

Sie ist neu gefunden.
Wer? – Die Ewigkeit.
Ist das Meer, entschwunden
Mit dem Sonnenschein.

 

 

 

Nachbemerkung

Der Leser, der sich von Rimbauds frühen Gedichten aus den Jahren 1870/71 seinen sogenannten Letzten Versen zuwendet, die in der übergroßen Mehrzahl 1872 entstanden, wird überrascht sein, wie sich Tonfall und Stimmungslage seiner Lyrik gewandelt haben. Während Rimbaud damals in schroffen Gedichten die äußere Welt, wie er sie vorfand, attackierte und sie mit kräftig-sinnlichen Metaphern durchtränkte, kehrte er nun gleichsam in die „inneren Welten“ der Selbstbesinnung ein, die in der Rückschau gespeist werden von Kindheitserinnerungen und heimatlich-ländlichen Bildern und im Hinblick auf eine ungewisse Zukunft durchwoben sind von einer schwarzen, oft bitteren Ironie. Rimbaud, möchte man sagen, hat begonnen, über die ihm gezogenen Grenzen nachzudenken, und so entstehen inmitten seines turbulenten Lebens mit Verlaine und dessen Pariser Freunden ebenso klangvolle wie sinndunkle Verse als Ausdruck seines Ringens um eine bedrohte künstlerische wie menschliche Integrität, liedartig-schwermütige, rhythmisch virtuos ausgeführte Gedichte, die wie Signale eines Halts vor neuem Aufbruch in die poetische Welt der Illuminations und der Saison en enfer wirken.
Solche Gedichte, die keinen „Anlaß“ im grob-äußerlichen Sinne dieses Wortes haben, entziehen sich natürlich einem schnellen Zugriff, und jeder Kommentator befindet sich daher auf dem schmalen Grat einer mehr oder weniger faktenmäßigen Zuordnung der Gedichte zu äußeren Geschehnissen und einer allzu oft auf Irrwege führenden spekulativen Interpretation. Während die erste Verfahrensweise der dichterischen Phantasie ein zu geringes Vermögen beimißt, verkündet die zweite auf gefährliche Weise deren gänzliche Autonomie. Der erlaubteste und sicherste Weg dürfte indessen sein, dem Leser lediglich behutsame Andeutungen zu liefern, ihn im übrigen aber vor allem vor der rätselvollen Schönheit der Rimbaudschen Verse selbst verweilen zu lassen.

Nachwort

 

Arthur Rimbaud

geboren 1854 in Charleville, gestorben 1891 in Marseille, verfaßte sein poetisches Werk zwischen dem 15. und (vermutlich) 20. Lebensjahr. Die meisten Gedichte dieses Bandes entstanden um 1872. Er ist der zweite einer Neuübersetzung des dichterischen Werkes in Einzelausgaben. Der erste Band erschien unter dem Titel Das trunkene Schiff.

Rimbaud Verlagsgesellschaft, Klappentext, 1992

 

Wenn das Blech als Trompete aufwacht

– Rimbaud: Die Bilder des Unbewußten. –

Du bist im Abendland, aber es steht dir frei, in deinem Morgenland zu wohnen, in so alter Zeit, als du es brauchst – und dich dort einzurichten. Gib dich nicht besiegt.
Rimbaud in „Eine Saison in der Hölle“

Arthur Rimbaud hat in seiner Selbstdarstellung „Eine Saison in der Hölle“ keinen Zweifel daran gelassen, daß sein Dichten nicht eine artifizielle Weiterführung literarischer Traditionen gewesen ist. Vielmehr war es die Bekundung einer Lebensnot, von der er konsequenterweise nur so lange gesprochen hat, wie sie für ihn bestand:

Oh! Dieses Leben meiner Kindheit, auf der Landstraße bei jedem Wetter, mäßig auf übernatürliche Art, wunschloser als der beste Bettler, stolz darauf, keine Heimat, keine Freunde zu haben…

Es war nicht das Verlangen, Dichter zu werden, das den fleißigen und gesitteten Fünfzehnjährigen 1869 dazu brachte, ein Poem wie „Die Neujahrsgeschenke der Waisenkinder“ zu schreiben:

Im Haus ist keine Mutter mehr! – der Vater weit!…
Nur eine alte Magd ist ihnen hilfsbereit.
So sind allein die Kleinen in den eisigen Räumen,
Vierjährige Waisen…

Rimbaud beschwor hier die eigene Lage. Zwar war seine Mutter nicht tot, sie war sogar – in ihrer bigotten, hartherzigen und geizigen Art – schmerzhaft präsent. Doch gerade der Umstand, daß sie ein so strenges Regime führte und nicht nur ihre Kinder gängelte und schlug, sondern auch ihren Mann aus dem Haus vergrault hatte („der Vater weit!“), löste im Sohn das Gefühl aus, ein ungeborgenes, ein verwaistes Kind zu sein.
Einige Jahre zuvor, 1862 oder 1863, hatte sich der Junge in einem Schulheft bereits eine andere Kindheit in einer anderen Epoche erdacht:

Ich träumte, daß… ich in Reims geboren wäre, im Jahre 1503… Meine Eltern waren nicht besonders reich, aber sehr ehrenhafte Leute… Meine Mutter war… eine sanfte, stille Frau, die über eine Kleinigkeit in Schrecken geriet, jedoch das Haus in bester Ordnung hielt. Sie war so stillen Gemüts, daß mein Vater mit ihr scherzte wie mit einem jungen Mädchen. Ich war ihr Lieblingskind…

Dieses Prosastück war eine Zuflucht vor der Wirklichkeit. Es entwarf eine Gegenwelt, in der der Vater als Offizier erscheint, der er auch tatsächlich war, während die Mutter verklärt und in eine Aura der Idealität gehüllt wird, die sie völlig anders zeigt als die hölzern-stolze Grundbesitzertochter, die zurückgezogen von ihren Nachbarn lebte, die Kinder an der kurzen Leine materiellen Nützlichkeitsdenkens hielt und hierbei mit so kalter Vernunft verfuhr, daß Rimbaud in einem Brief über sie sagte, sie sei „unnachgiebig wie dreiundsiebzig Verwaltungsbehörden in Bleihelmen.“
Dem unglücklichen Jungen kam sein Sprachtalent zugute. Und die Fertigkeit, die er als Schüler beim Verfassen lateinischer und griechischer Verse erlangte, nützte ihm, als sich der seelische Druck staute und als er ein Ventil brauchte zur lingualen Regulierung seiner Verzweiflung und Wut.
Allerdings war die Literatur letztlich ein zu schwaches Mittel, um zu bannen und abzuleiten, was in Rimbaud an Spannungen bestand. So wurden die poetischen Eruptionen, mit denen er 1870 nicht nur seinen Lehrer Izambard, sondern auch den Parnasse-Dichter Théodore de Banville überraschte, bald von Fluchtversuchen begleitet, in denen sich das Ausbruchsverlangen des jungen Rebellen von der symbolischen Agitationsbühne zusätzlich auf die Ebene kruder Tatsächlichkeit verlagerte.
Als Rimbaud 1871 bereits zum dritten Mal aufgegriffen und nach Charleville zurückgebracht wurde, schrieb er an George Izambard und Paul Demeny jene beiden Seher-Briefe, die eine Absage an die bisherige eigene Poesie darstellen und darüber hinaus den größten Teil der Weltlyrik wegen deren Subjektivität verdammen.
Was der Poet fortan von sich und anderen verlangte, war eine Dichtung „im Ausstand“, die mit allen Traditionen brach, dies jedoch nicht aus Effekthascherei, sondern aus einem anthropologischen Impuls, der bereits Wesentliches der Psychoanalyse vorwegnahm: Freuds Begriff des ,Es‘ und C.G. Jungs Postulat vom ,kollektiven Unbewußten‘.
Der Lyriker, so befand Rimbaud, müsse sich in Lumpereien verstricken und Leiden auf sich nehmen, um sich zu disponieren, zugleich Medium und Sprachrohr zu sein:

Es ist falsch zu sagen: Ich denke. Man müßte sagen: Es denkt mich… ICH ist ein Anderes. Umso schlimmer für das Holz, das sich als Geige vorfindet, und Hohn über die Ahnungslosen, die an dem herumkritteln, was sie überhaupt nicht kennen!

Noch apodiktischer war der folgende Brief, in dem Rimbaud dozierte:

Alle antike Dichtung vollendet sich in der griechischen Dichtung. Harmonisch gefügtes Dasein. – Von Griechenland bis zur romantischen Bewegung – das ganze Mittelalter hindurch – gibt es nur Gebildete, Versemacher. Von Ennius bis Theroldus, von Theroldus bis Casimir Delavigne ist alles bloß gereimte Prosa, reines Spiel, Aufweichung und Ruhmsucht zahlloser idiotischer Generationen…

Sodann, nach einigen assoziativen Verknüpfungen, ließ Rimbaud noch einmal den Satz folgen, den er schon zur Maxime gemacht hatte: „Denn ICH ist ein Anderes“; und ähnlich wie zuvor durch die Analogie von dem Holz und der Geige verdeutlicht er auch diesmal seine Meinung:

Wenn das Blech als Trompete aufwacht, ist es nicht selber daran schuld.

Die Seher-Briefe sind hitzige, imaginativ-bildhafte Episteln, die nicht nur ihren Stellenwert im Werk Rimbauds besitzen. Sie haben auch eine immense Bedeutung weit über die moderne französische Dichtung hinaus. Dennoch sollte man in diesen spontanen und zudem unproportioniert dargebotenen Verlautbarungen keine kalkulierte Poetologie erblicken. Die Seher-Briefe sind vielmehr psychogrammatische Sondierungen eines genialen Halbwüchsigen, der in einem Akt radikaler Selbstbefreiung versucht hatte, die Traumata seiner Kindheit dadurch zu überwinden, daß er Verse schrieb, und der dabei gewahr wurde, daß Poesie mehr mit amorphen Triebkräften zu tun hat als mit überkommenen Formen und vorgegebenen Inhalten.
Da Rimbauds Fluchtversuche letztlich an kein Ziel führten, wählte er für seinen Eskapismus eine andere Richtung – den Weg ins psychische Innen, in dem er unverhofft einen großen Vorrat an archaischen Bildern vorfand:

Das erste, was der Mensch erarbeiten muß, der Dichter sein will, ist die volle Kenntnis des Eigenen; er spürt seiner Seele nach, gewinnt Einblicke in sie, verführt sie, macht sich die Erfahrung ihres Wesens zu eigen. Sobald er Bescheid weiß, muß er seine Seele kultivieren! Das scheint sehr einfach: in jedem Kopf vollzieht sich ja eine natürliche Entfaltung; deswegen erklären sich auch soviele Egoisten zu Autoren; und es gibt viele andere, die schreiben ihren geistigen Fortschritt sich selber zu! – Es handelt sich jedoch darum, die Seele ins Ungeheuerliche zu weiten… Ich sage, es ist notwendig, Seher zu sein, sich sehend zu machen. Der Dichter wird sehend durch eine lange gewaltige und wohlüberlegte Entfesselung aller Sinne. Sämtliche Formen von Liebe, Leiden, Wahnsinn; er sucht sich selbst, schöpft alle Giftwirkungen in sich aus… So gelangt er bis zum Unbekannten, und wenn er dann, überwältigt, auch endet, indem er seine eigenen Visionen nicht mehr versteht, so hat er sie doch immerhin erschaut! Mag er ruhig zerbrechen bei seinem riesigen Sprung durch die unerhörten und unbenennbaren Dinge: andere schreckenerregende Arbeiter werden nach ihm kommen und bei den Horizonten beginnen, an denen der Vorgänger sich erschöpft hat!

Die Seher-Briefe waren die intuitive theoretische Voraussetzung für einen Bruch mit der bisherigen subjektiven Poesie. Und die Erkenntnisse, die in ihnen gleichsam wie glühendes Gefühlsmagma zutage traten, gaben dem jungen Rimbaud die Möglichkeit, erlebnismäßig terra incognita zu erschließen.
Sein berühmtes – noch in gebundener Form und Reimen verfaßtes – Poem „Das trunkene Schiff “war die Transponierung der eigenen Schicksalsproblematik in die Landschaft der Tropen, die mit ihrer urweltlichen Naturkulisse einen grandiosen exotischen Hintergrund abgab für das Halluzinatorische überhitzter Phantasiebilder.
Im „Trunkenen Schiff“ klang erstmals eines der zentralen Motive Rimbauds an: seine Abneigung gegen Europa, dessen christlichen Glaubensvorstellungen und materiellen Praktiken er bald die Introspektionen seiner Prosagedichte entgegenhalten sollte, bevor er in dem poetisch-existenziellen Rechenschaftsbericht „Eine Saison in der Hölle“ mit dem Dichten ganz brach und sich auf sein späteres Leben in Afrika vorbereitete:

Ich bin ein Tier, ein Neger. Aber ich kann gerettet werden. Ihr seid falsche Neger… Kaufmann, du bist Neger… General, du bist Neger; Kaiser, räudiger alter Mann, du bist Neger… Das Klügste ist, diesen Kontinent zu verlassen, auf dem der Wahnsinn umherschleicht…

Auch in seinen Prosagedichten, den „Illuminations“, die er im Alter von achtzehn und neunzehn Jahren schrieb, hatte Rimbaud mit dem Abendland abgerechnet… teils, indem er irreales Terrain als Zuflucht erfand… teils durch direkte, bösartig formulierte Kritik:

Wo immer sich an irgendeinem Abend, zum Beispiel, der unverdorbene Reisende, entronnen unseren wirtschaftlichen Scheußlichkeiten, befinden mag, läßt die Hand eines Meisters das Wiesenklavier ertönen, spielt man Karten auf dem Grund des Teiches… Sklave seiner Visionen, arbeitet sich Deutschland mühsam zu den Regionen der Monde hinauf; die Wüsten der Tartarei erhellen sich; die Revolutionen alter Zeiten krabbeln im Mittelpunkt des Himmlischen Reiches; auf den Stufen und Sesseln von Felsen will sich eine kleine, blasse und platte Welt, Afrika und Länder des Abendlands, aufbauen… Die gleiche bürgerliche Magie allerorten, wo immer uns die Post absetzt! Der simpelste Physikschüler fühlt, daß es nicht mehr möglich ist, sich diese persönliche Atmosphäre gefallen zu lassen…

Rimbaud hat mit den hingefetzten Bildern seines Prosagedichts „Historischer Abend“ kassandrahaft die Ungeheuerlichkeiten des 20. Jahrhunderts vorweggenommen: die Trivialisierung des Weltraums durch die Raketentechnik, den asiatischen Steppenkommunismus und die gesellschaftlichen Umbrüche in China. Seine mediale Sensitivität versetzte ihn in die Lage, die kommenden Zerrüttungen und Zerstörungen von unscheinbaren Anzeichen abzulesen, die er in seiner Umgebung wahrnahm und die ihm zum Menetekel wurden.
Eine kurze schöpferische Zeit hindurch, in der er – ähnlich wie zuvor Góngora und später Giorgio de Chirico – frei mit den Phänomenen von Raum und Zeit schaltete, fühlte er sich als Souverän seines Lebens, ja geradezu als prometheischer Umgestaltet der Erde. Danach erschrak er über die Anmaßungen seiner Allmachtsphantasien; und auf die entgrenzenden (teilweise durch Haschischräusche stimulierten) Gebilde der „Illuminations“ folgte die verkaterte Gewissenserforschung „Eine Saison in der Hölle“.
Der Dichter, der zuvor seinen Groll fast ausschließlich nach außen gebracht hatte, bezog sich nun selber in seine Kritik und seinen Daseinsekel mit ein. Vor die Notwendigkeit gestellt, das zerrüttete Ich zu retten, erschien ihm sein poetisches Delirieren plötzlich als Narretei, und der Stolz, „die Alchemie des Worts“ und „die Farbe der Vokale“ entdeckt, ja erfunden zu haben, hob nicht die Angst auf, wahnsinnig zu werden. Das Seher- und Schöpfertum gab keinen Anlaß mehr zur Prahlsucht:

Es ging nicht ohne allerlei poetischen Trödelkram ab bei meiner Schwarzkunst des Wortes… Zuletzt kam ich dahin, die Verwirrung meines Geistes geradezu als etwas Heiliges zu empfinden. Ich verfiel dem Müßiggang, von schwerem Fieber heimgesucht: ich beneidete die Tiere um ihre Glückseligkeit, – die Raupen, welche die Unschuld der ungetauften Kinder verkörpern, die Maulwürfe, den Schlaf der Jungfräulichkeit… Zuletzt, o Glück, löste ich das Blau vom Himmel ab, so daß er nun schwarz ist, und ich lebte, goldener Funke des Lichtes Natur… Ich wurde eine Märchenoper: Ich sah, daß allen Wesen ihr Glück vom Verhängnis bestimmt wird: Die Tat ist nicht das Leben, sondern eine Art Kraftvergeudung, eine Schwächung. Moral ist Gehirnschwäche… Meine Gesundheit war gefährdet. Angst überkam mich. Ich schlief manchmal ganze Tage lang, und wenn ich aufgestanden war, träumte ich die traurigsten Träume weiter. Ich war reif für den Tod… Ich mußte auf Wanderschaft gehen, die Zauberbilder zerstreuen, die sich in meinem Gehirn angesammelt hatten…

Rimbaud (wenn er mit seinem Werk auch die Dichtung der Zukunft beeinflußte und für spätere Bewegungen wie Expressionismus, Creacionismus und Surrealismus richtungsweisend wurde) war, nach seinem eigenen Urteil, auf dem Weg nach innen gescheitert. Er hatte nur deswegen neue Wahrheiten und Bilder aus der Tiefe seiner künstlich verwirrten Psyche hervorzubringen vermocht, weil er sein rationales Ich vorsätzlich zerstört und sich hierdurch in eine Lage gebracht hatte, die von C.G. Jung in Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten folgendermaßen beschrieben wird:

Ein Zusammenbruch der bewußten Einstellung… ist immer ein kleiner Weltuntergang… Man ist ausgeliefert, desorientiert, ein steuerloses Schiff, den Launen der Elemente preisgegeben. So scheint es wenigstens. In Wirklichkeit aber ist man auf das kollektive Unbewußte zurückgefallen, das nunmehr die Führung übernimmt… Gelangen aber die unbewußten Inhalte bis ins Bewußtsein und füllen es mit ihrer beinahe unheimlichen Überzeugungskraft, so erhebt sich die Frage, wie das Individuum darauf reagieren wird. Wird es von diesen Inhalten überwältigt? Oder wird es sie bloß glauben? Oder wird es sie ablehnen?… Der erste Fall bedeutet Paranoia oder Schizophrenie. Der zweite Fall wird zum prophetenhaften Sonderling oder zu einem infantilen Menschen, der aber aus der menschlichen Kulturgemeinschaft ausscheidet. Der dritte Fall bedeutet die regressive Wiederherstellung der Persona

Ein Mensch, der seine Individualität auf regressivem Wege restituiert, ist – nach Jung – jemand, der „infolge des Schreckens auf eine frühere Entfaltungsstufe seiner Persönlichkeit zurückgerutscht ist, er hat sich verkleinert und gibt sich den Anschein, als ob er noch vor dem kritischen Erlebnis stünde, aber mit gänzlicher Unfähigkeit, an die Wiederholung eines solchen Wagnisses auch nur zu denken.“
Die Überlegungen Jungs, obwohl grundsätzlich gemeint, lassen sich in frappanter Weise auf Rimbaud anwenden… von dem Augenblick an, als er sich als das Blech einer Trompete fühlte, die ein anderer blies, bis zur Aufgabe seiner literarischen Karriere und zum Nicht-mehr-Verstehen dessen, was er eine Zeitlang leidenschaftlich betrieben hatte.
Rimbaud, als er sich von Izambard und Demeny abwandte und damit begann, gegen Europa, die Geschichte, die Gesellschaft, die Kultur, die Kirche, die Ehe, die Wissenschaft, die Technik und den Fortschritt Sturm zu laufen, handelte vermutlich weitaus zwanghafter als es diejenigen Exegeten wahrhaben wollen, die in ihm einen bewußten Provokateur und methodischen Arrangeur erblicken.
Seine unheilvolle Kindheit, noch bevor sie zum Abschluß kam, ging über in ein Jünglingsdasein, das nicht weniger unerträglich war, bescherte es doch – statt der ersehnten Liebeserfüllung mit Frauen – nur die Männerfreundschaft mit Verlaine, die zwar regen geistigen Austausch brachte, doch zugleich einen innerlich nie akzeptierten körperlichen Kontakt.
Die Probleme Rimbauds ließen sich, außerliterarisch wie sie eigentlich waren, mit literarischen Mitteln (und in literarischen Milieus) nicht lösen, lediglich gestalterisch verfremden:

ENFANCE III

Im Wald lebt ein Vogel, sein Lied macht, daß du den Schritt anhältst und errötest.
Es gibt eine Uhr, die nicht schlägt.
Es gibt eine Schlucht mit einem Nest voll weißer Tiere.
Es gibt eine Kathedrale, die versinkt, und einen See, der aufsteige.
Es gibt einen kleinen Wagen, der verlassen im Buschholz steht oder im Lauf den Pfad hinabrollt, ganz mit bunten Bändern geschmückt.
Es gibt eine Gesellschaft von kleinen Schauspielern in ihren Theaterkostümen, erschaut auf der Straße, die durch den Saum des Waldes hindurch führt.
Es gibt zuletzt, wenn man Hunger und Durst hat, einen Menschen, der dich fortjagt.

Rimbaud war zunächst Dichter geworden, weil die Poesie ihn (wie jene Schulhefterzählung, in der er sich ins Mittelalter zurückversetzte) von der Wirklichkeit distanzieren sollte. Doch bald stellte sich heraus, daß die Dichtung und die Männer, die sie praktizierten, nicht geeignet waren, seinem Geist Freiheit zu verschaffen und seine Seele von Schmerz zu entbinden. So verfiel er auf die Idee, ins Unbekannte des eigenen Selbst vorzudringen wie in einen noch zu entdeckenden Kontinent:

AUFBRUCH

Genug geschaut. Die Vision ist mir begegnet unter allen Himmelsstrichen.
Genug besessen. Getöse der Städte, am Abend, und in der Sonne, und immer.
Genug gekannt. Die Augenblicke, in denen das Leben stillsteht. – O Getöse und Visionen!
Aufbruch in neuer Liebe und neuem Geräusch.

Die neue Liebe, das neue Geräusch stellten sich jedoch nicht ein – außer in der Phantasie und in der Kunstwelt alchemistischer Wortklänge. Darum wurde Rimbaud immer verzweifelter und, Folge hiervon, immer rüpelhafter, unflätiger und zynischer. Wie er zuvor Priester angespuckt und mit Läusen beworfen hatte, beleidigte er nun auch seine Freunde, die Pariser Literaten, bis diese ihn boykottierten. Und als er fortan ganz auf seinen Mentor Verlaine angewiesen war, peinigte er diesen, der ihn mit homosexuellem Begehren verwirrte und provozierte, derart, daß es auf einer der gemeinsamen Reisen in Brüssel schließlich zum Fiasko kam und Verlaine auf den Freund schoß.
Rimbaud empfand alles, was ihm von Seiten der Literaten widerfuhr, als Bestätigung seiner ohnehin schlechten Lebenserfahrungen. Die Welt war brutal, „barbarisch“ (so der Titel eines seiner Prosagedichte); man konnte sie nur hassen und verwünschen, und dem gemarterten Herzen blieb nichts, als „die geschlechtliche Unschuld in Bitternis zu beruhigen“. Hierzu aber war jedes Mittel recht: Gemeinheit, Verrat, Laster, Rauschgift, die Verhöhnung der Kirche und die Deformierung der Wirklichkeit zu monströsen Metapherngebilden, in denen sich schulisches Bildungsgut und Lesefrüchte mit eigenen Dissoziationen verbanden, so daß ein affektives Werk entstand… etwa zeitgleich mit Lautréamonts Die Gesänge des Maldoror, diesem (artistisch freilich weit unkonzentrierteren) Wortkatarakt.
In den „Illuminations“ wurde Rimbaud zu einem Magier, einem durchtriebenen Gaukler, der Märchensujets und antike Motive mit Wissenschaftspartikeln und privatphilosophischen Sentenzen durchsetzte – alles über dem Abgrund einer transzendenzlos gewordenen Welt. Da gibt es Blumen am Nordpol. Oder, in einem Text mit dem Titel „Stadtbahn“, eine „einfältige Undine“, die in ebenso befremdlicher Nachbarschaft steht wie, an anderer Stelle, die „Nymphen des Horaz in der Haartracht des Ersten Kaiserreichs“.
Rimbaud hat die Form des Prosagedichts von Baudelaire übernommen, zusammen mit der nervösen urbanen Unrast, diesem Markenzeichen der Moderne:

Wahrhaftig, die Nerven haben es eilig zu jagen.

Doch während die Prosagedichte seines Vorgängers noch weitgehend erzählenden Charakter haben und zur szenischen Durchgestaltung neigen, geht es bei Rimbaud abrupt und akausal zu. Es gibt keine Episoden mehr, nichts Narrativ-Organisches, keine Chronologie, keine Logik.
Der einzige rote Faden, der sich durch das Gewebe der Miniaturen zieht, ist die sprunghafte Vorstellungskraft des Dichters, eine irrlichternde Phantasie, die – der Schlußtext der „Illuminations“ heißt „Ausverkauf!“ – die Bestände des Abendlandes wie Restposten verschleudert:

Da oben, die Füße im Wasserfall und in den Dornen, saugen die Hirsche an den Brüsten der Diana. Die Bacchantinnen der Vorstädte schluchzen, und der Mond brennt und heult.

Oder, unheilbar dissonantisch und desolat:

In der schmutzigen Hauptstraße wurden die Fleischbänke aufgeschlagen, und man schob die Barken ans Meer, das abgestuft dort oben lag, wie auf den Kupferstichen… Frau *** stellte ein Klavier in den Alpen auf. Die Messe und die Feiern der Ersten Kommunion wurden abgehalten an den hunderttausend Altären der Kathedrale. Die Karawanen zogen los. Und das Splendid-Hotel wurde gebaut in der Urwelt des Eises und der Nacht des Nordpols. Von da an hörte der Mond, wie die Schakale in den Thymianwiesen winselten, – und wie die Hirtengedichte, Holzschuhe an den Füßen, im Obstgarten knurrten.

Rimbauds somnambuler Gesang verlor sich jedoch nicht gänzlich ins Imaginäre. Immer wieder klang Persönliches an, Konfessionelles in herber Diktion: „… und wir irrten dahin, uns nährend vom Wein der Spelunken und vom Zwieback der Straße, ich, gedrängt von dem Verlangen, die Stätte und die Formel zu finden“, so heißt es über die Vagabundenzeit, die der Dichter gemeinsam mit Verlaine verbrachte. Doch eindringlicher als alles andere sind beiläufige Schmerzbekundungen, die zurückverweisen auf schwärende Kindheitswunden:

Kleine Kinder ersticken Verwünschungen längs der Flüsse.

Und:

Ich könnte wohl das Kind sein, das auf der ins hohe Meer getriebenen Mole ausgesetzt war, der kleine Bube, der die Allee dahingeht, deren Stirn an den Himmel rührt.

Das Gefühl der Ungeborgenheit, das Rimbauds Kindheit und Jugend bestimmt hatte, führte zu den wütenden Hammerschlägen seiner Gedichte und Prosagedichte. Aber weil sein Rebellentum, das ihn an den Gitterstäben des universellen Käfigs rütteln ließ, zu keinem Ergebnis, zu keiner äußeren und inneren Befreiung führte, brachen allmählich sein Kampfesmut und seine Widerstandskraft zusammen. Die poetischen Attacken wurden ihm jetzt fragwürdig, ja, sie erschienen ihm von einem gewissen Zeitpunkt an als unwürdig und lächerlich, und wenn man ihn später auf seine Poesie hin ansprach, wich er aus oder machte lapidare abfällige Bemerkungen.
Der Dichter und der Seher Rimbaud – das war ein Mensch im Zustand der Revolte und der Katharsis gewesen. Ein Berserker, der es mit den Göttern aufgenommen hatte – für eine kurze rauschhafte Zeit, an deren Ende er erkennen mußte, daß alles doch vergebens gewesen war, der Zauber der Worte und das Fieber der Bilder. Christus war nicht aus den Kirchen zu vertreiben; und das kommerziell und gemein denkende Jahrhundert, in dem er lebte, blieb unabänderlich „ein Jahrhundert der Handlanger“. Nichts war ihm gelungen, nichts vergönnt gewesen:

… die Prasserei und die Vertrautheit mit den Frauen war mir untersagt. Nicht einmal ein Kamerad.

In „Eine Saison in der Hölle“ hält Rimbaud gnadenlos Selbstgericht, er bezeichnet sich als von „minderwertiger Rasse“ und nennt das Unglück seinen Gott. „Ich habe“, sagt er bitter, „die Henker gerufen, nur, weil ich im Tode in die Kolben ihrer Gewehre beißen wollte.“ So spricht kein größenwahnsinniger Dichter, sondern eine arme geschundene Kreatur, ein gefallener Engel, der nicht länger von sich zu behaupten wagt:

Ich kann Gold machen, Heilmittel herstellen.

Der Aufbruch, die Himmelsstürmerei, war mißglückt. Und das Verstummen Rimbauds als Dichter geschah nicht weniger zwanghaft als zuvor die Entfesselung des lyrischen Redestroms, dem ein Verlangen nach Druckentlastung zugrunde gelegen hatte, doch der immer tiefer in Verstrickung und Verhängnis führte, bis keine anderen Gefühle mehr übrigblieben als Lebensekel und Todesverlangen:

Wenn man mir doch endlich dies Grab mieten wollte, kalkgetüncht, mit Relieflinien aus Zement, – sehr tief in der Erde.

Rimbauds Poesie war von Anfang an aufs Verstummen hin angelegt. Das titanische Aufbegehren fand eine Entsprechung im Erschrecken über seine eigene Maßlosigkeit. Und als es gelungen war, das aufgepeitschte Blut zu beruhigen und den Verstand aus hybriden Höhen herunterzuholen, trat jener Zustand ein, den C.G. Jung als die regressive Wiederherstellung der Persona auf einer niederen Bewußtseinsebene beschrieben hat.
Der Prozeß war abgeschlossen. Ein paar Gedichte folgten noch, so wie bei einem Erdrutsch einige Gesteinsbrocken hinterherpoltern. Ansonsten war der Vulkan erloschen… und seine Spitze, der eruptive Kegel, war explodiert und weggesprengt.
Rimbaud glaubte sich als Mensch wie als Dichter gescheitert. Aber bevor er Europa, dem verhaßten Kontinent, endgültig den Rücken kehrte und sich in Abessinien abkapselte, machte er viele spontane Reisen, die ihn zwar durch die halbe Welt führten, doch von denen er immer nach Frankreich zurückkehrte.
Parallel zu seinen Reisen im Raum, die alle etwas Ziellos-Fluchtartiges hatten, unternahm er linguistische Streifzüge, bei denen er zahlreiche Fremdsprachen lernte. Diese Anstrengungen waren, meiner Meinung nach, nicht nur aufs Praktische, aufs Kommunikative, gerichtet – sie hatten auch psychische Stabilisierungsfunktion. Fremdsprachen, so lehrt uns die moderne Psychotherapie, sind dazu geeignet, bei Schizophrenen und anderen Angstkranken als Sedativa zu wirken. Weil an den Vokabeln eines unbekannten, erst noch zu lernenden Idioms keine emotionsbeladenen Erinnerungswurzeln hängen, können sie therapeutisch eingesetzt werden: als verbale Synapsen, mit deren Hilfe sich andere Verbindungen herstellen lassen als die, die in der Muttersprache manifest geworden sind.
Rimbaud, der durch die antiken Poeten, die er in der Schule hatte lesen müssen, zum Dichten angeregt worden war, erlangte am Ende seiner Laufbahn als Wortalchemist Abstand zu sich und seiner Poesie durch das Erlernen gefühlsneutraler Sprachen.
Der Grund dafür, daß er schließlich nach Ostafrika ging und sich in dem trostlosen Ort Harar niederließ, hat möglicherweise mit seinem Vater zu tun. Dieser hatte ebenfalls vier Jahre in Afrika verbracht: in Algerien, wo er vor seiner Eheschließung als Offizier in der Armee gedient und Interesse für den Islam entwickelt hatte, das ihn veranlaßte, den Koran zu übersetzen.
Rimbaud hat Arabisch anhand der Suren-Übertragungen seines Vaters gelernt. Allerdings lockte es ihn nicht in den Maghreb, sondern tief er in den dunklen Erdteil: hin zu den „Söhnen Hams“, den Schwarzen, zu denen er bereits in seinem poetischen Werk eine sympathisierende Nähe bekundet hatte.
Als der Dichter, der längst keiner mehr war, am Horn von Afrika eine neue unbehauste Existenz begann, trat er in einen gewissen inneren Bezug zu seinem Vater, und gleichzeitig schuf er eine hinreichende Distanz zu Europa und seiner Familie. Indem er nun mit landwirtschaftlichen Produkten und Waffen, ja möglicherweise sogar mit Sklaven handelte, ließ er jedes Streben nach Poesie und Schönheit hinter sich, und in asketischer Selbstverleugnung tat er genau das, was seine materialistisch eingestellte Mutter stets von ihm erwartet hatte: er raffte Geld zusammen, strebte nach schnödem Gewinn.
Rimbaud, der sich auch in Afrika noch mit Sprachen beschäftigte, beherrschte das Arabische so vollkommen, daß er in Harar während seiner Feierabendstunden die Einheimischen unterrichtete und auf Exkursionen den Kameltreibern aus dem Koran vorlas. Die Menschen, die in Äthiopien mit ihm zu tun hatten, waren der Ansicht, daß er ein Moslem sei wie sie, und er unterstrich diesen Eindruck dadurch, daß er sich in orientalische Gewänder hüllte.
Auf seinem Sterbebett in Marseille soll er, den Bekundungen seiner Schwester Isabelle zufolge, gemurmelt haben: „Allah Kerim!“, „Der Wille Allahs geschehe!“
Die Briefe, die Rimbaud aus Afrika an seine Angehörigen geschrieben hat, waren lakonisch und amusisch. Nur selten gab es Veranschaulichungen von Landstrichen und Orten. Deutlicher schon meldete sich der Krämer zu Wort, der kalte Projektemacher, der darauf bedacht war, Abstand zu wahren und Europa und dessen Belange von sich fernzuhalten:

Ihr sprecht mir von politischen Neuigkeiten. Wenn Ihr wüßtet, wie gleichgültig mir das ist!… Wie die Muselmanen weiß ich, daß das, was geschehen soll, geschieht, und damit genug.

Am Schluß seiner kometenhaften literarischen Karriere hatte Rimbaud gesagt, daß es ihm darum gehe, „die Wahrheit in einer Seele und in einem Körper zu besitzen“. Nun, ganz ein Mann der Tat geworden, litt er unter der Trivialisierung seines Daseins nicht weniger als in den Tagen seiner poetischen Aufschwünge: „… was soll man Euch schreiben? Daß man sich langweilt, daß man verblödet, vertiert, daß man genug davon hat, aber nicht aufhören kann“; dann, nur drei Absätze weiter, machte er jedoch eine Aussage, die weit positiver klingt und die die Widersprüchlichkeit seiner Empfindungen und die Sprunghaftigkeit seiner Beweisführung belegt:

Die Leute in Harar sind weder dümmer noch schuftiger als die weißen Neger der sogenannten zivilisierten Länder, es ist nicht dieselbe Art, das ist alles. Sie sind sogar weniger boshaft und können in bestimmten Fällen Dankbarkeit und Treue bekunden.

Rimbaud beantwortete die Briefe seiner Mutter, die ihn nach Frankreich zurückhaben wollte, mit Finessen und wechselnden Argumenten. Er wich den Verheiratungsplänen seiner Familie aus und schützte bald Geschäfte vor, bald verschanzte er sich hinter klimatischen Bedürfnissen. Die Notwendigkeit, Europa fernbleiben zu müssen, wurde durch immer neue Bedenken und Vorwände plausibel gemacht:

… welche Stellung könnte ich haben? Das ist auch so eine Frage. Außerdem ist mir eines gänzlich unmöglich, fest ansässig zu leben.

Vermutlich wäre Rimbaud niemals nach Frankreich zurückgekehrt, hätte sich im Frühjahr 1891 nicht jene rapid wachsende Geschwulst am rechten Knie gebildet, die ihn veranlaßte, seine Niederlassung in Harar aufzulösen und – unter primitivsten Bedingungen und von unerträglichen Schmerzen geplagt – nach Aden zu reisen. Dort nahm er ein Schiff nach Marseille und bekam sogleich das Bein amputiert. Wenige Tage verbrachte er im Haus der Mutter in Roche. Dann faßte er den irrwitzigen Plan, nach Afrika zurückzukehren: des wärmeren Klimas wegen, von dem er sich Genesung versprach. Er schaffte es in Begleitung seiner Schwester Isabelle gerade bis nach Marseille, wo er erneut ins Krankenhaus mußte. Eine Lähmung, die alle Glieder erfaßte, brachte zu den Schmerzen noch das Entsetzen über das Versagen des eigenen Körpers. „Krebs“ lautete die damalige Diagnose. Doch kann es sich auch um das Endstadium einer Syphilis gehandelt haben.
Der erlösende Tod stellte sich am 10. November 1891 ein. Kurz vor seinem Ableben soll der erst Siebenunddreißigjährige den islamischen und den katholischen Sterbe-Ritus vollzogen haben. –
Rimbaud hat von allen Dichtern der Vor-Moderne den vermutlich größten Einfluß auf die nachfolgenden Generationen gehabt… weltweit… allerdings mit einer jahrzehntelangen (für grenzverschiebende Leistungen wiederum nicht untypischen) Phasenverzögerung.
Ohne seine „Illuminations“, diese rigorosen Kolonisierungen des Unbewußten, wäre es kaum zur Ausbildung des Surrealismus gekommen – jedenfalls nicht mit der schließlich erfolgten Tiefen- und Breitenwirkung, die ganz Europa ebenso erreichte wie Asien und, auf unterschiedliche Art, beide Amerikas.
Auch „Das trunkene Schiff“ hat wahre Versgeschwader – vor allem solche unter deutscher Flagge! – aufbrechen lassen zu den exotischen Landstrichen imaginierter Länder. Paul Zech ließ sich (die Expansion des Originals noch übertreibend) zu einem wortgewaltigen Übersetzungsabenteuer hinreißen; und von den Expressionisten bis zu Brechts Hauspostille wirkte das Vokabular des „Bateau ivre“ als metaphorische Droge, die sich eindrucksvoll gegen die dichterische Konvention und die auszehrende Begrifflichkeit der westlichen Zivilisation einsetzen ließ.

Die Zitate basieren im Wesentlichen auf: Arthur Rimbaud: Sämtliche Dichtungen (Übersetzung Walther Küchler, ergänzt durch Carl Andreas) und Arthur Rimbaud: Briefe. Dokumente (übersetzt, erläutert, herausgegeben von Curt Ochwadt), Rowohlt Verlag (rororo) 1963 und 1964.

Hans-Jürgen Heise, Erstpublikation in Universitas 11/1991. Hier in Hans-Jürgen Heise: Rangierbahnhof fremden Lebens. Essay über 33 Schlüsselfiguren der Moderne. Wallstein Verlag, 2008 komprimiert.

Johannes Hübner: „Je est un autre“. Gedanken zu Arthur Rimbaud
DU, Heft 1, Januar 1969

Rimbaud Mystique – Der mystische Rimbaud (1992)

I.
Ich lernte Rimbaud zu einer Zeit kennen, als ich mich sehr für die mystische Erfahrung interessierte – vor allem unter ihren formalen und sprachlichen Aspekten. Mehr und mehr habe ich meine Lektüre vertieft und mir gesagt: Rimbaud scheint die gleiche Abstammung zu haben, nämlich die des mystischen Wahns. Ich kam auf die Idee, ihn in meine Sprache übersetzen zu wollen, aber die Schwierigkeiten, die sich mir entgegenstellten, zwangen mich, dieses Projekt erst einmal zu verschieben; allerdings gestattete mir die Arbeit, die ich bereits geleistet hatte, die Natur des Weges, den Rimbaud genommen hat, besser einzuschätzen.
Zuerst einmal schien mir, daß sich das Werk Rimbauds durch eine sehr akzentuierte Ablehnung aller Elemente charakterisiert, die aus dem griechischen und dem jüdisch-christlichen Kulturerbe stammen. Eine solche Verhaltensweise verleiht ihm einen einzigartigen Charakter innerhalb der französischen Kultur seiner Zeit, und zwar insofern, als es sich nicht um eine banale Ablehnung zu handeln scheint, die sich durch restloses Verschweigen oder durch eine negative Einstellung ausdrücken würde. Rimbaud scheint sich bemüht zu haben, eine Denkart und die Praxis einer anderen Sprache zu entwickeln als gerade jene, welche ihm durch seine Kultur, sein Milieu und seine Bildung zur Verfügung stand. Es ist dies nicht einmal diese oder jene ausgesuchte Tradition, mit der er bei Gelegenheit spielt und die er abzulehnen scheint, sondern es ist der gesamte Westen als kulturelle Einheit. Als ich das verstanden hatte, hieß dies gleichzeitig für mich, daß die Poesie Rimbauds der französischen Poesie fremd war.
Zweitens stellte ich fest, daß Rimbaud in seinen Briefen an Izambard und Demeny zu Formulierungen kam, die denen der großen arabischen Mystiker sehr nahe kamen, vor allem, was die „vernünftige Unordnung aller Sinne“ anbelangt, die dazu bestimmt ist, einen Zustand der Transparenz zu unterstützen, der die opake Dichte der äußeren Welt zu durchdringen gestattet, um das Unhörbare zu hören und letztendlich das Unsichtbare zu sehen.
Dies brachte mich dahin zu versuchen, Rimbaud wie einen mystischen Dichter zu lesen.

II.
Bei dieser neuen Lesweise habe ich in der Dichtung Rimbauds die wichtigsten Dimensionen der schöpferischen arabischen Vision wiedergefunden. Nun mag das Wort „arabisch“ hier eine gewisse Doppeldeutigkeit hervorrufen; deswegen möchte ich meine Absichten präzisieren. Ich benutze dieses Wort in einem Sinne, der rassistische, nationalistische oder religiöse Konzepte völlig außer acht läßt. Für mich bezieht es sich auf eine kulturelle Komplexität, deren Wurzeln viel weiter zurückliegen als der Islam: Sie finden sich in Indien, Persien, in Griechenland, in Sumer und Babylon und verlaufen über die beiden jüdischen und christlichen Prophezeiungen. Es ist eine Komplexität, deren diverse Elemente sich im Klima des Islams, vor allem im Klima des Mittelmeeres zusammenfanden und die sich auf Arabisch ausdrückte. Meine Lesweise ist also die eines arabischen Dichters von heute, der versucht, die „arabische“ Dimension im weitesten Sinne in der Vision, dem Experiment Rimbauds zu erforschen.
Was nun das Wort „Orient“ anbelangt, so bedeutet es für mich ,arabischer Orient‘, der ein Teil eines viel weiter gefaßten Orients ist, der, trotz der Unterschiedlichkeit seiner Völker und seiner Kulturen, eine geschlossene Einheit dem Okzident gegenüber darstellt.

III.
Rimbaud wurde geboren, lebte und starb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (20. Oktober 1854 – 15. November 1891). Er verbrachte mehr als zehn Jahre seiner kurzen Existenz in einem arabo-islamischen Milieu. Sein erster Brief aus Aden trägt das Datum des 17. August 1880, der letzte das vom 30. April 1891. Man befindet sich in einer Epoche, in der Europa die entscheidende Mutation durchgemacht hat, die durch das Verlassen des theokratischen und feudalen Stadiums und durch den Imperialismus gekennzeichnet ist. Die Wiederentdeckung der griechischen Rationalität trägt also dazu bei, a priori das mythische Denken und die mythischen Strukturen zu eliminieren und die Fundamente eines neuen Rationalismus zu schaffen.
Als das Leben im Okzident auf der industriellen Dimension zu basieren begann, beschäftigte sich das westliche Denken gerade mit der Kritik am Ich und am Anderen. Der Araber als der Andere befand sich inmitten dieser Fragestellungen, und man kann sagen, daß die Position von Renan, die er gegenüber Averroes und dem Averroismus in seiner These, die er am 11. August 1852 (zwei Jahre vor der Geburt Rimbauds) aufstellte, zu den bemerkenswertesten kritischen Fragestellungen zum Thema „der Andere“, der Araber kommt. Selbst wenn die Kritik an den arabischen Denkern, die aus der westlichen Denkweise entstand, recht weit von Objektivität und Präzision entfernt war – ist es doch nicht übertrieben festzustellen, daß sie mehr von ihrer eigenen Entwicklung zeugt als von authentischem Verständnis der Araber – bleibt aber festzuhalten, daß der westliche Rationalismus sich auf zwei Hauptrichtungen aufbaut, nämlich der griechischen Philosophie und dem arabischen Wissen.
Dieser Rationalismus hat als zentrale Achse die Kenntnis von der Materie, aber da die Materie in der Hauptsache etwas ist, das Widerstand leistet, ist man natürlich gezwungen, sich mit ihr auseinanderzusetzen, um ihre Eigenschaften zu entdecken, zumindest wenn man sie verstehen und verändern will. Die Veränderung der Materie als Sache oder Objekt führt unabdingbar zu einer Veränderung des Subjekts. So beginnt sich der westliche Rationalismus durch eine ununterbrochene Bewegung der Forschung und der Infragestellung all dessen auszudrücken, was Objekt und Subjekt betrifft. Anders gesagt: zu Natur und Kultur.
Rimbaud glaubte möglicherweise, daß die (Pariser) Kommune im Malstrom der Metamorphosen seinen Hoffnungen entspricht. Wir wissen, daß sie im Blut erstickt wurde, nachdem die „moralische Ordnung“ wiederhergestellt worden war. Diese Tatsachen haben Rimbaud zutiefst betroffen, wie ein Brief an Izambard beweist. Es mag sein, daß die „Saison in der Hölle“ nichts anderes ist als eine Saison in der Hölle der französischen Politik, ein Weg, um einer verrotteten, quasi wilden Realität zu begegnen.

IV.
Im Kontext dieses technischen Rationalismus und außerdem wegen der flagranten Ablehnung durch die offizielle Meinung, den Araber als den „Anderen“ anzusehen, entwickelte sich für Kunst und Literatur der Araber eine Interessenströmung, die ursprünglich aus der Renaissance stammt. Eine neue Form der Betrachtung des Orients und seiner Kultur entstand, die man als eine Ästhetik bezeichnen könnte und die über eine Sicht hinausgeht, die von kommerziellen und politischen Interessen geprägt ist; und sie geht auch über die einfache Beschreibung oder eine dekorative und betörende Schematisierung hinaus. Eine große Bewegung, die sich am Orient in seinen tieferen schöpferischen Dimensionen orientierte, begann. Dies geschah sowohl auf den Gebieten der Dichtung und des Romans, der Philosophie wie der Malerei als auch auf dem Feld des Theaters und der Musik. Aus dieser Bewegung heraus entstanden einige der großen arabisch-islamischen Werke wie „Tausendundeine Nacht“ und einige mystische Texte, insbesondere die Werke Farid ud-Din el-Attars (Das Buch der Ermutigungen, dessen Übersetzung von Sylvestre de Sacy 1819 veröffentlicht wurde, sowie die Konferenz der Vögel, die 1864 von Garcin de Tassy übersetzt wurde).
Man nahm trotz des dominierenden Rationalismus am Auftreten einer anderen Dimension teil, die den unsichtbaren Aspekten verbunden war und sich einer rationalen Definition verschloß. Diese Aspekte zeigen sich z.B. im Bild des Unendlichen, des Zauberhaften und des Imaginären. Der westliche Schöpfer beginnt den Strom anderer Verhältnisse zu spüren (außerhalb der offensichtlichen und sichtbaren Kausalität die so rationell etabliert wurde), das heißt Beziehungen, die sich aus einer anderen mysteriösen Kausalität ergeben, die man nicht erklären kann. Es handelt sich mit anderen Worten um Beziehungen, die das Gefühl des Undefinierten, der extremen Grenzen, der Durchdringung des Rahmens der Logik und der Rationalität entstehen lassen. Daraus folgte eine vollständige Umkehrung der westlichen Literatur: Verdammung der Rhetorik Boileaus – die die Theorie der Dichtung und der Literatur auf der Basis der Vernunft beherrschte – und die Hinwendung zu einer anderen Welt des Imaginären und des Traums, der feenhaften Fremdartigkeit. Das ist es, was Borges, wenn er von „Tausendundeiner Nacht“ spricht, „die verwunderliche Besetzung des Westens durch den Orient“ nennt. Diese Besetzung hat der Besitzergreifung der schöpferischen Dichtkunst und Prosa, der künstlerischen Schöpfung überhaupt durch die Vernunft ein Ende bereitet und hat die Kunst dem Unermeßlichen, dem Seltsamen geöffnet.
So zeigt sich im Lichte der immensen westlichen künstlerischen Produktion auf den Gebieten der Dichtung, der Malerei, der Musik, des Romans und des Theaters, daß der arabische Orient für die westlichen Schöpfer eine unerschöpfliche Quelle für Bilder und Formen war. Unter diesen Umständen überrascht es nicht, daß Goethe 1816 ausrief:

Rette Dich, zieh in den Orient, um die Luft deiner Vorfahren zu atmen.

und daß ein halbes Jahrhundert später Rimbaud ihm ein Echo liefert, als er sagt:

Hier bin ich, zurück im Orient und nahe der ersten ewigen Weisheit.1

Ich versuche gar nicht, wie es vielleicht eine Universitätsstudie fordern würde, zu beweisen, daß Rimbaud von der arabisch-mystischen Denkweise beeinflußt wurde. Die Frage nach dem Einfluß ist ohnehin von geringer Bedeutung, weil Einflüsse, ob nun empfangen oder ausgeübt, historische Phänomene sind, die weltweit das menschliche Schöpfertum begleiten. Bei der künstlerischen Schöpfung kommt nichts aus dem Nichts; wenn man den unablässigen Fluß betrachtet, ist der absolute Stillstand des Subjekts praktisch unmöglich.
Das Wichtigste ist die Art und Weise, in welcher die Materialien sich dem Schöpfer anbieten und wie er die Einflüsse, denen er unterliegt, benutzt. Ich werde im übrigen all das beiseite lassen, was man sich über Rimbaud erzählt, über seine Kenntnisse der arabischen Sprache und daß er als Moslem gestorben wäre. Gleichfalls will ich nicht auf die Geschichten über seinen Vater, Frédéric Rimbaud, eingehen, daß er Arabisch gekonnt, den Koran ins Französische übersetzt und Bücher über die arabische Sprache verfaßt haben soll.
Das ist es nicht, was wichtig ist: Es mag ebenso sein, daß ein Dichter die arabische Sprache beherrscht und sogar Moslem wird, ohne daß dies irgendeinen Einfluß auf seine Verwandtschaft mit den Mystikern hat. Man muß allerdings bemerken, daß die große Mehrheit der westlichen Forscher, die den Einfluß des Orients auf den Okzident studieren, unter Orient zuerst einmal Griechenland verstehen und das Judeo-Christentum. Nun kann man in der Dichtung Rimbauds Spuren von Griechenland und dem Judeo-Christentum finden, aber auf negative Weise, denn seine Dichtung ist durch eine Ablehnung dieser beiden Kulturen gekennzeichnet. Der Orient ist also in dieser Poesie etwas ganz anderes.
Es ist diese andere Dimension, die ich versuchen will einzukreisen, indem ich darauf hinweise, daß Rimbaud gegen die Ideologie des Fortschritts und der ererbten Kultur revoltiert, indem er nicht-westliche Elemente benutzt, die man arabisch nennen könnte – natürlich im weitesten und kulturellen Sinne der Bezeichnung, die weiter oben erwähnt wurde. Durch seine Sprache gibt Rimbaud im Rahmen eines orientalo-mystischen Horizonts einem poetischen Westen eine neue Grundlage.2

Wenn ich diese Lektüre vorlege, so bin ich mir völlig darüber im klaren, was sie unter den Kritikern mit ihren Befragungen hervorrufen wird, ganz abgesehen davon, daß ich die Masse der kritischen Studien, die Rimbaud gewidmet sind, in Klammern setze. Aber eben diese Studien widersprechen einander: Machen ihn nicht einige von ihnen zu einem Revolutionär der extremen Linken, während andere in ihm „einen Christen, der die Erfahrung der Sünde und der Erlösung“ gemacht hat, zu erkennen glauben? Eine andere Schrift betrachtet ihn als einen „Nietzscheaner“, der sich auf den Willen zur Macht und auf den Übermenschen bezieht. Ein anderer wiederum sieht in ihm einen Feind der Religion, der Nation und der Familie, betrachtet ihn als Götzendiener; er macht aus ihm obendrein noch einen verfrühten Surrealisten.
Meine Arbeit tut nichts anderes als diesen Widersprüchlichkeiten einen neuen Widerspruch hinzuzufügen, vielleicht ein wenig verwirrender insofern, als sie Rimbaud vollständig dem Kontext der westlichen Kritik entreißt und seine Dichtung einem anderen Horizont entgegenschiebt.

VI.
Ich werde meine Arbeit mit einer äußerlichen Definition der Charakteristika des Rimbaudschen Textes beginnen – so wie sie sich in „Eine Saison in der Hölle“ und in den „Illuminationen“ darstellt. Diese Charakteristika sind die gleichen wie die mystischer Texte, und es sind ihrer vier.
Erstes Charakteristikum: Der Rimbaudsche Text ist undurchdringlich, das heißt er ist undeutlich oder, um eine altmodische Ausdrucksweise anzuwenden, hermetisch. Der Grund hierfür ist, daß er eine Erfahrung vermittelt, deren Gegend das Unbekannte ist, so wie beim mystischen Text, der eine Erfahrung vermittelt, die sich im Verborgenen entwickelt. Es ist dies eine transzendente Erfahrung, die trotz ihrer Verwurzelung in der Zeit nicht eingefangen werden kann. Des weiteren übersteigt sie die sprachliche Energie; in der Unendlichkeit der Erfahrung befinden wir uns also vor der Endlichkeit der Worte. Die Sprache kommt aus dem Universum, die Erfahrung aber kommt von außerhalb des Universums. Diese Erfahrung ist eine Vision, deren Umfang nie aufhört, sich auszuweiten. Dies übersetzt der große Mystiker Niffarî so:

Je mehr sich die Vision verstärkt, desto mehr verringert sich der Ausdruck.

Dies zeigt sehr gut die Endlichkeit der Sprache. Hier wächst die Schwäche der Sprache, die sich als unfähig erweist, uns dem Universum, welches die mystische Erfahrung erreicht, entgegenzubringen aufgrund der Tatsache, daß sie etwas Unsagbares, Unaussprechliches zu übersetzen hätte, was man nur durch einen Prozeß erreichen kann, den man im Mystik-Lexikon mit Verzauberung oder aber „Ekstase“ bezeichnet. In dem Maße, in dem diese Anstrengung die Poesie selbst ist, zeigt sich zugleich, daß die wahre Poesie auf keinen Fall aus Durchsichtigkeit oder Beweisbarkeit besteht, sondern im Gegenteil ein „Sturz“ in die Finsternis des Universums ist.
Dieser „Sturz“ ruft eine Verirrung hervor. Trotz alledem ist diese durch die Intuition und das Herz erleuchtet. In diesem Sinne widersetzt sich der Rimbaudsche Text der okzidentalen Kultur, die sich auf die Vernunft stützt, die mit dem poetischen Wissen nicht vergleichbar ist. Dies ist auch der Fall beim mystischen Text, der auf dem Verborgenen fußt, einer Gegend, die unerforschte Wahrheiten enthält und unsichtbar, unvergleichlich mit dem Gesetz und der Institution oder mit dem Offensichtlichen ist. Genau wie der arabische Mystiker, der seine Ablehnung der rationalen Realität gegenüber zeigt, um das intuitiv Verborgene oder das Visionäre zu bestätigen, zeigt Rimbaud sich ablehnend gegenüber dem Dualismus von Subjekt und Objekt eines Descartes, auf dem die wissenschaftliche Erkenntnis beruht. In dem sogenannten „Seherbrief“ widerspricht er dem descartischen „Ich denke, also bin ich“, indem er ihm ein „Ich, das ist ein anderer“ entgegensetzt welches man so kommentieren könnte: Ich denke, also ist Ich ein anderer als ich; so spricht auch der Mystiker. Die Poesie ist jene Reise ins Unbekannte, wo sich das Ich verdunkelt in der Trunkenheit der Ekstase, und das Wesen wird das „Wir“, das „Er“ – kurz, wo das Ich ein „Nicht-Ich“ wird.
Zweites Charakteristikum: Obwohl der Rimbaudsche Text seine Wurzeln in einer westlichen Sprache hat, hört er nie auf, den westlichen Raum zu verlassen, den Raum von Descartes und Euklid, der unzählige und multiple Zwänge des täglichen Lebens auferlegt. Wir wissen alle, auf welche Weise das Leben Rimbauds eine heroische Anstrengung darstellte, um diesen Zwängen zu entgehen.
Drittes Charakteristikum: Der Rimbaudsche Text transzendiert den Dualismus Subjekt/Objekt von Descartes durch die Zweifelsübung. Dieser Zweifel stellt das Hindernis für das poetische Wissen dar. Daher rührt der Anstoß für das, was die Mystik das „Herz“ nennt und was unverzichtbar wird. Es ist notwendig, sich mit der vitalen Energie der Existenz in ihrer Einmaligkeit zu vereinen und zu einer Klarsichtigkeit zu kommen, die das Universum transparent macht und seine Geheimnisse durchdringt, welche dem rationalen Subjekt verdunkelt bleiben. Von poetischer Kenntnis und Mystik zu reden, bedeutet die Intuition des Nicht-Sehens der unsichtbaren Welt kenntlich zu machen, diesen Initialzustand, in dem es keine Trennung zwischen dem Ich und der Existenz, zwischen dem Ich und dem Wir gibt.
Um also den Rimbaudschen Text verstehen zu können, muß man den gleichen Prozeß anwenden, den man für die mystischen Texte benutzt: Ehe man den Ausdruck erfaßt, muß man die Anspielung begreifen. Das sagt Hallâj:

Derjenige, der sich nicht unseren Anspielungen hingibt, wird unseren Ausdruck nicht begreifen.

Diese Lesart ist weich, sie zeigt sich in der Vertraulichkeit und in der Anregung.
So kann man sagen, daß die meisten kritischen Arbeiten zu Rimbaud sich so verhalten wie zu den mystischen arabischen Texten: eine rationalistische Reduzierung, ein Schleier, der die ursprüngliche Klarheit des Textes verhüllt, indem er die Anspielung allgemein negiert und sich nur an den Ausdruck, den Text hält.
Viertes Charakteristikum: Der Rimbaudsche Text zeigt eine visionäre und prophetische Attitüde genau wie der mystische Text. Das Universum ist für den Okzidentalen ein Terrain der Auseinandersetzung, während es für die Mystiker eine Welt der Harmonie darstellt. In dem Moment, in dem der Okzidentale sich mit dem Universum durch die Vernunft konfrontiert sieht, versteht der Mystiker das Universum und empfängt es in seiner Intuition. Für den ersteren ist es ein außenliegendes Objekt, während es für den letzteren Innerlichkeit, Intimität und Geheimnis ist. Das Gefühl für das Universum ist für den Mystiker mit dem Sinn seiner Existenz verbunden: es ist subjektiv und nicht objektiv. So bewegt sich der Mystiker in einem Universum auf transsubstanzielle Weise genau da, wo der Okzidentale sich davon trennt. Beim Mystiker kommt die schöpferische Energie aus dieser Transsubstantiation; er begreift das Universum nicht wie der Okzidentale durch Intellekt oder rationale Abstraktion; er lebt es und realisiert es. Die Existenz ist nicht einfach eine Sache der Vernunft, sondern eine zu kommunizierende Botschaft, und darin enthüllt sich der Sinn der Prophetie, die fundamental unwestlich ist. Das Universum ist nicht ein Geschenk:, das dem Menschen gegeben wurde, sondern ein anvertrautes Gut, über welches er zu wachen hat. Er muß seine Kräfte fortsetzen, es in seinem Innersten konkretisieren und ihm das Leben anvertrauen, das ihm fehlt. Das Denken existiert unter solchem Gesichtspunkt nur als Leben. Der Haupteinsatz ist also die Umsetzung, die Praxis und nicht die Theoretisierung, die Abstraktion. Das Universum wird nur dann verstanden, wenn es im tiefsten Inneren des Wesens gelebt wird.

VII.
Welchen Weg hat Rimbaud nun gewählt, um ein solches Ziel zu erreichen? Ehe man darauf eine Antwort zu finden versucht, sollte man sich daran erinnern, daß sein Leben eine ununterbrochene Reise war, wo sich das innere Leben gewissermaßen mit dem äußeren vereint hat. Wiederum eine Erinnerung an das Leben des Mystikers, seinen Weg und seine Praxis. Das Leben Rimbauds war eine unterbrochene Kette, bei der es schwerfällt, eine Art Kontinuität zu entdecken. Ein Ensemble von Kontrasten: Fluchten, plötzliche Abtrünnigkeit, unvorhersehbare Wege. Es ist die gleiche Reise, die der Mystiker unternimmt, die ins Unbekannte führt und die fordert, daß man das Bekannte seiner Kategorien, seiner Konzepte, seiner Ausdrucksweisen und seiner institutionellen Werte enthebt. Dazu muß man zuerst den Effekt und die Aktivität der Sinne außer Kraft setzen. Das Gedicht Rimbauds mit dem Titel „Trunkener Morgen“ folgt dem Weg der Mystiker: das Höchste erflehen, das Gift trinken (Haschisch), um die Trunkenheit zu erreichen, welche die Sinne neutralisiert, die dualistischen Werte zurückweist, also Gut und Böse, und schließlich den Zustand der Trunkenheit, des Enthusiasmus und der Katharsis (das Vergehen) erreichen.
Man findet in den beiden Briefen, die Rimbaud am 13. und 15. Mai 1871 an George Izambard und Paul Demeny richtet, eine minutiöse Beschreibung dessen, was unternommen werden muß, um diesen Zustand zu erreichen. Im ersteren erklärt Rimbaud:

Ich will Dichter sein und arbeite daran, mich sehend zu machen. Sehen Sie: Sie werden überhaupt nichts verstehn, und ich kann es Ihnen kaum erklären. Es geht darum, durch die Verwirrung aller Sinne beim Unbekannten anzukommen. Die Leiden sind enorm, aber man muß stark sein. Als Dichter geboren, habe ich mich als solchen anerkannt. Es ist überhaupt nicht mein Fehler. Es ist falsch zu sagen: „Ich denke“, man müßte sagen: „Man denkt mich.“ – Verzeihen Sie das Wortspiel. Ich ist ein anderer. Gleichgültig ist das Holz, das sich als Geige wiederfindet, und Hohn über die Unbewußten, die sich über das, was sie vollständig ignorieren, streiten. (Gesamtwerk, Bibliothèque de la Pléiade, S. 249.)

Und im zweiten Brief fügt er hinzu:

Die erste Studie des Menschen, der ein Dichter sein will, ist sein eigenes Wissen – vollständig; er sucht seine Seele, er inspiziert sie, er versucht sie, erlernt sie. Sobald er sie kennt, muß er sie kultivieren.

Etwas weiter:

Ich sage, man muß sehend sein, sich sehend machen. Der Dichter macht sich sehend durch eine lange, immense und bewußte Verwirrung aller Sinne. (…) Unaussprechliche Folter, bei der er allen Glauben, alle übermenschliche Kraft braucht, wo er unter allen der große Kranke wird, der große Kriminelle, der große Böse und – der höchste Weise! – Denn er erreicht das Unbekannte!

Rimbaud schlußfolgert weiter unten:

Also ist der Dichter wirklich der Dieb des Feuers. Er ist von der Menschheit, ja sogar von den Tieren beauftragt; er müßte seine Erfindungen fühlen, pulsieren, hören lassen; wenn das, was er mitbringt, von außerhalb der Form ist, so gibt er ihm Form; ist es formlos, so gibt er Formloses. Eine Sprache finden – letztlich, da jedes Wort Idee ist, wird die Zeit einer universellen Sprache kommen! (ebd. S. 251–252)

Rimbaud definiert diese Sprache als „von der Seele für die Seele“. Also scheint das, was er in den beiden Briefen definiert, wenn auch unter Nutzung einer neuen Sprache, eine fast identische Reprise des Wortes der arabischen Mystik zu sein. Man muß erwähnen, daß Rimbaud im letzteren Brief fordert, daß die Dichter Neues produzieren sollten, ebenso in der Form wie in den Ideen. In der Erwartung, daß sich die Poesie, die er erhofft, realisiert, schätzt er die Dichter, die ihm vorhergegangen sind, folgendermaßen ein:

Lamartine ist manchmal sehend, aber erwürgt durch die alte Form. Hugo ist dickköpfig, ist in den letzten Bänden – Seher –: „Les Misérables“ sind ein echtes Gedicht. (…) Musset ist vierzehnmal abscheulich für uns. (…) Die zweiten Romantiker sind überaus seherisch: Th. Gautier, Lee[onte] de Lisle, Th. de Banville. Aber da das Unsichtbare zu untersuchen und das Seltsame zu hören etwas anderes ist als den Geist der toten Dinge wieder aufzunehmen, ist Baudelaire der erste Seher, König der Dichter, ein wahrer Gott. (ebd. S. 253)

Unsere Untersuchung des Werkes Rimbauds möchte vor allem auf seine Vision und auf sein poetisches Projekt eingehen. Wenn man die Sinne verwirrt, verwirrt man das, was uns von der Substanz der Dinge trennt. An sich zeigt sich das Leben scheinbar als perfekte Harmonie; Mensch und Natur bilden eine Einheit, sind sozusagen dasselbe. In diesem Klima entstehen lebendige und direkte Beziehungen unter den Wesen; alles verschwindet, was den Menschen vom Menschen trennen könnte sowie auch das, was die ursprüngliche Unschuld pervertieren könnte.
Bei seiner Untersuchung des Unbekannten sagt Rimbaud in dem Gedicht „Vagabunden“ in bezug auf den Menschen:

Ich hatte mit aller Ehrlichkeit des Geistes die Verpflichtung übernommen, ihn wieder in seinen primitiven Zustand des Sonnensohnes zu versetzen.

Den Menschen befreien (seine Sinne verwirren, zugleich das System des Wissens und des Lebens stören und verwirren, das, was Rimbaud unter „Anarchie der Seele“ versteht und was „eine heilige Sache“ ist), ihn befreien von allen institutionellen, behindernden Formen – seien sie sozial, religiös, kulturell oder moralisch – so sieht das Rimbaudsche Projekt aus („Alchimie des Verbs“). Warum sollte derjenige ein Wilder sein, der die herrschende Moral ablehnt? fragt sich Rimbaud in „Mauvais sang“, wo er zwischen sich und den dominierenden Vertretern der religiösen und kulturellen Werte einen Abgrund aufriß, vor allem zu Pfarrern und Lehrern. So öffnet sich ihm der Pfad, der zum ursprünglichen, natürlichen Zustand führt. In diesem Klima kann die Liebe geboren werden, die neue universelle Liebe, die wiederentdeckt werden muß („A une Raison“, „Vierge folle“). Mit der Liebe kann man „das Leben verändern“; mit der Liebe werden die Seelen durchsichtiger und heiliger, wenn die eine zur anderen gelangt. Die Empfindsamkeit im Sinne von Verständnis der Veränderlichkeit ist es, die im Menschen den Wunsch nach Verwandlung weckt. Mit Vehemenz weist Rimbaud das, was diese Verwandlung behindert, zurück – und insbesondere die Gewohnheit, die Religion in ein Instrument der Unterjochung zu verwandeln.
Rimbaud bietet das Bild des Dichters als das des Mystikers. Von seinem Innersten gequält, von der Gesellschaft zurückgewiesen, von der Moral und dem Gesetz verbannt, akzeptiert er trotzdem diese Realität und die Leiden, die sie in sich trägt. Der Weg also, der zur Wahrheit führt, schuldet der gesellschaftlichen Ordnung nichts, sondern alles einem anderen System, das das Gesetz für Dissidenz hält und das der gesunde Menschenverstand als Wahnsinn bezeichnet. So ist der „sehende Dichter“ nach den Normen der Wahrheit der höchste Wahrer des Wissens, aber der sozialen und rechtlichen Norm gilt er als ruchlos und verworfen.
Hier ist das poetische Experiment unter dem Gesichtspunkt der mystischen Erfahrung der Versuch, etwas durchzuführen, was in Wirklichkeit unrealisierbar ist. Nach dem alles der Konvention Zugehörige abgeworfen wurde, handelt es sich um eine Reise in die Tiefen, um das Unbekannte zu erforschen. Diese Reise ist eine Initiation für den Dichter wie für den Mystiker. Die Schriften Rimbauds sind der Raum, wo sich diese Initiation ausbreiten kann. Das, was Rimbaud die „Alchimie des Verbs“ nennt, ist lediglich das Instrument, mit welchem man Ausdrucksformen entwickeln kann, die dem Mystischen und dem Unbekannten zugehören. Der Weg, den Rimbaud beschreibt, ist kein anderer als der, den der Mystiker „die Unterwerfung des Verhaltens unter das Wissen“ nennt – Wissen hier als visionär, ohne jede Verbindung zu Vernunft und zu Lösungen verstanden, denn es befindet sich außerhalb des Üblichen und Allgemeinen.
Im Lichte des Vorhergegangenen kann man sagen, daß das poetische Experiment Rimbauds eine Art von Anwendung der mystischen Symbolik darstellt. Sie beruht auf einem Einzelverhalten, das eine große, von immensen Leiden begleitete Anstrengung erfordert, und der Schlüssel zu seiner Beharrlichkeit scheint folgende Überzeugung zu sein: Aus den Tode entsteht das Leben, aus der Dunkelheit und der Ignoranz entstehen Ordnung und Wissen. Rimbaud beginnt wie die Mystiker damit, die sichtbare Welt abzulehnen und den Akzent auf die Tatsache zu setzen, daß die Dichtkunst die Enthüllung des wirklichen Lebens ist, das uns mangelt – die Enthüllung des Unsichtbaren. Die Ablehnung dieser Welt benötigt die Ablehnung des ihr entsprechenden Systems des Wissens, ebenso die Verwirrung des ihr entsprechenden Systems des Wortes sowie die Verwirrung des allgemeinen Ausdrucks. Das will heißen, daß die Aufgabe des Mystikers, ebenso wie die des sehenden Poeten, nicht darin besteht, die sichtbaren Dinge zu beschreiben, sondern sie in Richtung auf das Nicht-Sichtbare zu durchqueren.
Die Schöpfung ist eine Geheimschrift, deren Symbole vom Dichter entziffert werden. Zum Beispiel ist das Licht als Ding durch das Wort „Licht“ nicht richtig ausgedrückt. Das Wort drückt, wenn es benutzt wird, viel mehr aus als das konkrete Licht, es ist eine Anspielung auf Wahrheit und auf Gott.
Man kann auch sagen, es sei die Aufgabe des Dichters, die Welt auf der Basis der Kenntnis, die er von dieser Geheimschrift hat, neu zu beschreiben und sie neu zu benennen, so als erfinde man eine neue Sprache hierfür. So kann man verstehen, was Rimbaud mit seiner „Alchimie des Verbs“ gewagt hat: Indem er dem Universum die Buchstaben als Farben anbot, wollte er die Natur des Benennungsaktes der Dinge verändern und ihn auf neue Weise und in Übereinstimmung mit ihrer Geheimsprache anwenden.
Die „Verwirrung aller Sinne“ impliziert eine neue Lesart des Universums, die der allgemeinen sensorischen Wahrnehmung widerspricht. Diese hält sich an das Verhältnis des Fühlbaren zum Fühlbaren, aber in Wirklichkeit handelt es sich hier um eine utilitaristische Nutzung, die für die Sinne restriktiv ist. Sie zu „verwirren“, heißt in Wirklichkeit, sie zu befreien, um so auch das Universum von dem engen Bilde zu befreien, das die Sinne von ihm darstellen. Sie sehen das Universum wie einen leblosen, für immer und ewig geschriebenen Text. Rimbauds Position verneint dieses verschlossene Universum und öffnet es der Dimension des Möglichen und damit des Unfertigen. Man könnte fast sagen, daß Rimbaud es stimmlich macht, und in dieser Stimmlichkeit bekommt es ein neues Leben. Erinnern wir uns, daß die großen Meister der Menschheit stimmlich, also mündlich gelehrt haben. Ihre Lehren verschwinden, wenn man sie heute nicht immer wieder auf andere Weise liest. Rimbaud und die Mystiker lehren nicht die Wahrheit der Dinge, sondern helfen uns, sie zu entdecken. Es handelt sich nicht um eine statische Wahrheit, sondern um eine bewegliche, die ständig interpretiert werden muß, damit sie immer lebendig bleibt. Das gleiche gilt für das Universum, es wurde dem Menschen nicht gegeben, um es in einem feststehenden Wissen erstarren zu lassen, sondern damit er es immer wieder neu interpretiert. Das Universum ist ein Fluß, in dem man nicht zweimal baden kann – so muß auch das höchste Buch sein. Wenn man Zugang zu diesem Buch gefunden hat, nachdem der Sinn eines jeden Wortes gefunden und seine Definition erfaßt wurde, bedeutet dies: man hat es in diesem Moment ausgeschöpft. Durch die Epochen muß jeder Leser in das Buch eintreten wie in den Fluß; wenn er wieder zurückkehrt, hat sich die Interpretation verändert. Dies bedeutet, daß der Interpretierende sich geändert hat und daß das Buch nicht mehr das gleiche ist: Es ist die neue Interpretation, denn es ist nicht nur der Schriftsteller, der das Buch schreibt, sondern der Leser nimmt auch teil, und die Lektüre ist schöpferisch, auch sie bewegt sich ständig.

VIII.
Die „Verwirrung der Sinne“ ist von einem Hervorsprudeln auf zwei Gebieten des Wissens begleitet: dem Ich und der Sprache. Der erste Aspekt des Zerplatzens des Ichs bei Rimbaud bedeutet, daß im Bewußtsein die Existenz und die Nichtexistenz sich gegenseitig aufheben. Das „cogito“ Rimbauds ist das Gegenteil des „cogito“ von Descartes. Tatsächlich ist es ein mystisches „cogito“. „Ich ist ein anderer“, das bedeutet, daß die Existenz auf subjektiver Ebene die eine Sache sein kann und auf objektiver Ebene das genaue Gegenteil. Die Existenz ist also das Ich und zur gleichen Zeit etwas anderes. So findet sich das Konzept von der Einheit des Ichs als reine Identität, das klassische Konzept, abgebaut. In dieser Herauslösung der Subjektivität entdeckt man, daß das Ich im klassischen Sinne nichts als die Resultante der sozialen, historischen und kulturellen Normen und Konzepte darstellt, eine Unterwerfung unter das Universum der Sichtbarkeiten. Es ist dies in Wirklichkeit also das Reservoir der Illusionen der Gruppe oder dessen, was der Mystiker die Welt des Gesetzes nennt. Hinter seiner falschen Augenscheinlichkeit verstecken sich die Werte, die Gewohnheiten, die Glaubensinhalte und die Methoden, um die Allgemeinheit zu verstehen.
Solange man denkt: „Ich = Ich“ und nichts anderes, hat das Subjekt eine individuelle Einheit und erhält so seine spezifische Identität. Dies ist das System, das die klassische Logik zur Institution erhoben hat. Wenn man allerdings entdeckt, daß das Ich nicht das Ich ist, sondern etwas anderes als das Selbst, wird das Identitätsprinzip der klassischen Logik baufällig. Man kommt dahin zu sagen, daß ein Ding es selbst sein kann, aber auch ein anderes. Der Mensch kann in einem Sinne Gott sein und umgekehrt. Konsequenterweise ist die Ordnung der Sinne umgekehrt, und auch die Sprache selbst erobert sich eine neue Freiheit, ihr Fluß geht den gleichen Weg wie das Zerspringen des Ichs.
Die praktische Anwendung der Sprache durch das klassische Subjekt beim Ausdruck des sichtbaren Momentanen der Welt entspricht der Institution, diese ist der geheiligte Wortschatz. Nun ist aber das Ausdruckssystem, welches durch das abwesende Ich angewandt wird, allem, was sich etabliert hat, entgegengesetzt. Es versucht das Unbekannte zu erfassen, das Abwesende, das Bewegliche, und zwar außerhalb der Normen und Konzepte.
Die Überwindung der Welt der Phänomene ist nur durch die Überwindung der institutionalisierten Sprache möglich. Man erreicht das Heutige nur mit Hilfe einer neuen Sprache. Man wird nun verstehen wie sehr die Erneuerung durch die Poesie gleichzeitig eine Zerstörung festgelegter konventioneller Begriffe bedeutet und warum man die Wahrheit nur durch eine Gesetzesbrechung erreicht.
Dies ist die innere oder auch mystische Erfahrung desjenigen, der das Unerkennbare zu erkennen versucht. Sie manifestiert sich in dem, was man in der Mystik Taumel, Trunkenheit oder Verzückung nennt, der Moment, wo sich dieses „Ich“ als ein anderer zeigt. In einer solchen Trunkenheit findet der Zustand der Vereinigung oder Einheit statt, und der Mystiker kann nun ausrufen:

Mein ICH ist GOTT!

Trunkenheit, die die Horizonte des Bewußtseins für das öffnet was jeder Bewußtheit entgeht. Während die Identität kentert und man träumt, das Ich sei ein anderer, hat man die Möglichkeit, das Unsichtbare zu erblicken und das Unhörbare zu hören. So sagt es Rimbaud in seinem Brief an Demeny: „Schreiben ist nur ein Mittel um den Taumel zu festigen“ und bezieht sich so auf den Ausdruck, den er in der „Alchimie des Verbs“ benutzt hat. In seinen Schriften benutzt Rimbaud immer wieder die großen Symbole, die eigentlich für die Mystik typisch sind wie den Durst, den Hunger, die Übersättigung, die Tatsache zu trinken oder zu essen, die Nahrung, die Tränen, Weinen, Lachen, den Tanz, den Wahnsinn. Dies sind Worte, die dem Wunsch des Dichters Ausdruck verleihen, sich mit der Existenz zu vereinen, und sie sind typisch für die Beschreibung der mystischen Erfahrung.
Ebenso wie der Mystiker sich an Gott verschenkt, bietet sich der Dichter der Sonne dar als Zeichen der Vereinigung seines Feuers mit dem initialen Licht der Welt und als Zeichen dafür, daß er sich aller Formen enthebt so wie bei der mystischen Vereinigung mit der Heiligkeit. Dies ist durch die Gedichte „Mauvais sang“ und Soleil et chair“ ausgedrückt. In der arabischen Mystik reflektiert der Fluß der Sprache das Aufsprengen des Ichs und zeigt sich dann in der „Trance“. Die Trance ist ein Wort, das die Sprache von der Flanke her mit ekstatischem Erguß befrachtet, es gibt dem Erstaunen des Bewußtseins für eine Ekstase Ausdruck, die vor Intensität überströmt und es durch ihre Aufwallung erobert. Es ist also eine Übersetzung für den Zustand des Sehenden, der sich in der Gegenwart des Unbekannten befindet oder dann, wenn er das Gefühl hat, sich mit ihm zu vereinigen. In diesem Fall ist es nicht der Seher, der spricht oder denkt; es ist das Geheimnis selbst, das durch den Mund des Sehers spricht. Nicht das Ich, sondern das Unbekannte, d.h. diese geheime Verbindung des Ich mit dem Universum. Unter diesen Bedingungen verneint sich der Dichter (oder der Mystiker) als Ich, es verbleibt nur noch das Geheimnis der Vereinigung. Die „Trance“ ist eine Art der Volltrunkenheit des Wesens und nicht nur eine Trunkenheit des materiellen Körpers. Es ist eine besondere Trunkenheit, weit davon entfernt, ein Delirium, eine konfuse Halluzination oder eine Besessenheit zu sein, ist ein Überholen von Zeit und Raum. Auf dieser Höhe könnte man von einem Zustand des „Wahnsinns“ reden und sich auf ein Wort des Mystikers Chibli beziehen, das er zum Thema Hallâj geprägt hat und das, jeder auf seine Weise, Rimbaud und alle Mystiker angewandt haben:

Mein Wahnsinn hat mich befreit, und seine Vernunft hat ihn verloren.

Ich komme zum Ende meiner Bemerkungen, indem ich sage: Wenn Rimbaud mir im Kontext der okzidentalen Kultur als modern erscheint, so ist er im Rahmen der arabischen Kultur nicht moderner als z.B. Abu Nuwas. Er ist durch seine Art modern, die Elemente anzuordnen, und durch die Reinheit seiner Sprache. Aber seine Poesie ist eine Anordnung klassischer Elemente, die ausgelegt sind, um einen neuen Stil zu produzieren, was eine besondere Form der Authentizität darstellt. Mehr noch, es ist das authentische Genre, das er geschaffen hat. Wenn man unter „authentisch“ eine Schöpfung verstünde, die die klassischen Verhältnisse ignoriert, so wäre es sicherlich fehlerhaft, ganz abgesehen davon, daß es haltlos wäre, denn diese Art der Authentizität ist nur eine Illusion. Schöpfen ist ein Verfahren, bei dem ausgewählte Elemente, die einander verwandt sind, in eine andere Struktur gebracht werden. Es ist diesen Elementen eine besondere Form zu geben. Auf historischem Gebiet ist nicht entscheidend, dieses oder jenes Element zu haben; entscheidend ist zu wissen, wie es zu nutzen und auszubeuten ist.
Als zweites und als Folge des zuvor Gesagten möchte ich feststellen, daß die poetische Intuition Rimbauds – als Wissen – eine mystische Intuition ist. Sie stellt sich in Opposition zu den Formen des westlichen Wissens, die rationalistisch sind. Diese Intuition übermittelt keine bestimmte und determinierte Kenntnis über den Menschen, Gott oder das Universum, sondern öffnet einen Weg. Das Wissen ist eine Erwartung oder eher eine unübertragbare persönliche Prüfung, deren einfache Beschreibung häufig unmöglich ist; es gibt auch keinen bestimmten Sinn in den Texten Rimbauds, es ist ein Ensemble von Potenzen, deren Bedeutungen sich mit jedem Leser und in jeder Epoche erneuern.

IX.
Genauso mystisch wie Rimbaud in seinem Wort, war er auch im Schweigen. Das Wort kann sich nur zwischen Subjekten ereignen. Damit es eine Sprache gibt, muß es eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt geben. Der sehende Dichter (oder Mystiker) erreicht das extreme Limit auf seiner Reise ins Unbekannte. Das heißt, er erreicht einen Zustand, den man mit der Sprache nicht mehr auszudrücken vermag, dies ist der Moment des Nicht-Worts. Sucht man die Trunkenheit, bedeutet das, daß die Verbindung mit dem Unbekannten zu einer Art Vereinigung von Subjekt und Objekt führt, zu einem zweideutigen Zustand, den man weder als subjektiv noch als objektiv bezeichnen könnte. Dieser Kontakt ist jedenfalls nicht durch die Sprache zu realisieren, die Sprache kann nur ein simples Instrument sein. Dieser Kontakt erinnert eher an den Liebeskontakt, der Trunkenheit und Vereinigung zugleich ist: das höchste Glück. Das in sich verschlossene, geöffnete Wesen versinkt im anderen. Dieser absolute Kontakt bricht mit den institutionellen Ketten so weit, daß die sklerotischen Konzepte verschwinden und ebenso die Worte, die ihnen entsprechen. Also ist die Befreiung absolut, und hier ist das Schweigen, das der höchsten Trunkenheit. Unbeschreibbar entzieht sich dem die Effizienz der Sprache. Es ist der Moment des Glücks, der Moment der Vereinigung mit dem Eigentlichen. Von solchen Entdeckungen in der Ewigkeit spricht Rimbaud:

„Sie ist gefunden!
Was? – Die Ewigkeit
Es ist das Meer gemischt
Mit der Sonne.

Übrigens bekommt der Tanz in diesem Zustand des Nicht-Wortes eine heilige Bedeutung. Der reine anarchische Tanz, der Befreiung des Wesens bedeutet, losgelöst von allen Ketten und von allen Einschränkungen. Mir scheint, daß das Schweigen Rimbauds und sein Übergang zum Nicht-Wort (poetisch gemeint) nicht weit davon entfernt sind. Aber das ist eine ganz andere Sache. Rimbaud schreibt seit 1875 keine Gedichte mehr, und sein erster Brief aus Aden trägt das Datum vom 17. August 1880.
Um diese Nicht-Wort-Situation zu erklären, kann man die tiefen Worte des Mystikers benutzen:

Die Grenzen des Paradieses sind – mein Körper.

Das widerspricht nun eindeutig der Institution, die durch die Stimme des Gesetzes von oben diktiert wurde und verkündet, das eigentliche Leben, an dem es der niedrigen, vergänglichen Welt mangelt, sei lediglich möglich in der höheren Welt, die nur den Getreuen, Sündenlosen vorbehalten sei. Daß die Erlösung, die in der Ewigkeit stattfindet, besser und wahrer sei als jede Eingebung oder Ekstase hier unten und daß sie allein das ewige Leben bringe. Die Institution predigt die Hoffnung auf das zukünftige Leben und empfiehlt zugleich, geduldig die Leiden der Gegenwart zu ertragen. Der Mystiker aber bestätigt, daß das Glück heute beginnt, er meint damit sicherlich das mystische Glück; aber für ihn läßt lediglich der Tod, der die Ewigkeit öffnet, den Gipfel des Glücks erreichen. Denn das Glück beginnt hier und heute, genau wie die Ewigkeit; und der Zustand der Vereinigung ist nichts anderes als das Paradies vor dem Paradies. Man erhofft nicht die Ewigkeit, man lebt sie. Da der Tod nichts als ein verlängerter Zustand der Vereinigung ist, ist er der höchste Zustand, d.h. die Rückkehr zum ewigen Wesen.
Dies gestattet zu verstehen, auf welche Weise dieses Ich, das ein „Anderer“ ist, seine Substanz mit der Ganzheit aller Wesen austauscht, denn Gott ist die gesamte Existenz, ebenso wie das Ich die gesamte Existenz ist. Rimbaud, der diese Erfahrung der absoluten Einheit verarbeitet, schreibt: „Ich werde eine phantastische Oper“, und um diese Vereinigung zu symbolisieren, schreibt Ibn Arabi:

Mein Herz wird zu einem Empfänger für alles.

Verdienen es diese beiden Formulierungen nicht, einander angenähert zu werden?

Vielleicht kann man so die Zersplitterung Rimbauds verstehen und warum er sich, unabhängig von der Kürze seines Lebens, Reisen und Geschäften gewidmet hat. Das, was Niffarî sagt: „Wenn du das Unsagbare nicht bemerkst, wirst du durch das Sagbare zerstreut werden“, muß man auf Rimbaud anwenden. So schließen wir uns dem Gesichtspunkt von David Guerdon an, wenn er sagt, daß das Leben Rimbauds in sich eine mystische Einsamkeit sei. Seit der Kindheit treibt ihn ein methodischer Wille zur Transformation seiner selbst in Richtung auf ein präzises Ziel: die Isolierung und den Überfluß. Denn Rimbaud, der Waffenhändler, ist auch der jünglingshafte Dichter, es ist dasselbe Schicksal, das er durch unterschiedliche Verfahren und Mittel erreicht. Wenn das stimmt, kann man über Rimbaud sagen, was er selber in seinen „Illuminationen“, die übrigens die Krönung seines poetischen Projektes sind, sagt: Um den Menschen zu befreien, muß man ihn in seine eigentliche Natur zurückversetzen. Wir sagen also mit dem Sohn der Sonne:

In einer herrlichen Wohnung, umgeben vom gesamten Orient, habe ich mein Gesamtwerk vollendet und meine hoheitliche Zurückgezogenheit verbracht.3

In dem Buch von Farid ud-Din al-Attar Die Konferenz der Vögel entdecken die dreißig Vögel nach einer langen Pilgerfahrt den Simorgh, den phantastischen Vogel, und sie stellen fest, daß ein jeder von ihnen der Simorgh ist, daß es eine Transsubstantiation zwischen ihnen und dem Simorgh gibt. Die Identität ist das eine, aber die Form ist vielfältig. Ibn Arabi sagt:

Derjenige, der dich als sich selbst sieht, sieht in Wirklichkeit sich selbst.

Um den anderen zu kennen, ist es unabdingbar, ihn als ihn selbst zu sehen und nicht als Subjekt. Mir scheint, daß auch hier, nämlich im Dialog zwischen dem Ich und dem Anderen, zwischen den Kulturen, Rimbaud eher ein Gründer ist, weil er die Mystik (d.h. den Orient) als den Anderen erkannt hat, als sie selbst und nicht als Folge seiner Kultur, und er hat es vermocht, ihre Fremdheit zu übersetzen, ohne sie für sich zu vereinnahmen.

Adonis, aus Adonis: Gebet und Schwert. Essays, Oberbaum Verlag, 1995

Karl August Horst: Der Mythus um Rimbaud, Merkur, Heft 94, Dezember 1955

Hans-Thies Lehmann: Die Sprache neu (er)finden. Anmerkungen zum Thema Arthur Rimbaud, Merkur, Heft 399, August 1981

 

 

 

EIN PSEUDOROMAN ÜBER DAS LEBEN VON ARTHUR RIMBAUD4

Buch I
Kapitel VII
Bislang haben wir das menschliche Wesen Rimbauds betont

Die Toten sind nicht lebendig. Reizlose Prosa versucht, diese Tatsache auszutilgen. Sobald du ein Ende absiehst, glaubst du auch schon, die Toten wären am Leben.

Rimbaud ist nun 15 und erschießt Pferde. Da er inzwischen tot ist, haben die Jahre 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14 weder eine Bedeutung für seinen Tod noch für unsere Leben. Das wäre ja so, als wollte einer Gras in der Poststelle anpflanzen.

Die Pferde, die Rimbaud erschießt, sind das weiße und das schwarze Ross aus Platons Phaidros.5 Man kennt sie auch als einen Wall. 

Stell dir vor nicht von Indianern angegriffen zu werden (1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14). Stell dir nicht vor, von Indianern angegriffen zu werden. Das Pferd, Phaidros, wird das Rennen gewinnen; das schwarze, das weiße.

Stell dir vor, dass die Toten nicht am Leben sind, und außerdem sein dummes Gesicht dabei.

 

Buch I
Kapitel IX
6
Das Gedicht, das Rimbaud am 20. Oktober 1869 schrieb

Ein neues Zeitalter verkünd’ ich nicht,
Gott allein weiß ich bin fünfzehn.
Die Zahlen hab’ ich im Sinn
Wenn ich einmal tot bin
Schäume ich vor Wut
Und beiße ab mir alle Zeh’n.

Mit 20 wird’s mir glücken
Die Ewigkeit zu erblicken
Und all die alten Zahlen
Und ich werde ihr ein Ärgernis sein
Wenn einmal tot ich bin
Verlasse ich die Bühne
Und beiße ab mir alle Zeh’n.

 

Buch I
Kapitel X
Sex

Rabelais befindet sich auf derjenigen Seite der Medaille, die schon ein mittleres Alter erreicht hat. Rimbaud befindet sich auf der andern. Die mittelalte Seite beginnt mit ungefähr 20.

Rabelais ist ein Zoologischer Lust-Garten. Rimbaud ist – aber ich bin zu alt, um mich daran noch zu erinnern. Es wäre zwar verkehrt zu behaupten, der Zoo wäre ein Dschungel gewesen, aber die Tiere schienen sich jedenfalls nicht in Käfigen zu befinden.

Das hat nicht das Geringste mit Dichtung zu tun – ich bin zu alt, mich an sie zu erinnern –, aber Rimbaud dachte, das hätte überhaupt alles mit Dichtung zu tun. Er war 15, 16, 17, 18, 19, sogar 20. Er hatte recht.

Dazu zu wissen, was das alles mit Dichtung zu tun hat, ist keiner alt oder jung genug. Selbst wenn er mich nun küsste, würde ich ihm das ins Gesicht sagen.

Er nahm an, Dichtung hätte nichts mit Käfigen zu schaffen (und das hat sie wirklich nicht) und dass sie sich im Dschungel befände (das trifft nicht zu). Zu dem Zeitpunkt, da ich dies schreibe, war er fünfzehn und küsste mich niemals.

Jack Spicer
Übersetzung: Stefan Ripplinger

 

ODE AN JEAN ARTHUR RIMBAUD

Jetzt,
in diesem Oktober
wirst du
hundert Jahre alt,
herzergreifender Freund.
Erlaubst du mir,
zu dir zu sprechen?
Ich bin allein,
vor meinem Fenster
zerschellt das Pazifische Meer
seinen ewigen düsteren Donner.

Nacht ist.

Das brennende Holz wirft
aufs Oval
deines alten Porträts
einen flüchtigen Schein.
Du bist ein Knabe
mit lockigem Haar,
halbgeschlossenen Augen,
bitterem Mund.
Verzeih mir,
daß ich zu dir rede
wie ich bin, wie ich glaube,
du würdest heute sein,
ich rede von Meereswasser zu dir,
von brennendem Holz,
von schlichten Dingen und einfachen Menschen.

Dich quälten sie,
brannten deine Seele zu Asche,
dich sperrten sie
in die Mauern Europas,
und du schlugst
im Zorne rasend
gegen die Tore.
Und, da
du endlich aufbrechen
konntest,
gingst du verwundet,
verwundet von dannen, stumm,
gestorben.

Nun denn, andere Dichter
hinterließen
einen Raben, einen Schwan,
einen Weidenbaum,
ein Blütenblatt in der Leier,
du hinterließest ein Phantom,
ein herzzerbrechendes,
das flucht
und ausspeit,
du wanderst
noch immer
richtungslos,
ohne sichere Wohnstatt,
ohne Nummer
durch die Straßen Europas;
zurück nach Marseille
mit afrikanischem Sand
an den Sohlen,
wie ein Fieberschauer
umgänglich,
dürstend und
blutig,
mit zerfetzten Taschen,
mißtrauisch,
verloren,
ein Unglückseliger.

Es ist nicht wahr,
daß du das Feuer geraubt,
daß du einherliefst
mit des Himmels Zorn,
den ultravioletten
Geschmeiden
der Hölle,
so war es nicht,
ich glaube nicht daran,
dir verwehrten sie
die Einfachheit, das Haus,
das Holz,
dich wiesen sie zurück,
sperrten dir die Türen,
und da flogst du fort,
ein zornfunkelnder Erzengel,
zu den Hausungen
der Ferne,
und schweißbedeckt und alles Blut
aus deinem Leib dir pressend,
wolltest du
sammeln, Münze um Münze,
das Gold,
das notwendige,
für die Einfachheit, den Schlüssel,
für die friedliche Gattin,
für das Kind,
für den eigenen Lehnstuhl,
für Brot und Bier.

Zu deiner Zeit
schloß
über dem Spinnengeweb,
groß
wie ein Schirm,
die Dämmerung sich
und blinzelte schläfrig
ins Gaslicht.
Du gingst durch die Commune hindurch,
ein rotes Kind,
und deine Dichtung, sie schuf
Flammen,
die noch immer lodernd die Mauern
strafen
der Füsilierten.
Mit Dolches
Augen
durchbohrtest du
den Schatten,
den wurmstichigen,
den Krieg, Europas
rastloses Kreuz.
Darum, nach hundert Jahren
Zeit,
lade ich dich heut
zur einfachen
Wahrheit ein, die deine orkanhafte
Stirn nicht erreichte,
nach Amerika lad ich dich ein,
an unsere Ströme,
in den Hof des Mondes
über den Cordilleren,
zur Emanzipation
der Werktätigen,
zum weithin erstreckten Vaterland
der Völker,
an die elektrifizierte
Wolga,
zu den Trauben, den Ähren,
zu allem, was der Mensch
erobert ohne Wundertat,
mit der Kraft,
dem Blut,
mit einer und noch einer Hand,
mit Händen
Millionen.

Dich trieben sie zum Wahnsinn,
Rimbaud, dich verdammten
und stürzten sie
in die Hölle.
Du Entdecker des Feuers,
du desertiertest vom Banner
des Keimens,
du scharrtest
die Flamme ein,
und in der Einsamkeit der Wüste
büßtest du
deine Strafe.
Heut ist es einfacher, Länder
sind wir, Völker
sind wir,
die der Dichtung Wachstum
verbürgen,
Verteilung des Brots, das Erbe
des Vergessenen. Nun
wärest du nicht
verlassen.

Pablo Neruda

 

RIMBAUD IN ADEN

Wo nichts ist, war mein Schatten
auf dem Sand. Nun bin ich schattenlos.
Das Mittagslicht gerinnt von Blut
träum ich von Wüsten Salzkristallen
einem feuchten Wind. Ich reise, kaufe, zähle
Säcke Kaffee Gewehre Pleiten.

Von Vieh bin ich umgeben und schon selbst
vertiert, komm ich zurück, was weiß ich
liquidiert. Verdorben ist die Ernte.
Jahr um Jahr Kaffee Gewehre Süßholz. Jetzt –
der Nebel ist gestorben im Kalender. Bald
bin ich niemals reich, bald ruiniert.

Mutter, schick Krampfadernstrümpfe
und einen Koran. Der Schmerz klopft an
ich öffne, da liegt ein Knochen vor der Tür
und Eulen lachen in den Büschen…
Gewehre Pleiten Fäule. Und vor dir
geht dein Bein den Weg zur Hölle.

Ursula Krechel

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Zum 50. Todestag des Autors:

a.: Arthur Rimbaud
Die Tat, 11.11.1941

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Hansres Jacobi: Arthur Rimbaud – ein Leben der Revolte
Die Tat, 23.10.1954

Zum 150. Geburtstag des Autors:

Rüdiger Görner: Die Schwarzkunst der Worte
Die Furche, 14.10.2004

Fakten und Vermutungen zum AutorIMDb + Archiv +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Arthur Rimbaud – Diashow mit Bildern aus seinem Leben, Zeitdokumenten von Charleville, Paris, London und viele von Rimbaud selbst gemachte Fotografien von Adens und Harrar. Dazu handschriftliche Manuskripte von Rimbaud, Zeichnungen von Delahaye und Freunden.
Von Joan Baez gelesene Gedichte wurden mit Musik unterlegt, im Bestreben, ein Bild von Rimbauds Leben, seinen Freunden und Plätzen zusammenzusetzen, das er wiedererkannt hätte.

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