August Stramm: Poet’s Corner 7

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von August Stramm: Poet’s Corner 7

Stramm-Poet’s Corner 7

FREUDENHAUS

Lichte dirnen aus den Fenstern
Die Seuche
Spreitet an der Tür
Und bietet Weiberstöhnen aus !
Frauenseelen schämen grelle Lache !
Mutterschöße gähnen Kindestod !
Ungeborenes
Geistet
Dünstelnd
Durch die Räume !
Scheu
Im Winkel
Schamzerpört
Verkriecht sich
Das Geschlecht !

 

 

 

Stempelwahn und Urextase

Mit vernichtender Gewalt war es über ihn gekommen, wie ein Sturm über den blühenden Garten seines bürgerlichen Lebens, eine Wetterwolke, die auch unser Kinderland verdunkelte. Wie hatten wir die Spaziergänge mit ihm geliebt, diese kameradschaftlich durchtollten und durchsungenen! Jetzt wurden sie nachgerade unerfreulich… Nein, über Papa war das Dichten plötzlich gekommen wie eine Krankheit, etwa im Jahr 1912. Und es kam nur etwas dabei heraus, über das die Leute den Kopf schüttelten, das keiner von dem Herrn Doktor erwartet hatte. (Inge Stramm)

1
Stramms Leben erscheint einem wie die reale Kopie von Stevensons Doktor Jekyll und Mister Hyde. Tagsüber die trockene, fast biedere Existenz eines höheren Postbeamten und Leutnantsanwärters und nachts die sich selbst zerfressende, ewig verzweifelte Kreatur eines Wortalchimisten, der Silben, alte Worthülsen neu mischt, um eben dieser Normalität des Alltags und der Gewohnheit zu entgehen. Trotzdem bestehen diese Existenzen ganz gleichberechtigt nebeneinander, Stramm liebt die Tage, in denen er stur an seiner Karriere arbeitet genauso wie die Nächte, in denen er dem Urwort hinterher hetzt. Andere große Schreiber haben ihren bürgerlichen Beruf immer als Last empfunden, ihn, wenn sie es sich leisten konnten, bald aufgegeben. Stramm nicht. In den Fachaufsätzen „Faustpaket und Briefverkehr“ und „Deutsche Titel“, die mit komischer Akribie die Einführung des Päckchens in den deutschen Postverkehr und die Verdeutschung der Amtsbezeichnungen beschreiben, ist Stramm der trockenste und pingeligste Schreiber deutscher Büroprosa. Durch Stramm geht deshalb nicht die so oft beschriebene Kluft zwischen Realem und Irrealem, sondern ein durchaus gut zu lebender Riß, den vorschnelle Seelenklempner sofort als Schizophrenie diagnostizieren würden. Das genau ist falsch. Stramms Biographie kennt keine Rückschläge, Niederlagen, Sprünge und Umwege, sondern sie ist eine ideale Gerade, in seiner Karriere als Beamter wie als Soldat. Sie kennt nur einen scheinbar tragischen Punkt, seinen Tod. Und auch der ist folgerichtig. Wie als hätte er ihn gesucht, lehnt er das Angebot Herwarth Waldens, ihn vom Kriegsdienst befreien zu lassen, strikt ab und fällt nach siebzig Gefechten innerhalb von dreizehn Monaten als letzter seiner Einheit in den Rokitnosümpfen in Belorußland.

2
Eins der Gesetze der Thermodynamik besagt ungefähr, jeder lebende Organismus strebt zu seiner Auflösung hin. Wie die Sonne in jeder Sekunde Unmengen von Energie wegschleudert und irgendwann nichts mehr von ihr existieren wird, gibt der Mensch ständig seine Wärme ab, ob er will oder nicht, er strebt von Beginn an seiner Auflösung entgegen. Ein anderes Fremdwort dafür heißt Endropie. Eine Banalität, die schwer nachzuvollziehen ist, heißt es doch, Menschen arbeiteten dem Tod entgegen.
Bei Stramm ist die Auflösung der Körper in seinen Gedichten ständig zu spüren. Liebe ist nie Harmonie, sondern Kampf, sie ist keine Empfindung, sondern Suche und gleichzeitige Todes-sehnsucht. Diese Todessehnsucht tötet den konventionellen, auf gesellschaftliche Absprache gegründeten Wortgebrauch, und suchtfindet aus sich das Urwort, die Ursilbe, den Urschrei, (nicht zu unrecht meinen manche: Stramm sei der Vater der Dadaisten).
Die Sexualität im Tod und der Tod in der Sexualität, Krieg und Koitus, wie sie später bei Georges Bataille gefunden werden, haben auch in Stramms Gedichten ihren Ausdruck gesucht.
Ernst Cassirer schreibt im Sturm:

Die Sprache scheint gerade, wenn wir sie zu ihren frühesten Anfängen zurückzuverfolgen suchen, nicht lediglich repräsentatives Zeichen der Vorstellung, sondern emotionales Zeichen des Affekts und des sinnlichen Triebs zu sein.

In diesen Affekt- und Triebszeichen, Zeichen, die keine Empfindungen mehr  b e s c h r e i b e n, sondern Schmerz, Erfüllung in Lauten, die in neuen Wortfindungen wohnen, auch malen, erschöpft sich die leidige Diskussion um das Primat von Form und Inhalt. Darin besteht das späte Genie August Stramms. Merkwürdigerweise gaben die Nazis, nachdem sie Stramms Schriften zuerst verboten hatten, sein Werk „wegen Unverständlichkeit“ wieder frei. Welch einen Irrtum haben seit jeher Inhaltsideologen jeder Weltanschauung begangen, wenn sie meinten, sie könnten vermeintliche Unverständlichkeit deklarieren oder Formalismus verurteilen, ganze Werke „dieser Art“ dem Vergessen freigeben. Stramm ist nur einer dieser vergessenen Dichter. Vielleicht kann diese kleine Ausgabe ein Beitrag sein, ihn aus diesem Sog zu befreien.

Peter Brasch, Juli 1991, Nachwort

 

Grammatisch-mimologische Ikonizität 

– Die Wortkunst August Stramms. –

Konzeptuelle Neukonfigurationen der ästhetischen Mittel und Verschiebungen des teleologischen Selbstverständnisses der Kunst haben nicht nur intrinsische Gründe; historische Krisenkulminationen können ästhetische Diskurse beschleunigen und radikalisieren, die also nie rein immanent oder autoreferentiell geführt werden.
Der Erste Weltkrieg und seine Präliminarien dynamisierten die Poetizität der expressionistischen Wortkunst ebenso wie die in Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm ausgearbeitete Wortkunsttheorie, auf die ihrerseits deren zwei wichtigste Stimmen, August Stramm und Franz Richard Behrens, einwirkten. Hinzu kommt die Rezeption von Arno Holz und die des italienischen Futurismus, ob diese nun auf einer primären Aneignung Stramms und Behrens basierte oder eine indirekte, über den Sturm vermittelte, war.1
Bei Stramm und Behrens hat die Dynamisierung die Funktion, eine ästhetisch ausdifferenzierte Distanz gegenüber der Alltagssprache, die gleichwohl Zitat oder veränderbares Grundmaterial sein konnte, und der tradierten sowie zeitgenössischen Literatur zu etablieren, insofern diese sich als bloße Mimesis alltäglicher Sprachhandlungen und, vereinfacht gesagt, als Literatur der schieren Beschreibung und Abbildung mittels tradierter Formen, Motive, Metaphorik und Schreibverfahren begriff.
Als radikalmimologische Gestaltdichtung vollzieht die Wortkunst einen Riß durch den konventionalisierten Konnex von res und verba.2„In Übereinstimmung (beinahe) mit der rhetorischen Tradition“ nennt Gérard Genette die „Denkhaltung oder Vorstellungsweise“ Mimologie, „die zu Unrecht oder zu Recht zwischen dem ,Wort‘ und dem ,Ding‘ eine Beziehung widerspiegelnder Anlogie (der Nachahmung) annimmt, welche die Existenz und die Wahl von ersterem motiviert, das heißt rechtfertigt.“ (Gérard Genette: Mimologiken. Reise nach Kratylien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 10.)
Mit der zum Teil neologistischen Manipulation der morphologischen Faktur und ihrer artifiziellen Syntax schließt Stramms Wortkunst an kratyleische Konzepte an und bereichert sie performativ, indem die gestalthaft-gestische „Verklebung“ (Roland Barthes) von signifiant und signifié im Zeichen das Ding und im Ding das Zeichen (re)präsentiert.
In diesem Sinne ist die expressionistische Wortkunst ein Affront gegen den Naturalismus, aber auch gegen zeitparallele Strömungen des Expressionismus, die den durch die Zeitumstände und ästhetisch motivierten Bruch nicht mitvollzogen haben.

Durch die grammatische Radikalisierung von Wort- und Satzbau und die aus ihr resultierende Ikonisierung der verba tritt bei August Stramm und Franz Richard Behrens das poetische Zeichen nicht etwa an die Stelle des referenzsemantisch Bezeichneten, es ersetzt nicht das res, um so, im eigenen Doppel, selbstreferentiell beide Seiten zu bespielen; die grammatisch-mimologische Ikonizität der verba suggeriert vielmehr einen unmittelbareren Dingbezug, als dies über die auch morphologisch unangetastete herkömmliche Referenzierung und grammatische Relationierung möglich sein soll. Ziel einer solchermaßen gesteigerten Literarizität ist also ganz im Gegenteil eine gesteigerte Seinserfahrung. Die affektpoetisch aufgeladenen, plastischen Gestaltqualitäten von August Stramms Wortkunst, die Versinnlichung des Wortes mittels akustischer und visueller Reize sollen ihrerseits die Sinneswahrnehmung affizieren und stimulieren und ein (inneres) Situationsbild aktivieren. Einern solchen mimologischen Verständnis, das in der mimologisch-performativen Erzeugung innerer Bilder und Vorstellungen von einer phänomenologischen Eins-zu-Eins-Relation zwischen verba und res ausgeht, liegt die Überzeugung zugrunde, vorgängige Literatur – mit Ausnahme des eigenen ästhetischen Erbes, an das es anzuknüpfen gilt, wie zum Beispiel den italienischen Futurismus – liefere aufgrund des in ihr verankerten rhetorisiert-substantialisierten Konnexes zwischen Sprache und Wirklichkeit, anstatt eine angemessene und äquivalente Faktur bereitzustellen, ein entstellendes beziehungsweise entstelltes Bild nicht nur der Wirklichkeit, sondern auch des Wirklichkeit speichernden Mediums selbst, der Sprache.
Dem Selbstbewußtsein der Strammschen Wortkunst und zugleich ihrem ins Kosmische ausgreifenden mystizistischen Gehalt3 liegt die Überzeugung zugrunde, mit diesen Gedichten Wirklichkeit allererst Gestalt zu geben und ein wesentliches Wirklichkeitsbild zu konstituieren. So hat August Stramms historisch und poetologisch motivierter Analogismus und Reduktionismus, dessen Operationen Ähnlichkeiten mit Edmund Husserls Methode der eidetischen Reduktion aufweisen, durchaus etwas Adamitisches; sie sind für Stramm nicht nur eine angemessene Reaktion auf nichtliterarische, zeitgeschichtliche Ereignisse und Vorgänge, sondern leisten auch die Überwindung ästhetischer Restriktionen durch Restitution eines in die kulturelle Latenz verdrängten Vorgängigen: der ikonischen Synthesis von res und verba; ein Akt, der durchaus mystische Qualitäten hat – eine stringente Untersuchung von August Stramms kosmischer und sprachlicher Mystik, die in seiner Wortkunst ineinander übergehen, wäre ein eigenständiges Untersuchungsfeld (siehe Fußnote 3).
Gleichzeitig ist eine solche Ästhetik/Poetik widerständig gegenüber voreiliger Versöhnung beziehungsweise Vereinnahmung, die Rezeption der Strammschen Wortkunst bedarf einer Einübung; auch heute noch hat sich ihre Widerständigkeit nicht gänzlich verbraucht und kann immer noch für Irritationen sorgen. Stramm hat keine Schule gebildet; der in vielerlei Hinsicht von ihm beeinflußte Franz Richard Behrens erweist sich gerade mit seinen während des Ersten Weltkriegs entstandenen Gedichten als radikaler.4

Mit seinen Gedichten trat August Stramm das Erbe von Arno Holz Revolution der Lyrik (1899) und seiner Propagierung eines „notwendigen Rhythmus“5 an – eine poetologische Streit- und Bekenntnisschrift, in der der Strophe und Reim vom Tisch fegende Begriff „Wortkunst“ zwar nicht zum ersten Mal,6 aber zum ersten Mal in poetologischer Zuspitzung Verwendung findet. Pflegte Arno Holz in seinem mehrbändigen Jahrhundertwerk Phantasus eher eine extreme Langform, ließ Stramm seine Gedichte überwiegend auf nur wenige Zeilen zusammenschrumpfen, sein längstes Gedicht, „Weltwehe“ hat immerhin 385 Zeilen mit überwiegender Zeilensetzung von ein bis zwei Worten. Auch im Bereich der morphologischen Kombinatorik in Gestalt von Wortkontaminationen und Komposita hielt Stramm sich im Gegensatz zu Holz (und zu Franz Richard Behrens) eher zurück, wenngleich auch bei Stramm eine Reihe hochprägnanter Zusammensetzungen zu finden ist wie „angstzerglüht“ oder „hetzverstört“, „wahnnichtig“, „icht“, „Lichtall“, „lustgesträubtes“, „Triebkrieg“. Im Prinzip der Manipulation der Wortgestalt auf der morphologischen und graphematischen Ebene folgte er Arno Holz,7 wie zum Beispiel folgende onomatopoetische Variations- und Reduktionsreihe aus „Weltwehe“ belegt:

Gurren Gnurren
Gurgeln Grurgeln
Pstn Pstn
Hsstn Hsstn
Rurren Rurren
Rurren Rurren

Lothar Schreyers manifestartige Schrift „Expressionistische Dichtung“8 ist eine Apotheose der „Wortkunst“ August Stramms und ihre erste, wenn auch programmatisch gefärbte Analyse, zum Teil in Form von Aphorismen: „Das Bild ist ein Gebilde. Der Vergleich ist ein Ersatz für die Wirklichkeit. Das Bild ist eine Wirklichkeit. Es ist eine geistige Wirklichkeit.“ (174) / „Jedes gedichtete Erlebnis hat eine andere Gestalt. Die feste metrische Gestalt schafft keine Dichtung. (…) Sie gibt keine Tatsache, sondern sie schmückt eine Tatsache, sie macht die ,unpoetische‘ Tatsache ,poetisch‘.“ (Ebd.) / „Der Endreim ist (…) nur dort Spiel, also Kunst, wo die Zusammengehörigkeit verschiedener Wortgestalten in der gleichen Lautgestalt gestaltet ist.“ (175) / „Der Vers unserer Dichtung ist eine rhythmische Einheit, ohne Metrum, aharmonisch. Nur rhythmisch bewegt die expressionistische Dichtung den Sprachton. Der Rhythmus gestaltet die Sprachtonbewegtheit. Er gibt die Reihe der Entwicklungsstufen der Bewegungsrichtung.“ (Ebd.)
Unter den Schlagworten „Konzentration und Dezentration“ (176) hat Lothar Schreyer ein 10-Punkte-Programm der Strammschen Wortkunst aufgestellt, eine „Handwerkslehre der Dichtung, völlig abweichend von den Lehren der humanistischen Aesthetik“.9 (179) Schreyer reflektiert das für Stramm prototypische Verständnis von Wort, Vers, Rhythmus und Satz und seine poetologischen Verfahrensweisen:

Diese Wortkonzentration ist eine Konzentration des Inhalts und der Gestalt. Mit möglichst wenig Lautmitteln den Begriff zu gestalten, ist das Ziel. Wortverkürzung ist die Folge. Die Wortverkürzung kann auf das Stammwort zurückgehen. Bären für gebären, schwenden für verschwenden, wandeln für verwandeln. Die Endungen der Deklination und der Konjugation können wegbleiben. Der Artikel fehlt überall, wo er nicht notwendig bedingt ist. Aus den Wortverkürzungen werden Wortveränderungen. Die Wortveränderungen führen zur Bildung neuer Worte. Aus Verben werden Substantive, aus Substantiven Verben gebildet, z.B. aus Kind das Verb kinden. Die Wortgestalt ist ein Wortsatz, wenn die Begriffsgestalt nicht in einem Einzelwort zu geben ist. Der Wortsatz ist wie das Einzelwort eine Einheit nach Inhalt und Gestalt. Die Konzentration wird im Wortsatz erreicht durch Umstellung der Worte oder durch Satzverkürzung. (176f.) 

Wichtige Mittel der „Dezentration“ sind Schreyer zufolge „die Wortfiguren. Solche Wortfiguren sind die unmittelbare Wiederholung, die Wiederholung in Zwischenräumen, die Parallelismen der Wortsätze. Die Umkehrung der Wortstellung wirkt auf die Einheit umgekehrter Begriffe. Nicht nur die Umkehrung der Begriffe, auch die Abwandlung der Begriffe nach Unterbegriffen und Oberbegriffen ist ein wichtiges Dezentrationsmittel. Auch der Teilbegriff kann abgewandelt werden. Seine Abwandlung wird bezeichnet durch die Stellung des Wortes in der Wortfamilie. Mittel der Dezentration ist vor allem die Assoziation von Wortform zu Wortform. Die Assoziation ist eine komplexe Vorstellung. Kunstmittel ist sie, wenn der Assoziation der Wortgestalt eine Assoziation des Wortinhaltes entspricht. Konzentration und Dezentration sind die Mittel, die Begriffsgestalten der Worte in Kunstgestalten der Worte zu wandeln. Der Rhythmus ist das Band, das die einzelnen Wortgestalten zur Einheit bindet. Die rhythmische Kette gestaltet die Einheit des Wortkunstwerkes, die logische Kette gibt die Einheit der Umgangssprache. Die logische Kette ist unwesentlich im Wortkunstwerk. Denn die logische Kette beschränkt das einzelne Wort, gibt ihm einen singulären Wert durch eine bestimmte Beziehungsmacht. Die Beziehungsmacht des Wortes als Kunstgestalt aber ist unbestimmt, vielfältig. Das einzelne Wort ist ein komplexer Wert, dessen Kunstmacht auf der Vieldeutigkeit der Assoziation beruht. Es ergibt sich eine Handwerkslehre der Dichtung, völlig abweichend von den Lehren der humanistischen Ästhetik.“ (178f.) 

Grammatisch-mimologische Gedichte
Schreyers Organon der Wortkunst aufgreifend, kann mit Roman Jakobson an August Stramms Gedichten studiert werden, wie poetische Texte als Ikonisierungen ihrer Struktur10 und ihrer poetischen Diskursgrammatik zu verstehen sind und wie sich (poetische) Zeichen in semantische Funktion und ikonische Manifestation aufspreizen. „Figuren des textuellen Selbstbezugs“11 entzünden sich an bildlichen Vorgaben bzw. Anschauungen.
Ralf Simon zufolge ergibt sich „eine ebenso überraschende wie evidente Schlußfolgerung: Die poetische Funktion zeigt ihre eigene Diskursgrammatik, sie stellt das Organon ihrer Funktionen ikonisch dar, sie exponiert sie.“12 Die Gedichte August Stramms sind gewissermaßen Ausstellungen ihrer Poetizität und ikonisierten Grammatik, sie lassen ihre Zeichen spürbar werden.
Die Prozessualisierung von Ordnung im Gedicht läuft analog zum ikonisierten Themenwort des Titels („Sturmangriff“, „Patrouille“, „Wache“). 

Die „Codierung von Poetizitätv“13 in den drei von Kurt Pinthus in seiner 1919 erschienenen expressionistischen Anthologie Menschheitsdämmerung veröffentlichten Gedichten „Sturmangriff“, „Patrouille“ und „Wache“ realisiert sich als mimologisches Strategienbündel aus optischen und akustischen Signalen. Stramms Gedichte geben sofort ein Bild: ihrer unregelmäßigen Kontur, ihrer Abweichung beziehungsweise Abkehr von Gleichmaß und Symmetrie und den mit diesen Gestaltungsmodi einhergehenden Strophisierungsmustern, die ihrerseits von wiederkehrenden metrischen Strukturen reguliert werden. Deutet man ihre Formgebung als mimologische Performanz, könnte ihr Erscheinungsbild selbst als kriegsanaloge Zerstörung begriffen werden.

STURMANGRIFF 

Aus allen Winkeln gellen Fürchte Wollen
Kreisch
Peitscht
Das Leben
Vor
Sich
Her
Den keuchen Tod
Die Himmel fetzen
Blinde schlächtert wildum das Entsetzen

Die von Arno Holz und August Stramm expressis verbis und/oder materialiter forcierte Selbstentlassung aus dem Traditionskontext vollzieht sich indes nicht gänzlich ohne Rückbezug auf traditionsbesetzte Muster. Wie pars pro toto an den drei Gedichten „Sturmangriff“,14 „Patrouille“15 und „Wache“16 zu sehen ist, behält August Stramm Groß- und Kleinschreibung durchgängig bei, die konventionelle Großschreibung am Zeilenanfang ist für ihn obligatorisch. Demgegenüber verzichtet er bis auf Punkt und Ausrufezeichen auf Interpunktion als Grenzsignale des Satzes.
Am prominenten Ort des Gedichtschlusses, hier der 9. und 10. Zeile, „erlaubt“ sich August Stramm, wenn auch mit einer syllabischen bzw. metrischen Verzögerung, einen Reim („fetzen“ – „Entsetzen“).
Ein dritter „Rückbezug auf die angestammten textuellen Ausdrucksmuster“17 ist die Übernahme beziehungsweise Beibehaltung des Satzes als „größte selbstständige syntaktische Form, die durch keinerlei gram.(matische, M. L.) Konstruktionen ihrerseits in eine größere syntaktische Form eingebettet ist“.18 Stramm beläßt es nicht bei der Zeilengliederung des Satzes, seine Gedichte etablieren einen starken Satztyp als Ordnungsmatrix: Die asyndetische Reihung assertorischer „Urteile“, wie Stramm sie in allen drei Gedichten praktiziert, verleiht seiner Wortkunst narrative Züge mit Prosanähe, die durch den „peitschenden“ Stenogrammstil der Zeilensetzung von Einzelworten allerdings wieder unterlaufen wird. Die ,Bespielung‘ einer solch dominanten Ordnungsmatrix ist notwendig, um die von Stramm praktizierten Abweichungen und Regelverstöße gestaltprägend konturieren zu können. Als Figuren vor dem Grund der Normgrammatik sind die Abweichungen jedoch kein verbalartistischer Selbstzweck. Aus der Bespielung des assertorischen Satztyps mit zum Teil morphologisch manipulierten Einheiten vom ganzen Satz („Aus allen Winkeln gellen Fürchte Wollen“, „Das Turmkreuz schrickt ein Stern“) über die autonome Zeilensetzung von Syntagmen („Den keuchen Tod“, „Nebel Streichen“) oder Einzelworten („Peitscht“, „Tod“, „Du!“) resultiert eine zuweilen ins Pathetische gesteigerte Emphatisierung, der ein ekphrastisches Moment des Vor-Augen-Stellens innewohnt. Im Verbund mit den jeweiligen Gedichttiteln erzeugt die grammatisch-mimologische Ikonizität von Stramms Gedichten eine emblematische Struktur: Der Titel fungiert als Inscriptio (Motto, Lemma), die Monostrophe des Gedichts als Pictura bzw. Ekphrasis, die Subscriptio (Epigramm) konstituiert sich auf zwei Ebenen. Zum einen ist sie der virtuelle Effekt und die Summationsformel der Lektüre, zum anderen können die letzten ein bis drei Zeilen als epigrammatische Quintessenz der Gedichte gelesen werden: „Blinde schlächtert wildum das Entsetzen.“ („Sturmangriff“), „Gellen / Tod.“ („Patrouille“), „Streicheln / Raunen / Du!“ („Wache“).
Fortgesetzte Lektüre könnte die grammatischen Normverletzungen der morphologischen Abweichungen Stramms bei weitgehend stabil bleibender syntagmatischer Ordnung habitualisieren. Habitualisierung würde diese Abweichungen als Abweichungen nivellieren.
Ob dies von Stramm intendiert war, bleibt Spekulation. Hätte er eine solche Abweichungs-Poetik allein der ästhetischen Sprachhandlung reserviert, müßte er bei Einpflegung dieser Abweichungs-Poetik in den alltäglichen Sprachgebrauch, aber auch in die Poesie seiner Zeit, wiederum eine antigrammatische Wende vollziehen – ein Prozeß, der in unendlicher Fortsetzung zu denken wäre.
Schaut man sich das Gedicht „Sturmangriff“ nun genauer an, läßt es einen vierten Rückbezug auf traditionelle Muster, hier der rhetorischen Topik, erkennen: Seine zehn Zeilen fungieren analog zum locus ex definitione als akkumulative, bildgebende ,Definition‘ des Sturmangriffs über den Umweg der phänomenologischen Evokation seiner psycho-physischen Auswirkungen. Zudem eignet dem Gedicht, wie überhaupt einem Großteil von Stramms Gedichten, eine gewisse aphoristische Kürze und Strenge.
Das Vor-sich-her-Peitschen des Sturmangriffs realisiert das Gedicht mimologisch durch die Performanz der Zeilensetzung bzw. des Enjambements; in der Zeilensegmentierung jedes Syntagmas (jeder Sinneinheit) wird das Themenwort „Vor-sich-her-peitschen“ zum homologen Akt, das „Peitschen“ wird zum grammatisch-mimologischen Ikon. „Leben“ ist mittig zwischen zwei Gruppen zu je drei Einsilbern gesetzt: „Kreisch / Peitscht / Das Leben / Vor / Sich / Her“.
Doch nicht nur das terrassenförmige Enjambement, sondern auch die akustische Ebene des Gedichts hat mimologische Funktion. Die Worte „Gellen“, „Fürchte“, „Kreisch“ und „Peitscht“, „keuchen“, „fetzen“ sind allesamt onomatopoetisch. Die Peitschenhiebe erfolgen auf die erste Silbe, ja sind die erste Silbe von „Gellen“, „Fürchte“, „keuchen“, „fetzen“ bzw. die Einsilber „Kreisch“ und „Peitscht“. „Fürchte“ kann als Pluralbildung von „Furcht“ gelesen werden, aber auch als Permutation / Anagramm von „Früchte“. Versteht man „Früchte“ nun als euphemistische Metapher für Geschosse wie zum Beispiel Granaten (,Granatäpfel‘) oder Projektile (Kugeln), wäre in die todbringenden, „aus allen Winkeln“ gellenden Geschosse ihre Bedrohung und mentale Wirkung eingefaltet / eingeschrieben, die Wortgestalt wäre Ursache und Wirkung zugleich.
Die peitschende Hetze mündet in die atmosphärische Kontrastzeile „Den keuchen Tod“, mit der sich gewissermaßen der Pulsschlag wieder beruhigt. Die Verwendung des Infinitivs „keuchen“ als Adjektiv erzeugt nicht zuletzt auch aufgrund der syntagmatischen Stellung von „keuchen“ eine onomatopoetische Homophonie (keuchen – keuschen): der keuchende Tod ist zugleich keusch. Die syntaktische Fügung „Den keuschen Tod“ wäre grammatikalisch korrekt; die Version „Den keuchenden Tod“ hätte das Prinzip der metrisch strengen Alternation verletzt, ohne dies wie bei „Kreisch / Peitscht“ mimologisch zu entschädigen, wo die Störung der metrischen Alternation „betont – unbetont“ (Hebung – Senkung) die Funktion zweier unmittelbar aufeinanderfolgender Peitschenschläge hat. Im Gegenteil hätte die Formulierung „Den keuchenden Tod“ keineswegs das Keuchen des Todes zum Ausdruck gebracht, die daktylische Auflockerung hätte die gestische Gestalt konterkariert. 

Syntaktischer Mimologismus
Stramm erzielt einen „syntaktischen Mimologismus“19 durch willentliche Verstöße gegen Rektionsregeln bzw. -gesetze, insbesondere durch die Transitivierung intransitiver Verben und vice versa. Die mimologische Ordnung des Satzes20 „Kreisch peitscht das Leben vor sich her den keuchen Tod“ realisiert das Vor-sich-her-Peitschen homolog durch die Wortstellung: Das Akkusativobjekt (die Nominalphrase) „Den keuchen Tod“ ist nachgestellt, es wird vom Verb „peitscht (…) vor sich her“ vor sich her „gepeitscht“.
Welche ist nun die ordo rectus und die ordo naturalis?
Als Subjekt und Agens fungieren „das Leben“ oder „Kreisch“. Liest man „Kreisch“ als Subjekt, ist „das Leben“ das Patiens, „Den keuchen Tod“ wäre eine Apposition von „Das Leben“: Der „keuche Tod“ wäre also mitten im Leben.21
Setzt man „Das Leben“ als (nachgestelltes) Agens, fungierte „Kreisch“ als Exklamation bzw. adverbiale Bestimmung des Verbs „peitscht“, dem Agens folgte dann die adverbiale Bestimmung des Ortes „vor sich her“ als lokale Deixis: „Das Leben peitscht kreisch den keuchen Tod vor sich her.“ Es heißt nicht: „Der keuche Tod peitscht kreisch das Leben vor sich her.“ Den „keuchen Tod“ als Metonymie für „Mensch“ zu lesen, und „Leben“ als todbringende Bedrohung – dieser Chiasmus ist von besonderem Reiz: „Das Leben“ ist die Maschinerie des Krieges, die sie bedienenden Soldaten sind in der Kalkulation bereits gelöscht. Wäre nicht das negativ konnotierte Wort „Entsetzen“, könnte man hierin eine gewisse Kriegsbegeisterung, zumindest eine Faszination für den Krieg sehen. Hier kommt dann auch die erste Zeile wieder ins Spiel. Allerdings erlaubt die fehlende Interpunktion auch andere Konstruktionen: „Kreisch“ könnte als Imperativ Singular und „Peitscht“ als Imperativ Plural gelesen werden.
Setzt man hinter „her“ einen Punkt, „fetzen“ „die Himmel“ „den keuchen Tod“: „Den keuchen Tod / Die Himmel fetzen“. Die Pluralbildung von Himmel korrespondiert mit „Aus allen Winkeln“, die Fokalisierung wird von der Horizontalen der Bewegung „vor sich her“, die auch eine Fluchtbewegung zum Ausdruck bringt, in die Vertikale der jedes Mal anderen Himmelsausschnitte verlagert. Die „fetzenden“ Himmel sind zugleich Ausdruck für eine zerstörte Transzendenz und eine „kosmische“ Spiegelung lebensweltlicher Prozesse.
„Fetzen“ ist hier als intransitives Verb und nicht als Substantiv gebraucht (ab- oder herunterreißen, sich streiten; etwas fetzt: reißt einen mit, entfacht Begeisterung; sich fetzen). Gleichwohl ist es von ästhetischem Reiz, „Himmelsfetzen“ als vormals intakte Einheit zu denken, der das Genitiv-S infolge kriegerischer Handlungen „ausgeschlagen“ wurde.
Eine direkte Consecutio des Vorgangs „Den keuchen Tod / Die Himmel fetzen“ / (Die Himmel fetzen den keuchen Tod) ist Erblindung und (Ab-)Schlachtung. „wildum“ im Sinne eines ungeordneten „Reihum“ markiert einen Übergang in einen entzivilisierten Naturzustand. Nicht direkt die Schlacht „schlächtert“ die Soldaten, die psycho-physische Extremempfindung des „Entsetzen“, also eine Bewußtseinsreaktion auf den Sturmangriff, „schlächtert“ – und nicht „packt“ – die bereits körperlich Versehrten. Dabei sind „wildum“ und „schlächtert“ nicht zwingend negativ konnotiert. „Schlächtert“ kann auch als Kofferwort aus den homophonen Ausgangslexemen „Schlächter“ und „schlechter“ und ihren neologistischen Verbformen gelesen werden.
August Stramm betreibt ein ernstes Spiel mit grammatischen Valenzen, die Ambiguität syntagmatischer Dependenzen ökonomisiert die Textmenge, indem zwei und mehr Lesarten in eine Textoberfläche eingefaltet sind – das ist auch eine Spielart der von Lothar Schreyer mit dem recht opaken Begriff der „Dezentration“ belegten Operation. 

PATROUILLE 

Die Steine feinden
Fenster grinst Verrat
Äste würgen
Berge Sträucher blättern raschlig
Gellen
Tod.

Auch in „Patrouille“ manifestieren sich die an „Sturmangriff“ aufgezeigten mimologischen Strategien.
Auffallend sind neben der Transitivierung intransitiver Verben – „feinden“ (anstatt „anfeinden“), „grinsen“ – der bildreihende Zeilenstil und die Figuren grimassierender Personifikation („Die Steine feinden / Fenster grinst Verrat / Äste würgen“). Das Adverb „raschlig“ ist sexuell konnotiert, ihm eignet eine sexuell aufgeladene mimologisehe Geste: Die Zeile „Berge Sträucher blättern raschlig“ evoziert zum einen die Vorstellung stückweise und raschelnd abfallender Blätter, zum anderen hat „raschelig werden“ die Bedeutung von „die Fassung verlieren“, „wuschig / rollig werden“.
Auch „Patrouille“ kann als Emblem gelesen werden: Der Titel dient als Inscriptio (Motto/ Lemma), der Gedicht-Korpus „Die Steine feinden / Fenster grinst Verrat / Äste würgen / Berge Sträucher blättern / raschlig / Gellen“ fungiert als halluzinatorische Pictura optisch-auditiver Sensationen; die Schlußzeile „Tod“ als schlagende Subscriptio und Erlösungs-Wort ist ein denkbar kurzes Epigramm.  

WACHE 

Das Turmkreuz schrickt ein Stern
Der Gaul schnappt Rauch
Eisen klirrt verschlafen
Nebel Streichen
Schauer
Starren Frösteln
Frösteln
Streicheln
Raunen
Du!

„Wache“ ist ebenfalls ein additives Ikongedicht mit Schwundstufen. Die Situation „Wache“ wird als Hybrid aus äußerer und innerer Wahrnehmung gezeigt, das Beobachten der Außenwelt verlagert sich in die Selbstwahrnehmung, wobei die Haut bzw. der Körper als sensuelles Interface fungiert („Frösteln“). Gemischte Situationen („Starren Frösteln“) werden analog zum Prinzip Einblenden und Ausblenden abgelöst von „reinen“ Situationen („Frösteln“). Die zeilentaktischen Einzelbild-Schaltungen evozieren eher den statuarischen Eindruck einer Bildwechsel-Mechanik wie in einem Plastiskop Klickfernseher, als daß sie eine übergangslose Prozessualität simulierten. Das Statuarische zu verflüssigen und somit ein rhythmisch-kinetisches Moment zu installieren, dient die Iteration von „frösteln“, wie überhaupt die Ausdehnung eines Wortes zu einem Zeit-Raum-Wort mittels seiner zum Teil Seiten füllenden Wiederholung ein konstitutives Merkmal von Stramms Wortkunst-Ästhetik ist.
Gerade das vertraute Mittel des Zeilenstils im Verbund mit dem so starken wie starren Schema des syntaktischen Parallelismus, der sich musterbildend mit der ersten Zeile etabliert, bewirkt in diesem additiven Bildreihengedicht ungewöhnliche grammatische Effekte.
Der parataktische Reihungsstil wird hier nicht nach dem starren SPO-Muster durchgeführt, Irritationen sprachlicher Referenzierung ergeben sich aufgrund der Variation dieses Musters. Ist die Zeile bzw. der Satz „Das Turmkreuz schrickt ein Stern“ eine OPS-Variante des in „Der Gaul schnappt Rauch“ realisierten SPO-Musters, so könnte man in parataktischer Analogie das Adverb „verschlafen“ in der Zeile „Eisen klirrt verschlafen“ als Akkusativobjekt hören, wodurch „klirren“ zum transitiven Verb würde. Dies mag eine spiralisierende Spekulation zuviel sein, schließlich hat Stramm „verschlafen“ nicht durch Großschreibung markiert; andererseits weist eine solche Differenzqualität von Schrift und Stimme, von Schrift-Bild und Hör-Bild auf eine in der akustischen Realisierung der Gedichte nur intonatorisch zu lösende Autodynamisierung von Stramms grammatisch-mimologischen Strategien hin.
„Der Gaul schnappt Rauch“ ist darüber hinaus ein Bild-Beleg für die poetologische Selbstreferentialiät und ikonische Mimologie von Stramms Gedichten, wenn man „Rauch“ als Synonym für den dampfenden Atem versteht, der den Nüstern des Gauls entsteigt: Die Geste des Schnappens ist eine solche des Löschens und Streichens dessen, was als verbale Entität gesetzt wurde und in der Setzung mit allen anderen Entitäten einen Konnex bildete.
„Schrickt“ und „schnappt“ bilden ein onomatopoetisches Korrespondenzpaar. „Streichen – Streicheln“ und „Schauer – Starren Frösteln – Raunen“ bilden ebenfalls – unterschiedlich motivierte – Korrespondenzpaare. „Starren Frösteln“ – „Frösteln / Streicheln“ ist eine Art kommutatives Palindrom. Das hochgradig polyseme Verb „streichen“ enthält Stramms Poetik in nuce. „Streichen“ bedeutet unter anderem „mit einer gleitenden Bewegung (der Hand) etwas glätten“ oder „tilgen, ausstreichen“. Im Kontext von „Wache“ gewinnt es homolog-performative Qualitäten, indem seine tilgende Bedeutung und taktile Eigenschaft gezeigt wird: Streicht man in „Streicheln“ das „l“, materialisiert sich im Rest die Benennung genau dieser Tätigkeit.
Das möglicherweise von „Streicheln“ ausgelöste „Raunen“, das in die konkrete Gestalt „Du!“ mündet, erlangt eine starke mimologische Ikonizität auch durch die Ambivalenz von „Schauer“ als Regen(schauer) und als – wiederum eingekürzte – Variante von „Schauder“ im emphatisierenden Sinne von Angst, Entsetzen, Grauen. Zudem klingt in „Schauer“ „Schauen“ an, eine andere Modalform des Sehens als „Starren“. Da bei Stramm die Artikel grundsätzlich fehlen, ist hier auch das Geschlecht nicht ausgemacht; der „Schauer“ könnte eine Neubildung im Sinne von „der Schauende“ sein. An „Frösteln“ gekoppelt ist „Raunen“ über die erste Silbe „rau“ und damit im Sinne einer poetischen Etymologie verwandt mit „streichen“ und „streicheln“. Auch „raunen“ ist ein Kofferwort, in ihm enthalten sind rauh, rauen, rune(n). „Raunen“ bildet das versinnlichte Summationswort der Abtastreihe, in ihm kulminieren haptische und sensuelle Qualitäten.
Bilden „Schauer“ und „Raunen“ auf der Bedeutungsebene und lautlich ein Korrespondenzpaar, so „Streichen“ und „Streicheln“ über ihre semantische Verbindung hinaus ein optisches.
Auch wenn „Raunen“ als beschwörende akustische Spezifikation des eher leisen Vor-sich-hin-Redens oder Murmelns zu verstehen ist und das Wort von einem gewissen Pathos umflort ist, kann nicht eindeutig entschieden werden, ob die von diesem Signalwort vorbereitete Pointe „Du!“ eine die Selbstwahrnehmung wieder in die Außenwirklichkeit wendende Exclamatio darstellt, mit der die Stimme den Körper aus sich heraus wieder in die Umwelt wirft, oder ob dieses „Du!“ nicht eher ein bloß gedachter Stellvertreter eines Erinnerungs- bzw. Gedächtnisbildes ist.
Nicht ganz auszuschließen ist im übrigen der Gedanke, daß sich „Streicheln“ und „Du!“ auf den Rauch schnappenden Gaul beziehen. 

Das Moment ambivalenter Situativität manifestiert sich auch in der Frage nach der temporalen Funktion des Präsens. Der Protokollstil von Stramms Gedichten suggeriert ein Präsens als Präsenz, Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit, der sich einstellende ,Live‘-Effekt hat zur Folge, daß die verba ganz in den res aufgehen, das Bezeichnete das bezeichnende Medium in der Wahrnehmungshierarchie (des Lesers) ganz zurückdrängt. An wen ist das Gedicht adressiert? An die Situation. Ist es aber nicht genau das, was August Stramm anzielte? Es bedarf also des Paradoxons einer reduktionistischen Kunstsprache, um nicht Kunst, sondern Welt zur Sprache zu bringen und in dieser Transferleistung Sprache verschwinden zu machen und zugleich selbst, als Subjekt der Äußerung, zu verschwinden. Eine Gleichzeitigkeit von Situation bzw. Vorgang, Wahrnehmung und verbaler Bezeugung mittels Wortkunst würde voraussetzen, daß diese Wortkunst keine sich selbst ausstellende Kunstsprache, sondern eine kommunikative Naturalie ist. Nicht also verbale Post-production, sondern Simultaneität von res und verba mit den benannten Nebenwirkungen. 

Michael Lentz, Schreibheft, Nr. 92, Februar 2019

 

 

STRAMMS NACHT

Nacht Die Gall Trapst Durch Karlshorst Der Mond Scheint In
Die Ställe Blutig Schnarcht Mein Pferd DER RITT Durch
Mein Postamt: Scharf Gespitzter Bleistift Stiebt Wie
Trockner Schwanz.
Mein Herz Gefüllt Mit Blutlehr Kujonieren Silben Laute Wör
Ter Das Kopflastauto Fährt In Meinen Neuen Kriech ER-
FÜLLUNG
FÜLLEN NEUGRANATEN SINGEN Im Koitus Von Wör-
Tern Wörter Wertern: Weitern.
Der Rote Horizont In Belorußland Schlachten Schlachten
Treib Im Tod.
Endlich Blaßt Die Rote Erde Mich Dann Ins Vergessen

Peter Brasch, Juli 1991

 

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Peter Brasch – Stadtschreiber in Rheinsberg 1998.

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