Àxel Sanjosé (Hrsg.): vier nach

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Àxel Sanjosé (Hrsg.): vier nach

Sanjosé-vier nach

DIE WILDESTE ART

Die wildeste Art,
die waldigste und wallfahrendste,
den Körper zu bewegen,
die subtilste und muskelbetonteste Art,
die der Materie am nächsten,
Quell Geworden, Weil Quell Sie Ist,
die beleidigendste
Körperbewegung von allen und, ja,
wenn sie will, auch die liebevollste
ist das Wort, und dass man spricht.

Autor: Enric Casasses

 

 

 

Vorwort

Wer am 30. November 2006 im Bibliothekssaal des Instituto Cervantes in München zugegen war, erlebte eine Lesung mit ausgesprochenem Seltenheitswert. Das lag nicht nur daran, dass – selbst im Umfeld der Frankfurter Buchmesse 2007 – eine Veranstaltung mit vier katalanischen Lyrikern diesseits der Pyrenäen eher zu den Ausnahmen zählen dürfte, sondern vor allem an der (erstmals zustande gekommenen) Konstellation selbst. Es war ein Zusammentreffen von vier in ihrer poetologischen Ausrichtung, ihrem lyrischen Duktus und ihrem Auftreten äußerst unterschiedlichen Autoren – und trotzdem entstand in keinem Augenblick der Eindruck, die vier seien per Zufallsgenerator dorthin gelangt. Vielmehr schien ein unsichtbares Kraftfeld die auseinanderstrebenden Positionen von Enric Casasses, Eduard Escoffet, Arnau Pons und Víctor Sunyol zu verbinden, vor dem geistigen Auge entstand die Figur eines Tetraeders, bei dem jeder Eckpunkt gleich weit von jedem anderen entfernt ist und der so einen idealen geometrischen Körper ergibt.
Was diesen Mikrokosmos im Innersten zusammenhält, ist – so vermute ich – die Tatsache, dass jeder der vier Autoren auf eine zwar individuelle, hinsichtlich ihrer Konsequenz und Intensität aber vergleichbare Weise die Errungenschaften und Trümmer der Avantgarde für sein eigenes poetisches Sprechen verarbeitet hat. Und dass jeder ein gutes Stück Weges in seiner Richtung weitergeschritten ist.
Bei dieser Betrachtung darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Avantgarde – oder genauer: die Tradition der Avantgarden – in der katalanischen Kultur einen besonderen Stellenwert innehat. Das lässt sich an den allseits bekannten Namen wie Gaudí, Miró, Dalí oder Tàpies ablesen, die ohne ein geistiges Klima, das die künstlerische Innovation begünstigte, wohl kaum in dieser Häufung aufgetreten wären. Vor allem Barcelona, das von der ersten Ausstellung Picassos bis hin zu Schönbergs Niederschrift seines Opus magnum Moses und Aron eine Reihe auch nicht-katalanischer Meilensteine aufweisen kann, darf sich mit einigem Fug in die Landkarte der europäischen Moderne eintragen.
Damit will ich keineswegs die Behauptung aufstellen, Katalonien sei eines der Epizentren der europäischen Avantgarde gewesen. Doch die Verbindung dazu, insbesondere zu Paris, war vielfältig und intensiv. Und das kam nicht von ungefähr: Im Kontext der von Großgrundbesitz, verarmtem Adel und ruralen Strukturen geprägten iberischen Halbinsel des späten 19. Jahrhunderts bildete das bürgerliche, an Frankreich grenzende Land im Nordosten einen soziologischen Kontrapunkt. Handel, Handwerk und Industrie entwickelten sich hier – wohl aufgrund einer mehr dem Handel im Mittelmeerraum als der Eroberung der Neuen Welt zugewandten Historie zumindest auf ähnliche Weise wie in vielen Teilen Europas. Die Affinität zum Fortschritt wirkte sich auf die Künste aus; der „Modernisme“, dessen bedeutendstes Beispiel die Architektur Gaudís ist, war Ausdruck einer breiten kulturellen Erneuerungsbewegung, in der auch vieles vom neu erwachten Selbstbewusstsein Kataloniens mitschwang. Und so war das eher konservative Bürgertum vielleicht aufgeschlossener für Neuartiges und Revolutionäres, selbst wenn dieses die eigene Welt ästhetischer Konventionen untergrub.
Ein besonders illustratives Beispiel für die in Katalonien hervorgehobene Rolle der Avantgarde im Gesamtkontext der Künste und ihrer Rezeption bietet die Literatur. Hier zählen mit Joan Salvat-Papasseit (1894-1924), Josep Vicenç Foix (1893-1987) und Joan Brossa (1919-1998) drei dezidiert experimentell ausgerichtete Autoren zum absoluten Kernbestand des literarischen und letztlich bildungsbürgerlichen Kanons. Und das bedeutet, dass wer auch immer im katalanischsprachigen Raum mit Poesie zu tun hat, sich mit Salvats eigenwilligem Futurismus, mit Foix’ investigativem Postsurrealismus sowie mit den Bild-, Objekt- und Raumgedichten Brossas auseinandergesetzt hat – und zwar in viel stärkerem Maße als dies hierzulande etwa mit Schwitters, Jandl oder Gomringer der Fall wäre (um stellvertretend ebenfalls drei Namen zu nennen), die trotz unumstrittener Bedeutung kaum als „Pflichtlektüre“ gelten dürften.
Diese Positionierung der Avantgarde hat zwar nicht zur Folge, dass katalanische Dichtung per se avantgardistisch wäre, denn die Autorinnen und Autoren, die im Bereich des Experimentellen agieren, bilden hier genauso eine Minderheit wie anderswo; sie spiegelt sich aber sehr wohl in einer wesentlich größeren Selbstverständlichkeit des Umgangs mit neuen Formen und hat so etwas wie eine fortgeschrittene Autoren- und Leserschaft in Sachen literarischer Grenzgänge herausgebildet.
Vor diesem Hintergrund verkörpern die vier vorgestellten Autoren dieses Bandes vier Wege der Weitertradierung und -entwicklung, die bei aller Unterschiedlichkeit in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen, in einer Art System verketteter Symmetrien, deren Achsen durch bekannte Parameter des experimentellen Schreibens gebildet werden.
So findet man z.B. die Verwendung von Sprache als Lautmaterial sowohl bei Eduard Escoffet als auch bei Víctor Sunyol: Doch während der Erstgenannte die Materialität durch den Einsatz sich überlagernder Tonspuren polyphon behandelt, geht Letzterer den umgekehrten Weg, indem er die Wörter vereinzelt, aus ihrem syntaktischen Verband herauslöst und als extrem reduziertes Kondensat von Klangelementen rekombiniert.
Dieses poetische Verfahren geht mit dem graduellen Abbau der konventionellen Referenzialität der Sprachelemente zugunsten ihrer Suggestivkraft einher, der Rimbaudschen „alchimie du verbe“. Arnau Pons strebt ebenfalls diese Wirkung an, allerdings auf diametral entgegengesetzte Weise. Denn während Sunyol die oft monosyllabischen Wörter gleichsam wie die Gongschläge einer meditativen Übung am Rande des Verstummens setzt, generiert Pons wuchernde Labyrinthe, in denen die Lexeme eine Eigengesetzlichkeit entlang von Isotopien und Paronomasien entwickeln.
Dieser Primat des Signifikanten gegenüber dem Signifikat ist auch bei Enric Casasses zu konstatieren, denn auch bei ihm scheinen sich die Wörter verselbständigt zu haben – nur sind es völlig andere Wörter als bei Pons. Im Kontrast zu dessen hermetisch-sperriger Diktion, die mit seltenen und teilweise neugeschaffenen Vokabeln sowie kühnen Wortfügungen operiert, finden wir bei Casasses eingängige, geradezu volksliedhafte Verse vor. Ihre Hintergründigkeit, ja Hinterhältigkeit offenbart sich erst auf den zweiten oder späteren Blick, wenn dem von der Musikalität berauschten Rezipienten (das gilt im verstärkten Maße bei der singulären Präsentation durch den Autor) die Botschaft in ihrer verblüffend einfachen Rätselhaftigkeit bewusst wird.
Die Verwendung der Alltagssprache teilt er wiederum mit Escoffet; hier allerdings ist Casasses’ Cantabile einem prosanahen Parlando gewichen, das die Mechanismen tradierter poetischer Ästhetik mit sozial kritischem Impetus hinterfragt, andererseits Zitate mittelalterlicher Literatur  in die Szenen einer trivialisierten Alltagskultur versteckt.
So schließt sich der Kreis. Weitere Parallelen und Oppositionen werden bei der Lektüre der Gedichte deutlich werden. Sofern man der Anordnung dieses Bandes folgt, was keineswegs notwendig ist, ergibt sich die Reihenfolge der eingangs erwähnten Lesung, die beizubehalten mir sinnvoller schien, als das Alphabet oder das Geburtsjahr zum strukturierenden Prinzip zu erheben.
Ein Wort noch zu einer Auffälligkeit dieses Bandes: der Abwesenheit von Autorinnen. Die einzelnen Gedankengänge darzulegen. die zu der hier vorgestellten Konstellation geführt haben. würde zu langatmig und vielleicht auch nicht mehr möglich sein. Was wir – als Organisatoren der Lesung im Vorfeld festgestellt haben, ist eine statistische Dominanz männlicher Autoren auf dem Feld des Experimentellen – im Gegensatz zum generellen Befund in der Lyrik, wo eine ähnliche Ausgeglichenheit der Geschlechter besteht wie hierzulande. (Interessant wäre es zu untersuchen. ob es sich hier in puncto Avantgarde ähnlich verhält, und vielleicht schreibt jemand einmal eine literatursoziologische Studie über das Experimentelle als Rückzugsbiotop des Patriarchats). Jedenfalls ging es weder bei der Lesung noch in diesem Band um Proporz oder Quote, und so haben wir darauf verzichtet, einer falsch verstandenen Political Correctness zuliebe nachträglich eine Repräsentantin hinzuzuwählen.
(…)

Àxel Sanjosé, Vorwort, Februar 2007

 

Im katalanischsprachigen Raum

hat die Avantgarde eine bedeutende Tradition – das gilt nicht nur für die bekannten Beispiele aus Architektur und Kunst, sondern auch und in gleichem Maße für die Literatur. Aus der Vertrautheit mit dem Experimentellen hat sich eine sehr lebendige und vielfältige „polypoetische“ Szene herausgebildet, die das Erbe jener ästhetischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts in vielen Richtungen weiterentwickelt. Wie unterschiedlich die poetischen Verfahrensweisen der Post-Avantgarde sein können, zeigen die vier Autoren dieses Bandes, denen bei aller Divergenz eines gemeinsam ist: das Ausloten der phonetischen und semantischen Möglichkeiten von Sprache.

Siftung Lyrik Kabinett, Klappentext, 2007

 

Auf den Trümmern der Avantgarde

− Nicht sagen – bohren: Ein Blick auf Kataloniens Gegenwartslyrik. –

Liebhaber katalanischer Lyrik gelten in Deutschland als Exoten. Lange bevor der Buchmessenschwerpunkt in Frankfurt Abhilfe leistet, unternahm der Münchener Lyriker und Übersetzer Àxel Sanjosé im vergangenen Jahr das Wagnis, vier katalanische Gegenwartsdichter zu einer Lesung in seine Heimatstadt zu holen. Nun liegen die Texte zweisprachig als deutsch-katalanische Anthologie vor. Sie gewährt einen eindrucksvollen Einblick in das dichterische Schaffen einer Region, die sich spätestens seit Gaudí, Miró und Picasso als eine der Wiegen der europäischen Avantgarden offenbart hat.
In diesem Kontext ist auch der Titel des Bandes zu begreifen: vier nach. Er enthält im Grunde ein ästhetisches Programm. Wir begegnen hier „vier“ Dichtern, die „nach“ jener Epoche groß wurden, da Barcelona, um den Romancier Eduardo Mendoza zu zitieren, sich erst zur „Erfinderin des Modernismus“ aufschwang und dann, unter Franco gar der eigenen Sprache beraubt, zusehends in die Peripherie gedrängt wurde. Allerdings ist das titelgebende „Nach“ nicht so zu verstehen, dass wir in den Gedichten von Enric Casasses, Eduard Escoffet, Arnau Pons und Víctor Sunyol postmoderne Reflexionen auf die Avantgarde oder einen Bruch mit ihr fänden. Was im Werk der Dichter thematisiert wird, ist die Tatsache, dass diese bereits vor ihnen gebrochen wurde. Alle vier schöpfen, um es mit den Worten des Herausgebers zu benennen, aus den „Trümmern der Avantgarde“.
Zu höchst divergierenden Ergebnissen kann die Arbeit von dergleichen Trümmermännern führen. Eduard Escoffet, mit 28 Jahren der Jüngste des Quartetts, nähert sich nach den Motti „ein text ist der körper“ und „jeder mensch ist schrift“ der Sprache in ihrer grundlegenden Stofflichkeit. Als vom Menschen erzeugtes lautliches und graphisches Material können die Worte in verschiedenen Ton- und Schriftschichten übereinandergelagert werden und den Text so in eine neue Dimension heben. Komplementär zu einer solchen Trümmerschichtung wählt Victor Sunyol, 1955 geboren, den Weg radikaler Reduktion. Jedes seiner Gedichte ist gewissermaßen das Relikt der Entkernung komplexer syntaktischer Gebäude, von denen nur noch die Grundpfeiler in Form einsilbiger Vokabeln mahnen: „seit (sterben) / nur / mit / und alles“ oder „sein / das wo kein ding“. Ein solcher Wortabbruch ist schmerzhaft. Denn das Gedicht bleibt doch ein lebendiger Organismus, dem Wunden zugefügt werden: „wo hier das wort blutet in wörtergerinnsel, scholle des seins“, klagt es aus den entkernten Sätzen.
Diese in Sunyols Werk nur noch zaghaft pochende Lebendigkeit des Wortes hat sich bei Arnau Pons, Jahrgang 1965, in Wildwuchs verwandelt. Inkongruente Wortkompositionen wuchern gleich Parodien des Surrealismus in seinen Gedichten. Durchstreift werden sie von apokalyptischen Monstren, die durch „ein radikales sich-den-weg-bahnen“ die Konsistenz des Gedichts selbst zu zerstören drohen, etwa durch die „elektrisch geladenen klauen der kerkermeisterin, die sich vollfrisst an missglückten versen“.
Licht und geradezu idyllisch wirken im Vergleich dazu die Verse des 1951 geborenen Enric Casasses. Komponiert sind sie teils in traditionellen Gedichtformen wie Sextinen und Dezimen oder in Variationen musikalischer Formen wie einer Paganini-Sonate. Doch obgleich dem Leser diese vertrauteren Formen gemäß dem Wunsch des Autors leichter „ein zuhause sein“ können, „so als säh ich die frische wäsche der großmutter flattern“, sind auch die Gedichte von Casasses nicht frei von Widerhaken. Etwa, wenn sich eine seiner harmonischen Sextinen als Beschreibung eines Selbstmordversuchs entpuppt.
Was alle vier Dichter über dies Gefühl hinaus miteinander verbindet, ist ihre Jagd nach einem Sinn, der sich stets entzieht: „Ich bin Sklave von dem was flieht“, bekennt Casasses, während Escoffet als paradoxes literarisches Credo verkündet: „es gibt nichts zu sagen, und trotzdem haben wir es nötig zu schreiben“. Nichts anderes muss Pons erleben. Da sein eigener Strom versiegte, lebt er fortan von fremden Wassern: „entfremdete Kloake, die vom Platzregen lebt, traurige Kohlezeichnung eines entzündbaren, an Gott grenzen Himmels.“ Das Resümee aus solchem Hadern mit der künstlerischen Originalität zieht Enric Casasses im Schlussgedicht des Bandes: „DIE KREATIVITÄT IN DER KUNST MACHT NUR UMSTÄNDE.“ Welche Ironie in diesem Satz steckt, wird offenkundig, wenn der Dichter seinen Leser im selben Atemzug um einen Bohrer bittet, „um eine gewisse Unendlichkeit an der Hinterwand anzubringen“.
Den Bohrer, so verspricht er, wird er nach Gebrauch wieder zurückgeben. Der Leser sollte dies allerdings nicht durch pflichtgemäße Rückgabe dieses Buches erwidern: Denn es hat einen festen Platz im nun solide festgedübelten Bücherregal verdient.

Florian Borchmeyer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2007

Enric Casasses – Eduard Escoffet – Arnau Pons – Víctor Sunyol

vier nach

− Katalanische Lyrik nach der Avantgarde −

Im katalanischsprachigen Raum hat die Avantgarde einen besonderen Stellenwert, das ist an allseits bekannten Namen wie Gaudi, Miro und Dali abzulesen, gilt aber nicht nur für Architektur und bildende Kunst, sondern ebenso für die Literatur. Die experimentelle Poesie gehört in Katalonien mit den Namen Brossa, Foix und Salvat-Papasseit zum literarischen Kanon.
Axel Sanjose versucht mit der vorliegenden Auswahl von vier zeitgenössischen Lyrikern Kataloniens eine Weiterentwicklung der poetischen Avantgarde vorzustellen. Bei aller Unterschiedlichkeit der vier Autoren sind Gemeinsamkeiten zu erkennen: Das Spiel mit der Sprache, mit der Lautmalerei, mit dem Klang.
Eduard Escoffet ist der jüngste der vorgestellten Lyriker, der in Barcelona zur visuellen und lautpoetischen Szene gehört. Aber trotz alledem verwendet er auch traditionelle Themen und zeichnet sehr schöne Bilder in seinen Poemen. Enric Casasses gilt bereits als Klassiker der zeitgenössischen katalanischen Lyrik. Arnau Pons ist Celan-Übersetzer, Essayist und als Lyriker an den Randzonen des Sagbaren tätig.
Víctor Sunyol hat seine lyrische Arbeit interdisziplinär ausgerichtet und stößt so auch an die Grenzen des Lesbaren. Seine Lyrik wirkt wahrscheinlich am besten als Performance. Es ist der Stiftung Lyrik Kabinett München und dem Herausgeber Àxel Sanjose zu danken, dass dieses Buch überhaupt erscheinen durfte. So erlaubt es einen zweisprachigen Einblick in die katalanische Lyrik nach der Avantgarde. Enric Casasses’ Schlussvers aus „Erinnerungen des Teufels“ möchte ich ans Ende dieser Besprechung stellen: „Die Schreie erschütterten nicht die Stille / und Engel bringen uns Teufeln das Futter hinab.“

Rudolf Kraus, buchkritik.at, 11.6.2007

Das aktuelle Lyrikbuch

Schon Hans Magnus Enzensberger hat einst versucht, der Avantgarde allerlei Widersprüche nachzuweisen. Nun hat der Lyriker Ulf Stolterfoht eine späte Entgegnung auf Enzensbergers Auslassungen geschrieben. Mit ruhigem Kopf entwickelt er eine kluge, knapp gehaltene Definition. Experimentelle Texte sind für Stolterfoht solche, die nicht auf eine feste, schon vorher ausgemachte Bedeutung zielen. So gesehen schreiben die vier katalanischen Dichter, die in der vorliegenden Anthologie versammelt sind, Avantgardelyrik im eminenten Sinne. Der junge Eduard Escoffet etwa glaubt an die „unmerkliche bewegung des wortes“. In seinen Litaneien und Spiralen misst er den Raum zwischen Begriffen wie „Schrift“ und „Schweigen“, „Liebe“ und „Angst“ aus, wozu auch die „angst, ikea zu hassen“ gehört. Oder Víctor Sunyol, der sich auf wenige Wörter beschränkt und über kleine Einschübe und Variationen die Sinnbildung fortwährend verschiebt: „vielleicht nur hier / (wo weder der schatten / oder ein Unterholz so warm) // vielleicht nur weder der schatten / noch / die luft die wacht / vielleicht // – vielleicht nur das meer –“. Àxel Sanjose hat für den Band eine schöne Auswahl getroffen. In seiner Übersetzung macht er den Wechsel der Bedeutungen spürbar und findet immer wieder klangstarke Formen wie das „nuckeln / am leckeren / schnuller der hagelschnur“.

Nico Bleutge, Stuttgarter Zeitung, 14.9.2007

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Jens Zwernemann: Von der Angst Kafka zu sein
literaturkritik.de, Oktober 2007

 

 

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