Benedikt Dyrlich: Grüne Küsse

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Benedikt Dyrlich: Grüne Küsse

Dyrlich-Grüne Küsse

ENTZAUBERUNG

Als Schnee fiel
um sieben Ecken rutschte ich
klappernd mit Zähnen
zwischen Häusern niemand winkte

Durch Fenster oder Türen
stieg ich hintenherum
wie der Dieb in ein Quartier:

Im großen Spiegel lagst du
ausgehungert aber zum Fressen schön…
wie ich über dich ging in Scherben
Das magische Bild

 

 

 

Das Ungenügen an der Idylle

Meistens kennt der Leser die Bewertung eines Buches, noch ehe er dessen erste Seite gelesen hat. Literatur gelangt fast immer gewertet an uns. Urteile gehen der überlieferten wie der zeitgenössischen Literatur voraus. Der Leser hält sich an sie, selbst wenn er sie sich in der anschließenden Lektüre nicht zu eigen macht. Eine Ausnahme stellt die jeweils junge Literatur dar, neue Namen, Formen und Schreibweisen. Darum weichen Aussagen über junge Literatur häufig extrem voneinander ab. Die Maßstäbe, die an sie herangetragen werden, sind manchmal willkürlich, von Normen abgeleitet, die die Autoren selbst kaum anerkennen würden. In den öffentlichen Diskussionen der letzten Jahre hat man daher versucht, die Sache selbst zu einem Werturteil zu machen. Junge Lyrik zum Beispiel wurde entweder als Muster der Oberflächlichkeit hingestellt oder aber als das Neue und daher Gute. Vielleicht ist die vielfach problematische Kategorie der jungen Literatur nur darin fest bestimmt, daß es sich um Texte handelt, die noch nackt und bloß auf ihre Einkleidung und Aufnahme in die Literatur warten.
Mau kann deshalb einen Zufall nutzen und das gemeinsame Erscheinungsjahr von drei Gedichtbänden als Ausgangspunkt für einen Vergleich nehmen. Im Aufbau-Verlag veröffentlichten 1980 drei Autoren erste Gedichtbände: Richard Pietraß (geb. 1946) Notausgang, Benedikt Dyrlich (geb. 1950) Grüne Küsse und Uwe Kolbe (geb. 1957) Hineingeboren. Obwohl es sich jeweils um Erstlinge handelt – im Falle Dyrlichs allerdings um eine Auswahl aus drei in sorbischer Sprache erschienenen Bänden –, begegnet man nicht Autoren, die aus derselben Generation stammen. Dem Werdegang des einzelnen wird der zusammenfassende Vergleich immer unangemessen bleiben. Für die Leser jedoch sind mit dem Zufall des Erscheinungsjahres die Gedichte erst in die Welt getreten. Daher werden wir sie wie die Leser auch als Neuerscheinungen lesen.

(…)

III.
Zu derartiger Selbstentzweiung drängt es das „Ich“ in dem Band Grüne Küsse von Benedikt Dyrlich nicht. Wie Notausgang umfaßt auch der Band Grüne Küsse einen recht großen Zeitraum lyrischer Produktion, Gedichte aus fast zehn Jahren. Ebenso wie der Band von Pietraß zeigt auch dieser Entfaltung, aber keine einschneidenden Veränderungen der Haltung und des poetischen Konzepts. Im deutlichen Unterschied zu Pietraß und auch zu Kolbe aber erscheint Dyrlichs Selbstaussage problemlos und unbelastet. Als einziger von den drei Lyrikern übernimmt er das traditionelle Ich der Erlebnislyrik und kommt damit nicht in die Lage der mühsamen Vorverständigung über das Ich und seine Sprache. Daraus entsteht ein bekümmertes Sprechen, das sich diverser Anlässe bemächtigen kann:

Dennoch ich verkleckre herzlich
gern jede Zeit, in der mich
das Zauberspiel der Lichter an
der weitgestreckten Decke über
den Bächen vor der alles tötenden
Ruhe tarnt oder die empfindlich
grüne Wiese mir ohne Distanz
ihr strähniges Gras reicht.

(„Geständnis“)

Zuversichtlich hält sich das Ich an seinem Wollen; dieses allein scheint die Gesetze seines Tuns zu bestimmen. Die tödliche Ruhe ist vermeidlich; die Distanz zu überwinden; so tödlich, so fremd kann die Welt nicht sein. Das Sammeln von Erfahrungen und der Umgang mit Anlässen lassen sich in Dyrlichs Gedichten fröhlich an. Zwar treten auch hier solche Erfahrungen auf, die die Selbstverständlichkeit anfechten. Grenzen des Wollens zeigen sich:

Will hin, wo ich nicht bin.

Draußen wispern kalte Winde,
und Glocken locken in die Ferne.

Ich sinke betreten zu Boden
und ende in Beklemmung.
(„Sehnsucht“)

An anderer Stelle wieder deutet sich nötige Beschränkung des selbst verfügten Bereichs Leben an:

Ich bin der Meinung,
ihr, die Gezählten, werdet um vieles mehr sein,
als die zählenden Laternen.

(„Einsamer Spaziergang unter Stadtlaternen“)

Aber ernstliche Anfechtungen für das Selbstgefühl werden daraus nicht. Meistens darf das Ich seiner sicher sein, verwirklichen, was es wünscht. Flügel wachsen ihm, wenn es sie braucht, und die Dinge der Natur reden mit ihm, sobald es sich zu ihnen wendet:

doch elysisch
wuchsen Flügel als wir flogen da
wo einer sich beim andern wünscht

(„Zugefallenes“).

Unentschieden bleibt, ob die fröhliche Naivität dem Ich ganz angewachsen ist oder ob nicht eine Rolle, die des Narren, gewählt wurde. Die Welt jedenfalls, die das „Ich“ sich zumutet, ist trotz diverser Flügel und dritter Augen bescheiden in Ausmaß und Weite.
Wieder trifft man auf Kürze. Sie entsteht nicht aus der Verknappung wie bei Pietraß. Kürze ist hier vielmehr das Maß für die Art der Beziehungen, von denen die Gedichte reden wollen, Das „Ich“ selbst ist darin flüchtig, als ein Moment der Stimmung, als vorübereilender Gedanke, als Einfall. Auch die längeren Gedichte verleugnen das Anläßliche der Rede nicht. Leichtigkeit der Behandlung der Gegenstände, Unfestigkeit der Begegnungen ist hier Absicht. Gern spielen die Gedichte mit den Einfällen, aus denen sie entsprangen. Aus dem Hin und Her zwischen Phantastik und Realität, der Geschwindigkeit des Bildwechsels, dem Wandel von Stilebenen machen sie sich ein Spiel. Phantasiespaziergänge sind eine bevorzugte Figur in Dyrlichs Gedichten:

Gegen den Tick der Uhr wollen wir laufen,
tauchen, den kühlen Kopf verlieren
in der Phantasienheiße

(„Ruf nach Überschreitung“)

Dem Ich ist eine Welt bereitet, in der die Widerstände gering und die Entfernungen überwindbar sind. Insofern hat die freundliche Übereinkunft zwischen Ich und Welt den Hang zur Unverbindlichkeit.
Das Erbteil der Erlebnislyrik prägt die Sprache. Oft gebrauchte Bilder und Wendungen werden in den Grünen Küssen wieder verwendet. Der Stern, die Wiese, der Mond, das alles steht in der bildsprachlichen Tradition und erfährt auch keine Neubewertung. Nicht die Anklänge an Verse und Motive von Eichendorff bis Sarah Kirsch sollen hier angemerkt werden, obwohl sie zahlreich sind. Die bruchlose Übernahme des ganzen Fundus jedoch gibt der poetischen Sprache einen Anschein von Zeitlosigkeit, der Widerspruch herausfordert. Eine ganze Generation hat in der Lyrik unseres Landes bildsprachliche Traditionen mit zeitgenössischer Erfahrung konfrontiert. Gedichte wie Heinz Czechowskis „Flußfahrt“ oder Wulf Kirstens „der bleibaum“ geben mit guten Gründen zu bedenken, daß das herkömmliche Inventar der Landschaften von dieser Befragung nicht ausgenommen werden kann. Die unbefragt benutzte Sprache einer meist aus spätromantischen Quellen stammenden Weltbeziehung wirkt danach anachronistisch.

IV.
Alle drei Bände Liebesgedichte. Die Grünen Küsse halten es mit dem Urbild der entfernten Geliebten, die eigentlich die ideale Geliebte ist. Das besagt nicht, daß die Liebe auch körperlos sein muß. Für die ideale Liebe genügt, daß Zweisamkeit, Übereinstimmung, Miteinander vorherrschend sind. Am besten ist es, wenn die Liebste eine Gestalt in Träumen bleibt:

Doch: Einzig du allein
faßt mich dann
fest an die Schultern und
siehst mir lange
in die Augen blau.

(„Kakteen I“)

In Traum und Wirklichkeit erspart sie dem Liebenden den Zweifel an sich selbst; keine wirklichen Hindernisse stören den Genuß des Glücks. Im Falle der idealen Geliebten enden Konflikte und Verwirrungen meist noch vor den Schlußversen. Von den „ungeahnten neuen Konflikten und Widersprüchen“, die Mickel und Endler in der Vorbemerkung zu ihrer Anthologie schon 1966 von Liebesgedichten in unserem Lande forderten, ist nichts zu spüren. Sogar das mehrfach auftauchende Tigermotiv, welches den Konflikt zwischen den Geschlechtern als andere Seite der Liebe in die Grünen Küsse bringt, läßt wirkliche Widersprüche aus dem Spiel. Der aufbrechende Gegensatz wird wie in dem Gedicht „Eines schönen Morgens“ zu einem beruhigenden, weil Begründungen aufweisenden Schluß führt. Diese Liebe paßt gut mit Phantasiespaziergängen zusammen. Das Ich baut sich in der Beziehung zur idealen Geliebten ein ganzes kleines Universum, indem der Imperativ seines Wollen gilt. Der Wirklichkeit des täglichen Zusammenlebens entspricht es nicht, wenn die Poesie es sich in der Liebe heimisch macht. Daß die Erwartungen und Wünsche vieler sich auf ein solches Glück in der Liebe richten, ist jedoch unbestreitbar.

(…)

Landschaften in schöner Natur gibt es auch bei Dyrlich nicht, obwohl in den Grünen Küssen eine ländliche Umwelt mit Wäldern, Wiesen und Gärten vorkommt. Aber sie erscheint ohne Selbständigkeit, nur als Spielfeld der Aktionen des Ichs, dessen Bedürfnisse sie auch ausschmücken. Gelegentlich sprechen die Gedichte sogar aus, daß Natur als Umwelt nicht einfach, vorhanden ist, sondern Produkt aus des Autors Feder:

Ich habs im Ohr:
diese Schübe der Sprache
einer Landschaft im Rhythmus der Zeit

(„Ich male neu die Farbe“).

Diesem „Rhythmus der Zeit“ weichen Sprache und Landschaften des Autors jedoch recht oft aus. Wo Naturlandschaft und technisierte Welt zusammenstoßen, da wird der Konflikt meist in einer versöhnlichen Wendung aufgefangen:

Ich höre laut das Rattern
über den Schienen Verspür
die Stöße in Rippen des Eisens
dumpfes Gestampfe direkt in der Seele…
Dann kehrt Ruhe zurück: Aus dem Kiefernwald
singe Lieder wie frei Ich pfeife
wach die Flügel der Vögel…

(„Zusätzliches Bekenntnis“).

Daß das Freie, welches hier wie überall in unserer Lyrik als die eigentliche heimische Welt erscheint, jederzeit erreichbar sein kann, ist eine freundliche Vorstellung. Sie gehört zu den Zügen, die die poetische Welt als Welt des Wünschbaren in Grüne Küsse bilden. Nur dürfte sie nicht so häufig das Aussehen einer verfügbaren Realität annehmen. Leicht gerät nämlich das kleine Fleckchen Natur, das die Wunschlandschaft bildet, zum Weltmodell. Das harmonische Miteinander von Naturgesetz und menschlichen Absichten, welches man den Landschaften für Phantasiespaziergänge gern zubilligt, muß dann verfehlt wirken.

VI.
Bleibt noch vom Platz zu reden, der dem Dichter zugewiesen wird. Reflexion über Poesie geht in allen drei Bänden mit der Poesie einher. Alle drei Autoren rufen auch eine große Zahl literarischer Vorbilder auf. Literatur bleibt weiterhin mit Literatur beschäftigt. Diese Entwicklung, von Peter Gosse 1976 konstatiert, reißt nicht ab. Dichter, sagt Uwe Kolbe, sind Götter, auch wenn sie es selbst vergessen. Er gebraucht das feierliche Wort oft und ohne Scheu. Hier kündigt sich wirklich ein fast vergessenes Selbstverständnis an, aber auch, wer wollte es überhören, der Anspruch auf das Prinzip der Autonomie der Kunst. Dyrlich dagegen ist bereit, den Märchenerzähler und Träumer zu spielen. Das Gedicht „Kinderei“ teilt dem Poeten seinen Platz in der arbeitsteiligen Gesellschaft zu. Daß er dem Dichter und auch wohl der Poesie nur die Rolle zugesteht, den Ernst des Lebens heiter zu begleiten, zeugt nicht allein von der Bescheidenheit des Autors. Im Vergleich zu Kolbes Ungenügsamkeit ist dies der andere Pol. Zwischen beiden bestimmt sich ein Verständnis vom Auftrag des Dichters, das noch sehr unfest ist. In solchen Unsicherheiten kündigt sich eine allgemeinere Veränderung der Auffassung davon an, was Literatur bewirken soll und kann. Bei einem neuen, festen Begriff ist man noch nicht angekommen.
Doch stellt sich schon heraus, daß dem Dichter ein erhöhter Platz zugewiesen werden soll. Selbst in Notausgang von Richard Pietraß wird trotz des sparsamen Umgangs mit großen Worten das Amt des Sehers an den Dichter vergeben („Die Kraft des Sehers“). In der Rolle von Auftragnehmern und Vermittlern des Dialogs, wie die Dichter in den sechziger Jahren ihre Aufgabe verstanden, sehen sich die Lyriker dieser Generation nicht. Ob Götter, Propheten oder Narren, in jedem Falle sind die Dichter mit der Aura des Besonderen umgeben. Welcher Platz dem Leser als Empfänger der Botschaften zukommen soll, ist vorerst noch nicht festgeschrieben. Daran wird aber künftig das gewandelte Bild vom Amt des Dichters zu messen sein.

Ursula Heukenkamp, Sinn und Form, Heft 5, September/Oktober 1981

Alltagsbewußtsein als Geschichtsbewußtsein?

Benedikt Dyrlich, Jahrgang 1950, entfaltet seine Gedichte aus der Erfahrung alltäglicher Begebenheiten, er scheut nicht die Haltung eines, der gesprächsweise berichtet, sagt, was ihm passiert ist – und ihm passiert, was einem so geschehen kann im Ablauf von Tag und Nacht. Nichts Außerordentliches mithin, und die Sprache gleicht sich der Alltäglichkeit des Berichtstons an, zunehmend in einem Rhythmus, der seine Herkunft aus dem Normal der Reden und Gedanken schon wieder leugnet, wenn die Sätze übergangslos ineinandergleiten, schwer gegeneinander abtrennbar und eingreifend miteinander verzahnt. Oft werden also die Worte dicht und somit zugleich offen für denjenigen, der sich seinen eigenen Reim drauf machen will. – Apropos Reim: Dyrlich vermeidet ihn konsequent. – Und wir wollen sofort fragen: Reimt sich da Dichte auf Geschichte? Weiß das Alltagsbewußtsein von seiner objektiven Geschichtsmacht? Weiß es von seiner subjektiven Geschichtsferne? Von der Schwierigkeit, die in diesem Gegensatz beschlossen liegt? – Warum wir diese Stichworte für die rezensorische „Kunstbetrachtung“ wählen? Uns scheint, daß der Alltag, wo man auch hinschaut, so ziemlich geschichtslos erfahren wird. Nehmen wir das als Factum brutum an. Doch die Chance, Alltagsbewußtsein geschichtlich zu vermitteln, hätte sie nicht – neben anderen Künsten – die Poesie?
Die Frage ist offenkundig rhetorischer Natur, und die vorausgesetzte Bejahung leite uns bei der wertenden Überschau über die Gedichte von Benedikt Dyrlich. Zunächst sei noch mitgeteilt, daß der Autor Sorbe ist. Die vorliegende Sammlung aus zehn Jahren ist seinen drei bisher in Sorbisch erschienenen Bänden entnommen. Daß er sich entschlossen hat, mit seiner Lyrik aus dem engen sorbischen Sprachkreis herauszutreten, ist uneingeschränkt gutzuheißen. (An anderer Stelle wäre zu erkunden, welche „handwerklichen“ Aspekte das hat.) Ein sorbischer Dichterkollege, Kita Lorenc, hat an der Auswahl des deutschen Bandes verantwortlich mitgewirkt. Dyrlichs Herkommen aus einer spezifischen Geschichte wirft gelegentlich Licht auf die Lebensregeln und -wunder von heute. Also den Begegnungen des Alltags stellt sich der Autor, und das ist ein wesentlicher Vorzug des gesamten Buches. Wie aber tut er es? Vielleicht lassen sich zwei Positionen gegeneinandersetzen.
Beginnen wir schroff und ohne die Anmaßung pädagogischen Schulterklopfens mit dem, was uns nicht gefallen hat. Eine Haltung sticht uns bei einer Anzahl von Gedichten ins Auge, die den Autor das Einfache loben läßt, das zugleich außergewöhnlich sein soll, und die ihn doch nur hilf- und ziellos gegen etwas daherreden läßt, das man Kleinbürgerlichkeit nennen könnte. Es heißt „Von der Begegnung mit einem Dichter“:

Dem Dichter begegnet einer nur,
wenn er ablegt
jede Maske.

Heilige Einfalt. Eine Vorstellung vom Dichten waltet da, derer sich vielleicht Schiller oder die Romantiker verzweifelt bedienen durften – in der Hoffnung, es gäbe eine Art Kern des Menschlichen, das wesenhafte Wesen, das durch die gesellschaftlichen Rollenspiele bloß verdeckt sei. Das, was „die Mode streng geteilt“, füge sich in der Kunst oder vor der Kunst in seiner menschlichen Ganzheit – in einer Ganzheit, die als voraussetzungslos vorhanden gedacht ist. Vor allem die Natur gibt bei Dyrlich den Bereich her, wo sie sich so einstellt. In „Kakteen II“ lesen wir:

Wenn wieder einmal
die grünen Kakteen blühen,
klopft die ganze Verwandtschaft
bei uns sonntags
an die Tür.

Gewiß eine Erfahrung des Alltags, die nicht nur angenehme Erinnerungen weckt. Die Lösung:

Ich aber laufe
unter die Wolken
… auf der Mütze
eine Pfütze voll
himmlischer Nässe.

So leicht ist das. Was hier schlicht und einfach fehlt, ist die Verarbeitung des poetischen Einfalls. Oder sollen wir wirklich glauben, daß der Himmel den Mangel an „Erhebung“, den mitmenschliches Zusammensein produzieren kann, beseitigt?
Verarbeitung hätte bedeutet, auf den neuralgischen Punkt zuzustoßen. Und der ist doch, daß es jenseits der Rollenspiele nur Leere geben kann. Das Schwierige, scheint uns, daß sinnstiftende Tätigkeit und menschliche Verbindlichkeit außerhalb des Alltags nicht existieren. Wenn sie sich aber auch darin nicht zeitigen, was dann? Das wäre die Frage. Das Problem liegt also nicht darin, daß man nur seine „Maske“ abzulegen bräuchte, um ein Ganzer zu sein; umgekehrt, es schwärt in dem Umstand, daß die alltäglichen „Masken“ gar keine sind. Der Alltag ist das Leben, wir haben kein anderes. In einer Anzahl von Gedichten weicht der Autor mit seiner antikleinbürgerlichen Attitüde dem eigentlichen Widerspruch, daß sich nämlich im Alltag, dem einzig möglichen Leben, nur schwer ein allgemein verbindlicher Lebenssinn konstituiert, gehörig aus – und zwar indem er den „Ruf nach Überschreitung“ (so ein Gedichttitel) erschallen läßt. Die Hoffnung (die das Gegenteil von Verarbeitung ist), daß der Alltag überschritten werden könnte, ist das Übel einiger Texte. So heißt es in dem angesprochenen Gedicht am Schluß:

Gegen den Tick der Uhr wollen wir laufen,
tauchen, den kühlen Kopf verlieren
in der Phantasienheiße.

Phantasie als Überwindung des Alltags? Eine phantastische Möglichkeit, dem „Tick der Uhr“ zu entkommen. Phantasie meint hier wohl eher Illusion.
Neben dem Ruf nach Überschreitung steht, nach dem Vorhergesagten nicht ohne innere Logik, der Ruf nach dem Irdischen. In „Wartezeit“:

Auf dem Fensterbrett meines Zimmers
landete ein schwarzer Rabe.

Er sagte: Du bist besessen von den Dingen
des Irdischen
.

Also, sehr irdisch klingt die Aussage über die Besessenheit nicht: Wer von „Dingen des Irdischen“ handelt, kann einen erdnahen Standpunkt schwerlich glaubhaft machen. Der Alltag figuriert hier noch in der Deklaration. Nichts gegen die gute Absicht, aber gute Absichten zählen meistens recht wenig, wo es um die Herstellung von Gebrauchswerten geht. Ja, die Widersprüche des Alltagslebens werden den Betroffenen (zu denen im Gedicht „Einsamer Spaziergang unter Stadtlaternen“ offensichtlich der Autor nicht rechnet) erstens zusätzlich in die Schuhe geschoben:

Heute habe ich für euch, die ihr
allein zu Hause hockt und die Uhrzeiger
mit Gewalt vorwärtstreibt, einen eigentlich
einfachen Plan…

Und zweitens sentimentalisiert: Der Plan besteht darin, die soeben Angesprochenen auf die Straße zu holen und sie von den abendlichen Laternen zwecks „Verständnis der Einsamkeit“ zählen zu lassen:

Ich bin der Meinung,
ihr, die Gezählten, werdet um vieles mehr sein
als die zählenden Laternen.

Wir schließen uns dieser Meinung an, hätten aber lieber gewußt, was für eine Gewalt die Leute die Uhrzeiger gewaltsam vorwärtstreiben macht. Vielleicht hätten wir dann etwas von der Geschichtsmacht – des Alltags oder, sogar, von der Alltagsmacht der Geschichte erahnt.
Dem aufmerksamen Leser dürfte. nicht entgangen sein, daß sich unsere bisherigen Bemerkungen mit dem einleitend behaupteten Lob der Gedichte Dyrlichs schlecht vertragen. Allerdings, die übergreifende Wertschätzung haben wir auch mehr auf jene Texte bezogen, denen wir uns im folgenden widmen. Und weil wir in ihnen die bestimmende Tendenz des Bandes zu erkennen glauben, haben wir das Lob an den Anfang gesetzt. Da berichtet der Autor nun weniger von der Alltäglichkeit, der andere Leute sich einordnen. (Obwohl ihm auch unter diesen Voraussetzungen gelegentlich eingängige Zeilen unterlaufen, so in „Nachtruhe“: „… Hier werden erst die Seelen wach, / wenn die Geschäfte öffnen.“) Vielmehr erzählt er von dem Alltag, den er selbst bewegt. Und siehe da, die Illusionen nehmen ab, die Sprache wird konkret:

Suchten also das Bindeglied
im Freien eine Diebesinsel fanden
bloß verblichene Fotos im Müll
lag unnötig die Erinnerung
Zerrissen warn die letzten Bande
(„Aus und vorbei“).

Statt des Fluchtpunktes „Phantasienheiße“ jetzt also „Diebesinsel“, an Stelle imaginierter Ganzheit auf dem Gegenpol der Kleinbürgerlichkeit nunmehr Zerrissenheit samt „verblichenen Fotos im Müll“ – ja wo sonst derzeit? Was er zuvor sprachlich hohl (und hinkfüßig) deklariert hatte: „… die Beine auf die Erde / und eine volle Umarmung: / Bis runter!“ („Ein Abschied“), löst er hier tatsächlich ein, ungeschminkt, unverbraucht wirken die Worte. Unversöhnt ist der Gegensatz zwischen Lebensanspruch und Tun, das Bindemittel menschlicher Verbindlichkeit nicht auffindbar. Sicher, sogleich müssen wir intervenieren: dies ist ein Mangel. Aber der Mangel wird zum Vorzug, wenn darauf verzichtet wird, die Widersprüche in scheinbarer Alternative durch Menschlichkeitskleister zu verschmieren.
So leben wir nun einmal hin – „Am letzten Haltepunkt“:

Sie stieg aus im hellroten Mützchen
überquerte die Tramschienen in Windeseile
Ich holte sie ein unterm vollen Mond
fragte ratenweise Wo-kommst-du-her? Sie
nicht gefallen auf den Mund gab
prompt die Antwort Vom Turnen das klang
wie Mach mit und lebe wohl Doch
ich griff ihre rauhe Hand
als eine Glocke tönte Im dunklen Hof
triebens gleich hinterm Kohlenschuppen am Rand
der Stadt Zärtlich war sie tüchtig mir
gefiels bis der Magen knurrte morgens Da
eilte sie zur Schicht Ich brachte ihren Knirps
noch in den Kindergarten erzählte
das Märchen vom Wolf der war am Ende tot

Einverstanden, irgendwo will uns auch in diesem Gedicht etwas mit der gegebenen Schwierigkeit, zu leben, versöhnen. Aber das halten wir hier für nebensächlich. Entschieden wichtig ist uns der Sachverhalt, daß ein alltägliches Geschehen (vielleicht mit einem weniger alltäglichen Ausgang) unverblümt beredet wird und daß im Berichten der Blick frei wird auf menschliche Verhältnisse: So gehen wir schon und noch miteinander um. Sicher könnte nun wer vorbringen, daß sich in solch naturalistisch erfaßter Milieustudie zwar möglicherweise eine geschichtliche Lebensform spiegele, kaum aber ein Bewußtsein von Geschichte wirksam werde. Dieser eventuelle Einwand wäre nur bedingt richtig, dennoch wollen wir ihn ernst nehmen. Tatsächlich bietet sich in der Erweiterung des dichterischen Bezugsfeldes auf den historischen Prozeß ein Desiderat. Freilich, das muß sofort hinzugesetzt werden, eine solche Forderung greift hoch, ihr sollte man nicht eil- und gar nicht leichtfertig nachkommen. Vielleicht werden die Umrisse einer entsprechenden Perspektive noch am ehesten in dem Motiv vom „dritten Auge“ (so auch der Titel des zweiten sorbischen Bandes) plastisch. Zunächst allerdings erst einmal im Gewand schwarzer Warnung, wie in dem Gedicht „Darreichung“.
Eine Wendung ins Positive, ohne welches sich auf Dauer so schwer leben läßt, gelingt Dyrlich dort, wo er sich direkt oder (wie im nachfolgenden Beispiel) indirekt sichtbar auf die sorbische Tradition stützt. Die Legenden seiner Heimat stehen ihm – wie ja auch Kita Lorenc oder dem Prosaiker Jurij Brězan – noch in einer Weise zur Verfügung, die in hochindustrialisierten Ländern ungewöhnlich ist. Relative Isolation und jahrhundertlange Zurücksetzung, so beklagenswert im Materiellen, haben doch eine Volkskunst erhalten, die in weniger vermittelten gesellschaftlichen Verhältnissen wurzelt. (Daß dies auch problematische Seiten hat, darauf hat Lorenc etwa in seinem Gedicht „Ostereiermalen“ hingewiesen.) Sie kann jetzt, entsprechend anverwandelt, menschliche Verbindlichkeit suggerieren, ohne daß dies als Lüge erscheinen müßte. „Im matten Licht wir trieben / mit großen Worten im Nebel…“, beginnt das Gedicht „Besinnung“ hart und schließt entspannt so:

Dort stand eine Linde gespalten
vom Schlag getroffen landeten wir
in ihrem Riß und grünten mit dem Moos am Holz
von oben bis unten.

Alltagsbewußtsein als Geschichtsbewußtsein? Noch nicht ganz, aber schon spürbar. Objektive Geschichtsmacht und subjektive Geschichtsferne? Vielleicht zu gewaltige Begriffe. Das letzte Wort habe der Dichter mit einem Satz, der die Vermittlungen nicht ausspart:

Wir wollen schräg und quer
tauschen aus Mangel: uns.

Utz Riese und Dietrich Scholze, neue deutsche literatur, Heft 1, Januar 1981

 

BENEDIKT DYRLICH

Das Märchen vom rötlich Gehopse

Hupp la hopp – tritt la peng – fliegt rötliches Gehops
zum Tor hinaus, kullert – rolli im rock’n roll rotbäckig
in die stämmige Prärie – mal hupp hupp deng dann nach
links – dann hupp hupp rechts – und Blaus Platz – sackts
drollig unter nen Hang naufi s Förderband via Dastehen
Patschen Wolflis von Feuerbrand und hupp la Tropf springt
Wolfi herbei Wien Magenlikörchen und davon dann bitte drei
fürs rötliche Gehops und die weiße Schlürferin mit dem
gleichen Kohldampf ex presse

Peter Wawerzinek

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor Facebook
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK

 

Benedikt Dyrlich liest am 10.6.2012 aus Der Tiger im Pyjama im kunsthofgohlis.

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