Bernd Jentzsch (Hrsg.): Ich sah aus Deutschlands Asche keinen Phönix steigen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bernd Jentzsch (Hrsg.): Ich sah aus Deutschlands Asche keinen Phönix steigen

Jentzsch (Hrsg.)-Ich sah aus Deutschlands Asche keinen Phönix steigen

BALLADE VON DER MINENWIPPE

Ein Grenzdorf und alle Bauern
sitzen tobend vor dem Fernsehen
bloß einer von ihnen schweigt
und steckt sich die Finger ins Ohr
Deutschland verliert gegen Deutschland
das kann nicht gutgehen
die Bauern sind geladen
und nehmen sich den schweigenden Gast vor

raus mit der Sprache
fingen sie an zu brüllen
aber er schwieg weiter
und hat den Verdacht erregt
daß er sich lustig
die Hände reibt im Stillen
wenn einmal und sei es im Spiel
die Gegenpartei siegt

sie redeten von Verrat
und als er einfach nicht mitmachte
rückten sie immer näher
und drohten mit der ,Minenwippe‘
er wußte nicht was das ist
und trank sein Bier und lachte
der Tod zwischen Vater- und Vaterland
hatte ihn schon auf der Schippe

sechs Bauern die haben ihn
vom Stuhl auf den Boden gezerrt
sie griffen seine Hände die Beine
die Rockschöße und munter
(er fand das noch lustig
und hat sich kaum gewehrt)
trugen sie ihn zum Dorf hinaus
sein Kopf hing runter

zwischen den Bauern sein Leib
baumelt wie eine Hängematte
der schaukelt und schleift
und hängt durch
als ihm der Feldweg die Kleider
vom Rücken geschabt hatte
straffte er sich noch einmal
zu einem tränenerstickten Fluch

talwärts bergab fallenlassen
aufklauben und wieder rauf
und singend durch den ersten
flach gemähten Streifen
(dem Mann rissen längst
Haut und Sehnen auf)
sah man die Bauern ihn
zwischen die Grenzzäune schleifen

schon nähern sie sich dem letzten
Metallzaun und ohne Hast
fangen sie an mit dem
was sie die Minenwippe nennen
hin und her und hin und her
schleudern sie ihre müde Last
endlich lernt der halbtote Mann
deutsche Vaterlandsliebe kennen

nachdem sie ihn noch kurz
über einen Maulwurfshügel gezogen
haben sie den fast nackten
und bewußtlosen Mann fest angepackt
und haben ihn mit Schwung
und in hohem Bogen
rübergeschmissen auf das Minenfeld
wie einen leblosen Sack

die Sonne war lange untergegangen
als er zu sich kam
und mit Krauchen und Hüpfen
mit Storchengang und Spitzentanz
seinen freudlosen Rückweg
nach Westen in Angriff nahm
von Osten her blendete ihn
ein Scheinwerfer mit Lichtglanz

er tanzte die ganze Nacht
aber er kam nicht zurück
über Läusekraut Eiternessel
und Teufelsabbiß
ging der Mann in die Luft
und flog in Stücke
wie jene Märchenfigur
die sich mitten entzwei riß

Helga M. Novak

 

 

 

Und was Neues hingebaut

1
Der erste Augenblick des Friedens wie eine Westernszene: Wir sitzen vor dem Volksempfänger und verfolgen die Meldung über die bedingungslose Kapitulation. Ich bin fünf Jahre alt und kann mit der Meldung nichts anfangen. Meine Mutter erklärt mir, daß es keinen Fliegeralarm mehr geben werde und wir beim Ertönen der Sirenen nicht mehr in den Keller zu gehen brauchen. Meine Großmutter verbessert sie wegen der Sirenen. Ich mache vor Freude einen Luftsprung und will hinausstürmen, um draußen Frieden zu spielen. In dem Moment hören wir ein entsetzliches Gebrüll, das wie eine Fanfare anschwillt. Gleich darauf stürzt eine Gestalt ins Haus und schreit in einem fort:

Die Russen kommen! Die Russen kommen!

Von einer blitzartigen Drehung des Körpers getroffen, fliegt die Tür ins Schloß. Der Riegel wird vorgeschoben, dann schlägt der Körper zu Boden. Wir sind, ebenfalls schreiend, in den halbdunklen Flur gelaufen. Jemand schaltet das Licht an. Auf den Fliesen mein Großvater, blutüberströmt, rosa Schaum vorm Mund.
Er war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Unterwegs hat er beim Drechsler einen neuen Stiel für die Mistgabel abgeholt, Esche. Da steht plötzlich, zwischen blühenden Kirschbäumen, ein versprengter sowjetischer Soldat vor ihm auf der Landstraße. Er ist sternhagelvoll und gestikuliert wild mit den Armen. Mein Großvater entsinnt sich einiger polnischer Brocken, die er im Ersten Weltkrieg gelernt hat, und versucht den Russen zu beruhigen. Als er ihm die Hand auf die Schulter legt, entreißt ihm der Russe den Mistgabelstiel und schlägt damit auf ihn ein. Die Schläge treffen vor allem den Kopf. Mein Großvater verteidigt sich, indem er, immer noch besänftigende Worte hervorstoßend, mit einem Arm den Kopf schützt. Nach dem er dem Russen einen Tritt in den Bauch versetzt hat, flieht er. Der Russe taumelt in den Straßengraben, rappelt sich wieder auf und läuft ihm krakeelend noch ein Stück nach. Mein Großvater wird in einer Kalklore ins Kreiskrankenhaus gebracht, der Arm muß amputiert werden. Als er wieder zu Hause ist, besuchen ihn zwei Offiziere. Sie zerren einen Soldaten hinter sich her. Mein Großvater wird von einem der Offiziere, der gut deutsch spricht, gefragt, ob er den Soldaten wiedererkenne. Er bejaht. Der Offizier entschuldigt sich nachdrücklich für den Vorfall, sie verabschieden sich. Vor dem Haus wird der Soldat wie ein Stück Vieh auf die Ladefläche eines Armeelastwagens geschmissen, zum Ufer der nahen Freiberger Mulde gefahren und dort auf der Wiese standrechtlich erschossen. Der Frieden hatte begonnen.
An dieser Geschichte ist nichts erfunden. Im übrigen hätte sie sich auch in der französischen, englischen oder amerikanischen Zone zutragen können. Sie hat sich in der sowjetischen zugetragen, und sie hat einen beschämenden Hintergrund. Der Schnaps stammte von einem deutschen Bauern, zwei Flaschen gegen ein Panjewagenpferd. Eine Flasche hatte der Soldat sofort ausgetrunken, hinter ihm lagen vier Jahre Krieg. Der Name des Bauern soll nicht verschwiegen werden: Er hieß Kothe, Großbauer und Großnazi, der Ortsbauernführer des Dorfes.
Der zweite Tag des Friedens: Der Sohn des Nachbarn, mein um drei Jahre älterer Spielkamerad Jochen Lindner, entdeckt in den Obstplantagen vor dem Dorf einen liegengebliebenen Panzer und in dessen Nähe eine scharfe Handgranate. Seine Eltern fahren ihn in der Abenddämmerung nach Hause: auf dem Handwagen den Rumpf, in einer Schubkarre die Beine. Eine Parole macht die Runde:

Wer jemals wieder ein Gewehr anfaßt, dem soll die Hand abfallen.

Auch der Besitz von Luftgewehren ist strafbar. Wenige Jahre später, in den Sommerferien, lautet die Schlagzeile der regionalen Tageszeitung:

Dienst für Deutschland (DfD) gegründet.

Die Fotos zeigen Sechzehnjährige, Käppis und Khakijacken, Luftgewehre im Anschlag. Eine kasernierte Polizei gibt es schon lange wieder, sie verwandelt sich bald in eine reguläre Armee. Der Dienst in ihr ist zunächst freiwillig. Als ich sie verlasse, wird die Wehrpflicht eingeführt, „dem Willen der übergroßen Mehrheit unserer Bürger Rechnung tragend“. Etwas hat sich verändert, man spürt es. „Uns stehn die Fragen auf, zahllos wie Kirschbäume an der Straße“, schreibt ein Dichter. „Guten Morgen, Vaterlandsverräter“, begrüßt ihn ein anderer. Eine Broschüre mit dem arithmetischen Titel 100 Fragen – 100 Antworten schafft Gewißheit. Alles stellt sich als einfach heraus, nur das Vaterland hat sich verdoppelt: zwei Armeen, zwei Wehrsysteme, zwei Wirtschaftssysteme, zwei Ideologien, zwei Lebensweisen, als Krönung in Farbe zwei Fernsehsysteme. Und das Wort Deutschland wird auf der einen Seite als obszön empfunden, es weicht einer Abkürzung, die die nationale Kenntlichkeit schamhaft hinter drei Buchstaben verbirgt; auf der anderen Seite wird darunter lange mehr als gut ist und allmählich nur noch die andere Seite verstanden. Die Hymnen der beiden Halbheiten verklären die Lage vollends: Hier der schöne Wortlaut, der einer immer noch nicht erfüllten historischen Forderung Ausdruck verleiht, inzwischen aber wegen seines demagogischen Gebrauchs auch zwielichtige Erinnerungen wachruft; dort die beflissene Verwandlung des Chores in ein Instrumental, um einen Vers des angesehenen Verfassers endlich zum Schweigen zu bringen, der von demselben Gedanken erfüllt ist wie die Verse seines patriotischen Kollegen aus dem vorigen Jahrhundert:

Deutschland, einig Vaterland.

2
Ein Vaterland indessen wie zwei nebeneinanderliegende Fixierbilder: die Beiträger des dritten Bandes dieser Dokumentation in poetischen Zeugnissen beschreiben die gesellschaftsbedingten Unterschiede, die sich nach dem Zusammenbruch von 1945 in den beiden deutschen Staatsprovinzen östlich und westlich der Elbe herausgebildet haben. Daß den Dichtern aus der DDR dabei die Hauptrolle zufällt, wenn es um die Artikulation neuer gesellschaftlicher Möglichkeiten geht, versteht sich von selbst. Gerade ihre Stimmen sind es, die voller Hoffnung sprechen, während die im anderen Teil Deutschlands geschriebenen politischen Gedichte zunehmend skeptischer werden, staatsverdrossen. An Ereignissen, die diesen Wandel ausgelöst haben, herrscht kein Mangel. Das politische Gedicht in der DDR hingegen hat lange, in mancher Hinsicht allzulange, auf der Position einer nahezu unumschränkten Zuversichtlichkeit ausgeharrt. Das führte schließlich zu substantiellen Einbußen, die Metapher vom „Dorn in dir“ stach immer häufiger ins Leere. Sobald es seine Urteilsfähigkeit jedoch an den eigenen Staatssachen erprobte („Um uns selber müssen wir uns selber kümmern“, hatte Brecht gefordert), unterlag es den Abwehrmechanismen des Staates, die sich inzwischen bis zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft gesteigert haben. Die Schäden, die das politische Gedicht dadurch erlitten hat, sind nicht wiedergutzumachen.
Die Konzeption dieser dreibändigen Anthologie hat von Anfang an darin bestanden, die Lyrik der DDR ihrem hohen literarischen Rang entsprechend nach Autoren und Themen in gebührender Weise neben den Beiträgen aus der Bundesrepublik Deutschland, aus Österreich und der Schweiz zu repräsentieren. Um den eventuell in der DDR selbst entstehenden Verdacht auszuräumen, das Projekt könnte sich als Ganzes oder in seinen einzelnen Teilen gegen sie richten, wurde aus der Lyrik der DDR besonders ausgiebig gewählt. Die Dichter der DDR waren eingeladen, an dieser internationalen Diskussion über deutsche Vergangenheit und Gegenwart in breiter Phalanx teilzunehmen, frei von irgendwie gearteten feindseligen oder gar verleumderischen Absichten.
Daß auch die Periode des antifaschistisch-demokratischen Aufbaus in der DDR dennoch nicht in dem Maße wie vorgesehen dokumentiert werden kann, hängt mit den restriktiven Praktiken des Büros für Urheberrechte zusammen, das allein im vorliegenden Band die Aufnahme von zehn Gedichten vereitelt hat. Dem Büro ist offenbar entgangen, obwohl ihm die kompletten Namenslisten für alle drei Bände vorlagen, daß es sich hier um eine repräsentative Auswahl aus der Lyrik der DDR handelt. Es erhob vielmehr die ultimative Forderung, „Wolf Biermann und Reiner Kunze“ aus der Anthologie „zu entfernen“ und behielt sich außerdem das Recht vor, „die Beiträge“ (in dieser Reihenfolge) „von B. J., Helga M. Novak und Christa Reinig auf antisozialistische Tendenzen zu überprüfen“. Als Vormund über tote und lebende Autoren-Mündel hat dieses Büro, nachdem einige Verlage der DDR bereits zustimmend geantwortet hatten, folgenden DDR-Autoren den Wunsch von den Augen abgelesen, mit ihren Gedichten in diesem Band nicht vertreten sein zu wollen: Johannes R. Becher, „Am Grenzbaum“, „Glück der Ferne – leuchtend nah“; Uwe Berger, „Schwarzfahrer“; Louis Fürnberg, „Die wunderbaren Fragen“; Kuba, „Heimat, gescheckt und gestreift“; Rudolf Leonhard, „Grenze, Städte und Stimmen“; Karl Mundstock, „Oh fraun auf brandgeschwärztem balkentrumm“; Erich Weinert,„ Genauso hat es damals angefangen!“; Paul Wiens, „Vermächtnis“.
Im ganzen wurden den drei Bänden vom Büro für Urheberrechte einundvierzig Gedichte entzogen, auf die allesamt der programmatische erste Satz der Literaturgeschichte der DDR zutrifft:

Die Verbreitung, Entstehung und Entfaltung der sozialistischen Nationalliteratur in der Deutschen Demokratischen Republik in der Zeit zwischen 1945 und dem Beginn der siebziger Jahre gründet sich auf die revolutionäre Umwälzung vom Kapitalismus zum Sozialismus und den Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft innerhalb jenes Territoriums, auf dem seit 1949 die erste deutsche Arbeiter-und-Bauern-Macht, die Deutsche Demokratische Republik, existiert und sich erfolgreich entwickelt.

Die Verluste wiegen schwer. Angesichts um sich greifender neonazistischer Umtriebe in der Bundesrepublik besitzt Erich Weinerts am 15. Dezember 1946 in der von Carl von Ossietzky gegründeten Wochenschrift Weltbühne erschienenes Gedicht „Genauso hat es damals angefangen!“ vielleicht doch noch einige Aktualität:

Denn statt das Land von Nazis reinzuwaschen,
Wäscht man die ganzen Nazis wieder rein!

Das darf sich heut schon wieder frech vermessen
Und sein Bedauern fassen ins Gebet,
Daß viel zu wenig im KZ gesessen
Und daß es nicht noch mal nach Moskau geht.

Neben dem antifaschistischen Appell gehören „Die wunderbaren Fragen“, wie sie in einem Gedicht Louis Fürnbergs gestellt werden, zu den Ereignissen der frühen DDR-Lyrik:

Wer hatte sie vertrieben,
die Angst, die die Menschen fraß,
und wo war die Angst geblieben,
die ihnen im Nacken saß?

Wer hat die Bauern geheißen:
Nehmt das Feld und pflügt!
Und wer hat die Wölfe, die Weißen,
besiegt?

Die Unschuld des Fragens, das staunende Sichvergewissern über die neuen, alles verändernden Machtverhältnisse, die gleichermaßen selbstverständliche, aber doch auch ein wenig zögernde Inbesitznahme des eben erst Errungenen sind charakteristisch für diese „junge“ Poesie, die von einer ansteckenden Heiterkeit, dem „großen Gelächter“ der historischen Wende getragen wird. In der Nähe von Fürnbergs folgenreichem „Rätsel“spruch, der eine ganze Lawine von poetischen Antworten initiierte, entfaltet auch ein Zeitbild wie „Heimat, gescheckt und gestreift“ des vielgeschmähten Dichters Kurt Barthel seine Beweiskraft, der, um der Verwechslung mit dem vom Arbeiterdichter zum Parteigänger der Nazis konvertierten Max Barthel zu entgehen, unter dem Pseudonym Kuba schrieb:

Der Apfel wird mürb, und die Kornähre reift,
da liegt unsre Heimat, gescheckt und gestreift,
die Jacke, die Hose, das Bettzeug zu Haus,
die Schürze der Mutter sieht grade so aus.

Die Armen und Narren warn immer bedeckt
mit Lumpen und Flicken, gestreift und gescheckt.
Und drohte ein Knecht und erhob seinen Arm –
gleich hat ihn der Gutsherr mit Hund und Gendarm
in Ketten geworfen, ins Zuchthaus geschleift,
den störrischen Rücken gescheckt und gestreift.

Und trugen wir vierhundert Jahr unser Leid
und tragt unsere Erde ein närrisches Kleid,
gestreift und gescheckt und gescheckt und gestreift:
der Apfel wird mürb, und die Kornähre reift.

Und blieben wir vierhundert Jahre lang stumm:
Herr Junker – die vierhundert Jahre sind um.

Dieses Gedicht spricht sehr einfach. Es schlägt ein bäuerliches Motiv an, das mit drei, vier Wörtern auskommt, und erweitert es sogleich um eine zusätzliche Dimension, indem es, wie nebenhin gesprochen, „unsere Heimat“ erwähnt, während die Syntax eilig weiterläuft, so daß sich scheinbar keine symbolische Aufladung des Verses ereignet, obwohl gerade das die Absicht ist. Mit der partizipialen Fügung „gescheckt und gestreift“, die fünfmal wiederkehrt, einmal füllt sie sogar, sich gespiegelt wiederholend und dadurch eine Steigerung erzeugend, den gesamten Vers, bedient sich das Gedicht eines visuellen Effekts. Jeder hat schon einmal, etwa aus fahrenden Zügen, die „graphische“ Struktur von Feldern, Wiesen, Wäldern und Flußläufen gesehen. Auf das Vertraute dieses Bildes wird hier gebaut, ein Assoziationsstrom stellt sich ein: „gescheckt und gestreift“ sind auch die Dinge, mit denen täglich umgegangen wird, Jacke und Hose, das Bettzeug, die Schürze der Mutter. Beide Räume zusammengenommen, der häusliche und der Landschafts-Raum, ergeben erst die Heimat und nennen damit jenes Schlüsselwort, das in etymologischer Ferne „Acker“ und „Welt“ miteinander verknüpfte. Aber um welchen Acker in welcher Welt handelt es sich? Nun geht das Gedicht einen historischen Schritt zurück und eröffnet seinen dritten Raum, die Zeit. Es ist die Zeit der Herren und Knechte, der allmächtigen Großgrundbesitzer und geschundenen Kätner, eine Zeit, in der Schläge für Antworten galten:

den störrischen Rücken gescheckt und gestreift.

Das Wortspiel hat jetzt seinen doppelten Sinn erklärt, der Bogen rundet sich; jedoch noch nicht ganz. Der Blickwechsel auf die Vergangenheit, über die, trotz der körperlich schmerzhaften Erfahrungen, vollkommen ruhig gesprochen wird, erweist sich als retardierendes Moment, als eine konzeptionell herbeigeführte Verzögerung, die ihre Entsprechung im Gang der Geschichte hat. Aus ihr, der „gescheckt und gestreift“ verlaufenen Vergangenheit, leitet das Gedicht seine Kraft her, es ist die Widerstandskraft der „störrischen Rücken“, die sich endlich aufzurichten beginnen. In dem Gleichnis von den mürbe werdenden Äpfeln und den reifenden Kornähren, mit dem schon die erste Strophe eingeleitet worden war, kündigt sich in der Wiederholung die Erfüllung eines historischen Prozesses an, unabänderlich wie ein Naturgesetz: Die Langmut der Knechte ist vorüber, sie sind nun ihre eigenen Herren auf ihrem eigenen Grund und Boden, und Acker und Welt fallen in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Heimat wieder zusammen. Kein erhobener Zeigefinger, der auf die 1946 in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführte Bodenreform verweist, durch die ein seit dem Bauernkrieg unterdrückter Traum Wirklichkeit geworden ist. „Herr Junker – die vierhundert Jahre sind um“, heißt es lapidar. Die Zukunft wird sichtbar, das Gedicht tritt in den vierten Raum. – In den Räumen des Büros für Urheberrechte traf die Botschaft des Dichters Kuba freilich auf taube Ohren.
In poetischen Zeugnissen deutsches Zeitgeschehen zu dokumentieren, ist das Anliegen dieser Anthologie, die unversehens selbst zum Zeitdokument geriet, so daß Christoph Meckels Vers, wenn auch von anderen Einsichten geschwärzt, wie ein Emblem über der doppeldeutschen Gegenwart steht:

Ich sah aus Deutschlands Asche keinen Phönix steigen.

Bernd Jentzsch, August 1979, Vorwort

 

„Ich sah aus Deutschlands Asche keinen Phönix steigen“:

Der dieses Urteil schrieb, Christoph Meckel, ist ein Nachgeborener. Der Band thematisiert Rückkehr und Hoffnung, aber auch Enttäuschung und Resignation der von Hitler Verfolgten nach der Euphorie des neuen Anfangs. Die ausgewählten Gedichte dieses Bandes belegen ein Stück deutscher Zeitgeschichte, die markiert wird vom Einmarsch der Alliierten und der Befreiung der Überlebenden aus Konzentrations- und Vernichtungslagern, markiert von Besatzungsmächten, Zonen und Sektoren, von Marshallhilfe und Wirtschaftswunder im Westen, von Demontage im Osten, von der Spaltung Deutschlands und der Wiederaufrüstung in beiden Teilen des Landes, von der Vergabe hoher Ämter an ehemalige Nationalsozialisten, vom 17. Juni 1953 und der Mauer 1961.
Die Anthologie enthält 100 Gedichte von 55 Autoren, gegliedert in die Kapitel: Feuersbrünste, Aufbaulied, Hiroshima Nagsaki, Vorwärtsstrategie, Schlächtertugend, Haussuchnung, Doppelleben, Baukunst, Larvenzustand.

Kindler Verlag, Klappentext, 1978

 

Vertreibung, Vernichtung, Heimkehr

– Eine fällige Dokumentation im Gedicht. –

Den Herausgebern deutscher Lyrik sind in den letzten Jahrzehnten namhafte Anthologien gelungen. In den 50er Jahren Ergriffenes Dasein (1953) und Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte (1956); in den 60er Jahren Widerspiel (1962) und Aussichten (1966); in den 70er Jahren Gedichte vor und nach 1968 (1977), Lyrik-Katalog Bundesrepublik und In diesem Lande leben wir (beide 1978). 1979 erschienen die beiden Lyrik-Jahrbücher bei Claassen und im Athenäum-Verlag. Merkwürdigerweise entstand bisher keine repräsentative Anthologie über die Lyrik, die sich mit dem Dritten Reich und seinen Folgen auseinandersetzte.
Man kennt das jüdische Totengedenken in den Gedichten von Paul Celan und Nelly Sachs. Man kennt die Exilgedichte Bert Brechts:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Wer aber kennt die Exilgedichte von Max Herrmann-Neiße, Mascha Kaléko, Karl Wolfskehl, von Albert Ehrenstein und Paul Zech? Wer kennt das Totengedenken der jüngeren Autoren zwischen Wien (Conny Hannes Meyer), Berlin (Günter Kunert) und Stuttgart (Helmut Heißenbüttel)? Gibt es tatsächlich keins von einem Schweizer Autor?
Bernd Jentzsch, der ehemalige DDR-Autor und Herausgeber, der heute in der Schweiz lebt, hat Autoren und Gedichte der Exil-, Kriegs- und Nachkriegszeit zu einer markanten dreiteiligen Anthologie versammelt. Der Titel des Buches Vertreibung. Ich sah das Dunkel schon von ferne kommen entstammt dem Gedicht „Verdammnis 1933“ von Max Herrmann-Neiße. Der Titel für das Buch Vernichtung. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, ist der Schlußstrophe von Paul Celans „Todesfuge“ entnommen. Den Titel für das Buch Rückkehr und Hoffnung. Ich sah aus Deutschlands Asche keinen Phönix steigen entlieh Jentzsch Christoph Meckels satirischer Elegie „Der Pfau“. Der 1940 geborene Herausgeber hat für jeden Band ein Vorwort verfaßt, das von persönlichen Erlebnissen des Kriegsendes und der Nachkriegszeit ausgeht. Er teilt damit nicht nur historisch konkrete Details, sondern auch die Betroffenheit des Kindes mit, das im Erwachsenen diese Gedächtnisarbeit notwendig machte. Es sollte eine Anthologie aus allen vier deutschsprachigen Ländern werden, vor allem aus den zwei deutschen Staaten. Das Ost-Berliner „Büro für Urheberrechte“ hat die Erteilung der Druckerlaubnis von insgesamt 41 Gedichten davon abhängig gemacht, daß die Beiträge von Wolf Biermann und Reiner Kunze entfernt würden. Außerdem behielt es sich die Überprüfung der Texte von Bernd Jentzsch, Helga M. Novak und Christa Reinig auf antisozialistische Tendenzen vor. Weil Jentzsch auf solche Zensurbedingungen nicht einging, mußte er auf die Texte von Johannes R. Becher, Kuba, Rudolf Leonhard, Erich Weinert, Arnold Zweig verzichten. Was würde Johannes R. Becher sagen, wenn er erfahren müßte, daß sein Staat die Verbreitung antifaschistischer Literatur hindert? Jentzsch meint, er hätte schallend gelacht. Vielleicht auch wäre sein Gesicht versteint.
Die drei Bände sind thematisch – Exil, Vernichtung, Neubegründung – geordnet. Innerhalb der Bände gliedert Jentzsch nach Motivgruppen. Sie heißen im ersten Band:

Kälbermarsch, Herzzerspringen, Flüchtlingsschritte, Emigrantenballade, Zwillingsröte, Zufluchtsstätte, Gnadenbrot, Traumgespinst, Samenkorn.

Formale Gesichtspunkte kommen im Aufbau und im editorischen Vorwort nicht ins Blickfeld. Die chronologische Linie bleibt außer Acht. Im Blickfeld stehen lyrische Zeugnisse als Appell an die Nachgeborenen.
Die Sprache wirkt überwiegend – wie könnte es anders sein? – traditionell. Im Exil ist kein Raum für sprachliche Experimente. Schmerz und Todesnähe gebären keine experimentellen Töne. Der Ausgestoßene klammert sich als poetischer Mensch ans Wort. Es ist das einzige, was er nicht verloren hat. Das Wort ist sein Eigentum. Nein, keine Waffe, allenfalls Besteck: das Wort als Nahrung und Besteck des Ohnmächtigen. Reime überwiegen. Mit Reimen wehrt sich der poetische Mensch gegen die ungereimte Welt, mit der Ordnung der Worte gegen die Unordnung der Macht, mit dem ästhetisch und moralisch Schönen gegen den Haß. Gereimte Lieder überwiegen. Dazwischen freie Rhythmen in expressionistischem Pathos, elegische Klagen, satirische Ansprachen, auch Songs und Balladen, leise Selbstgespräche, ideologische Scheidungen, richtende und apokalyptische Texte. Der Vers als Klage und Anklage, als Zuspruch und Ermutigung, als Aufbegehren und Drohgebärde. Verse, die das eigene Herz, den öffentlichen Adressaten aber nicht erreichen. Verse der Notwehr unter dem Zeichen der Vergeblichkeit.
Im ersten Band überwiegen die Texte der vom Exil betroffenen Autoren: Juden, Antifaschisten, Menschen, für die in Deutschland kein Platz mehr war. Im zweiten Band halten sich Betroffene und Nachgeborene die Waage. Im dritten Band überwiegen die Nachgeborenen, die Rückkehrer. Autoren des Anfangskapitels „Feuersbrünste“ heißen: Adolf Endler (geb. 1930), Rolf Haufs (geb. 1935), Helga M. Novak (geb. 1935), Günter Kunert (geb. 1929), Christine Busta (geb. 1915), Heinz Czechowski (geb. 1935), Bernd Jentzsch (geb. 1940), Karl Mickel (geb. 1935), Wolfgang Weyrauch (geb. 1907), Nicolas Born (geb. 1937) – in dieser Reihenfolge. Keiner dieser Autoren ist ein „Rückkehrer“, ein einziger unter ihnen, Wolfgang Weyrauch, „Heimkehrer“. Der Untertitel des dritten Teiles der Anthologie heißt aber „Rückkehr und Hoffnung“. Ich begreife nicht, warum der Herausgeber nicht mit Texten von „Rückkehrern“ begonnen hat und warum er die „Heimkehrer“ als Gruppe damals junger Autoren (die heimkehrenden Soldaten) nicht sichtbar macht. Kennt Jentzsch die frühen Texte der Gruppe 47 zu wenig? Von hier aus hätten dann die „Hoffnungen“ jener Autoren gezeigt werden können, die erst in den späten 50er oder gar erst in den 60er Jahren zu schreiben begannen. Mir scheint, daß soziologische Gruppen – rückkehrende Exilanten, Soldaten, Heimkehrer, Autoren, die erst in den späten 50er Jahren im juristischen und literarischen Sinn mündig wurden – das Thema „Rückkehr und Hoffnung“ plastischer und intensiver geschichtsbezogen gezeigt hätten.
Damit sind wir bei den Problemen dieser, was die Sammlung der Texte anbetrifft, vorzüglichen, editorisch aber mit Mängeln behafteten Anthologie angelangt. Die Probleme beginnen, wenn man mit dieser Anthologie arbeiten will, bei der Chronologie der Autoren und ihrer Gedichte. Gerade der kritische Leser, der beim ungefähren Eindruck und Gefühl nicht stehenbleiben will, wird hier im Stich gelassen. Einige Beispiele. Das erste Gedicht des ersten Bandes stammt nicht von einem Exilautor, sondern von Franz Fühmann (geb. 1922). Über ihn schreibt das in Leipzig herausgegebene Lexikon Schriftsteller der DDR (1974):

wuchs in einer Atmosphäre von Kleinbürgertum und Faschismus auf… die sowjetische Kriegsgefangenschaft wurde zum Wendepunkt seines Lebens.

Franz Fühmann schreibt in seinem den Band eröffnenden Gedicht „Zu einem Bild Carl Hofers: Die schwarzen Zimmer (1928)“. Nun wüßte ich als Leser gern, wann Fühmann das Gedicht geschrieben hat. Der editorische Nachweis sagt nur „mit Genehmigung des Autors“. Der Text kann 1956, er kann auch 1976 geschrieben sein. Und das macht für das „poetische Zeugnis“ wie für den poetischen Appell einen Unterschied. Das Titelgedicht des ersten Kapitels im ersten Band heißt „Kälbermarsch“. Es stammt von Brecht:

Hinter der Trommel her
Trotten die Kälber
Das Fell für die Trommel
Liefern sie selber
Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen.
Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt.
Die Kälber, deren Blut im Schlachthof schon geflossen
Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.

Der Leser hört sofort die grimmige Parodie auf das einstige Horst-Wessel-Lied und seine Sänger. Wann hat Brecht das „Kälberlied“ geschrieben? Der editorische Nachweis sagt: Edition Suhrkamp Werkausgabe, Gedichte 1–3, 1973. Die Werkausgabe verweist aber im alphabetischen Verzeichnis auf „Stücke, S. 1976“, also Band 5 der Stücke. „Kälbermarsch“ ist ein Song aus Schweyk im Zweiten Weltkrieg. Das Stück wurde 1943 geschrieben. Das Entstehungsjahr hätte leicht verifiziert werden können. Brecht schreibt und kämpft in Amerika. Aber erst die Nachgeborenen werden seine Gedanken und Lieder erfahren.
Von Yvan Goll steht im Kapitel „Gnadenbrot“ ein Auszug aus dem Gedicht „Hiob“. Es wird jedoch nicht mitgeteilt, um welche der beiden Fassungen und um welchen Teil es sich handelt. Der Auszug ist Teil II aus dem vierteiligen Gedicht der ersten Fassung von 1948, Goll hat es im Straßburger „Hôpital Civil“ geschrieben. Es hat mit dem Thema „Vertreibung“ direkt nichts zu tun. Der Gebetscharakter dieses psalmistischen Textes wird bei Jentzsch gerade nicht sichtbar. Da das Hiobthema sich auch bei Nelly Sachs und Wolfskehl findet, hätte es einen wichtigen Deutungshorizont der eigenen Existenz (zusammen mit dem Abraham- und Fluchtmotiv) bei jüdischen Autoren abgeben können. Die Textnachweise sind wiederholt unzureichend. Von Hermann Broch stammt der Text „Stimmen – 1933“. Textnachweis: „Gesammelte Werke“, Zürich 1953. Wurde das Gedicht 1933 geschrieben? Oder stammt die Klarsicht, der Pessimismus, die Satire aus einer späteren Zeit?

Wir wollen uns nicht täuschen, wir werden niemals gut; uns treibt’s von Rausch zu Räuschen, zu Folterung und Blut.

Tatsächlich stammt der Text aus dem Roman Die Schuldlosen, und dessen lyrische Teile wurden im Jahre 1949 geschrieben.
Die „Hoffnung“ ist im dritten Band dünn gesät. Einer der wenigen, der sie direkt formuliert, ist Bert Brecht mit seinem „Aufbaulied“. Der Refrain lautet:

Fort mit den Trümmern
Und was Neues hingebaut!
Um uns selber müssen wir uns selber kümmern
Und heraus gegen uns, wer sich traut!

Wo wurde das Gedicht geschrieben, wann, aus welchem Anlaß, in welchem Kontext? Auch hier nennt der Textnachweis nur die „Gesammelten Gedichte, Frankfurt 1973“. Wäre es nicht sinnvoll, mitzuteilen, daß das Gedicht kurz nach der Rückkehr und Übersiedlung Brechts in die DDR geschrieben wurde? Ob das Kapitel „Hiroshima Nagasaki“ die durch zwei Bände durchgehaltene spezifisch deutsche Thematik erhellt, wage ich in diesem Kontext zu bezweifeln. Es müßten ja dann auch Vietnam und andere Orte der Gewalt gezeigt werden. Leider hat der Herausgeber die Prinzipien seiner Auswahl und Anordnung nirgends reflektiert. Warum wird im dritten Band, der „Rückkehr und Hoffnung“ thematisiert, das „Rückkehr“-Gedicht von Hilde Domin ausgelassen? Stünde es nicht formal und inhaltlich in einer hervorragenden Spannung zu den motivgleichen Gedichten von Brecht und Kaschnitz?
Die Situation der „Rückkehr“ und das Motiv der „Hoffnung“ bei den Exilautoren hätte meines Erachtens getrennt werden sollen von der nur schwer und immer weniger möglichen Hoffnung der jüngeren, von Anfang an politisch bewußten, zugleich utopischen und skeptischen Generation. Die meisten älteren Autoren befanden sich mit ihrer Erfahrung nicht auf der Ebene einer utopischen Ideologie. Wenn Christoph Meckel (geb. 1935) hier dem ganzen Band, also auch den Exilautoren, das Stichwort geben darf, so müßte die Aussage des jungen Autors datiert sein. Das bekannte „Pfau“-Gedicht wurde 1962 erstveröffentlicht. Es stand bereits in der Anthologie Deutsche Teilung (Wiesbaden 1966). Die erste Strophe lautet:

Ich sah aus Deutschland keinen Phönix steigen.
Räumend mit dem Fuß in der Asche
stieß ich auf kohlende Flossen, auf Hörner und Häute –
doch ich sah einen Pfau, der Asche wirbelnd
mit einem Flügel aus Holz und einem aus Eisen
riesig wachsend die Flocken der Feuerstellen
peitschte und sein Gefieder strahlte.

Die zweite Strophe erweitert Vergleich und Allegorie:

Ich sah aus Deutschlands Asche alte Krähen kriechen
und borstige Nachtigallen mit heiseren Kehlen…

Die dritte Strophe wiederholt (zu einer Zeit, da junge Ästhetiker gegen Mythisierungen und Metapher bereits polemisierten) das mythologische Bild: „Ich sah aus Deutschlands Asche keinen Phönix steigen“ und setzt dem Ausbleiben der Wiederbelebung, des Auferstehungsvorgangs (übrigens ein ungeheuerer, geradezu antihistorischer Vorgang) entgegen:

doch ich sah einen Pfau in der Leuchtzeit seines Gefieders,
ich sah ihn strahlende Räder schlagen
im Gegenlicht eisgrauer Himmel und Wetterleuchten
und hörte den Jubel der Krähen und Spatzen…

Politische Utopie oder poetische Vision?
Die Errichtung der Berliner Mauer, bald nach Veröffentlichung dieses Gedichts, die nochmalige und potenzierte deutsche Teilung findet kein Kapitel in diesem Band der enttäuschten Hoffnungen. Wäre es unangebracht, Karl Mickels schöne, poetisch-utopische „Friedensfeier“ zu kontrastieren mit Meckels warnender Denunzierung des politischen Friedens? Wäre es nicht erhellend, die Lieder der Utopie zu ergänzen, zum Beispiel mit Günter Kunerts herzzerreißenden Klagen über die „verblaßte“, „zerbröckelte“ Utopie? Denn die Aufbau-Hoffnungen waren ja sehr viel größer, umfassender und radikaler in jenem deutschen Staat, der seit einigen Jahren seine Dichter vertreibt.
Der dritte Band der Anthologie befriedigt in seinem Aufbau am wenigsten. Zu verschieden sind die gesellschaftlichen Systeme, ihr Ausgangspunkt, ihre Basis, ihr politischer Horizont, als daß man die Gedichte ununterschieden auf den Nenner „Rückkehr und Hoffnung“ setzen durfte. Es wäre ja gerade interessant zu sehen, wie die „poetischen Zeugnisse“ in den beiden so verschiedenen Staaten ihre Hoffnung auf Goldgrund setzten oder im täglichen Grau ansiedelten, wie der Goldgrund zerbricht, oder aber die Hoffnung von Anfang an realistischer aufgebaut wird. Im Westen war die Denunziation des Staates und der Verhältnisse leicht. Sie konnte gelegentlich sogar Attitüde werden. Wie aber geriet im östlichen Land die große Affirmation in die Krise? Wie wurde aus der Begrüßung satirische Entlarvung? Wie kam es von der Zustimmung zum Bruch mit dem „besseren“ deutschen Staat? Das wäre in den „poetischen Zeugnissen“ zu zeigen. Jentzsch bleibt im Aufbau und in der editorischen Begleitarbeit vieles schuldig. Der dritte Teil der Anthologie ist der schwächste.
Weil sich für den republikanischen Leser die Zustimmung zur Jentzsch-Anthologie so leicht einstellt, mußte hier auf Mängel verwiesen werden. Diese Anthologie füllt nicht nur eine Lücke. Sie leistet in der Tat Gedächtnisarbeit und Trauerarbeit. Aber was leistet sie für die Misere der beiden Republiken? Hier hätte strukturierend gebaut werden müssen.
Ohne Frage enthält die Anthologie literarisch zentrale, bekannte und neu entdeckte Texte in einer guten Proportion. Bei den Fundstücken denke ich an die KZ-Gedichte von Gerty Spies (geb. 1897) und Hermann Adler (geb. 1911), an den unbekannten Paul Mayer (1889–1970) und nicht mehr bekannten Ernst Schiebelhuth (1895–1944), an den von Jentzsch neu entdeckten und breit dokumentierten Max Herrmann-Neiße, der 1941 im Londoner Exil starb. Ich denke an die alten Wiener Autoren Theodor Kramer, Albert Ehrenstein, Ernst Waldinger, an den totengedenkenden jüngeren Conny Hannes Meyer (geb. 1931). Obschon Peter Handkes „Drei Lesungen des Gesetzes“ fehlen, sind die österreichischen Autoren angemessen vertreten. Wo aber bleiben die Schweizer Autoren, die nach Auskunft des dritten Bandes einbezogen werden sollten? Hat die ganze Wirklichkeit des Dritten Reiches und der zu ihnen ins Exil kommenden Autoren in ihren Gedichten nichts hinterlassen? Gibt es keine Stellungnahme zur deutschen Misere und zur deutschen Hoffnung nach 1945?
Ganz ausgelassen hat Jentzsch – offenbar liegen diese Autoren außerhalb seines Gesichtskreises – die Gefängnisgedichte von Albrecht Haushofer (Moabiter Sonette) und die Widerstandssonette von Reinhold Schneider. In die Dimension einer kritischen republikanischen Aufbau-Hoffnung hätten auch die Gedichte des Schweizers Kurt Marti oder der bundesrepublikanischen Dorothee Sölle eingetragen werden können. Die religiöse Dimension der Opfer, der Widerständler und der kritisch Hoffenden bleibt gänzlich außer acht.
Wie wenig die Vertriebenengedichte, die Widerstands- und Sterbegedichte aus den Konzentrationslagern bekannt sind, zeigte jüngst das üppig aufgemachte Programmheft der Bayerischen Staatsoper zur szenischen Aufführung des Judas Maccabäus Oratoriums. Die Aufführung hatte einen bedeutenden szenischen Einfall. Herbert Wernicke und August Everding ließen das Oratorium aus einem KZ singen. Das Programmheft druckte dazu bekannte Gedichte von Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler ab, nicht aber die jüdische Ghetto-Chronik von Jens Gerlach oder das motivgleiche Gedicht von Ernst Waldinger, welches beginnt:

In Warschau fiel ein Makkabäer,
Nicht weil’s ihm irgendein Gesetz befahl…

Dafür hätte der im Programmheft abgedruckte „Choral aus der Tiefe der Hölle“ von Leonhardt Krasnodebski, 1942, durchaus die Spannung zwischen dem poetischen Text und dem Zorn der Realität in der Jentzsch-Sammlung zeigen können:

hört unseren choral
aus der tiefe der hölle
er soll unseren henkern
auf ewig die träume stören!
choral, choral!
aus der tiefe der hölle…
attention! attention! hier krepieren menschen, auch hier sind MENSCHEN!

Paul Konrad Kurz, aus Paul Konrad Kurz: Zwischen Widerstand und Wohlstand. Zur Literatur der frühen 80er Jahre, Verlag Josef Knecht, 1986

 

 

„Die Jahrzehnte. Das deutsche Gedicht in der 2. Hälfte des XX. Jahrhunderts“. Ein Gespräch zwischen Bernd Jentzsch, Wulf Kirsten und Karl Mickel 1993 in der Literaturwerkstatt Berlin.

 

Zum 60. Geburtstag des Herausgebers:

Bernd Heimberger: Initiator, Inspirator, Integrator
Berliner LeseZeichen, 3/2000

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + KLG + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK

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