Bert Papenfuß: till

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bert Papenfuß: till

Papenfuß-till

ES LANG ES SCHERTZ ISTS SO DUERSTEND NICHT

noch leb ich noch sterb ich.
denke warum ich daran zweifle
dass ich daran denke
dass des lang ich noch lab
es langs du noch labest
ach solang ich noch starb
es kurzes du auch noch ferbrichst.
so erstirb der fergessende gedanke
den gedenkenden fergessenheitssuff.
warum ich es fergess
das ich daran zweifle
um wieder nicht daran zu denken
das wir uns darunter dukken
das wir keines tags
darueber nachgedacht haben werden
& nicht mehr wurden weils nichts war.
noch leb ich noch streb ich
mit einer hand foller
kalkgutt grand strutt.

 

 

 

Till

Ulenspiegel pflegte die Wörter wörtlich zu nehmen, um so die anderen zu düpieren. Papenfuß, auch als Gorek, dreht die Worte um, liest sie gegen den Strich, zankt und spielt mit ihnen um sie uns so verwandelt in kenntlichkeit vermehrt provozierend anders vor Auge und Ohr zu bringen. Arkdichter ohne Arg mit Neigung zur Anarchie zwischen trost und trotz. Sinnsprüche und Sprechspiele mit folksmut und –wut, nach den Manuskripten von 1973 bis 1976.

Klappentext, 1993

 

sinnfielteilung

− Bert Papenfuß. Gesammelte Texte 1-3, naif, till, harm. −

Bert Papenfuß-Gorek muß man heute nicht mehr vorstellen. Zwar war er ein Jahrzehnt lang ein Geheimtip derer, die Literatur nicht nur aus den gedruckten Werken der Verlage wahrzunehmen gewillt waren, doch inzwischen liegen elf Publikationen von ihm vor – bei Oberbaum, bei Aufbau, bei Steidl, bei Galrev und bei Janus press von Gerhard Wolf, der nun eine Werkausgabe beginnt, deren erste drei Bände erschienen sind.
Gesammelte Texte 1-3 steht unter den Titeln naif, till und harm, sie versammeln Texte aus den Jahren 1973 bis 1977. Die drei Bücher zur Hand zu nehmen bietet schon Genuß. Die von Martin Hoffmann in der wunderbar fließenden Rotis-Schrift von Otl Aicher gestalteten Bände sind mit Recht von der Stiftung Buchkunst als „schönste Bücher“ prämiert worden.
Was man in ihnen nun nachlesen kann, sind die Anfänge eines Dichters. Und hier stößt man auf etwas durchaus Ungewöhnliches. Kein zögerliches und unsicheres Tasten und Versuchen kennzeichnet diesen Anfang; dieser Dichter war gleichsam von Anfang an ganz da. Bereits in den ersten Gedichten spricht sich der Papenfußsche Ton aus, der bis heute seine Texte charakterisiert.
Papenfuß hat von Anfang an, also seit 1973, in Zyklen und „Büchern“ geschrieben. Und dies nicht etwa aus dem eitlen Ehrgeiz eines verkannten Genies, sondern weil die zyklische Struktur von Anfang an seinem Schreiben inhärent ist. Natürlich sind einerseits das Wort, gar die Silbe und der Laut/Buchstabe die kleinsten Einheiten seiner Texte, doch andererseits öffnet der Verzicht auf den Eigenwert des Einzelgedichts sein Schreiben hin zur Komplexität und Widersprüchlichkeit heutiger Weltwahrnehmung. „sinnfielteilung“ (harm) im und am Text, in der Überkreuzung der Wahrnehmungs- und Sprachschichten, im wuchernden Spiel mit den Unter- und Obertexten, der Verquickung von individueller Kundgabe, sexuellem Begehren und sozialem Engagement – „sinnfielteilung“ könnte als Motto über diesem Schreiben stehen.
Es ist nicht damit getan, die kleinen boshaften Diamanten aus seinen Texten aneinanderzureihen (es gibt sie zuhauf, jeder mag sie selbst aus den Texten schürfen), um zu zeigen, wie produktiv seine Verfahren der Wortverfremdungen und Morphem-Spiele immer wieder sind. Doch wem läuft nicht ein Schauer über den Rücken etwas bei folgender Zeile, in der nur ein winziges „s“ weggelassen wurde: „doch dies vergas man“ (naif) oder einem Wort wie „harlekriegskinder“ (till).
Das erste Gedicht seines ersten Buches lautet:

wegwort

atens
der vorwurf
dass ich lüge

otens
der hinweis
dass ich ver
dichte

(naif). Bereits hier sind deutlich die Züge Papenfußschen Sprachspiels ausgeprägt: „Wegwort“ als Wort auf den Weg, aber auch als Wort, wegzukommen, „Wägwort“ schwingt ebenso mit wie „Wortweg“, also Etymologie. Das A und O, Alpha und Omega, Anfang und Ende des griechischen Alphabets, spannen den Bogen zwischen Lüge und Dichtung. „beschoenige nichts aber betoenige wichtiges / die sprache ermoeglicht die luege / die schrift auch die faelschung“, heißt es später (harm). Papenfuß warnt den Leser: Lüge und Fälschung sind Möglichkeiten der Sprache – Skepsis also Lektüre-Tugend. Doch nicht darum geht es primär, sondern um „tumultane Zügellosigkeit“ (Manifest zoro in skorne, 1984), also den Entwurf anarchistischer individueller Lebensmöglichkeiten.
Die ständigen erweiternden und verändernden etymologischen Anreicherungen der Worte und Wortfragmente sind für Papenfuß nicht nur Methode, um seinen Texten historische Horizonte zu öffnen. Sie sind zugleich auch Motor des Schreibens, Verknüpfungselemente sprachlicher Sequenzen, Augenblickseinfall oder einfach nur Textstrategie der „sinnfielteilung“, die das Material weiter wuchern läßt. Erk Grimm hat diesen wilden Eklektizismus einmal sehr schön als „Ostberliner Legoismus“ bezeichnet (Zeitschrift für Germanistik, 1/1992). Wie beim Spiel mit den Lego-Bausteinen wird der Leser mit jeder neuen Kombinatorik aus dem Textkontinuum herauskatapultiert, zurück und kreuz und quer verwiesen, um sich in neuen semantischen Figurationen zu verlieren. Auch darum die Orientierung auf den zyklischen Groß-Text.
Till Ulenspiegel (till) oder der niederländische Dichter Multatuli (harm) können in diesem Zusammenhang sogar eher zufällig Anknüpfungspunkte sein; sie sind jedenfalls keineswegs stringente Traditionslinien, auf die der Dichter sich beruft. Er selbst hat sich ausdrücklich nicht in die Tradition der Hochkultur, sondern in die einer „häretischen Kultur“ eingeordnet, was seine frühen Texte eindringlich bestätigen. Sie changieren wild umher zwischen Selbstzuspruch und anti-moralischem Elan, Sentimentalität und gelegentlichem Grobianismus, zwischen kunstvoller Verdichtung und Kalauern, anarchistischer Kampfansage und Verflüchtigung ins Klandestine. Zu dieser häretischen Tradition gehört ganz zweifellos ein spezifischer Humor, jener Humor, der sich weigert, das Große als erhaben anzusehen, das Politische als etwas Fremdes und das Gemeine als etwas, wozu nur die anderen fähig sind.
Auch wenn einiges manchmal etwas posenhaft daherkomt („wolfsmenschen in der stadt“, harm) – das streichen wir; und manches auch ein wenig maniriert klingt (wenn die Geste zu groß ausfällt und zu abgekärt) – seine Stärken und seine Schwächen sind aus derselben Quelle: Mecklenburg, norddeutscher Humor und norddeutsche Sturheit. Und zugleich wird bei der Lektüre dieser rund zwanzig Jahre alten Gedichte klar, zumal wenn man sie auch in den Kontext seiner heutigen Arbeiten stellt, daß ein Dichter wie Papenfuß (und einige andere wie Stefan Döring oder Jan Faktor) durchaus nicht nur unter sozialistisch-realistischen Bedingungen jene Entwicklungen der klassischen Moderne nachholte, die zu dieser Zeit längst ausgeschrieben waren. „Bildende Unkontrollierbarkeit“, „mahlende Entstaatlichung“, „Abschaffung des poetischen Staates im Autor“ – die Utopien aus dem oben zitierten Manifest haben natürlich eine Tradition. Doch sie haben sie deshalb, weil sie universelle Utopien sind. Papenfuß hat sich mit seiner anarchischen Sprach- und Dichtungskonzeption bereits in den frühen Texten ein eminent politisches Instrumentarium geschaffen, nutzbar im individualistischen Kampf „gegen imperiale Sprachkonzepte“ (led saudaus). Ein Kritiker hat ihn einmal einen „besessenen Wortschamanen“ genannt, einen der „poètes maudits“ unseres Jahrhunderts. Das ist er bis heute geblieben.

Peter Böthig, Neue Deutsche Literatur, Heft 1, 1995

Machtferne Sprachkunst

− Das Frühwerk von Bert Papenfuß. −

Endlich liegt es vor, das Frühwerk des 1956 geborenen Ost-Berliner Anarcho-Poeten Bert Papenfuß, der, obgleich in jüngsten Jahren bereits ein unverwechselbarer Dichter, über ein Jahrzehnt für Schubladen und Cliquen schreiben mußte.
Gerhard Wolf, der 1989 erstmals eine grössere Öffentlichkeit auf diesen Befürworter der „unvollstaendigkeit“ und seine machtferne Sprach- und Lebenskunst aufmerksam machen konnte, indem er den Querschnitt dreizehntanz als ersten Band seiner Aufbau-Reihe ausser der reihe publizierte, veröffentlichte nach dem Fall der Mauer im eigenen Verlag, der Janus press, LED SAUDAUS, nun die Gesammelten Texte 1-3, nämlich naif, till und harm, und im Herbst ein weiteres Buch Routine in die Romantik des Alltags, mit Zeichnungen von Helge Leiberg. Bei Aufbau, Galrev und Steidl erschienen andere Bände des gerne zyklisch arbeitenden Unpop-Dichters.
naif und till entstanden zwischen 1973 und 1976 (!) und waren damals in der DDR nicht publikationsfähig: für diesen noch nicht 20jährigen, der sich als „ein schwarzer freier wortsender“ empfahl und herumrotwelschte, war kein Platz. Auch nicht im Westen, wo ein biederer Lyrik-Geschmack en vogue war. Papenfuß’ aufgerauhte Flapsigkeiten, Kalauer, Sprachzertrümmerungen und Lebensweisheiten standen ziemlich einsam in der Landschaft. Seine zentralen Techniken standen ihm schon vor dem 20. Lebensjahr zur Verfügung, und auch sein Lebensgefühl ist hier genauso stark zu spüren wie in den späteren Texten:

besser man tut was man eigentlich wild will
besser man tut was man gelegentlich will wild

Aber seit Mitte der achtziger Jahre ist in der Lyrik viel passiert, und so wirken diese beiden frühen Papenfuß-Bände nicht mehr ganz so aufregend.
Sie sind nicht so kraftvoll wie der dritte Band, harm, 1977 geschrieben, 1985 von Norbert Tefelski in seinem KULTuhr-Verlag in West-Berlin gedruckt, mit einem Vorwort von Ernst Jandl, der ihn als „Dichter ersten Ranges“ dekorierte. Ein wichtiges Buch, das aber im Literaturbetrieb kaum beachtet wurde (drei Insider-Publikationen in Folge mit Hauptvertretern einer neuen Lyrikergeneration: im Jahr davor erschien Menz von Peter Waterhouse bei Droschl, im Jahr darauf erprobung herzstärkender mittel von Thomas Kling in der Eremiten Presse).
Nun also, auf ein Neues, bei Janus, die „unmutstoene“ und „klartekste“ des sinn- und unsinnstiftenden Sprachrebellen: „es geht um die fertonung des orts & der zeit“, um die Liebe, die Bullen, die „schleimschmekker feinscheisser“, die „arkdichter“ und was sie ankotzt, und „achtung hier werden einige wortspare eingespielt“, um die Sprache, um „die durchsicht der beherrschenden ordnungen und das aufbrechen ihrer sprachlichen konventionen“ (Michael Thulin). Drumherum ein vitalistisches Kinderland mit der „buhlprincessin beatriest“, wo der „zwoelffingerige zauberer der laute“ auftreten kann; Minne, fahrendes Volk, immer wieder „gegenwaertz“ – „alle ausreiseanträge nach gegenwaertz werden abgelehnt“ −, DDR-Realität:

blokkmeister aller riegen & meister des spotts hans beier sagt
es ist nicht so dass wir stets mit hohen leistungen brillianten
so nicht eins zwo nicht so eins zwo so nicht eins zwo sondern
dass sich alle beteiligen & freude am schiessen finden

& den feind finden diesen lämmerlichen feind finden

Oder, ganz ohne den liebenswerten „ark“-Schnickschnack, sein Dreizeiler „deutschland dunkelhell“:

mensch kleingeschrieben durchgestrichen grenze
mensch grossgeschrieben untergestrichen grenze
anführungsstriche mensch abfuehrungsstriche

harm bezeichnete Papenfuß im Gespräch mit Egmont Hesse (Sprache & Antwort, S. Fischer 1988) als sein Popalbum, als Beginn seiner aktivistischen Phase, in der er mehr Leute erreichen wollte, ein Experiment, das gescheitert sei, und spricht von relativer Oberflächlichkeit. Dem muss man sich nicht anschliessen. Wären nur alle seine Bücher so kompakt und intensiv wie harm

Dieter M. Gräf, Basler Zeitung, 8.4.1994

„aber arkdichter…“

− naif, till und harm, drei Bände Von Bert Papenfuß. −

Gerhard Wolf bleibt mit der Veröffentlichung von naif, till und harm, der ersten drei Bände der geplanten Werkausgabe von Bert Papenfuß, seinem Ruf als Mentor und Weggefährte einer neuen Literaturgeneration treu. Es ist ihm zu danken, daß interessante neue Texte in einer Einheit mit wichtigen Werken der DDR-„Untergrundliteratur“ einen Verleger gefunden haben. Mit der Veröffentlichung der Werkausgabe von Papenfuß gibt uns Gerhard Wolf die Möglichkeit zu vergleichen, den „etablierten“ Papenfuß und den Lyriker, der den DDR-Oberen, wenn man nach seiner Stasiakte urteilt, so schwer im Magen lag, nebeneinander zu stellen.
Bert Papenfuß, Jahrgang 1956, gehört heute sicherlich zu den wichtigsten Vertretern der neuen deutschen Literatur. Bereits seit Anfang der siebziger Jahre betreibt er, lange Zeit von der breiten Öffentlichkeit unbeachtet, die „Sabotage der Sprachregelung der Herrschenden“ (Brecht). Für Papenfuß ist Sprache mehr als ein Stilmittel, er spielt mit Orthographie und Grammatik und setzt so akustisch und optisch Zeichen. Nicht zufällig wurden seine frühen Werke häufig von Rock- und Punkbands mit unüberhörbarer Lautstärke zu Gehör gebracht.
Der Band naif enthält die ersten Versuche von Bert Papenfuß, eine Sprache zu finden, noch naiv zwar, aber mit deutlichem Hinweis auf die später zur Perfektion getriebene Verbindung von hintergründigem schwarzen Humor und politischer Stellungsnahme. „Land-Schafts-Beschreibungen“ wechseln mit Liebesgedichten von erfrischend enterotisierender Wirkung und ersten gesellschaftlichen Themen. Papenfuß setzt in naif vor allem auf Figurengedichte, die im Gegensatz zu seinen späteren Werken deutlichen Bezug zu Kurt Schwitters und Ernst Jandl haben. Schon in dieser Zeit fällt der eigene Stil, so zum Beispiel die Favorisierung des Buchstabens „f“ statt „v“ oder die Eliminierung des Wortes „und“, später mit großer Konsequenz betrieben, auf. Papenfuß war siebzehn Jahre alt, als er die ersten Gedichte dieses Bandes schrieb. Und so zeigt das Buch einen, der widerspenstig aufbegehrt und lustvoll den Umgang mit der Sprache übt.

… for meinem fenster schleichen die toeter, der taeter
: die schwarzgeschleimte witwenschaft hinktenein
und ringelt sich an meinem körper empor
fluestert fergesellschaftende worte
worte die schwarzes geschleim entwahrlokken…

Die Entstehung von till, des zweiten Bandes der Ausgabe, wurde angeregt durch die Person Till Ulenspiegels. So wie Ulenspiegel oft die Worte wörtlich nahm, um seine Umwelt zu brüskieren, spielt Papenfuß mit ihnen. Er verdreht, zer-setzt, kämmt sie, liest rückwärts oder zankt mit ihnen, es gibt keine Regeln der Sprache für ihn. Bert Papenfuß wehrt sich in seiner Dichtung gegen jeden Zwang, Worte als Aneinanderreihung von Buchstaben sind für ihn Mittel zum Zweck. So in „schwaeren erin merlin & scheisswald“ :

… greifswald: die nordtageswinde die wehn 
lange haare ich konnt nichts mehr sehn
aber mir deftig blieb zu gehn for
ruekkentuekkentzuekkenwindendungdingen
& deren schmachthaelsen & machthabern

Besonders deutlich wird hier das bewußte Ignorieren jeder Regel, als Stilmittel von Papenfuß gezielt eingesetzt. Er rüttelt an den Grundfesten der deutschen Sprache, will sie öffnen für Neues, auch für gesellschaftliche Veränderung. Für ihn ist, wie für den Maler der Pinsel, Sprache ein Handwerkszeug das man benutzt, ein Mittel des Widerstands gegen ein verkrustetes System, welches versucht, Andersdenkende durch Sprachlosigkeit zu ersticken.

der nachbarssohn traegt ein gewehr geschultert
begastert & tatendurstig in der hand ein katapult
die nachbarstochter schwenkt einen plastikstahlhelm
ob die bilder zumutbar sind oder nicht entscheide ich

Der Band mit den weitaus politischsten Texten ist harm, entstanden 1977. Hier randaliert Papenfuß mit Wonne durch die damals schon marode kulturpolitische Landschaft der DDR. Viele der Gedichte sind als Antwort auf die Reaktion des Publikums bei „konspirativen Treffen“ entstanden. Der Autor versucht immer wieder, die Leser mit „Unerwartetem nach Erwartetem“ zu schockieren, sie zu bewegen, die eingefahrenen Denkgeleise zu verlassen. Dabei greift er mitunter zu drastischen Mitteln.

aber aberarkdichter schreiben seit jahren
nur fon & ueber was sie ankotzt
& ueber eine gesellschaft
die sie forwiegend auskotzt

Papenfuß ist nie der resignierende Aussteiger. Mit ungebrochener Vitalität, aber auch im Bewußtsein seiner eigenen Grenzen schreibt er sich durch die Probleme eines Landes hindurch, von dem damals viele sagten: „Das ist unser Land“. Die experimentelle Lyrik von Bert Papenfuß aus diesen Jahren erinnert an den unvergessenen Erich Arendt, konnte aber trotzdem in der DDR mit wenigen Ausnahmen nicht veröffentlicht werden. So ist uns mit dieser Werkausgabe die Möglichkeit gegeben, ein wichtiges Stück DDR-Kultur neu zu erleben, unser „Heimatbild“ ein Stück weit zu revidieren. Fazit: Eine gute und wichtige Ausgabe – von der Frankfurter Stiftung Buchkunst mit der Auszeichnung „Eines der schönsten Bücher 1993“ geehrt – nicht nur für Lyrikliebhaber ein absolutes Muß.

Christian Scherfling, Neues Deutschland 21.1.1994

„In Gedichten kann man radikal fühlen lernen“

– Dichtung und Arkdichtung bei Bert Papenfuß-Gorek. –

Wenn Rezensenten auch mitunter beklagen, daß es den großen deutschen Roman nicht mehr gibt oder unter der jüngeren Autorengeneration den großen deutschen Erzähler vermissen, heißt das noch lange nichts. Es bedeutet lediglich, daß sie eine wichtige Phase deutschsprachiger Literatur verpaßt haben. Denn in den letzten Jahren vollzogen sich lnnovationen, der Ausbruch aus dem tradierten literarischen Formenkanon und die Entwicklung einer neuen Sprache nicht in der geschlossenen Kontur des Romans, sondern auf dem offenen und fragmentarischen Feld der poetischen Sprache – und zudem vielfach unbemerkt und abseits vom Literaturbetrieb der großen Verlage und Preisverleihungen. Sie vollzog sich unter dem verordnetem Ausschluß der Öffentlichkeit in einem halben Dutzend selbstverlegter Zeitschriften in Berlin/DDR, in Leipzig und auch in Dresden. Einem größeren Kreis sind darum die Namen von Stefan Döring, Frank Lanzendörfer, Bernd Igel, Johannes Jansen, Gabi Kachold, Andreas Koziol, Leonhard Lorek, Thomas Rösler und Ulrich Zieger noch weitgehend unbekannt, lediglich Jan Faktor und Rainer Schedlinski sind bereits im Gespräch. Am bekanntesten dürfte aber der in Berlin/DDR lebende Dichter Bert Papenfuß-Gorek sein, der von der jüngeren und zwischen 1953 und 1963 geborenen Autorengeneration das wohl umfangreichste Werk vorgelegt hat.
Als eine Auswahl von Texten Bert Papenfuß-Goreks 1988 schließlich Außer der Reihe (dreizehntAnz, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar) erschienen, gab man sich ganz allgemein überrascht. Bert Papenfuß-Gorek war aber zu diesem Zeitpunkt längst kein Unbekannter mehr. Von dem, mittlerweile auf sechs umfangreiche Bände angewachsenen Manuskriptberg, war zuvor schon der 1977 entstandene Band harm (KULTuhr-Verlag, Berlin/West 1985) erschienen, nachdem bereits geplante Veröffentlichungen Anfang der achtziger Jahre auch nach mehrfacher Fürsprache von Karl Mickel, Richard Pietraß u.a. immer wieder gescheitert waren. „Es gab ein Rundschreiben von oben an alle Verlage, daß meine Arbeit nicht gedruckt werden darf“, so Bert Papenfuß-Gorek in einem Interview. Auch in der 1983 von Dorothea von Thörne vorgelegten und recht vollständigen Anthologie Vogelbühne fehlt der Name von Papenfuß-Gorek. Eine von Elke Erb und Sascha Anderson 1985 herausgegebene und als Fortführung dieser Anthologie gedachte Sammlung Berührung ist nur eine Randerscheinung, in der Papenfuß-Gorek mit einer ganzen Reihe von Texten vertreten war, mußte schließlich in Köln erscheinen. Die Gründe für diesen Ausschluß mögen so vielfältig gewesen sein, wie die Aktivitäten des Dichters. Schließlich war Bert Papenfuß-Gorek nicht nur als Autor bekannt, sondern mit Stefan Döring auch als Mitbegründer, Texter und Interpret in verschiedenen Berliner Punk- und Postpunk-Gruppen tätig; im Schwarzen Kanal (1980), in der Anfang der achtziger Jahre legendär gewordenen Formation Rosa Extra, in der 1984 aus Rosa Extra entstandenen Band Aufruhr zur Liebe, oder ist, wie in letzter Zeit, mit den Electro Artists oder mit Ornament & Verbrechen unterwegs.
In der Tat, nicht nur „seine Gedichte weichen von dem Bild ab, das unsre Schriftsprache gemeinhin bietet“, wie Karl Mickel 1986 in einem Aufsatz über Papenfuß in der Zeitschrift Sinn und Form feststellte, es ist eine ganze Lebenskultur, die sich mit Papenfuß nicht in das etwas biedere kulturelle Selbstverständnis der DDR integrieren ließ. Es ist dies der wohlüberlegte Bruch mit den herrschenden Konventionen und Ordnungen, ob in der poetischen Sprache, im kulturellen Habitus oder im politischen Denken:

O STaat An Gottes Statt
StaatsGOtt O in Gottstadt
GOettersaat Spriesst
Wie Forgesehn
Staatsmahd
Erfolgt
Wie Abzusehn
GOhott Huehott
Der STaat Aha’t
An Ueberhauptes Statt
Hauptstadt
Ohne Namen
Ohne Feme
Das KAOS
Kaeme…

(„Doch Das KAOS Kaeme“, in: SoJa).

Um gerade diesem Eindruck zu wehren, sah sich Richard Pietraß veranlaßt, der erstmaligen Veröffentlichung Papenfußscher Texte im zweiten Heft der Temperamente von 1977 eine sogenannte „Handreichung“ voranzustellen, denn:

Was, so frage ich mich, geschähe, erschienen die folgenden, gewiß nicht gewöhnlichen Gedichte ohne die Protektion dieses Kommentars?

Erschienen waren Texte aus dem auch heute nur in Ausschnitten veröffentlichten Band naif, mit denen sich Papenfuß-Gorek nicht nur in einer eigenen Grammatik und veränderter Orthographie vorstellte, sondern sich auch mit einem besonderen poetischen Code in die Literaturlandschaft einführte. Ungewöhnlich war, daß der Schlüssel zum poetischen Verständnis der Gedichte zum Thema der Texte gemacht wurde:

atens
der vorwurft
dass ich lüge
otens der hinweis
dass ich ver
dichte

(„wegwort“).

Wie auch die anderen, Mitte der siebziger Jahre entstandenen Gedichtbände till (1976) und harm (1977) ist auch naif, der erste Band aus dem Jahr 1975/76, streng gegliedert und auf genau 66 Seiten bemessen. Schon aus dem Namen ist etwas von der Konzeption und Anlage der Texte ersichtlich. naif zeigt eine ganz bestimmte Haltung gegenüber der Umwelt und Sprache, besser noch: naif gibt ein bestimmtes Bedeutungsmuster in der Sprache und Umwelt vor. Die drei ersten Bände naivtillharm bilden damit einen großen intentionalen Bogen, der sich aus der gleichen poetischen Vorgabe speist:

ich in deiner gegenwart ein scharzer freier wortsender

In diesem Wortsender überlagern, „ferdichten“ und zerstören sich die Wort-, Sinn- und Bedeutungsschichten so gründlich, daß es immer wieder zu ganz frappierenden Sinn-Veränderungen kommt, in denen die semantischen und grammatischen Kausalitäten auf den Kopf gestellt oder zumindest so verändert werden, daß die Texte alles andere sind – nur keine Kunstprodukte mehr.

fragst du mich
kunst wars erst dann, wenns eben dadurch
aufhoerte kunst zu sein…

(„und jetzt die leiselarmzersetzung“, in: naif).

In einem Interview beschrieb es Papenfuß-Gorek einmal so:

ich habe meinen Entwurf dieser Entäußerung für so kühn gehalten, daß er niemals, meiner damaligen Meinung nach, mit Kunst in Verbindung gebracht werden könnte, das war für mich Lebensgefühl, und Kunst ist für mich eine Kategorie des Überbaus und ich war Anarchist und ich wollte auch nicht, daß es Gedichte sind.

Das kann in gleicher Weise auch für den nachfolgenden Band till (1976) gelten, dessen weitaus radikalere Poetik sich in seinem Kern nur die Auflösung des Poetischen und um „das ende der dichterei“ zu drehen scheint. Auch hier ist der Titel des Bandes Programm. Till assoziiert das englische ,till‘ oder ,until‘ in seinen verschiedenen Zusammensetzungen ,till-now‘ oder ,till-then‘. Es kann sich aber auch einfach nur um das Bebauen und Bestellen einer Landschaft handeln, um das Umpflügen eines poetischen Brachlandes, dessen verborgene etymologische Wurzeln und semantische Assoziationen ans Licht gezogen werden. Nicht zuletzt wäre till auch als Name denkbar, der beispielsweise an Till Eulenspiegel erinnert und damit den naiv-verfremdenden Blick des ersten Bandes fortsetzen könnte. Auch die Orthographie ist von ähnlichem Aufbau: ph wird grundsätzlich mit einfachem f geschrieben, y und ü als ue, ck als Doppel-K, so daß es dort „musikalische hemisfieren“ heißt und jede Uhr ein „zeitzuender“ ist, „die kaleschen galoschengeschekkt“ und „die galoschen kaleschengeschokkt“ (naif). Aber es geht noch weiter; v wird zu f und ks zu x, so daß aus dem Volk ein ,Folk‘ zu werden beginnt und sich die Autowracks in Comicstrip-Manier orthographisch zu ,autowrax‘ verwandeln.
Die Popkultur hat einen großen Einfluß auf die Sprache und Struktur der Texte ausgeübt, der gerade wegen der zuerst ins Auge fallenden literarischen Kunstfertigkeiten nicht unterschätzt werden darf. „In der Zeit als ich anfing zu schreiben, las ich Shelley, überhaupt die englische Romantik“, erinnert sich Papenfuß-Gorek in einem Interview.

Aber das waren keine Vorbilder für mich… Meine Vorbilder liegen in dem, was ich später gesehen habe: Dada und die Rockmusik.

Sprache erlebbar zu machen, zu zertanzen, wie der Titel des Auswahlbandes dreizehntAnz assoziiert, das gibt Papenfuß an anderer Stelle als Impuls an, mit Rockmusikern zusammenzuarbeiten. Anspielungen bis hin zu wörtlichen Übernahmen von Textpassagen aus Titeln und Liedtexten aus dem Arsenal der Popmusik gibt es in Hülle und Fülle, so heißt es beispielsweise:

shelley ersoff in laudanum
& irgendwer soff sich tot
sein schoenes schoenes selbst
& sexpistoletten flogen auf…

(„windfeger der parks & der auen“, in: SoJa).

Notfalls mußten auch klassische Vorbilder herhalten, so ein Libretto von Richard Wagner in der gemeinsam mit Sascha Anderson und Stefan Döring verfaßten Adaption DOLOROSA UEBERHAUPT, eine parthogenese in 7 penetranzen, erschienen in der mit Aquarellen und Leporello von C.M.P. Schleime, Wolfram A. Scheffler, Helge Leiberg und Uta Hünninger ausgestatteten und 1979–1984 von Sascha Anderson herausgebrachten Reihe poe-sie-all-bum. Deutlicher noch finden sich die Einflüsse der Popkultur in dem von Papenfuß-Gorek als „Popalbum“ bezeichneten Band harm. Im Untertitel dieses Bandes findet sich der Hinweis: „Arkdichtung“. Beides, Popkultur und Arkdichtung sind rein gegenkulturelle Erscheinungsformen. Bereits in till mehren sich die Absagen an alle ästhetisch oder ideologisch definierten Systeme, so Absagen an das auch von Anderson, Döring und Papenfuß einstmals besuchte Poetenseminar in Schwerin, überhaupt Absagen gegen jede von Macht bestimmte Verpflichtung auf einen festgelegten gesellschaftlichen Sinn oder ein fest fixiertes soziales Ziel. In dieser Situation wird in den poetischen Texten der Augenblick eingeklagt, die Zeit des „Jetzt“. Von Bert Papenfuß-Gorek wird diese Phase in einem 1987 gegebenen Interview mit Egmont Hesse, dem damaligen Herausgeber der Zeitschrift schaden, als eine Phase des „Aktivismus“ bezeichnet. Sascha Anderson urteilt über diese Zeit:

da haben wir u.a. ein statement geschrieben, das hieß „jetzt“. das hauptwort des Jahres 1980 war für unser ganzes tun JETZT. (Sprache und Antwort, Frankfurt/M. 1988).

Man wollte jetzt wirken, jetzt ins Gespräch kommen, jetzt einen großen Kreis von Interessenten erreichen und jetzt veröffentlichen.
Mit harm (1977) und den nachfolgenden Bänden SoJa (1981) und haßß (1988) begann eine intensive und zunehmend aggressiver geführte Auseinandersetzung mit festgefügten Publikums- und Erwartungshaltungen. Das Spiel mit den stereotypisierten signifikanten – d.h. ästhetischen, ideologischen und auch politischen Bedeutungsmustern diente als Test und als Experiment, in wieweit soziale und literarische Kommunikation überhaupt noch möglich ist. Der Versuch, „die macht zu umachten“ fiel, wie nicht anders zu erwarten, negativ aus. Die Kulturadministration antwortete mit einem mehrere Jahre währenden Totalausschluß aus der Literaturlandschaft der DDR. Diese Erfahrungen führten in der Folgezeit zu einer Korrektur des Schreibens zu einer Neubestimmung des eigenen Standortes. Man begann seinen Status als Autor auch entgegen dem Ausbleiben gesellschaftlicher Anerkennung und im bewußten Gegensatz zur vorangegangenen Autorengeneration zu begreifen. Am deutlichsten wurde dieser Gegensatz in der Auseinandersetzung um Volker Brauns Rimbaud-Essay (Sinn und Form 5/1985).
Eine Umfrage hatte ergeben:

Volker Braun? Dazu kann ich nur sagen, der Junge quält sich… (Fritz H. Melle).

Volker Braun reagierte umgehend: „Unsere vermeintlichen Neutöner, Hausbesetzer in den romantischen Quartieren (wo sie sich ordentlich führen) sind wohl gut Anschaffer, die fleißig auf den Putz hauen, Hucker nicht Maurer“, und polemisierte gegen jene, für die er sich noch Anfang der achtziger Jahre auf vielfältige Weise eingesetzt hatte.

Unsere jungen Dichter, Kinder der administrativen Beamten, suchen das Loch in der Mauer. Sie verbrauchen ihre Fantasie an Tunnels und Fesselballons, ihre Monologe geben fremde Fluchten wieder, aber auf Hasenpfoten…

Sascha Andersort antwortete ihm darauf im schaden mit dem Argument der „Nicht-Erfahrung“ und der draus resultierenden „Kluft zwischen den Sprachen“. Diese Kluft gebe zugleich die soziale Kluft zwischen der Generation von Wählern und der der Nicht-Wähler wider. (schaden 8/1985)
Das sich aus dieser Kluft zwischen den Sprachen und ihrem gegenkulturellen Wider-Spruch entwickelnde poetologische Konzept rückte Autoren wie Döring, Papenfuß-Gorek oder Anderson, die sich zunehmend radikaler mit der Sprache ihrer Umwelt auseinandersetzten, nicht nur in ganz bewußten Gegensatz zur vorhergehenden Generation von Autoren, sondern auch zu Autoren der eigenen Generation wie Uwe Kolbe, Steffen Mensching und Hans E. Wenzel. Ihnen wirft Papenfuß-Gorek indirekt einen zu naiven Umgang mit dem Bedeutungs- und Kommunikationsmittel Sprache vor. Wer die Worte für das nimmt, was sie vorgeben, offenbare nur seine sprachliche und damit auch seine soziale Inkompetenz – wie ein Text aus dem Band haßß zeigt:

steffen mensching ist im untergrund
ein arschloch & wenzel der entsprechende
stöpsel, im untergrund
wird überdacht & nachempfunden
wie im überbauch auch
ist einsamkeit promiskuität
haben alle einen schlechten nachgeschmack
aber immerhin wurde schlimmeres verhintert

(„unter uns gesagt, aber behalt es für dich“).

Die Texte der ersten drei Bände naif, till und harm sind, ihrer Intention nach, keine Gedichte. Es sind Arkdichtungen. Sie sind Teil einer Lebenshaltung und damit Teil eines ganz spezifischen kulturellen Umfeldes. Ihr Code gehorcht weder einem besonderen „Poesie“ noch einem, noch so eng oder weit angelegten Kunstbegriff. Sie sind Produktionen mit einer besonderen Sprache, deren Zeichen, Symbolvorrat und die sie verbindende Struktur erst Bedeutung erhält, wenn man sie in das kulturelle Umfeld stellt, aus dem sie hervorgegangen sind. Die Texte sind, wie eine ganz bestimmte Frisur, Kleidung oder Fahrzeugmarke, Zeichen einer kultureilen Matrix. Was für die Signifikanten dieser Sprache gilt, kann auch für ihre signifikante Bedeutung geltend gemacht werden: Sie ist in Bewegung, und sie verändert sich. Die Bedeutung der Texte erscheint keineswegs als homogen und von vornherein gegeben. Sie ist vielmehr abhängig von den Mustern kulturellen Verhaltens, sie ist abhängig von ihrem Kontext. Für die Arkdichtungen von naif bis harm gilt, was generell für alle Produktionen der Pop-Kultur gilt: Ihre Bedeutung ist erst aus ihrem Gebrauch heraus zu erfahren und zu erklären.
Mit dem 1981 fertiggestellten Band SoJa wird die Beschränkung auf die fest definierte Seitenzahl der vorhergehenden Bände durch eine streng gegliederte, fast achsensymmetrische Anlage der Sammlung ersetzt. Der ca. 110 Seiten umfassende Band besteht aus den beiden, je drei Gedichtzyklen umfassenden Teilen „wortflug“ und „schriftbruch“, deren Titel auch hier den Weg der Sprache vom Wortflug bis zum Schriftbruch als poetologisches Programm vorgeben. Der erste Teil ist dabei noch um die beiden Gedichtzyklen „harte zarte hertsen“, und „SOndern“ vermehrt, dem zweiten Teil schließen sich die „aton notate“ an, eine poetische Auseinandersetzung mit dem altägyptischen Aton-Kult. (In dem vorliegenden Auswahlband dreizehntAnz sind von Papenfuß-Gorek nur „wortflug“ und „SOndern“ entnommen worden.)
1988 folgt schließlich der 500 bis 600 Seiten umfassende und aus mehreren Gedichtzyklen bestehende Band haßß, dessen Teile sich schon weitgehend in der von Rainer Schedlinski und Egmont Hesse herausgegebenen Zeitschriften ariadnefabrik und verwendung auffinden lassen. Vier Zyklen der Sammlung haßß seien an dieser Stelle einmal kurz benannt: „TrakTat zum ABER“, „Appendix zum TrakTat zum Aber“, „Affe zum appendix zum Traktat zum ABER“, die „zugabe zum affen zum appendix zur ,TrakTAT zum Aber‘“ und „Kanalisation ins Darumsonst“. Sie zeigen allein schon durch die Titelwahl, daß die strenge zyklische Ordnung um eine imaginäre poetische Achse zunehmend einer losen Reihung von Texten weicht. Auch hier geht es Papenfuß-Gorek, wie schon in den vorhergehenden Bänden, um eine Auseinandersetzung mit der Macht der Ordnungen und Konventionen. Denn alle Ordnungen, die uns umgeben, sind zugleich auch Ordnungen der Sprache. Sie werden durch Sprache repräsentiert, sind in das Gedächtnis gegossen und liegen dort fixiert als ein Textsystem von kulturellen Symbolen, das identisch ist mit dem Ordnungssystem der Sprache. Vom ersten Wort an bis zum letzten scheint alles darauf gerichtet, die Macht der Sinne, Mythen, der Ur-sprünge und Un-Ordnungen, die sich immer wieder in den rationalen Diskurs des Denkens bricht, zu zähmen und zu verbannen. Es sollte nicht verwundern, wenn sich die Ordnung der Sprache als eigentlicher Ort des ,Contract social‘ erwiese, denn: „wer das wort hat, hat die macht“ und „wer’s schwert hat, hat die macht / wer’s wort hält, hält bloß wacht“ („krampf-kampf-tanz-saga“). Die Texte des „TrakTat zum ABER“ lassen sich darum nicht nur als eine kritische Durchsicht der einzelnen Paragraphen dieses Gesellschaftsvertrages lesen, sondern auch als Saga seiner Aufkündigung. Die Durchsicht der beherrschenden Ordnungen und das Aufbrechen ihrer sprachlichen Konvention – das sind grundlegende Ebenen, denen man auch in den nach 1988 folgenden Sammlungen von „arianrhod von der überdosis“1

bis zur „urlogik im dialekte“ immer wieder begegnet. „Das sind Texte“, so Bert Papenfuß-Gorek, „die frech sind, wo für das auszudrückende Gefühl eine formale Grenze erreicht ist. ich komm formal nicht weiter, und dann gibt es Grenzüberschreitungen, Frechheiten oder so was, die aber nicht konstruktiv sind, sondern provozieren…“
Eine Art Schlüsseltext für das antinomische poetische Bauprinzip, das bis in die semantische Struktur eines Wortes hineingreift, findet man in dem 1985 entstandenen und zur Sammlung haßß gehörenden Text „flexitus vitaris“:

… ein ehemaliger lust-sieg im kampf-tanz
lustprinzip (rot) – hochachtung (weiß)
kaschiert inzwischen gezwängt in klassen
der pracht & des pomps starre systematik
obszön durchklingender machtverhältnisse

Sprache steht als ein beständiger „kampf-tanz“ zwischen dem „lustprinzip“ des Lebens und der „hochachtung“ vor den Ordnungen. Auf der einen Seite der Bereich der Sinne – auf der anderen die Sphäre der kulturellen Gebote. Zwischen beiden zerreißt/zerreibt sich das Leben:

ich steck mit beiden beinen
im dualismus & krieg’s im kopp
nicht zusammen, meine haut zu retten…

(„man kann nie wissen“) und:

… hingehalten von frustration & orgonomie, politikant
unsere väter: verweser, wir: die verwesten…

(„flexitus vitalis“).

Hier das Begehren und die Freiheit des Signifikanten – dort die signifikanten Systeme und immer wieder die Hierarchien der Väter. Zwischen der Vielheit des Lebens, dem rhizomatischen Denken und dem Prinzip der Einheit, zwischen „rot“ und „weiß“ als den zwei möglichen Daseinsweisen, zwischen „wortflug“ und „schriftbruch“, sind die Koordinaten gespannt, auf denen sich der „kampf-tanz“ der Sprache vollzieht: die Bewegung der Sprache, die die festgefrorenen hierarchischen Strukturen, in die sie verstrickt ist, Wort für Wort zu lockern und wieder aufzulösen versucht.
Und das ist das Neue: Der poetische Text ist weder Resultat einer idealen Distanz zur Sprache, noch ein ästhetisch geschlossenes Produkt. Er ist vielmehr Sprachbewegung, Arbeit an der Sprache, mit der Sprache und in der Sprache, er ist, wie es die französische Sprachtheoretikerin Julia Kristeva als Kennzeichen der poetischen Revolution beschrieb, in seiner Grundbestimmung Praxis, Bewegung in der Sprache und Arbeit des Textes an sich selbst. Seine Struktur

… veraendert sich selbst
staendig darein begriffen
unterstuetze ich diese
Fertiefung Der Wahrnehmung
gleichzeitig das wissen
um eine schiere fuelle ton
erscheinungen…

(„kein befestigtes hochland…“).

Das Hauptmerkmal dieser Sprache ist: Der poetische Text problematisiert seine Ordnungsstruktur. Es gibt „kein befestigtes hochland / DER SINNLICHEN WAHRNEHMUNG“ mehr, der Text ist eine sprachliche Bewegung/Tanz beständiger Grenzerweiterung – und das auch in sozialer und psychischer Hinsicht. Der Text besteht aus einer Vielzahl von Sinnkernen, um die sich beständig weitere Bedeutungen lagern und die sich zu ganzen Aussageketten und Zyklen auswachsen können. Allerdings ist die assoziative Eigenstrahlung dieser Signifikanten/Splitter so stark, daß es im Text immer wieder zu Vertauschungen, Substitutionen und zu metathetischen Veränderungen ganzer Teile und zu rhetorischen Kurzschlüssen in der Laut- und Bedeutungsebene kommt. Papenfuß-Gorek überschreibt den Text durch die Ablenkung und assoziative Eigendynamik der Werte neu und setzt dem falschen Schein stilistischer Geschlossenheit ein Bauprinzip entgegen, das man als eine ,Poetik des Fehlers‘ bezeichnen könnte:

… der Prozeß des Schreibens ist natürlich auch wichtig, dabei entstehen neue Sachen, das ist eben das, was ich mit der Eigendynamik meine…

Ähnlich auch Stefan Döring:

Einen Gedichttext schreiben, ist ja wie sich einen Weg suchen. Zwangsläufig wird dieser verschlungen, weil die Ablenkungen enorm sind.

Das Offenlegen der sprachlichen Wurzeln und der Abschied von der ästhetischen Geschlossenheit, das ist nicht nur das Wesen von Arkdichtung, ist ein generelles Kennzeichen moderner Poesie. Denn Kunst ist als ein Korrektursystem zugleich auch eine Entfernung von der Wirklichkeit/Eingebung: „Ziel von Kunst (was immer das sein mag, nämlich: Können + Machen, motiviert durch Fühlen) ist immer das (Aufgemerkt!) Aufhören von Kunst…“, so Papenfuß-Gorek in dem gemeinsam mit Stefan Döring und Jan Faktor 1985 verfaßten Manifest „Zoro in Skorne“. In dem Manifest findet sich auch ein Schlüssel für das Verständnis der nach 1985 geschriebenen Texte, unter anderem auch für den in dreizehntAnz abgedruckten Zyklus „krampf-kampf-tanz-saga“. Kampf steht dabei für das Prinzip der Rationalität, für Analyse und Isolation, was der literarischen Form des Essays entspricht, Krampf bedeutet dagegen Kreativität, Zersetzung und (Ver)Suche und entspricht der Prosa. Der Tanz schließlich, steht für Emotionalität, Synthese und Integration und ist die eigentliche Domäne der Lyrik.
Es ist nicht allzu schwer, nach Gründen für die Papenfußsche Ablehnung des Kunstprinzips zu suchen, wenn man sich vergewissert, daß Kunst bisher immer auch eine Institution mit einer fest umrissenen Aufgabe darstellte. Vom Buch oder Zeitschrift angefangen, über die bisherige Praxis der Verlage, bis hin zum künstlerischen Marketing, verkörperte die ,Institution Kunst‘ ein soziales Ausschließungsgebäude, in das nur Eingang fand, was sich seinen ästhetischen, sozialen – und auch politischen – Normen unterwarf. Kunst ist eines jener Ordnungssysteme, das sich, aufgrund seiner Beschaffenheit den „ur-sprüngen“ und Spuren der Wirklichkeit, denen die Sinne im poetischen Text nachgehen/nachgeben, verweigern muß/darf:

1 dichtung hat nur einzwei ziele
2 aufzuhoeren dichtung zu sein
3 aufzuhoeren lichtung zu sein
4 also hieb aufn spiellein

(„spiel auf, sprechspiel“, in: till).

Die ,Poetik des Fehlers‘ und die ,Sinnfielteilung‘ eines Wortes/Wertes in seinem semantischen und syntaktischen Umfeld sind vor allem in den Bänden till, naif und harm, Motoren der Spracherneuerung. Assoziative Überlagerungen gehören dabei zum guten poetischen Ton:

o schijn vilsendigher o
ueberlagere dich mit dir…
… ueberlagere dich mit dir
stoss dich rauss du weisst wohin o
hnehin
siebens slichts kaempfftete
unnd tud
ueberla gere gere gere…

(„goe“, in: naif)

und nehmen mitunter sogar die Gestalt von Beschwörungsformeln an. Die Arbeit am Text ist, wie schon gezeigt, weniger ein Dichten als vielmehr ein „Verdichten“ von semantischen Einheiten. Das ist einem strukturalistischen Konzept verwandt, von dem der Sprachtheoretiker M. Bierwisch einmal schrieb:

Die poetischen Sekundärstrukturen… ebenso wie die gezielten Abweichungen prägen der Sprache auf allen Ebenen ihrer Struktur Beziehungen und Konstellationen auf, die die reguläre Grammatik nicht ermöglicht.

Die Abweichung von der Norm ist dabei Methode, denn die „Strukturen literarischer Sprache werden oft zur Quelle für die Veränderung der Sprache selbst“ (kursbuch, 5/1966).
Neben dem Eingriff in die sprachliche Struktur führt Papenfuß-Gorek eine weitere Möglichkeit vor, die poetische Sprache zu erneuern. Innovation durch die Eingrenzung des ,unwerten Materials‘, von dem auch schon Stefan Döring sprach: „Da es kein wertloses Material in der Sprache gibt, kommt es darauf an, einen Zusammenhang herzustellen zwischen unterschiedlichen Einzelheiten“ – und durch die Aufnahme der ausgegrenzten und tabuisierten Wirklichkeiten der Sinne und der Mythen: Mythen als eine in Vergessenheit geratene, zweite Daseinsweise des Menschen, als eine in der Sprache fortlebende Urform von Sinnlichkeit. Vernunft wurde von Papenfuß-Gorek nicht zuletzt darum auch als ,totale Sinnlichkeit‘ bezeichnet.
Bert Papenfuß-Gorek geht es mit der bewußtseinserweiternden Sinnfielteilung/Entgrenzung auch um den poetischen Wieder-Entwurf des ganzen Menschen und dessen Fähigkeit, sich mit jedem Punkt der Welt nicht nur intellektuell, sondern auch mental in Beziehung zu setzen. Es geht um einen Entwurf, in dem „zeit und ferstand“, wie Papenfuß-Gorek schreibt, letztendlich wieder zusammengehen. Dazu gehören die taoistischen Übungen, die Totenrituale nordamerikanischer Indianer und die in die Texte eingeflossenen okkulten Symbole ebenso wie germanische Götter, irische Elfen oder der altägyptische Atonkult. Es geht um die Entgrenzung der Sinne, um die sinnliche Emanzipation durch die Emanzipation der Sinne. Die Sprache der Liebe und Sexualität steht für solch ein „vögelgezwitscher“ der Sinne, für ein Rendezvous mit wechselnden W/Orten: Zum Beispiel auf der mythenumwobenen Insel Avalun, was ,Morgenröte‘ bedeuten kann und zugleich auch ,Fata Morgana‘:

ich war in mir
ich verlasse mich
erfahrungen zu machen
& kehre ein, eins zu sein

(„krampf, kampf-tanz-saga“).

Es scheint so, als ob das sprachkritische Modell der Arkdichtung auch bei den späteren Texten nichts an signifikanter Strahlung eingebüßt hat, auch wenn man sich zu gelegentlichen Abschieden einfindet:

… es war nicht meine idee
unumstößlich klingt sie aus, die ära des aktiven wortspiels
es wurde zu ernst

(„arianrhod“).

Was sich aber unterdessen erschöpft zu haben scheint, sind die Möglichkeiten unentwegter Sprachinnovation. Mit dem Zyklus „notdichtung – eine weitere säule des gesangs“ kehren nicht nur die poetischen Standards, sondern auch die großen intentionalen Bögen aus den frühen Texten wieder. Die Aussage wird klarer, und fast es ist so, als ob sie froh wären, sich ihren vielschichtigen und mythenschweren Gepäcks zu entledigen.
Aber das „Arkanum“ der Arkdichtung war ja zu keiner Zeit nur auf Sprachkritik und Sprachinnovation ausgerichtet. Arkdichtung ist wohl viel als eine Metapher für den Entwurf einer rhizomatischen Anthropologie der poetischen Sprache gedacht, als ein Entwurf, der in jedem Text aufs neue unternommen werden muß. Ark-Dichtung steht für das Geheimnis, das Dichtung, ihrem Wesen nach, immer noch ist: Sprache der verborgenen Bereiche, der ursprüngliche Landschafts/Raum des Dichters, der geheiligte Aufbewahrungsort der Schrift, Ursprung der Sprache, Schrein, Raum, Arche.

Michael Thulin, kontext, Heft 9, Mai/Juni 1990

 

 

Sprachgewand(t) – Ilona Schäkel: Sprachkritische Schreibweisen in der DDR-Lyrik von Bert Papenfuß-Gorek und Stefan Döring

Heribert Tommek: „Ihr seid ein Volk von Sachsen“

 

 

Mark Chaet & Tom Franke sprechen mit Bert Papenfuß im Sommer 2020 und ein Auftritt mit Herbst in Peking beim MEUTERLAND no 16 | 1.5.2019, im JAZ Rostock

 

Kismet Radio :: TJ White Rabbit presents Bertz68BirthdaySession_110124_part 2

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Lorenz Jäger: ich such das meuterland
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.1.2016

Zeitansage 10 – Papenfuß Rebell
Jutta Voigt: Stierblut-Jahre, 2016

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Thomas Hartmann: Kalenderblatt
MDR, 11.1.2021

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Einladungskarte zur Beerdigung von Bert Papenfuß

Einladungskarte zur Beerdigung von Bert Papenfuß

 

Nachrufe auf Bert Papenfuß: FAZ ✝︎ taz 1 & 2 ✝︎ BZ 1, 2 & 3 ✝︎
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Nachruf auf Bert Papenfuß bei Kulturzeit auf 3sat am 28.8.2023 ab Minute 27:59

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Papenfuß-Gorek“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Bert Papenfuß

 

Bert Papenfuß liest bei OST meets WEST – Festival der freien Künste, 6.11.2009.

 

Bert Papenfuß, einer der damals dabei war und immer noch ein Teil der „Prenzlauer Berg-Connection“ ist, spricht 2009 über die literarische Subkultur der ’80er Jahre in Ostberlin.

 

Bert Papenfuß, erzählt am 14.8.2022 in der Brotfabrik Berlin aus seinem Leben und liest Halluzinogenes aus TrakTat zum Aber.

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