Bertolt Brecht: Gedichte Band IV 1934–1941

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bertolt Brecht: Gedichte Band IV 1934–1941

Brecht-Gedichte Band IV 1934–1941

AN DEN SCHWANKENDEN

Du sagst:
Es steht schlecht um unsere Sache.
Die Finsternis nimmt zu. Die Kräfte nehmen ab.
Jetzt, nachdem wir so viele Jahre gearbeitet haben
Sind wir in schwierigerer Lage als am Anfang.

Der Feind aber steht stärker da denn jemals.
Seine Kräfte scheinen gewachsen. Er hat ein
aaaaaunbesiegliches Aussehen angenommen.
Wir aber haben Fehler gemacht, es ist nicht mehr zu leugnen.
Unsere Zahl schwindet hin.
Unsere Parolen sind in Unordnung. Einen Teil unserer Wörter
Hat der Feind verdreht bis zur Unkenntlichkeit.

Was ist jetzt falsch von dem, was wir gesagt haben
Einiges oder alles?
Auf wen rechnen wir noch? Sind wir Übriggebliebene, herausgeschleudert
Aus dem lebendigen Fluß? Werden wir zurückbleiben
Keinen mehr verstehend und von keinem verstanden?

Müssen wir Glück haben?

So fragst du. Erwarte
Keine andere Antwort als die deine!

 

 

 

Zum vierten Band

Dieser Band enthält, wie Band V, Gedichte aus den Exiljahren 1933–1941.
Der Anlage unserer Ausgabe entsprechend, steht am Anfang wieder ein von Brecht zusammengestellter Auswahlband: der dritte und letzte, die „Svendborger Gedichte“.
Die „Svendborger Gedichte“ entstanden aus den „Gedichten im Exil“, dem letzten Teil der Gesammelten Gedichte (1918–1937), deren Herausgabe der Malik-Verlag (Wieland Herzfelde) in Prag und Brecht von Dänemark aus 1937 vorbereiteten. Es kam nicht zum Druck dieser Gedichtsammlung, die den letzten Band der Gesammelten Werke Brechts bilden sollte. Hitler überfiel die Tschechoslowakei.
Autor und Verleger, dieser nunmehr von London aus, nahmen jetzt die Herausgabe der Gedichte im Exil als Einzelband auf. Brecht gab ihm den Titel Svendborger Gedichte nach der kleinen dänischen Hafenstadt Svendborg, in deren Nähe er von 1933 bis 1939 lebte; gedruckt wurde diese Auswahl in Kopenhagen im Frühjahr 1939, als Brecht bereits eine neue „Zufluchtsstätte“ in Schweden gefunden hatte.
Viele der „Svendborger Gedichte“ und weitere Gedichte des vorliegenden Bandes erschienen damals in deutschsprachigen Zeitschriften und Zeitungen, die in Moskau, Paris, Prag und anderen Städten herauskamen; vor allem in Das Wort und Internationale Literatur, Moskau.
„Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin“ ist 1929 geschrieben (wie oftmals, auf Grund eines Zeitungsberichtes); „Kohlen für Mike“ 1926 (gleicherweise wie oftmals, nach der Lektüre eines Buches, in diesem Fall von Sherwood Andersons Der arme Weiße); Brecht nahm die beiden Gedichte in den neuen Auswahlband auf. Da es auch zu den „Geschichten aus der Revolution“ (Band I) gehört, erscheint das erste Gedicht zweimal innerhalb der Gedichte. – Für die „Kantate zu Lenins Todestag“ übernahm Brecht das „Lob des Revolutionärs“ aus dem Stück Die Mutter.
Den „Chinesischen Gedichten“ liegt die in Heft 10 der Versuche (1950) gedruckte Auswahl zugrunde; sechs von ihnen waren schon 1938 in Das Wort erschienen. Für die Versuche schrieb Brecht diesen Vorspruch:

Im 23. Versuch „Chinesische Gedichte“ sind alte und neue chinesische Gedichte reimlos und mit unregelmäßigen Rhythmen ins Deutsche übertragen.

(Es sei hier auf Brechts Aufsatz „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ hingewiesen, der 1939 in Das Wort erschien und seither oft nachgedruckt worden ist.) Das auch zu diesem Zyklus gehörende Gedicht „Bei der Geburt eines Sohnes“ ist in dem vorliegenden Band bereits in den „Svendborger Gedichten“ enthalten. Die Übertragungen der Gedichte „Ansprache an einen toten Soldaten des Marschalls Chiang Kai-shek“ und „Gedanken bei einem Flug über die Große Mauer“ stammen aus späteren Jahren.
Die acht „Studien“ in Heft 11 der Versuche (1951) haben folgenden Vorspruch von Brecht:

Studien“, um 1940 geschrieben, gehören wie die „Chinesischen Gedichte“ in Heft 10 zum 23. Versuch. Diese sozialkritischen Sonette sollen natürlich den Genuß an den klassischen Werken nicht vereiteln, sondern reiner machen.

„Gedichte aus dem Messingkauf“ wurden in dieser Auswahl und Anordnung in Heft 14 der Versuche (1955) abgedruckt. Der Vorspruch von Brecht lautet:

Über alltägliches Theater“ und die folgenden Gedichte gehören zum „Messingkauf“ (26. Versuch), einem Gespräch über neue Aufgaben des Theaters.

Der „Messingkauf“ beschäftigte Brecht über viele Jahre; die Arbeit ist unvollendet geblieben; das große Fragment erscheint innerhalb der Schriften, ,,Das kleine Organon für das Theater“, 1948/49 entstanden, ist, in Brechts Formulierung, „eine kurze Zusammenfassung des ,Messingkauf‘“. Die Gedichte „Suche nach dem Neuen und Alten“, „Die Vorhänge“, „Die Beleuchtung“, „Die Gesänge“ und „Die Requisiten der Weigel“ wurden 1950 von Brecht für „Theaterarbeit“ geschrieben, eine Publikation über die ersten sechs Inszenierungen des Berliner Ensemble. Die übrigen datieren ebenso wie die der Abteilung „Weitere Gedichte zum Messingkauf“ aus den Jahren 1937 bis 1940.
Das erste Manuskriptblatt einer Auswahl von Gedichten aus den Jahren 1937 bis 1940 trägt den von Brecht handschriftlich vermerkten Titel „Steffinische Sammlung“, das zweite Blatt den Vermerk:

Gedichte, gesammelt von meiner Mitarbeiterin Margarete Steffin, geschrieben etwa von 1937 an in Dänemark, Schweden und Finnland.

Margarete Steffin, Arbeiterkind aus Berlin, Antifaschistin, schon schwer erkrankt, als sie 1933 ins Exil ging, starb an Tuberkulose 1941 auf der Durchreise nach den Vereinigten Staaten in einem Moskauer Krankenhaus. – Aus dem Exil zurückgekehrt, wollte Brecht die „Steffinische Sammlung“ geschlossen in die neugeplante Ausgabe seiner Gedichte aufnehmen, die dann zugunsten anderer Arbeiten zurückgestellt wurde.

Elisabeth Hauptmann, Nachwort

 

Der sozialistische Egomane

Was für ein Mensch. Was für eine Mischung aus Besessenheit und Nonchalance, rührender Besorgtheit und kühler Bösartigkeit. Man kommt nicht los von ihm; so wenig man sich befreien kann vom Klang seiner Gedichte, von der Stringenz seines gesamten Œuvre – so wenig auch kann man ihn wohl verehren. Die Köcher voller Neid-Pfeile kleiner Geister sind so lächerlich wie jede Gipsfürstenverehrung. Einer unserer bedeutendsten zeitgenössischen Autoren zieht in der Notizbucheintragung nach einem Besuch bei Brecht im skandinavischen Exil gleichsam das Bild zusammen, das auch die knapp 900 veröffentlichten Briefe Brechts bieten; Peter Weiß wollte gewiß keine Karikatur zeichnen, als er am 20.6.1972 notierte:

Brechts Haltung gegenüber der Familie: autoritär, kleinbürgerlich. Er wachte eifersüchtig über alte Geliebte. Niemand durfte sie übernehmen. Brecht breitärschig im Regiestuhl. Ohrfeigte Berlau, die schrie und kreischte. Beschäftigte die Frauen mit verschiedenen Arbeiten. Zw. 7 u. 10 Uhr abends rief er sie der Reihe nach an. Die Geburtstage vergaß er immer. Die Frauen mußten selbst dran erinnern. Wollten beschenkt werden. Nur Steffin Ausnahme. Groß der Widerspruch zw. seinem Benehmen u. seiner Arbeit. Zu den Geliebten gehörte auch Carola Neher. Steffin in der Laien-Schauspielergruppe. Mitgl. des Chors. Setzte sich in den Schaukelstuhl, sang zur Klampfe. Befriedigt sich viehisch (zog sich nie aus). Badet selten. Stühle hatten Speckrand von seinem Haar. Mütze, unglaublich, daß jemand sie aufsetzen kann. Trug dicke Wollsocken und lange Unterhosen. Altväterlich belehrend. „Brecht badet heute“ niemand durfte ihn sehn. War außerordentlich scheu. Primitive Kenntnisse der Medizin. „Zwei Harnleiter“. Hatte wohl nur 2 Semester studiert. Berlau war verheiratet mit einem Professor in Lund. Hals- und Ohrenspezialist. Brecht spielte Schach mit ihm. Saß unbequem auf der Kante des Ledersessels vor Schreibmaschine (Reisemodell) auf hohem Tisch. „Wenn man mit großer Anstrengung schreibt, schreibt man weniger Mist.“ Hände manchmal fein, fast zart, dann wieder grob, bäurisch. Stark ausgeprägte Linien. Finger etwas spitz zulaufend. Zusammengekniffener Mund. War klein. Doch indem er den Kopf zurücklegte und einen gleichsam von oben ansah, wirkte er groß.

Brechts Briefe geben kein völlig neues Brechtbild, und gerade das Private bleibt reduziert auf Andeutungen. Aber sie geben eine neue Kontur, eine weitere Dimension.
Da ist zuerst der ganz junge Mann, der sich noch Eugen oder Bert Eugen nennt und dessen Gedichte und Skizzen schon jetzt mehrere Sekretärinnen seines in direktoralem Wohlstand lebenden Vaters abschreiben müssen. Wie unglaublich genau arbeitet schon der Sechzehnjährige, wenn er dem lebenslangen Freund und späteren Mitarbeiter Caspar Neher im November 1914 – „Ein moderner Maler muß Zola lesen“ – schreibt:

Ich hätte so ein Gedicht.
Motiv:
Am Abend ist der Feind geschlagen. Die Telegraphendrähte melden es.
Hüben: Freude, Jubel, Beten. Drüben: Angst, Verzweiflung, Haß.
In der Nacht werden die Toten begraben. Die Telegraphendrähte melden es.
Die Mütter weinen in dieser Nacht. Hüben – und drüben.

Da ist die Bauskizze zu jenem schrecklich-schönen Gedicht „Moderne Legende“, dessen Interpretation durch Ernst Busch (nach der Musik von Hanns Eisler) jeder Brecht-Kenner im Ohr hat. Von Anfang an, was immer an Entwicklungen und Fehlhaltungen die Zeitläufte ihm aufzwingen werden, ist einer schon ganz früh geformt, nahezu „fertig“: der Künstler Brecht. Er kennt auch bereits das Ausnahmegesetz:

Ekles Gezücht, diese Künstler. Sie leben von Kränkung und Unrat.

Wobei offen bleibt – der Kränkung, die sie zufügen oder der, die ihnen zugefügt wird. So ist es auch eher verblüffend als peinlich, wenn der Einundzwanzigjährige seiner ersten – und wie Helene Weigel Jahrzehnte später sagte: einzigen – großen Liebe Paula Banholzer, genannt Bi, karg erklärte:

Mein Name wird einst nah dem von Goethe und Schiller genannt!

Mit demselben Selbstbewußtsein stellte er sich ja auch in eine Foyernische des Augsburger Theaters und sagte:

Hier wird einmal eine Büste von mir stehen.

In den Briefen heißt das, 1918, so:

Die Theater spielen Mist. Sie warten […]

Auf wen wohl? Das weiß da jemand ganz genau, der dennoch den Begriff Kunst, das ihr innewohnende Gesetz tief ernst nahm:

Man darf sich nicht aufschwatzen lassen, die Kunst sei Schwindel. Das Leben ist Schwindel. Die Kunst ist das Einfachere. Geordnetere. Sinnvollere. Stärkere. Es kommt noch einmal eine Renaissance. Wenn wir tot sind nämlich. Aber dann ist sie nichts Neues. Uns steht noch viel bevor!

Daß alle Menschen seiner Umwelt, ob Männer oder Frauen, der schier unglaublichen Energiespannung dieses noch jungen Mannes erlagen, verwundert nicht. Da lebte einer nur sich, folgte seiner Bahn, seiner selbst gewiß. Die Gier nach Leben, der Erste Weltkrieg tobt noch, scheint ihn förmlich zu verbrennen, zwingt seine Sprache in ein ungewöhnliches Stakkato, wenn er an Caspar Neher schreibt:

1 Jahr Frontdienst ist zu viel! Schlag Lärm! Himmelherrgottsackerment, laß doch nicht alles mit Dir anfangen! Ich verbitte mir das! Ich hoffe, Du wirst mir endlich einmal Gründe schreiben! Ich mag nicht mehr warten! Hörst Du: Ich mag nicht! Hier ist alles herrlich: blaue, schöne, heiße Sonne. Himmel! Nachts! Jasmin riecht! Linden, in ihrem Wipfel schaukelt sich der Große Bär! Dann Baden im Lech! Wolfzahn! Wald! Allee! Mein Zimmer, nachts! Willst Du nicht auf meinem Sofa sitzen? Ich will meine Gitarre stimmen! Der Eisladen! Lampions! Bittersweet! (Die ich jetzt ganz habe. Du, was soll ich tun, wenn ,es‘ Folgen hat. Sackerm. Schreib darüber. Sag mir was drüber! Komm!) Dazu Kunst: meine Komödie! Lieder! Geschichten! Ich brauche auch Titelblätter! Und ich brauche Dich!

„Bittersweet“, das eben ist „Bi“, und auch die Selbstbeschwörung „ […] einem Kind stände ich fassungslos gegenüber […] “ konnte nicht verhüten, daß die noch Minderjährige die Mutter von Brechts erstem Kind wurde, das nach dem verehrten Wedekind auf den Namen Frank katholisch getauft wurde; Brechts Sohn – so gräßliche Pointen hält unsere Geschichte ihren Dichtern bereit – fiel als deutscher Soldat im vom damals bereits emigrierten Vater bitter attackierten Raubkrieg gegen die Sowjetunion.
Zwei ganz feste, nie veränderte Charakterstrukturen Brechts zeigen bereits die frühesten Briefe – Dokumente seines „ersten Lebens“ und doch Tonschlüssel zu seinen sämtlichen Leben: er setzt sich skrupellos über menschliche Bindungen hinweg, die er eben noch als kostbar hütete; und er kann das, weil er ein eigenes, letztlich unberührbares Zentrum hatte, früh schon und immerwährend: seine Arbeit.
Die Frauen, nach denen er seufzt, deren Münder, Augen, Körper er besingt, müßten in einem eigenen Index erfaßt werden – und das zu einer Zeit, zu der er noch die des Vaterhauses verwiesene ledige Mutter Bi zärtlich umsorgt. Sehr bald hat er daneben eine zweite feste Bindung mit Marianne Zoff, die er heiratet, während er Bi die Ehe verspricht, und die von ihm ihre Tochter Hanne bekommt, ziemlich zur selben Zeit, zu der Helene Weigel in Berlin das erste Kind von Brecht erwartet. Brecht hat so wenig gegen eine Begegnung zwischen Marianne Zoff und Bi, wie es ihm etwa unpassend vorgekommen ist, Helene Weigel zur Bi zu schicken mit der Bitte, zu ihm – ihnen? – nach Berlin zu ziehen. Diese mit bürgerlichen Begriffen nicht zu fassende Privatmoral des „armen BB“ entzieht sich unserer Beurteilung; interessant ist sie nur, weil sie einen bestimmten Aspekt von Brechts Weltsicht freigibt – den des Eigentums. Frauen waren für ihn Besitz. Keine Erinnerung an den Liebhaber Brecht – ob von der Bi, von Marieluise Fleißer oder Marianne Zoff –, in der sich nicht der Satz „ich war sein persönliches Eigentum“ findet. Und wie es bei Besitz üblich und angebracht, wurde das Recht auf diesen Besitz und seine Nutzung durch regelrechte Verträge festgeschrieben. Die Memoiren der Bi und ein großes Interview mit Marianne Zoff geben solche Brechtschen Pakte wörtlich zu den Akten; Pakte übrigens, die parallel, gleichzeitig geschlossen wurden.
In den Briefen wird derlei nur angedeutet. Sie offenbaren aber dennoch: Frauen waren für Brecht nicht nur „Besitz“, sie waren stets auch „Produktionsmittel“. Alle seine Geliebten – ob Ruth Berlau oder Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin, Marieluise Fleißer oder, schließlich die wichtigste Interpretin seines Werks: Helene Weigel – waren Mitarbeiterinnen.
Die Liebesbeziehung des jungen Augsburgers zu der 1893 in Österreich geborenen Sängerin Marianne Zoff ist eine der prägendsten Brechts, nicht weil aus der 1922 geschlossenen Ehe eines seiner vier Kinder – Hanne Hiob – hervorging; hervor ging vielmehr, Falter aus der Larve, ein genialischer Mensch, der sich zart und rücksichtslos, gefühllos und bösartig abschnellte in die Welt. Wenn Brecht die Fäden zeichnet, mit denen er die Geliebte umgarnen will, stellt er zugleich Dutzende kleiner Spiegel auf – aus zwei Menschen werden dramatis personae:

Ich kenne einen Mann, in Manhattan, der warf alle seine Kräfte auf eine Frau, er kämpfte mit ihr, er packte das bessere in ihm auf sie, er belud sie mit seinen Illusionen, er verbarg seine Sorgen in ihr. Sie ging schwankend wie ein Schiff mit großer Fracht, sie schlingerte und konnte nur ganz kleine Segel aufsetzen. Aber wenn Sturm ging, lief sie sicherer als jedes andere Schiff, sie lag schwer in der Böung, Und der Mann lebte weiter in Manhattan, er betrieb sein Geschäft, welches von ihm verlangte, Tabakpflanzen zu verkaufen. Er hatte ein stilles Gesicht, magerte später ab, bekam dünne gelbe Haut über die Knochen, hielt sich aber gut in Form und trug keinen Trauring. Das ist ein Mann in Manhattan, dem Herz von Neuyork, überm Wasser.

Man weiß, wie das Stück heißt; jedenfalls nicht Bert und Marianne. Sondern George Garga oder das Dickicht. Er nennt es einen Brief, später „eine einzige Liebeserklärung an Dich“.
Das ist so aufrichtig gelogen wie alles bei Brecht: Menschen waren ihm – von früh an – stets Rohstoff, Situationen szenische Versuchsanordnungen, Beziehungen Sprech-Proben. Später wird er das selbstauferlegte (und zur Qual aller seiner Frauen konsequent durchgehaltene) Berührungsverbot „gestisch“ nennen oder Verfremdung – und daraus eine ganze schüttere Theatertheorie bauen. Der widrigste Greuel ist ihm Nähe:

Wie alles überschwemmt ist mit Mitmenschen! Diese klebrichen Viecher, feucht-fröhlich, gutmütig, froschfingrig und ernsthaft! Ohne Inventar, aber mit ewiger Inventur. Das gibt immer die gleiche Antwort. Füllt keine Stube. Macht keine Mühe. Will in Ruhe gelassen werden (wo es nichts zu tun hat!). Ich liebe Dich.

Er taucht da jäh auf, ein Ertrinkender, der nach Luft schnappt – und nach einem Rettungsring. Das ist bekanntlich eine Sache und, wenn’s geht, ein Eigentum. Brechts „Ich liebe Dich“ käme durch das Auswechseln eines Buchstabens der Wahrheit näher:

Ich liebe mich.

Wenn er friert, alleine ist, traurig oder lustig, wenn ihm nach Geselligkeit ( oder dem Gegenteil) der Sinn steht – dann ruft er; doch der Ruf gleicht einer Bestellung – etwa bei Schlichter (oder einem anderen Berliner Künstlerlokal, in dem 1921 das junge Genie aus der Provinz die Großstadt erobern will):

Es sind viele Leute da, sie defilieren kolonnenweise oder bilden Tapeten, gehen mich nichts an, sollen nur Hühnerleitern sein oder Kanonenfutter. Es ist kalt und ich bin allein und diese Stadt brüllt wie am Spieß und es mißfällt mir nicht, ich habe die Augen auf und komme auch vorwärts. Was für Opfer, Anstehen, treppauf, treppab, Abortwandvisagenvisite, ganz Ohr vor idiotischen Grammophonen und kein Mensch, kein Mensch! Aber das ist gut! Ich bin hier wie in der City und Du bist außerhalb, für Dich ist es, ich sehe Dich also wochenlang nicht und doch bist Du es, Marianne.

Bestellen tut man gemeinhin à la carte. Brecht lebt à la carte. Während er Marianne Zoff umwirbt mit Wortgirlanden, die den unvorbelasteten Leser wähnen lassen, hier gehe es um die einzige, lebt er weiter mit Paula Banholzer; den 1919 geborenen gemeinsamen Sohn Frank darf Marianne Zoff gelegentlich hüten. Umgekehrt macht er – im Oktober 1923 – seiner sich aus der Hypnose befreienden Frau Biedermann-Vorwürfe im Ton eines Schrebergartengockels:

Da ich Dir vor Deiner Abreise nach Pichling so dringend, als es mir möglich war, gesagt habe, eine Reise nach Wien bedeute unsere Trennung in der schärfsten Form, wird es Dich hoffentlich nicht überraschen, daß ich jetzt die Scheidungsklage gegen Dich wegen Ehebruchs durchführen werde.

Man muß nur wissen, daß Brecht – von September 1924 an ist er Dramaturg bei Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin – zu der Zeit längst mit und bei Helene Weigel lebt, die im November 1924 den Sohn Stefan gebiert. Doch nicht der Weigel, sondern Marianne Zoff schreibt er – da ist der Sohn drei Monate alt:

Du hast jetzt lange Zeit gehabt und Du mußt jetzt wissen, daß Du zu mir gehörst. Auf jeden Fall, Marianne. Ich habe keine Frau außer Dir und werde keine haben. Ich weiß ganz gut, daß Du am meisten Klasse hast von allen Frauen ringsum und doch am besten zu mir paßt. Ganz abgesehen davon, daß Du mein Kind hast, aber Du mußt mir ganz entschieden schreiben und ganz fest, hörst Du, ich habe große Lust, Dich wieder um mich zu haben, und Du fehlst mir sehr. Fortwährend. Ich habe auch keine Lust, mit jemand anderem zu schlafen.

Der wirrselige Zickzack – Marianne Zoff wird wieder schwanger; Brecht besorgt die Medikamente für die Abtreibung; die Ehe wird 1927 geschieden, wobei es zugeht wie bei Hempels: „Die Decke schickst Du zurück, das ist Diebstahl!“ – das wird hier nicht von einer Moralkanzel gedonnert; ich wüßte gar nicht, wie man diese Moral schreibt. Majakowski lebte mit einem Ehepaar, Ezra Pound mit zwei Frauen zugleich, das Paar Beauvoir/Sartre teilte sich kalenderexakt Damen und Herren gegenseitig zu, und Genet war, glaube ich, auch kein Herzchen: et après? Zu richten gibt es hier also gar nichts. Zu berichten einiges. Die seltsamen Widersprüche nämlich: Sind sie vielleicht Teil des Werks? Längst ist schon Fräulein Hauptmann hinter dem Vorhang, da wird auf der Zoff-Bühne noch dieses Stück gespielt:

Ich höre, Du denkst, ich wolle die Weigel heiraten, und es liegt mir daran, Dir mitzuteilen, daß ich das nicht will. Ich habe nicht vor, ein anderes Kind der Hanne gleichzusetzen, das weißt Du.

Zweieinhalb Jahre später heiratet Brecht Helene Weigel, und im Oktober 1930 wird ihr zweites Kind Barbara geboren. Doch als Marianne Zoff einem anderen Mann begegnet – beiläufig: Theo Lingen, den sie 1928 heiraten und der die Brecht-Tochter Hanne auf nobelste Weise durch die Nazizeit bringen wird –, da ist Brechts Stimme einem „Haltet den Dieb!“-Gezeter gleich; schrill und ziemlich unangenehm:

Ich bin vollkommen außer mir. Ich werde alles tun, um das Kind vor diesem Burschen in Sicherheit zu bringen […] Dein Verbrechen ist ungeheuer […] Immer noch sitzt der Bursche mit Hanne zusammen! Bist Du irrsinnig, mich so gegen Dich aufzubringen? Du kannst leben, mit wem Du willst. Nur mit mir nicht mehr. Nie mehr. Aber ich werde jetzt gerichtlich verhindern, daß Du den Aufenthalt Hannes je wieder bestimmen kannst.

Das ist das Interessante. Nicht Deckbett-Geschichten. Aber dies hier wird ja zu Politik. Von Moral und Sitte, wie gesagt, geht hier nicht die Rede. Aber von Gesinnung und Anstand. Brecht rutscht vor Erregung, daß er eines Besitztums verlustig geht, aus der Grammatik:

Es darf aber dann, wie ausgemacht, nicht das Gerücht entstehen können, Du hättest ein Verhältnis mit einem Mann!

(„Ja, soll ich denn ein Verhältnis mit einer Frau haben?“ würde Tucholskys Lottchen dazu sagen).
Es existieren inzwischen Bände mit Memoiren, Briefen, Chronisten-Aussagen und Tagebüchern, die allesamt diese entsetzliche Kluft zwischen dem Marx lesenden Prediger vom Ende der Ausbeutung und dem miesesten, verfügungstollen Ausbeuter seiner Frauen dokumentieren, der bei Marianne Zoff noch „Bert“ signiert; ihr Zeugnis ist so erschütternd wie das der Fleißer, die sich als „gewünschter Fänger für seinen Ball“ sah (und so deprimierend wie des Dichters Satz über die Liebe, es sei die Natur des Apfels, gegessen zu werden):

Daß Brecht ein Halbwahnsinniger, ein Halbnarr ist, ist schlimm. Noch schlimmer das Gerede der Leute, die sich anfangen darüber lustig zu machen. „Er scheine nicht mehr viel anderes im Kopfe zu haben, als neue Bücher zu füllen, immer neue Weiber, nur nicht von einer zwei Kinder. Von jeder eines, das ist lustig.“ […] Er tauscht ruhig mich und Hanne ein für ein neues Weib, neues Kind […] Aber soviel weiß ich, daß ich Tag und Nacht arbeiten werde, um nichts mehr nehmen zu müssen von einem Manne, der mir plötzlich fremder wurde als irgendeiner, von einem Narren, mit dem ich noch etwas Mitleid habe, denn sein Stern fängt an zu sinken. Er versagt, er fängt an abwärts zu gehen, und wie sein Tausch, so sein weiteres Leben. Seine Arbeiten werden nicht mehr viel sein, es wird ihm noch schlecht ergehen, trotzdem er sich für unverwundbar glaubt. Es fängt an mit ihm zu Ende zu gehen.

Das, 1927 geschrieben, war wohl ein Irrtum. Was seinem Werk nicht diente, wurde von Brecht nicht wahrgenommen: das gilt für Frauen; das gilt für die Politik. Das ist eines der verblüffendsten Erkenntnisse, die, stärker als jedes Lebensdokument, seine Briefe eröffnen. Der Erste Weltkrieg findet nicht statt. Kriegsende, Revolution, Ende des Kaiserreichs, Matrosenaufstand: kein Wort. Der letzte Brief des Jahres 1918 endet mit einer Beschimpfung des Theaterwissenschaftlers Arthur Kutscher, der erste des Jahres 1919 ist eine Verabredung zum Tanz und bald, Anfang 1920, heißt es so amüsiert wie distanziert:

[…] der Schwindel Berlin unterscheidet sich von allen andern Schwindeln durch seine schamlose Großartigkeit. Die Theater sind wundervoll: Sie gebären mit hinreißender Verve kleine Blasensteine. Ich liebe Berlin, aber m.b.H.

Es gibt köstliches Kinderaugenstaunen – „Ich singe vielleicht im Kabarett. Ich habe Streichhölzer, die an der Schuhsohle angehen!“ –, und es gibt Pläne, Intrigen, Hakeleien. Zeitgeschichte gibt es nicht. Die Münchner Räterepublik wird an den Freund und Arbeitsgenossen Bronnen nach Berlin wie eine lästige Grippe berichtet – von Mühsam und Toller, von Landauer und Levine kein Wort.
Im Zentrum von Brechts Arbeit steht – Brechts Arbeit. Er ist mehr und mehr besessen vom Realisieren seiner Träume; bei einem minderen Talent könnte man wohl von Karrieresucht sprechen. Im Falle des jungen Stückeschreibers ist es Sehnsucht, sich und seine Entwürfe eines neuen Theaters zu verwirklichen. Die Bitte an Herbert Ihering, doch zu seiner ersten Premiere, der Uraufführung von Trommeln in der Nacht, nach München zu kommen, klingt fast kläglich. Zumindest flehentlich:

Ich weiß genau, was ich Ihnen damit zumute, aber es hängt davon für mich außerordentlich viel ab. Seit Berlin nichts mehr wagt, ist es verdammt schwer, wesentliche Kritik zu einer Zeit zu hören, wo man sie am nötigsten braucht.

Den Premierentermin konnte der einflußreiche Kritiker des Berliner Börsen-Courier nicht einhalten; aber zwölf Tage später, am 5. Oktober 1922 erschien jene Rezension, die in die Literaturgeschichte eingegangen ist als Entdeckung Brechts, der ein „geniehafter Mensch“ genannt wird. Sie wird stets verbunden bleiben mit dem Namen des Kerr-Gegners Ihering:

Der vierundzwanzigjährige Dichter Bert Brecht hat über Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands verändert. Mit Bert Brecht ist ein neuer Ton, eine neue Melodie, eine neue Vision in der Zeit.

Von da an gibt es Bertolt Brecht, der bald – nach Bronnens kollegialem Verzicht – Kleistpreisträger ist, dessen Gedichte und Stücke mehr und mehr diesen neuen Ton beglaubigen. Verändert ist auch der Ton der Briefe – nicht selbstbewußter (denn selbstbewußt war Brecht immer), aber selbstsicherer; er weiß jetzt, daß auch andere wissen, was er von sich stets schon wußte. „Glauben Sie mir, das Theater ist wirklich tot“, schreibt er 1926 an Fritz Kortner, und meint damit das alte Bürgertheater, in dem der von ihm verehrte Kortner nicht spielen sollte. Es ist einer der großen, nahezu programmatischen Briefe Brechts, der im Abwehren falsch befundener Positionen die eigene definiert:

Ich denke, Sie wissen wie ich, daß das nicht lebendiges Theater war (denn leben ist keine bloße Niveaufrage), ich wünschte, Sie wüßten es wie ich. Ich glaube zuversichtlich (und kann ohne diesen Glauben schlecht arbeiten), daß jene Leute, die sich lohnen, alle merkten, daß es tot war, und ich glaube, Sie selber wußten es. Sie selber haben unvergleichlich Besseres gemacht, und es ist nötig, daß Sie das wissen. Die ewigen Mittelschüler mit ihren Frauen, die heute das Publikum ausmachen, kauen natürlich geduldig und folgsam diese großen Schinken schlechter Rasse. Das soll uns nicht abhalten.

Im selben Jahr schreibt er auch an Jessner, dessen Regie-Ansatz ihm nur überschminkte Altbackenheit ist, und an Ihering, dem er seine Vorbehalte gegen das vorherrschende Theater präzise erläutert:

Und selbst, wenn Sie glaubten, daß etwa der einzige Ansatz einer Theaterauffassung, nämlich der Jessners, so etwas wie ein neues für die Städte dieses Jahrhunderts genügendes Theater ergeben könnte, müßten Sie diese Ansicht durch den Verzicht auf die Entstehung neuer Theaterwerke erkaufen; denn bis jetzt hat dieser Stil ältere Werke bis zur Unkenntlichkeit verarmt (nicht verändert!) und neuere uralt aussehen gemacht. Das Prinzip, mit möglichster Breite vorzugehen, ist gut, solang man weiß wohin, aber ich müßte mich sehr täuschen, wenn nicht jetzt sehr bald die Zeit jener sichtbaren Ermattung käme, wo Opposition machen nicht Beiseite-gelassen-Werden bedeutet. Nichts ist gefährlicher als die Verschwendung neuer Prinzipien an alte hoffnungslose Bankerotte und die krampfhafte Fortführung der Tradition über Standardwerke hinweg. Vom heutigen Theater ist nichts mehr zu retten, und je relativ besser es arbeitet, desto absoluter ist es zu bekämpfen.

Man muß sich vergegenwärtigen: Das ist Jahre vor dem Dreigroschenoper-Erfolg geschrieben, sogar zwei Jahre vor der Arbeit am Fragment gebliebenen Fatzer, als er der Weigel von Augsburg nach Berlin einen seiner sonderbaren pädagogischen Ratschläge gab:

Dieser Fatzer ist ein harter Bissen […] Kannst Du Steff nicht mal zur Unterhaltung kahlscheren mit einer Maschine auf 3–5 Millimeter? Dadurch gewöhnt er sich an eine Kopfform!

Theoretisch im Sinne einer Gesellschaftstheorie, gar einer marxistischen, gibt es zu dieser Zeit noch keine Position Brechts; die erbarmungslose Abfuhr, die er Willy Haas für eine Umfrage über den Dichter George erteilt – „Ich selber wende gegen die Dichtungen Georges nicht ein, daß sie leer erscheinen: ich habe nichts gegen Leere. Aber ihre Form ist zu bombastisch. Seine Ansichten scheinen mir belanglos und zufällig, lediglich originell […] Die Säule, die sich dieser Heilige ausgesucht hat, ist mit zuviel Schlauheit ausgesucht, sie steht an einer zu volkreichen Stelle, sie bietet einen zu malerischen Anblick […]“ – diese Abfuhr führt lediglich Geschmacksargumente ins Feld.
Im selben Jahr, 1928, bittet er Bernhard von Brentano, ihm eine kleine Sammlung von Literatur zusammenzustellen, aus der man als Intellektueller die Grundzüge der materialistischen Dialektik studieren kann, diskutiert mit Piscator, und erst ein Riesensprung ins Jahr 1932 zeigt die Rigorosität des „Maßnahme“-Lehrstücks, dessen heikle zentrale These, die Tötung eines unnütz gewordenen Genossen, Brecht in einem Brief ans Proletarische Theater in Wien interpretiert:

[…] Die Tötung ist ja nur der gleichnishafte, äußere Ausdruck für die Tatsache, daß der junge Genosse es mit seinen Fehlern so weit gebracht hat, daß es besser ist, ohne ihn zu kämpfen als mit ihm.

Doch Brechts Rigorosität ist ein Leben lang theoretisch geblieben. Diese Briefe des ersten Lebensabschnitts führen zweierlei auf verblüffende Weise vor: Der Schriftsteller Bertolt Brecht ist schon ganz fertig; eine Entwicklung wird es nur noch in Variationen und im Ausprobieren von Modellen geben, deren Entwurf feststeht. Und: Mit gesellschaftlicher Realität hat dieser Autor wenig zu schaffen; sie vollzieht sich außerhalb seines eigentlichen Systems. Der beginnende Nationalsozialismus ist in keinen drei Zeilen dieser Briefe zu finden, und wenn er im März 1933 den zeitlebens verhaßten Thomas Mann – selbst in einem Gratulationsbrief ist die Anrede „Sehr geehrter Herr Dr. Mann“ natürlich noch eine Gemeinheit – beglückwünscht zu dessen Rede auf dem Kulturkongreß „Das freie Wort“, in der der Buddenbrooks-Autor sich zum Sozialismus bekannte, Februar 1933, dann hebt Brecht vor allem hervor, daß dadurch „die deutsche Literatur ihr Gesicht wahrt“.
Die Briefe bieten ein frappantes Nichts, eine absurde, bestürzende Leere, wenn man sich Militanz oder auch nur Ekel eines radikalen Antifaschisten erwartet. Briefbände von Autoren, die dem Marxismus weit entfernt gegenüberstanden – ob des Royalisten Joseph Roth, des Radikaldemokraten Kurt Tucholsky oder des Bürgers Hermann Hesse – geben geschichtlich genauere Auskunft über den Krebs, der da wuchs. Der letzte Brief aus dem Februar 1933, zu einem Zeitpunkt, zu dem das Wort „Anzeige“ bereits einen Blutgeruch hatte, ist die Bitte um ein Arrangement, daß die eigene Lesung in Wien durch Karl Kraus „angezeigt“ werde. Und der erste Brief an Helene Weigel aus Paris, Mai 1933, liest sich nun wahrlich wie eine Bestätigung von Gottfried Benns höhnischem Verdikt der Emigranten, die es sich in ihren Riviera-Orten wohlsein ließen:

[…] ich bin gut hergekommen und schon mitten in der Arbeit mit Weill. Das wird, hoffe ich, schnell gehen. Wenn es klappt, bekomme ich von der Londoner Aufführung noch Tantiemen. – Hier ist es sehr warm, alles schon grün. Bekannte noch niemand getroffen. – Wohnungen sind billig, nur unmöbliert, morgen gehe ich mir welche ansehen. Wenn man wüßte, wieviel es kostet, die Möbel herzuschaffen? Die Stadt ist eben wenigstens groß, Kinos, Theater, Einwohner, Autos usw. Und auch Gelegenheit zu verdienen. Balletts, Film, Theater. Das Leben (Haushalt) sehr billig. Man müßte so im Oktober hergehen.

Mit diesem Brief beginnt gleichsam das zweite Leben des Bertolt Brecht. Es ist das Leben eines deutschen Schriftstellers in der Emigration, der eben erst den Zipfel des Ruhms, des Erfolgs erhascht hatte, gleichsam noch ein Versprechen war – und der weder den Schutz des Weltruhms eines Thomas Mann genoß noch die Sekurität von Freund Feuchtwangers Vermögen. Als offenbare Erschwerung dieser von nun an für Jahre unbehausten Existenz – „öfter die Länder als die Schuhe wechselnd“ – kommt Brechts eigenartig libertinäres Privatleben hinzu; fast immer lebte er ja mit mehreren Frauen gleichzeitig (womit die Partnerinnen sich einzurichten hatten) – was in einer Situation ständiger Geld- und Wohnungsnot, von Visa-Problemen und Postschwierigkeiten oft kaum zu bewältigen war. Mal mußte sich die Ehefrau Weigel um Transitvisen für eine Geliebte kümmern, mal eine Geliebte sich um das Kind einer anderen, dann wieder die eine seine Arbeitsunterlagen von einer anderen herbeischaffen. Brecht war durchaus besorgt um das Schicksal seiner Frauen, und nicht nur die steinschwere Trauer um die in Moskau – auf der Flucht von Skandinavien in die USA – schwerkrank zurückgelassene und dort verstorbene Margarete Steffin zeigt das; diese Bindung fand ja ihre schönste Würdigung dann in den Steffinischen Gedichten.
Aber bei aller gelegentlich rührenden Fürsorglichkeit und Anteilnahme demonstrieren Brechts Briefe doch deutlich ein nahezu grausames Kopernikanisches – vielleicht sollte man besser sagen: Galileisches Weltbild; der Kosmos des Bertolt Brecht hatte ein Zentrum, um das alles andere, dienend, gruppiert war – und dieses Zentrum hieß: Bertolt Brecht. Das hat ein Element von Geschlossenheit, Schönheit gar; es hat auch ein Element von Eisigkeit, Unberührbarkeit. Die sterbende Geliebte in Moskau und der zum Schiff nach Amerika weitereilende Liebhaber (obwohl ja dem Sozialisten Brecht auch die Sowjetunion Exil gewährt hätte; nur mochte der im gepriesenen Vaterland der Werktätigen nicht leben) – ist das nicht eine Szene von Bertolt Brecht, nur umgedreht? Birgt sie nicht die Unbarmherzigkeit, die wir kennen aus seiner szenischen Studie „Die jüdische Frau“? Selbst Brechts Nachforschungen nach der früheren Geliebten und stets hochgeschätzten Schauspielerin Carola Neher – Klabunds Ehefrau – bleiben befremdlich lahm, und daß es den Freund Tretjakow eines Tages nicht mehr gibt, wird knapp und verständnislos notiert.
Hier ist zweierlei zu sagen: Brechts immer und immer wieder die Sowjetunion verteidigende Haltung, selbst noch in der Debatte mit seinem Freund Korsch, der deutlicher und rationaler urteilte, ist auch unter Berücksichtigung aller Wenns und Abers nicht zu verstehen; nicht zu akzeptieren. Das taktische Gutheißen des Hitler-Stalin-Paktes vielleicht, das Zudecken der gerade ihm – weil viele Freunde betroffen waren – kenntlichen Stalin-Verbrechen nicht. Ein vergleichbares Versagen der politischen und damit der moralischen Urteilskraft hätte gerade Brecht keinem anderen je verziehen.
Im Arbeitsjournal findet man unter „Januar 1939“ diese Eintragung:

auch kolzow verhaftet in moskau. meine letzte russische verbindung mit drüben. niemand weiß etwas von tretjakow, der „japanischer spion“ sein soll. niemand etwas von der neher, die in prag im auftrag ihres mannes trotzkistische geschäfte abgewickelt haben soll. reich und assja lacis schreiben mir nie mehr, grete bekommt keine antwort mehr von ihren bekannten im kaukasus und in leningrad. auch bela kun ist verhaftet, der einzige, den ich von den politikern gesehen habe. meyerhold hat sein theater verloren, soll aber opernregie machen dürfen. literatur und kunst scheinen beschissen, die politische theorie auf dem hund, es gibt so etwas wie einen beamtenmäßig propagierten dünnen blutlosen proletarischen humanismus […] für die marxisten außerhalb ergibt sich ungefähr die stellung wie die marxens zur deutschen sozialdemokratie. positiv kritisch.

Brecht hat es sich nicht leicht gemacht mit diesem „positiv-kritisch“. Das blieb die Maxime stets für seine Auseinandersetzung mit kommunistischen Parteien jeglicher Couleur. Wo und wann es ging, entzog er sich allerdings solchen Tagesdebatten – ähnlich intensiv und gründlich wie etwa die Diskussion über Lukács und den Realismus-Begriff hat er ein Gespräch über Politisches nie geführt. Auch theoretische Erkenntnisse waren für ihn nur Produktionsmittel für die eigene Arbeit.
Die Zeit des Verjagtseins war Brechts bitterste – und seine fruchtbarste; wir finden sie festgehalten in lyrischen Notaten von Lügenverkäufern in Hollywood oder in seinen von trotziger Hoffnung getragenen „Gedanken über die Dauer des Exils“:

Schlage keinen Nagel in die Wand
Wirf den Rock auf den Stuhl.
Warum vorsorgen für vier Tage?
Du kehrst morgen zurück.

Laß den kleinen Baum ohne Wasser.
Wozu noch einen Baum pflanzen?
Bevor er so hoch wie eine Stufe ist
Gehst du froh weg von hier.

Das wars: Amerika war für Brecht keine Emigration, sondern Exil; Durchgangsstadium, Arbeitslager fast. Die schon in Dänemark oft flehentlich klingenden Bitten um Besuch an Korsch oder Eisler oder Walter Benjamin dokumentieren eine monologische, gesprächslose Lebenssituation. Die Zeit in Amerika wirft Brecht, obwohl Freunde wie Feuchtwanger und Eisler in der Nähe, geschätzte Künstler wie Chaplin gar am selben Ort tätig sind, ganz auf sich selbst zurück. Über einen ungeliebten Nachbarn notiert er, „Thomas Mann treffe ich höchstens zufällig, und dann schauen 300 Jahre auf mich herab“.
Kurz zuvor hatte Brecht an Karl Korsch geschrieben:

Im hintersten Finnland war ich nicht so aus der Welt. Die Feindschaften gedeihen hier wie die Orangen und haben wie die keine Kerne. Die Juden werfen sich gegenseitig Antisemitismus vor, die arischen Deutschen beschuldigen sich des Philodeutschismus. – Döblin spricht mitunter von daheim und meint damit Frankreich.

Die geschminkte Schönheit Kaliforniens ekelt Brecht, wie seine geschönten, aber pappenen Früchte. Der Mann, der schon in jungen Jahren Chicago besungen und ein künstlich-amerikanisches Mahagonny erfunden hatte, nimmt Amerika nicht wahr. Weder die Landschaft noch die Gesellschaftsstruktur, nicht die Rockies und nicht die Weizenbörse kommen vor. Für Brecht ist die gesamte Exilzeit nur Wartestand; wie es das Exilgedicht formuliert: er ist vollkommen sicher, eines Tages wieder in Deutschland zu sein – darauf arbeitet er zu.
Der letzte Brief vor Kriegsende berichtet Ruth Berlau – „ich arbeite wieder am Galilei, Manifest, dem Gorelik-Stück“. Der erste Brief nach Deutschlands Kapitulation (die mit keiner Silbe erwähnt wird, so wenig wie etwa Hitlers Tod im zerschossenen Bunker der Reichskanzlei) geht an Piscator und beginnt mit dem Satz „Das Ekelhafte ist, daß man bei dieser Zeitnot gar keine Möglichkeit hat, theoretische Dispute wirklich durchzudenken“. Und noch in New York, im Oktober 1946, schreibt er an Caspar Neher:

Angenehm wäre es, in Berlin zum Beispiel das Theater am Schiffbauerdamm wieder zur Verfügung zu haben.

Bertolt Brechts viertes Leben hat begonnen, sein letztes Lebensjahrzehnt. Er ist jetzt ein Mann von 48 Jahren, mit 36 hatte er Deutschland verlassen. Die Briefe dieser Jahre lesen sich, als wüßte Brecht, wie wenig Zeit er noch hat. Auf frappante Weise sind sie von einem anderen Ton getragen: geschwinder, knapper, härter. Brecht explodiert fast vor Plänen und Programmen. Er hat das Gepäck voll ungespielter, unbekannter Stücke, Skizzen, Entwürfe, Gedichte. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß alle bedeutenden Arbeiten des reifen Brecht im Exil entstanden sind. Nach seiner Rückkehr werden sie realisiert, neue wesentliche Texte entstehen kaum. Das Neue ist seine Form des Theaters. Brechts Briefe zischen förmlich vor Begierde, sein Theatermodell vorzuführen; die energisch und listenreich betriebene Rückkehr steht vollkommen unter diesem Aspekt. „Anna Seghers erzählte eben von Berlin“, schreibt er im November 1947 aus Paris an Ruth Berlau in New York „es ist klar, man muß eine Residence außerhalb Deutschlands haben.“ Keineswegs stehen die Zickzackreisen im zerstörten Nachkriegseuropa nur unter dem unguten Stern von Paßlosigkeit und Visazwängen; das Chaos der notwendigen oder fehlenden Reisepapiere war das eine – das andere aber Brechts Erkenntnis, daß er sich und seine Arbeit dem Zugriff irgendeiner Parteiung im rasch vereisenden Kalten Krieg entziehen muß. Immer wieder betont er, daß er sein Theater überall gespielt sehen will – und die ersten großen Erfolge kommen auch in Zürich, München, Italien. Die Intrige, mit der er sich schließlich die österreichische Staatsangehörigkeit – als Ehemann der früheren Österreicherin Helene Weigel und möglicher Autor der Salzburger Festspiele – verschafft, ist genauso geplanter Teil dieser Strategie – so, wie sein früherer Beschluß, den westdeutschen, damals noch in Westberlin residierenden Peter Suhrkamp zu seinem Originalverleger zu wählen.
Die Kraft und der Geschwindschritt der Nachkriegsbriefe verschlagen dem Leser fast den Atem – man nimmt teil daran, wie die Ernte eines groß angelegten Lebens eingebracht wird. Endlich in Ostberlin verankert, hagelt es Briefe an alle Freunde und Kollegen, die Brecht zur Mitarbeit auffordert. „Die Lebensweise hier ist angesichts der vielen Privilegien für Künstler nahezu völlig normal, und das geistige Klima ist unvergleichlich“, schreibt er an Caspar Neher, der schließlich auch die Bühnenausstattungen für die wichtigsten Inszenierungen Brechts machen wird. Ob Kortner oder Piscator, die Giehse oder Strehler, Eisler oder Berthold Viertel – Brecht wirbt unermüdlich. Der Standort Ostberlin ist keineswegs nur Lokal eines Brechtschen Opportunismus; man muß sich klarmachen, daß – bis auf wenige Ausnahmen wie Alfred Döblin – ausnahmslos alle namhaften Schriftsteller der antifaschistischen Emigration nach Ostberlin beziehungsweise in die damalige sowjetische Besatzungszone zurückkehrten; von Erich Arendt bis Arnold Zweig das Alphabet hindurch – Ernst Bloch und Hans Mayer, Stephan Hermlin und Anna Seghers und Johannes R. Becher; Heinrich Mann starb kurz vor der fest geplanten Übersiedlung. Es war die Zeit, in der auch die sowjetischen Besatzungsbehörden, repräsentiert durch hochkultivierte Philosophie- und Germanistikabsolventen, den Künstlern jede erdenkliche Unterstützung gaben. Diese Privilegien, und dieses geistige Klima meinte Brecht – beides hatten ja die deutschen Emigranten zwölf Jahre nirgendwo erfahren, nicht in Moskau oder Mexiko, Hollywood oder Bogotá.
Besonders die Briefe seiner Ostberliner Zeit zeigen: Sozialismus war für Brecht keine Attitüde wie etwa seine reichlich prätentiös gepflegte Ärmlichkeit; der zu lange graue Kittel, dem on dit nach bei teuersten Schneidern gearbeitet, trug ihm das Spottwort vom proletarischen Stefan George ein, statt Samtbarett Schiebermütze. Das zählt zu den leicht lächerlichen Eitelkeiten, von denen Brecht keineswegs frei war: Allen Ernstes ergrimmt beschwert er sich bei Friedrich Wolf, daß der in einem Brief Bertolt mit d geschrieben hat – und muß sich vier Wochen später bei eben diesem Kollegen nicht nur für die Falschschreibung von dessen Namen in einer Publikation entschuldigen, sondern auch – darüber nun eher amüsiert – zugeben, Honecker mit zwei gg geschrieben zu haben, womit er sich „das Wohlwollen der FDJ zu einem erheblichen Teil verscherzt“ habe. Briefe bewahren eben auch derlei Anekdotisches.
Aber die Briefe von Brechts allerletztem Lebensabschnitt bewahren, besser: offenbaren etwas Wichtigeres: Er lebte bewußt, grundsätzlich bejahend und in kritischer Solidarität verbunden in der DDR. Brecht war nie Mitglied einer Partei, also auch nicht der SED – aber deren Funktionäre waren seine Genossen. Mir scheint, daß die Kenntnis, auf diese Weise in einem unauflöslichen Konflikt zu leben, sein Leben verkürzt hat. Mehr und mehr, ob nun in Kämpfen mit der DEFA-Filmbürokratie, die ihn wie einen Debütanten behandelte, schlimmer und uneinsichtiger als seinerzeit seine Prozeßgegner beim Dreigroschenoper-Film; ob Kultusministerien oder andere der zahllosen Kulturverhinderungsgremien: Brecht lebte ziemlich bald in Dauerfehde mit der Parteihierarchie, die er gleichzeitig verteidigte und zu der er, zumindest nicht in Adenauer-Deutschland, keine Alternative sah. Vom Verbot der Barlach-Ausstellung bis zu den Eingriffen in seine Lukullus-Oper und der zeitweisen Vertreibung des Freundes Eisler (immerhin Komponist der DDR-Nationalhymne) – Brecht versucht Maßnahmen und Verhaltensweisen zu akzeptieren, die er nicht einsehen kann.
Bertolt Brecht, nun über 50, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes und lebend in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung – „Klo auf halber Treppe“ – verteidigt in einem langen Brief an Peter Suhrkamp die Niederknüppelung des Aufstandes vom 17. Juni 1953, gipfelnd in der für einen Schriftsteller plebejischer Tradition verqueren Formulierung: „Der Bürgersteig übernahm die Regie“; aber er schreibt zugleich an den DDR-Regierungschef:

Werter Genosse Grotewohl,
überall steht dem Neuen Kurs gegenwärtig noch die Steifheit der Verwaltungsbehörden im Wege. Könnte man die verschiedenartigen Umgestaltungen nicht erleichtern, und einen gewissen Schwung hineinbringen? In den Rundfunk, in den DEFA-Film usw. bis zum Heringsfang. (Die Fischer der Ostsee, höre ich, versäumen die Heringsschwärme, weil sie nach Terminen ausfahren müssen – die den Heringen natürlich nicht bekannt sind.)

Es bleibt nicht bei solch mühsamem Humor; der Ton von Brechts Brief an den Volksbildungsminister Paul Wandel vom August 1953 ist der eines Anti-Dekrets:

2) Die Kunstkommission hat es nicht verstanden, einen einzigen Freund unter den Künstlern zu gewinnen – auch nicht unter denen, die der Sozialistischen Einheitspartei angehören, wie die Beratungen der Akademie gezeigt haben –, sie hat es sogar fertiggebracht, die fortschrittlichen Prinzipien nahezu in Verruf zu bringen […]

6) Eine Aufrechterhaltung der Kunstkommission würde keinesfalls als Festigkeit, sondern nur als Sturheit betrachtet werden, als Unnachgiebigkeit nur gegen die Vernunft. In der Tat, was für einen Sinn könnte es haben, ein schleichendes Unbehagen zu verewigen, ein jedes Schaffen bedrückendes Gefühl des Ausgeliefertseins an eine übermächtige Institution, die es nicht versteht, ihre Forderungen verständlich zu machen?

Brecht wird es vermutlich nicht als großen persönlichen Triumph verbucht haben, daß diese unseligen Behörden tatsächlich bald aufgelöst wurden; genug Zement deckte, grau und plattenschwer, noch immer jedes Hälmchen und Keimen neuer, ungebärdiger Kunst zu. Wer Brecht in diesen Jahren kannte, weiß, wie verbittert und resigniert da einer war, der sich zwar noch voller Anteilnahme bei der Geliebten Ruth Berlau erkundigte, ob sie auch weiter alles tue, den Pfirsichteint zu erhalten, oder Helene Weigel anflehte, mehr Rücksicht auf sich selber zu nehmen; der aber seine Fähigkeit zur Güte nicht auf sich selber anwandte, sich nicht schonte; der auch in seinem 57. Lebensjahr, ein Jahr vor seinem Tode, wohl wußte, daß der Kampf ihn verzehrt hatte – da schrieb er an die Akademie der Künste die Sätze:

Im Falle meines Todes möchte ich nirgends aufgebahrt und öffentlich ausgestellt werden. Am Grab soll nicht gesprochen werden. Beerdigt werden möchte ich auf dem Friedhof neben dem Haus, in dem ich wohne, in der Chausseestraße.

Bertolt Brecht

Brechts Tagebücher 1920–1922 und die Autobiographischen Aufzeichnungen 1920 bis 1954 sind noch einmal beides zugleich: Annäherung und Entfernung. Sie haben etwas Schwebendes, Dünnes, Gläsernes. Ein betörend kunstvolles Ballett – das eine Person tanzt. Kein pas-de-deux. Ein Solo, auf sich zu, von sich weg. Wieder der junge Mann, der im Schlafzimmer den Gipsabdruck seines eigenen Gesichts hängen hat, und der dies Gesicht gleichzeitig „ein kreditiertes Versprechen“ nennt; der, hat er Kopfweh, fragt:

Wer ist das, der da Kopfweh hat?

Die ständige Spannung zwischen Sprödigkeit und Güte, nachtschwarzer Einsamkeit und glimmendem Hoffen, Hohn, Haß und Freundlichkeit, macht die frühen Tagebücher zu einem hinreißenden Lesevergnügen. Eine Lektüre gleich der von Brechts großen Gedichten. Die dramaturgische Vivisektion des eigenen Lebens – und, wie eine haarfeine Nadel jede Erschütterung anzeigend, der eigenen Kunstleistung. Noch sehr viel eindringlicher als im Arbeitsjournal – weil dort vorsichtiger, witternder – offenbart sich in diesen frühen Aufzeichnungen die hautenge Dialektik zwischen Brechts Lebens- und Kunstbegriff. Es gibt einen einzigen Satz, der in diesen Notizen zweimal auftaucht, die Achse des Buches gleichsam: Meier-Graefes Dictum über Delacroix, bei ihm habe ein heißes Herz in einem kalten Menschen geschlagen. „Und das ist im Wesentlichen eine Möglichkeit der Größe“, heißt Brechts Kommentar. Das klingt, zumal gefolgt von einem Beschwören der Ethik der Technik in der Kunst, wie ein Bekenntnis – scheinbar; denn dieser Gestus des sich Entzingelns statt zu umzingeln; der Entfernung statt Annäherung, des kühlen Reservats durchzieht sein Leben. Einerseits. Und andrerseits eine Haltung großer Trauer. Sie ist es, aus der Brechts Kunst entsteht. Es bleibt bei den Tagen, „leer wie ausgespiene Pflaumenhäute“. Es bleibt bei dem Grau der Vergeblichkeit. Es führt, immer wieder und immer neu errungen, zu etwas, das sich wohl nur im Paradoxon begreifen läßt: Ratio des Gefühls; Betroffenheit des Hirns. Jener Verkrochenheit ins Vergebliche („Es gibt keine Sprache, die jeder versteht. Es gibt kein Geschoß, das ins Ziel trifft“) steht eine Traurigkeit entgegen, die produziert; eine positive Trauer:

Man hat seine eigene Wäsche, man wäscht sie mitunter. Man hat nicht seine eigenen Wörter, und man wäscht sie nie. Im Anfang war nicht das Wort. Das Wort ist am Ende. Es ist die Leiche des Dinges. Was ist der Mensch für ein merkwürdiges Geschöpf! Wie er Dinge in seinen Leib tut, in Regen und Wind herumtrabt, aus Menschen junge kleine Menschlein macht, indem er mit ihnen verklebt und sie mit Flüssigkeit anfüllt, unter Wonneächzen! Lieber Gott, laß den Blick durch die Krusten gehen, sie durchschneiden!

Um diese beiden Pole kreisen die frühen Eintragungen, deren sprachliche Dichte geradezu bestürzend ist: Inseleinsamkeit, Leben als Entziehungskur, Kälte gar; und eine große Schwäche – für Leben, für Nähe, für Zeugen. Dem deklarierenden Nicht-Mitglied der song-haften Härte „ich habe keine besondere Wertschätzung für die Leute“ steht sofort die Rücknahme entgegen:

Warum kann ich nicht über Leute schreiben, die ich liebe?

Derlei zeigt jenen Brecht, von dem Arnolt Bronnen einmal sagte:

Er vervielfacht sich dauernd.

Brecht war wie ein Kind, er wollte alles haben, möglichst alles auf einmal – was er sah, wovon er hörte, Frauen, Glück, Rausch, Liebe, Ungebundenheit, Gebundenheit, Geborgenheit, Einsamkeit:

Freilich, ich will Timbuktu und ein Kind und ein Haus ohne Tür und will allein sein im Bett und mit einer Frau im Bett, die Äpfel vom Baum und das Holz vom Baum und keine Axt führen und den Baum mit Blüten, Äpfeln, Blattwerk in Großaufnahme vor meinem Fenster! Und einen Knecht zum Düngen dazu.

Diese sinnliche Unersättlichkeit zügelt Brecht durch – Nerven. Seine Moral besteht aus Fühlern, seine Beobachtungsdistanz ist die einer Spinne, die die Welt verpuppt und verdaut, indem sie ein so hauchfeines wie kunstvolles Netz um sie garnt. Wenn er das Medium zwischen Zuschauer und Bühne „die Sehnsucht, zu sehen“ nennt, dann ist eben jene artistisch-zeremoniöse Distanz früh formuliert, die später das Wort „fremd“ zum Inhalt bekommt. Das ist auch „Vervielfachung“. Wie Analyse des eigenen Lebens. Bestimmte Bibelworte, sagt Brecht, gingen einem unter Schauern unter die Haut – wie beider Liebe. Leben gerinnt zu Kunst, nein: wird gerinnen gemacht, durch Kühle. Als Bronnen nach der Niederschrift des Stückes Im Dickich der Städte zu ihm sagte:

Bert, das bist du. Aber du bist durch ein Gestrüpp von Rimbaud, Baudelaire und Villon hindurchgekrochen, Fetzen von Dir, von diesen hängen durcheinander. Was wolltest Du sagen?,

meinte Brecht:

Den letzten Satz. „Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit.“

Und der Satz von den Bibelworten fällt nach einer großen reflektorischen Passage über Schwäche und Stärke, über biegsame Leute und Entweder-Oder-Menschen, die „treiben alles zum Äußersten, sie haben Haltung aus Angst vor ihren gläsernen Herzen. Kurz: es sind arme Leute.“ Das liest sich fast wie das Ergebnis einer bewußten Komposition – wann immer sich Definitionsversuche zu Kunstproblemen finden, stehen sie in unmittelbarer Nähe erbarmungslos-scharfer Analysen – meist der eignen Person. Jener Satz von der Beziehung zwischen Zuschauer und Bühne etwa genau vor dem aggressivsten Porträt eigener Verlogenheit und Eitelkeit, Schnödigkeit gegen eine Frau. Heraussiebt Brecht („für einen starken Gedanken würde ich jedes Weib opfern, beinahe jedes Weib“) stets das Artefakt, wobei er das Kulinarische keinen Augenblick außer acht läßt, sich etwa als zu unreif für einen Roman bezeichnet, der ein gewaltiges Freßfest aller Sinne voraussetzt. Das ist es wohl auch, was ihn die eigne Kunstproduktion wesentlich als Prozeß, nicht als Resultat sehen läßt. Schon der Jüngling findet Formulierungen, die sich fast wörtlich im „Organon“ des reifen Schriftstellers finden; schon der junge Mann begreift sich lediglich als einen, der Vorschläge macht.
Aber er sieht auch, daß das Wesen der Kunst Einfachheit, Größe und Empfindung ist – das Wesen ihrer Form Kühle. Wie eng ineinandergezwirnt das ist, das zeigt das hoch pathetische Wort, das Brecht in seinen Tagebüchern, ein einziges Mal, benutzt. Er setzt es ein zu einem Stück von Shakespeare, das ihn „ergriff“. Eben diese kühle Form bekam dem reifen Brecht schlecht, als er nach Paß- und Visa-Wirren (er mußte am 20. Oktober über Prag reisen, weil er die amerikanische Zone nicht passieren durfte) „nach Hause“ kam.

Als Bertolt Brecht im Herbst 1949 in Berlin eintraf – anfangs in einem provisorisch hergerichteten Flügel des ausgebrannten Hotels Adlon wohnend – war es das Ende einer Irrfahrt: eines berühmten Unbekannten. Die Jahre des amerikanischen Exils sind zwar die fruchtbarsten des durch den Erfolg der Dreigroschenoper (Uraufführung 31. August 1928) wohlhabenden Stückeschreibers Bertolt Brecht – doch seine Texte bleiben angedruckt, ein Hollywood-Script wird abgelehnt, einzig der Galilei mit Charles Laughton – in dessen Limousine mit Chauffeur Brecht zweimal das Land durchquert – wird aufgeführt. Ansonsten: Mal lesen in einem jüdischen Club Ernst Deutsch, Fritz Kortner und Helene Thimig seine Gedichte, mal versammeln sich bei ihm unter dem Weihnachtsbaum (1941) Elisabeth Bergner, Paul Czinner, Marta und Lion Feuchtwanger, Alexander Granach und Fritz Lang. Die Hausherrin, Helene Weigel, eine der Großen ihrer Zunft, erhält in all den Jahren in den USA ein Mal eine stumme Rolle.
Brecht, dessen Ästhetik unbegriffen und dessen Gesinnung verdächtig ist, verläßt Amerika am Tage nach seinem Verhör durch das Committee on Un-American-Activities. Er schifft sich ein nach Europa, das in Trümmern liegt, in dem er keine Heimstatt hat: keinen Paß, kaum Geld, keine Bühne, (noch) keinen Verlag. Er sitzt in Zürich, versucht dort Theater zu machen, eine Antigone in Chur, Überlegungen zum Puntila in Zürich, Gespräche mit den alten Gefährten: Caspar Neher, Therese Giehse, Ruth Berlau, Oscar Fritz Schuh – und Gottfried von Einem.
Zur Komik gehört Brechts ernsthafter Versuch, einen „Salzburger Totentanz“ zu schreiben. Zum Nicht-mehr-Komischen gehört, daß noch Jahre später – Brecht hatte seit dem 12. April 1950 die österreichische Staatsbürgerschaft – die chronisch reaktionäre Wiener Presse tobte: „Kulturbolschewistische Atombombe auf Österreich abgeworfen“ oder „Wer schmuggelte das Kommunistenpferd in das deutsche Rom?“ durfte man da lesen.
Nachdem der Marxist Brecht der Einladung gefolgt war, in Ost-Berlin zu leben, wo man ihm ein eigenes Theater versprach, begann die graue Dämmerung einer immer wieder weggeschobenen Enttäuschung: Schon anläßlich seiner Begrüßung im Clubhaus des Kulturbundes (Enklave der privilegierten Ost-Intelligenz, makabrerweise im Palais des ehemaligen Papenschen „Herren-Clubs“) notierte er:

Ich selber spreche nicht, entschlossen […] nicht aufzutreten.

Auftreten konnten dann seine großartigen Schauspieler, die Weigel feierte Triumphe als Mutter Courage (Premiere 11. Januar 1949) – doch irrt, wer annimmt, Brecht sei mit offenen Armen in der jungen DDR aufgenommen worden. Schon in den späten zwanziger Jahren galt er, zusammen mit Ernst Bloch, John Heartfield oder Alfred Döblin, als „Formalist“, dessen Arbeit dem „realistischen“ Ästhetikmodell nicht entsprach. Bereits zwei Wochen nach der Courage-Premiere das Berliner Ensemble gastierte noch in Langhaffs Deutschem Schauspielhaus, das Theater am Schiffbauerdamm („die Putten im Zuschauerraum lassen wir, damit es nicht aussieht, als hätten wir zu große Illusionen“) wird erst 1954 bezogen – erfolgt der erste Angriff des alten Kontrahenten Friedrich Wolf, gleich darauf vertritt der Kritiker Fritz Erpenbeck die Parteilinie. Kaum überliefert ist, daß Brecht nicht einmal das ursprünglich von ihm gewählte Picasso-Motiv für den berühmten Halbvorhang gestattet wurde; die Friedenstaube war die Notlösung.
Brecht war eingetroffen. Angekommen war er nicht. Die ästhetischen, ideologischen und administrativen Widerstände waren und blieben groß. 1952 erwägt er das chinesische Exil.
Sein Refugium Buckow – nicht zufällig heißen die dort entstandenen Gedichte Elegien – gibt ihm nicht genug Kraft: In den knappen Jahren bis zu seinem Tod 1956 hat Bertolt Brecht kein einziges Stück mehr geschrieben. Er war zum Verwalter seines „Nachlasses zu Lebzeiten“ geworden, zum Regisseur der großen Stücke, die er, Deutschland fliehend, geschrieben hatte. Dieses neue Deutschland war eine Probebühne.

CODA IN 10 PUNKTEN

1) Er war ein Dissident – des Bürgertums, aus dem der Sprößling des Augsburger Papierfabrikdirektors Berthold Friedrich Brecht, also „Sohn wohlhabender Leute“, früh schon ausscherte „zu den geringen Leuten“, ein spindeldürrer und von Kind an herzkranker Bohemien, der Frank Wedekind verehrte und gern mit seinen zur Klampfe gesungenen frechen Liedern Karl Valentin nachahmte. Doch schon als Schüler wollte er mehr sein als ein Balladensänger von Schmuddelkind-Obszönitäten und kesser Kratzer am Gesellschaftslack der Satten: Er sah sich als „Verräter – ihrer Anschläge“, und so meldete sich bereits der siebzehnjährige Gymnasiast Eugen Berthold Friedrich Brecht zu Wort mit seiner von Ernst Busch unvergeßlich interpretierten „Legende vom toten Soldaten“:

Sie malten auf sein Leichenhemd
Die Farben Schwarz-Weiß-Rot
Und trugen’s vor ihm her; man sah
Vor Farben nicht mehr den Kot.

2) Er war ein Liebender – aus Angst vor dem Dunkel dieser Welt („Warum seid ihr nicht im Schoß eurer Mütter geblieben“), vor Abgrund, Riß und Fremdsein, floh der von Herzflimmern Geplagte, von Lebenszittern Gejagte, von nie zu sättigender Gier Gefolterte zu den Frauen, bei denen er Erfüllung nicht, aber Geborgenheit suchte und in deren Schutz – auch im Schutz der Erinnerung an sie: „Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer“ – er seine schönsten Gedichte schrieb: „Schwächen“ nannte er eines, das der Frau zugedacht (oder geraubt) ist, deren Niederkunft er in schockierender Abwehr mit „Ruth wird operiert“ notiert, und das in drei Zeilen einen Kosmos bannte:

Du hattest keine
Ich hatte eine:
Ich liebte.

Und das doch nur ein in künstlicher Kühle verhallender Hilferuf dessen ist, der ängstlich hofft.

3) Er war ein Bittender – um Gnade wohl nicht, aber um Gerechtigkeit in der von ihm zur Perfektion getriebenen artistischen „So wie man sich bettet, so liegt man“ – Verdrehung, die ja ein Vorführakt ist der sozialen Gnadenlosigkeit, vom Eis, in das wir alle gebahrt sind und das er zu schmelzen suchte mit dem oft noch glühenden Metall seiner Worte: Wenn die „Mutter Courage“ an der Tochter rügt, „Die leidet an Mitleid“, dann ist das derselbe Gestus, wie wir ihn kennen aus dem Gedicht „O Falladah, da du hangest“; das in seiner Schwäche zusammengebrochene Pferd – „Und ich lebte überhaupt noch und war gar nicht fertig mit dem Sterben“ –, aus dem die hungernden Menschen sich mit Messern Fleisch herausfetzen, schreit nicht auf in Wut und Qual und Haß; es hat vielmehr Mitleid mit der abgesunkenen Kreatur – „einst mir freundlich und mir so feindlich heute“, es fragt, „was war mit ihnen geschehen?“.

4) Er war ein Räuber – der die Arbeitsnester anderer ausplünderte und sich mit pausbäckiger Pennälerdreistigkeit unter dem Diebesmotto der „grundsätzlichen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums“ fremde Früchte so unverfroren unter den Nagel riß, daß schon Kurt Tucholsky mokant fragte:

Das Stück ist von Bertolt Brecht – von wem also ist das Stück?

Die Kulturgeschichte ist wahrlich reich an Übernahmen: Allein die langfingrige Perfidie, mit der Brecht seine Mitarbeiter „auslöschte“ – Günther Weisenborn bei der Mutter, Hella Wuolijoki beim Puntila oder Elisabeth Hauptmann bei der Dreigroschenoper –, ist schon ein starkes Mackie-Messer-Stück.

5) Er war ein Revolutionär – der die Umkehr des Unten nach oben in herrlich gemeißelten Sentenzen forderte: Im Kopf; in der Praxis hielt der ein Leben lang Parteilose, der noch vor dem Committee on Un-American Activities in radebrechendem Englisch aalglatt sich zum Nichtkommunisten zusammenlog, es eher mit dem „Ich nehme“ seiner Azdak-Figur – ein Auto für Reklameverse nehmend, einen österreichischen Paß für Loyalitätserklärungen nehmend, ein eigenes Theater für bußfertige (von den DDR-Zensoren geförderte) Textänderungen nehmend, den von Thomas Mann nobel zurückgewiesenen Stalin-Preis nehmend, während er (unpubliziert, natürlich) über die panzerbewehrten Angstgenossen des 17. Juni spottete:

Wäre es da
nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

6) Er war ein Dialektiker – der vermutlich das Proustsche Absagetelegramm „KOMMEN UNMÖGLICH STOP LÜGE FOLGT“ kennend, spinnwebfeine Denkspiele entwarf, deren Fängen, glorios in der Konsequenz seiner Inkonsequenz, er sich bitter lächelnd entzog; Autor jenes Lehrstücks von der „Maßnahme“, in dem mit seiner weihevollen Billigung nach dem Willen der Partei ein Genosse ermordet wird – und das er gleichwohl selber verbot; Trauernder um die Gefährten Tretjakow oder Carola Neher, verschwunden in jenen Moskauer Prozessen, über deren Opfer und ihre beteuerte Unschuld er mit jenem „Umso schlimmer für die Angeklagten“ sophistisch sinnierte, das wohl anstand einem, der als listig sich begriff:

In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.

7) Er war ein Tragiker – Dramatiker, von epochalem Format, ohnehin –, der seine Verszeilen „Unwissende! Schrie ich / Schuldbewußt!“ sein kurzes Leben lang paraphrasierte und sich zugleich im berühmten „Kleinen Organon“ emphatisch gegen rein deklamatorisches Vorzeigetheater bäumte; das häufigst benutzte Wort in diesem theoretischen Text ist „Unterhaltung“:

Denn die leichteste Weise der Existenz ist in der Kunst.

8) Er war ein Spötter – dessen Schweigen so gefürchtet war wie, benutzte er sie dann, seine spitze Zunge: Beim pompösen Empfang für den zurückgekehrten Emigranten in Ost-Berlin sprach er kein einziges Wort; mit der lakonischen Eleganz, mit der er seine maßgeschneiderte Proletarierkluft trug, schliff er seine Worte zurecht – mal, um Künstlerfreunde wie Hanns Eisler oder Peter Huchel oder den toten Barlach (gegen drohendes Verbot) zu verteidigen, mal, um sie kalt zu höhnen, und oft genug auch, um den zu treffen, der da sprach:

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: „Sie haben sich gar nicht verändert.“ „Oh!“ sagte Herr K. und erbleichte.

9) Er war ein Skeptiker – dessen Lebensgesetz wohl eine optimistische Melancholie blieb, deren heranwellende Düsternis er abzuwehren suchte mit oft arg ehernen (manchmal auch blechernen) Spruchweisheiten und deren kühler Einsamkeit er zu entrinnen suchte, indem er Freunde um sich scharte: auch daher sein Bemühen um Erwin Piscator oder Caspar Neher oder Therese Giehse (die er nach Ost-Berlin zu locken trachtete) wie die noblen Angebote an Lion Feuchtwanger oder Alfred Döblin nach den Fluchtjahren für eine geehrte Existenz in der DDR – dabei wohl wissend, wie verzehrt die eigenen Kräfte bereits waren.

10) „Er hat Vorschläge gemacht“ – das wollte er auf seinem Grabstein lesen.

Fritz J. Raddatz, aus Fritz J. Raddatz: „Schreiben heißt sein Herz waschen“, zu Klampen Verlag, 2006

Brecht

(…)

Meine eigenen Begegnungen mit Brecht kennzeichnen zwei, maximal drei Grundfarben. Die wichtigste war und blieb jenes Grau. Nicht dasjenige der Erinnerung, über welches ich andernorts zur Genüge reflektiert habe. Es war das Grau der Welt, für die Brecht selbst stand. Sie war schon untergegangen, sie hatte sich überlebt, als ich die farblose Farbe des bröckelnden Putzes der Berliner Mietskasernen in meine eigenen Jugendgedichte packte. Das ist es wohl auch, warum die Beschwörung aller Probleme, die mit Brechts Werk und Wirken verbunden sind, eine der Unterwelt ist. Als ich in den Potemkin’schen Dörfern des „souveränen“ ostdeutschen Staats lebte und, obwohl fast drei Generationen später und in den Sozialismus hineingeboren, jahrelang so agierte, wie Brechts Haltung es vorgegeben hatte, wähnte ich mich damit und darin einen der von ihm angesprochenen und ungefragt mit einer Aufgabe betrauten Nachgeborenen. So weit zurück es liegt, dem ausgesetzt gewesen zu sein, muss doch die Unfreundlichkeit Brechts einmal vergolten werden durch rückhaltlose Bejahung der offenen Gesellschaft und ihr angemessener Denk- und Verhaltensweisen. Das ist, ja, ein politisches Statement. Wogegen Brecht tatsächlich etwas einzuwenden hatte und unmissverständlich antrat sind einerseits die bürgerliche Demokratie als politische Organisationsform des Kapitalismus und andererseits die bürgerlichen Freiheiten, die ihm nur zugeschnitten etwas gelten. Von den plakatierten Gütern der Französischen Revolution gilt ihm als höchstes die Gleichheit. Gefolgt wird sie, wie wir aus Texten aller Brecht-Gattungen vom Lied bis zum Theaterstück ableiten dürfen, von der Brüderlichkeit unter den Unterdrückten und den Revolutionären. Denjenigen, die nicht gleich sein können, wird nach Art des Riesen Prokrustes geholfen oder eben nach Art der Maßnahme: ab in die Schlucht mit denen, die der Revolution tot mehr nützen als lebendig! Eine Vorstellung von Freiheit hat Brecht nur marxistisch-theoretisch, als Freiheit von Unterdrückung, und praktisch, als Freiheit des revolutionären Dichters, wie er einer ist, der sich nimmt, was ihm zusteht. Das betrifft bei ihm selbst eine Menge: Geld, Frauen, Personal, die Urheberrechte anderer. Doch halt, da scheint er uns gerade zu beschämen: Bevor ein Chauffeur – zu DDR-Zeiten – ihm den Wagenschlag aufreißen kann, rutscht er hinüber und steigt auf der entgegengesetzten Seite selbständig aus. So etwas wird in der Brecht-Hagiographie überliefert als Beleg für typische Bescheidenheit. Dabei ist es eine äußerliche, verlogene, nebenbei den Chauffeur vorführende und als Angehörigen der Arbeiterklasse in Verlegenheit bringende Geste. Zur künstlerischen Verarbeitung solcher Konstellationen siehe auch Herr Puntila und sein Knecht Matti. Volker Brauns weniger volksstückhafte, weniger lustvolle Version hieß Hinze und Kunze.
Weshalb harrten die seiner Generation und seiner Erfahrung tatsächlich Nachgeborenen so lange aus auf der Stelle, die er markiert hatte? So dass später Geborene es wiederum ihnen nachmachten? Es hat damit zu tun, dass Brecht und seine geistigen Abkömmlinge das Tor zur geistigen Unabhängigkeit, zur Alternative der Freiheit und Liberalität so kräftig vernagelt und mit ihren Syllogismen, ihren geschlossenen Denkfiguren zugestellt hatten, dass es bis auf unsere Tage für viele nicht leicht zu erkennen ist. Gemeint ist mit Hölderlins Wort aus dem Gedicht „Lebenslauf“, dass „jeder verstehe die Freiheit, / Aufzubrechen, wohin er will“. Der Weg zu dieser individuellen und elementaren Freiheit kommt mir immer wieder vor wie die Tür in Kafkas Story „Vor dem Gesetz“. Ein „Mann vom Lande“ verbringt dort sein Leben, ohne zu begreifen, dass die Tür nur seine eigene ist. Alles, was damit zu tun hat, also mit seinem Anspruch auf Recht und Gerechtigkeit, obliegt seiner eigenen Entscheidung. Er muss nur aufstehen und eintreten. Dazu gehört Mut. Der „unterste“ Türhüter steht für den ersten erkannten Kreisschluss im eigenen Denken, für den ersten erkannten Haltungsschaden aus der Erbmasse, der dich zum Gefangenen machte. Mag das „der unterste Türhüter“ sein, von einem zum anderen wirst du wachsen, freier denken und freier sein. – Noch die geringste Prosa Kafkas hat Folgen. Brecht konnte das als Leser immerhin sehen, nur waren sein Blick und die Reflexe seines eigenen Denkens und Schreibens quasi eingefroren und nicht für Erweiterungen zugänglich.

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Die kommunistische Macht war von Anfang an ungeschminkt totalitär. Sie basierte offen auf Gewalt die sie selbst legitimierte, auf dem Gebrauch von Waffen der nach der Revolution nicht beendet wurde. Sie legitimierte ebenso das Gefängnissystem und dessen Ausbau, den extensiven Einsatz der Geheimdienste, des Polizeiapparats. Sie tat es immer wieder, sie hatte, fand und erfand innere und äußere Bedrohungen, bekämpfte und vernichtete echte und vor allem zu solchen erklärte Feinde. „Der Feind“ oder seine Mehrzahl war das liebste und wichtigste Gegenüber der Inhaber jener Macht, gleich wo in der Welt sie rhetorisch und real Köpfe rollen ließen. Ein echtes Brecht-Wort: der Feind. Es ist der aus dem Lied vom Klassenfeind. Es ist der personifizierte Nationalsozialismus:

Der Feind aber steht stärker da denn jemals („An den Schwankenden“).

Es ist mit Brecht, mit seinen „Städtebewohnern“ und dem, was kommt, wenn die Illegalen die Macht ergreifen, das Wort der Kommissare, der militärisch Organisierten, des Geheimdienstes. Der Feind ist der Gegner, ist das notwendige Gegenüber. Stramm auf den Feind orientiert (aus sowjetischer und aus Perspektive der Vasallenstaaten also „okzidentiert“) ist und bleibt die Argumentation vom Anfang bis zum Ende des Kalten Kriegs, bis zum Fall des Eisernen Vorhangs, wenn es darum geht, Kritik an den inneren Zuständen, Kritik an der Macht, an den Verhältnissen auszuschalten.

Iljitsch, die Ausbeuter kommen!“ Er rührte sich nicht. Jetzt
Weiß ich, daß er gestorben ist.

Aber wo diese Ausbeuter entmachtet und verjagt waren dank der Roten Armee, da blieb – ja, was, Meister Brecht? Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung blieben. Der Ausbeuter jenseits der Grenzen, auf den anderen fünf Sechsteln der Welt, der war jetzt der Feind. Der Feind war aber aus der Perspektive der Unterdrückten im Sozialismus ein Popanz ihrer neuen oder anders gearteten Unterdrücker. Wer hätte das besser gewusst als der Brecht der letzten Jahre, den vor allem sein eigenes Theater, sein eigener Ruhm, sein eigener Staat im Staate interessierte? Was sonst von ihm verlautete, ging pauschal gegen Kapitalismus und kapitalistischen Krieg, zusammengefasst in seinem Begriff vom Faschismus. So war es, so blieb es, so sollte es mit Brecht und nach ihm weitergehen, wie das Schema einer Haltung, ein grober Holzschnitt statt differenzierter Haltung. Es wurde nur noch behauptet und verteidigt, nicht mehr gedacht. Die notwendige und produktive Idee des Kommunismus aus dem 19. Jahrhundert verrottete unter der Banalität des Machterhalts ihrer Erben. Die brauchten starke Worte. Einer wie Brecht stellte sie zur Verfügung, hatte sie aufgeladen mit seinem im Exil erworbenen und zementierten Sendungsbewusstsein, mit seiner Art Geradlinigkeit, mit seiner Ausschließlichkeit.
Die Militärparaden zu jedem Jahrestag in Moskau wie in Ostberlin wie in Havanna verlangten das Plakat mit dem Feind darauf. Dahinter, auf dem grauen Gelände, ging es um die Macht und ihren Erhalt. Vereinnahmung, Verwaltung und Ausbeutung der Arbeitskraft von Millionen dienten den Zielen einer nun nicht mehr profitgierigen Minderheit, die als solche der Mehrheit deklariert waren. Was sich Diktatur des Proletariats nannte, war zu jeder Zeit und von Anfang an Diktatur der gemischten Truppe, die sich Partei der Arbeiterklasse nannte. Durch Lenins, Trotzkis und Dserschinskis stählerne Prinzipien konnte sie die Macht ergreifen, verteidigen und ausbauen. Ein Vorbild für jede Terrororganisation bis heute, ob sie sich politisch, religiös, nationalistisch oder ethnisch radikal versteht oder als eine Mischung davon. Die bürokratische Ausformung einer Schicht der Intelligenz war im sowjetischen Gesellschaftsmodell „auf dem Weg zur Klassenmacht“ erfolgreich. Dazu gehörte, dass – anders als der faschistische und nationalsozialistische – der kommunistische Totalitarismus massiv legitimiert wurde durch intellektuelles, durch mediales, insbesondere durch künstlerisches Engagement seiner Parteigänger mit und ohne Parteibuch, europaweit, weltweit. Letztere entstammten Vertreter der gebildeten Elite, überwiegend kleinbürgerlichen bis bürgerlichen Verhältnissen.
Die kommunistische konnte sich im Unterschied zu anderen Diktaturen auf eine uralte, starke Wurzel berufen. Ihre Errichtung in Russland war revolutionäre Aktion. Sie musste nicht künstlich Mythen zusammenfassen musste nichts erfinden und konstruieren. Ihre grundsätzliche, initiative Propaganda war nicht Lüge. Ihre Kraft nahm sie aus der alten Sehnsucht nach Befreiung von jeder Last, von der leuchtenden Vision der letzten Dinge, Grundlage der meisten Religionen. Der Mythos vom Goldenen Zeitalter, von Atlantis oder anderen idealen Gemeinwesen, gefiltert schon durch Hesiod und Platon, vorformuliert im Bild vom ewigen Jerusalem, aufgenommen im Neuen Testament, konstruiert von Tommaso Campanella und Thomas Morus, von Jean Jacques Rousseau philosophisch begründet, in der Großen Revolution der Franzosen verworfen, von Wilhelm Heinse projiziert, von Heine antizipiert, von Marx und Engels vor allem wirtschaftswissenschaftlich fundiert, von den Pariser Kommunarden von 1871 eine kurze Zeit verteidigt, von den Bolschewiki unter Ausnutzung einer Kriegskatastrophe von bis dahin nie gekannten Ausmaßen ins Werk gesetzt. Als das Staatswesen, das sich zunächst wegen dieser Herkunft weltweiter Sympathien und Unterstützung sicher sein konnte, seine Planwirtschaft und deren blutig grundierten Heroismus etabliert hatte konnte alles den Kommunismus Betreffende auf den Punkt gebracht werden in einfachsten, fundamentalen, überzeugenden Sätzen, die ein Dichter, großer Tradition bewusst, aufschreiben konnte:

Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht.
Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen.
Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm.
Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen
nennen ihn schmutzig.
Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit.
Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen
Aber wir wissen:
Er ist das Ende der Verbrechen.
Er ist keine Tollheit, sondern
Er ist das Ende der Tollheit.
Er ist nicht das Rätsel
Sondern die Lösung.
Er ist das Einfache
Das schwer zu machen ist.

Ein Gedicht, ein Lied, im Januar 1932 gesungen von Helene Weigel in der Hauptrolle von Brechts Bühnenfassung des Gorki-Romans Die Mutter im Komödienhaus am Schiffbauerdamm. Zwanzig Jahre, ein Zeitalter danach, hörte sie der junge Statist Wolf Biermann aus dem Bühnengang. Vierzig Jahre und zwei Zeitalter später hatte für einen lesenden Vierzehnjährigen in Berlin-Hauptstadt-der-DDR der Text nichts von seiner Frische verloren. Woher die Wirkung damals rührte, bis hin zum einverständigen Nicken, ach was, zur begeisterten Bejahung, heute kann ich darüber Genaueres sagen:
Die Anapher – mehrfach gleichlautender Zeilenbeginn – ist eine sehr eingängige Form. Sie entspricht der Urform der Ansprache einer Gottheit, etwa des christlichen Gottes im Vaterunser: „Dein Name, / Dein Reich komme / Dein Wille geschehe“, der symbolischen Anrede der Geliebten im Hohelied Salomos („Deine Augen sind… Deine Zähne sind… Deine Lippen sind… Deine zwei Brüste sind…“). Sie findet sich in naturkundlich orientierter, aufzählender Dichtung, etwa bei Brockes („So werden laue Winde weh’n; So wird Gras, Laub und Blüt entstehn; So wird die ganze Erde schön“), in der Barockliteratur wird sie auf jede sprachlustbringende Weise ausgebaut, in Georg Trakls „De profundis“ oder in seinem „Psalm“ mit den größten Geheimnissen aufgeladen, in Ernst Jandls und anderer Vertreter der konkreten Poesie wirksamer Nacktheit oder stimmsinnlicher Übertreibung hergenommen, in Erich Frieds Schulbuch-Liebesgedicht „Was es ist“, das selbstverständlich unmittelbar von Brecht herkommt, trifft sie ins Herz. Wiederholung der Art, wie sie das „Lob des Kommunismus“ benutzt, ist eindringlich, wirkt suggestiv auf Hörer, Leserinnen und Leser. Und wie gesagt gehört diese Art der Rede zum weitergereichten Know-how der dringlichen Rede von den Anfängen in Predigt und Gedicht bis in jede absehbare Zukunft beider. Brechts Bühnenfigur sitzt zwar im Stück in der Küche, dieser Text aber stellt sie hoch auf die Kanzel. Wer hört, ist unmittelbar angesprochen. Der Text weiß um die Empfänglichkeit der Hörenden. Falls Zweifel wären, holt er ihn auf die richtige Seite:

Du bist doch kein Ausbeuter.

Wer wollte schon einer sein oder sich so nennen lassen? Niemand. Auch der Besitzer einer Fabrik nicht.
Etwas an dem Gedicht nun erweist sich als weitreichend, als typisch, als Stein im Fundament der besonderen Art. Obwohl dieses Reden über ihn nicht genug bewundert werden darf, diese Lobrede auf den einzigen und wahren Kommunismus, der nur in der Überschrift genannt wird. Im Text tritt er auf als ein immer größeres Numen der Einfachheit, vergleichbar dem Tao der Chinesen. Anders an ihm ist nur, dass er personifiziert werden kann, im fünften Vers, wo man ihn beinahe mit einem Kehrbesen agieren sieht. Ansonsten bleibt er das, was er überall ist, wo der Glaube an ihn gepredigt wird: ein göttliches Abstraktum. Was sich aus meiner Perspektive als noch folgenreicher erweist, steht in Vers 7. Das Gedicht ist hier auf der Hälfte der vierzehn Verse angelangt. Ein Schelm, der dabei nicht an das Sonett denkt, an dessen unauffälligstes Merkmal, die Zahl seiner Verse, der Zeilen, die seinen überschaubaren Körper bilden, sein äußeres Maß, das sich im Laufe von Jahrhunderten Bearbeitung in vielen Sprachen als ideal erwiesen hat. Der siebte Vers ist der kürzeste des Lieds. Er wirkt wie ein Luftholen, kaum mehr. „Aber wir wissen:“ Der Fall der Dominosteine der folgenden zweiten Hälfte, der weiteren sieben Zeilen gelingt durch dieses Luftholen absolut sauber absolut glatt. Hervor bringt den Effekt der Rhythmuswechsel durch den damit auch technischen Schlüsselvers. Vom Einsilber, der bis eben den Versauftakt gibt, an den sich das Ohr gewöhnt hat, springt er zu diesem „Aber“. Auf einmal liegt der Akzent schwer auf dem Anfang, schwebt die Betonung zur nächsten Silbe. Das gibt ein Innehalten. Es muss deutlich langsamer gelesen, gesprochen werden. Nach der Lehre der ostasiatischen Dichterphilosophen, auf die sich Brecht gern und ausführlich bezieht, erweist sich Meisterschaft an der Kleinigkeit, ob sie Objekt ist oder ein Wort an der rechten Stelle, ein Strich einer Kalligraphie oder der Auftakt zu einem Vers. Aus dem gewollt langsameren Sprechen folgt Erhabenheit. Hoher Ton für schlichte drei Wörter. Nicht nur die, jede ihrer Silben erhalten einen Akzent. Vorher war Fluss, das Hören eingestellt, alles sehr gängig. Doch nun: Á-bér-wír-wís-sén: Der Zeigefinger hoch erhoben. Die „Lehrerin“ Pelagea Wlassowa spricht. – Brechts Mutterfiguren, das nebenbei, gehören stilistisch derselben Welt an wie die der Käthe Kollwitz: seine Mutter Courage, seine Frau Carrar, auch die Grusche im Kaukasischen Kreidekreis, die Mutter des Dichters aus den Wäldern in der Hauspostille. Sie sind auf je eigene Art Urmütter, typisiert, mythologisiert. – Das entscheidende Wort geht fast unter, rutscht fast durch, wirkt subkutan: Mit dem bescheiden im Gedicht nur einmal daherkommenden „Wir“ steht etwas im Raum. Wer sind „wir“? Nach Art des Lehrers, wenn er voraussetzend und hereinnehmend doziert, wie nach der des Arztes bei seinen Anordnungen oder der Hebamme (die zum Vorbild der Lehrmethoden des Sokrates wurde) wird hier der Mensch als Schüler oder Patient oder Gebärende zum Teilhaber, zur Teilhaberin eines Wissens. Wer bis jetzt nichts wusste, nichts glaubte, Hilfe bedurfte beim Hervorbringen dessen, was hervorwill – an dieser Stelle des Lehrgedichts ist er oder sie etwas geworden was der souveräne Mensch vielleicht nicht gern ist: ein Mitwisser. Mit diesem Gebrauch des „Wir“ zieht der Lehrer den Schüler auf die Seite der Autorität, der Wissenden. Der ängstliche Einzelne wird zur Fahne der Mehrheit gerufen der Parteilose zu den Reihen der Genossen. Es steht außer Frage, dass diese vierzehn Zeilen Poesie sind. Der pointierte Auftritt des Kollektivs gehört dazu. Das Wir meldet sich zur Stelle für Verwendungen aller Art.

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Uwe Kolbe, aus Uwe Kolbe: Brecht, S. Fischer Verlag, 2016

Die Gedichte

Daß Brecht verstreute Anregungen aus der ausländischen Literatur von den verschiedensten Seiten empfangen hat, gilt auch für seine Gedichte. Einzelne übernahmen aus Baudelaires Fleurs du Mal und aus der italienischen Renaissancedichtung (s. S. 26) oder aus der altägyptischen Lyrik1 finden sich da und dort; Pablo Neruda dient einmal zum Vorbild,2 desgleichen der sowjetrussische Autor Gennadi Fisch3 und wahrscheinlich auch, obgleich parodistisch verwendet, Walt Whitmans Leaves of Grass (vgl. Willett S. 91f.). Mit Percy Bysshe Shelley scheint der Dichter sich besonders intensiv beschäftigt zu haben. „The Mask of Anarchy“, die berühmte, 1819 geschriebene und 1832 veröffentlichte Ballade des englischen Romantikers, lieferte nicht nur das Modell für Brechts polemisches Gedicht „Freiheit und Democracy“ (1947), sondern wurde von dem Dichter auch in den Dienst seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff des (sozialistischen) Realismus gestellt. Dies geschah schon 1938 in dem Aufsatz „Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise“, der Shelleys Gedicht als Beleg dafür interpretiert, daß „die realistische Schreibweise keinen Verzicht auf Phantasie noch auf echte Artistik bedeutet (Versuche XIII, S. 106). Er ist auch sonst für Brechts Verhältnis zur Weltliteratur aufschlußreich: neben Shelley werden u.a. Balzac, Cervantes, Swift, Dickens, Tolstoj und Voltaire genannt. Alle diese vereinzelten Anregungen sind aber – jedenfalls soweit man vorläufig feststellen kann – mehr oder minder zufällig. Sie haben reinen Quellenwert; Brecht beutete eben die Stoffe und Formen seiner Lektüre nicht anders aus als die vielen Zeitungsberichte, die er ausschnitt und verwendete.
Einen wirklich prägenden Einfluß haben dagegen François Villon, Rimbaud und Kipling sowie die chinesische und japanische Lyrik ausgeübt: jene auf Brechts frühe Gedichte, diese auf seine späten. Die Bedeutung, die dabei den beiden Franzosen zukommt, wurde schon sehr bald erkannt und inzwischen mehrfach dargestellt. Ich darf hier auf meinen eingangs (Anm. 3) zitierten Aufsatz „Werk und Wirkung des Übersetzers Karl Klammer“ verweisen, der versucht, die bisherigen Ergebnisse zusammenzufassen. Die wichtigsten seien kurz wiederholt. Villons Einfluß macht sich demnach vor allem in den Balladen und Songs der Dreigroschenoper von 1928 geltend, läßt sich aber bereits an einzelnen Motiven und Titeln der Hauspostille von 1927 belegen und scheint erst in den dreißiger Jahren nachzulassen. Der Einfluß Rimbauds – und zwar des Lyrikers; von der „Saison en Enfer“ war ja schon früher die Rede (s. S. 12) – beschränkt sich fast ausschließlich auf die Hauspostille: die Ballade „Vom ertrunkenen Mädchen“ wandelt das Thema der „Ophélie“ ab, „Das Schiff“ und „Ballade auf vielen Schiffen“ dasjenige des berühmten „Bateau ivre“. Gerade an den beiden letzten Gedichten wird freilich deutlich, wie die Rimbaudschen Themen sich mit Übernahmen aus Kipling verbinden. „Das Schiff“ nämlich ist mindestens ebensosehr von dessen Ballade „The Derelict“ abhängig (die ihrerseits – nach Willett, S. 90 – „seems to descend from Melville’s Aeolian Harp“). Reimschema, Strophenbau und viele Einzelheiten stimmen auffallend überein. Vielleicht ist Kiplings Einfluß überhaupt für die Frühzeit der bestimmende gewesen; denn Brechts balladesker Ton, reich an direkten Reden, Ausrufen, Kehr- und Binnenreimen (vor allem in der Form des Inreims), findet sich bei keinem anderen Dichter in ähnlich verwandter Weise wieder. Als Beispiel auch für den unverkennbaren Gleichklang der Verssprache höre man nur den Refrain der „Ballade von den Seeräubern“ aus der Hauspostille neben Kiplings Refrain zu „In the Matter of one Compass“: 

O Himmel, strahlender Azur!
Enormer Wind, die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren!
Nur Laßt uns um Sankt Marie die See!

Oh, drunken Wave! Oh, driving Cloud!
Rage of the Deep and sterile Rain,
By Love upheld, by God allowed,
We go, but we return again!

Dazu kommt das ganze Milieu: exotische Länder (darunter Indien), die Welt der Soldaten, Seefahrer, Abenteurer und Piraten. Der Dichter hat übrigens auch aus Kipling übersetzt, z.B. das Gedicht „The Ladies“4 mit der bezeichnenden Anfangszeile „I’ve taken my fun where I’ve found it“ und dem Kehrreim „An’ I learned about women from er“. Einige weitere Hinweise gibt Willett (S. 90f., 236), der außerdem auf die Ähnlichkeit der Tempelepisode aus Mann ist Mann mit Kiplings Erzählung Krishna Mulvaney (1891) aufmerksam macht. Daß eine so starke Abhängigkeit auch den Zeitgenossen aus den zwanziger Jahren nicht verborgen bleiben konnte, versteht sich von selbst; Kurt Tucholsky, scharfzüngig wie immer, hat denn auch den Dichter mit der Benennung ,Rudyard Brecht‘ bedacht (vgl. Willett S. 93). Eine gründliche Untersuchung von Brechts Beziehungen zu Kipling fehlt aber gleichwohl leider noch immer. Sie müßte von der Sammlung Soldaten-Lieder und andere Gedichte (Leipzig, 1910; dt. von H. Sachs) ausgehen, die sich in Brechts Besitz befand, und zusätzlich den ebenfalls im Nachlaß vorhandenen Band Verse. Inclusive Edition 1885–1932 (London, 1936) berücksichtigen.
Wie über Brechts frühen Gedichten das Dreigestirn Villon, Kipling und Rimbaud steht, so über seinem späteren lyrischen Werk das Leitbild der chinesischen Dichtung. Seit den dreißiger Jahren nachweisbar, vereinigt sie sich mit dem Einfluß der chinesisch-japanischen Dramatik, Bühnentechnik und Schauspielkunst und der chinesischen Philosophie zu jener einzigartigen befruchtenden Begegnung, welche die ganze zweite Schaffensperiode des Dichters prägt und die ostasiatische Literatur zu seinem bedeutendsten Vorbild überhaupt macht. An einzelnen Gedichten aus den Buckower Elegien (Versuche XIII, 109ff.] kann man ermessen, wie kongenial und doch völlig selbständig Brecht die Gesetze dieser Lyrik erfüllt hat. Auch das Hereinwirken japanischer Anregungen (etwa der Haiku- und Tankaformen) ist in den reimlosen Kurzversen solcher und ähnlicher Gedichte nicht zu verkennen. Manche zeigen den Einfluß nicht bloß im Formalen, sondern sogar im Inhaltlichen, etwa „Die Maske des Bösen“ oder „Auf einen chinesischen Teerwurzellöwen“ (vgl. Hundert Gedichte, S. 298 bzw. 299): 

Die Schlechten fürchten deine Klaue.
Die Guten freuen sich deiner Grazie.
Derlei
Hörte ich gern
Vom meinem Vers.

Sie gehören in ihrer scheinbar absichtslosen Schlichtheit zu den geglücktesten Gebilden, die Brecht geschaffen hat.
Am besten läßt sich vorläufig die Beschäftigung des Dichters mit Po Chü-yi belegen; aber auch Tu Fus Werke hat er offenbar gekannt (vgl. Gedichte und Lieder S. 141f.), und von Li Tai Pê besaß er zumindest eine Ausgabe. Sie befindet sich im Brecht-Archiv und stammt, wie die meisten Werke aus der ostasiatischen Literatur, die Brecht kennengelernt hat, aus der Feder des englischen Sinologen Arthur Waley: The Poetry and Career of Li Po, London and New York 1950. Weitere Werke dieses bedeutenden Übersetzers, die Brecht besessen hat, sind u.a. The Analects of Confucius, London 1938, The Pillow-Book of Sei Shōnagon, London 1949, und Chinese Poems, London 21948. Waley war der entscheidende Vermittler sowohl für das japanische Nō-Drama wie für die chinesische Lyrik. Es gibt einen Fall, der uns gestattet, Brechts Verhältnis zu diesem bedeutenden Gelehrten und Übersetzer besonders klar zu erkennen: nämlich das Erscheinen von dessen Sammlung A Hundred and Seventy Chinese Poems im Jahr 1938. Brecht muß sie sofort erworben haben; denn nur wenige Monate später veröffentlichte er in der Moskauer Emigrantenzeitschrift Das Wort eine ganze Anzahl von Nachdichtungen, die alle auf Waleys Text zurückgehen (vgl. Nubel C S. 289). Es handelt sich um folgende Gedichte: „Die Freunde“ = „Oaths of Friendship 1“, von einem unbekannten Verfasser um 100 v.Chr.; „Ein Protest im sechsten Jahre des Chien Fu“ = „A Protest in the Sixth Year of Ch’ien Fu“ [A. D. S. 879), von Ts’ao Sung; „Bei der Geburt seines Sohnes“ = „On the Birth of his Son“, von Su Tung-p’o; „Der Politiker“ = „The Politician“, von Po Chü-yi; „Die Decke“ (später: „Die große Decke“) = „The Big Rug“, von Po Chü-yi; „Der Drache des schwarzen Pfuhls“ = „The Dragon of the Black Pool. A Satire“, ebenfalls von Po Chü-yi.5 Die ersten drei dieser Gedichte folgen zumeist ihrer Vorlage so eng, daß man sie als Übertragungen ansprechen muß. Nicht so die übrigen, an denen Brecht einige höchst aufschlußreiche Änderungen vorgenommen hat. Da die Chinesischen Gedichte bei ihrem Wiederabdruck in der Reihe der Versuche (Heft X, S. 137ff.)6 teilweise abermals umgeformt wurden, haben wir hier eine seltene Gelegenheit, am kleinen, leicht überschaubaren Objekt noch einmal Brechts Verfahren der schöpferischen Anverwandlung zu untersuchen.
Sicherlich ist es kein Zufall, daß der Dichter gerade von Po Chü-yis Versen immer aufs neue angeregt wurde. Brecht fand in ihm, den er einen „der größten Meister der chinesischen Lyrik“ nennt (Versuche X, S. 145), viele seiner eigenen Gaben und Forderungen vorgebildet: das Lehrhafte, den Drang zum Einfachen, Klaren, unmittelbar Verständlichen, das sozialkritische und pazifistische Moment. Beifällig zitiert er Po Chü-yis Ausspruch:

Wenn die Tyrannen und Günstlinge meine Lieder hörten, sahen sie einander an und verzogen die Gesichter. (Versuche X, S. 145)

In solchen Worten erkannte Brecht seine eigenen Maximen wieder, so wie er, selber im Exil, in Po Chü-yis zweimaliger Verbannung sein eigenes Schicksal gespiegelt sehen mußte.
Was hat der Dichter an Po Chü-yis Versen geändert?
Betrachten wir zunächst das Gedicht „Die große Decke“. Es lautet bei Brecht: 

Der Gouverneur, von mir befragt, was nötig wäre
Den Frierenden in unsrer Stadt zu helfen
Antwortete: Eine Decke, zehntausend Fuß lang
Die die ganzen Vorstädte einfach zudeckt.
(Versuche X, S. 139.)
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Waley hat folgenden Wortlaut:

That so many of the poor should suffer from cold what can we do to prevent?
To bring warmth to a single body is not much use.
I wish I had a big rug ten thousand feet lang,
Which at one time could cover up every inch o
f the city.

Wiederum ideologisiert also Brecht seine Vorlage. Er tut es, indem er die allgemeinen Erwägungen des chinesischen Dichters als direkte Frage an den Gouverneur richtet. Sobald nämlich dieser, als einer der ,Herrschenden‘, den Vorschlag mit der zehntausend Fuß langen Decke macht, wandelt sich der mitleidige Wunsch Po Chü-yis in eine zynische, boshafte Phrase. Und selbst wenn die Antwort des Gouverneurs ernst gemeint wäre, hätte der Sinn sich verschoben: das Elend soll jetzt nicht mehr so sehr beseitigt als bloß verhüllt werden; man möchte es sich, als lästig und störend, vor allem aus den Augen schaffen. Ferner ist zu bemerken, daß Brecht statt von der ganzen Stadt nur von den Vorstädten spricht) und Waleys zweite Zeile, die den Gedanken des karitativen Wirkens bringt, restlos tilgt. Durch alle diese Veränderungen wird Brechts Version knapper, ideologisch schärfer und, in ihrer antithetischen Zuspitzung, einprägsamer.
Ähnliche ideologisierende Verschärfungen treten in der Satire „Der Drache des schwarzen Pfuhls“ [Versuche X, S. 141) in Erscheinung, wo Brecht die Wechselfälle der Natur durch die von Menschen verursachten Plagen ergänzt. Hier die beiden Texte:

Prosperity and disaster, rain and drought, plagues and pestilences –
By the village people were all regarded as the Sacred Dragon’s doing. 

Die Dorfbewohner
Betrachten gute Ernten und Mißwachs
Heuschreckenschwärme und kaiserliche Kommissionen
Steuern und Seuchen als Schickungen des sehr heiligen Drachens.

Dasselbe Gedicht enthält im chinesischen Original die Parodie einer berühmten Hymne aus der Zeit der Han-Dynastie. Brecht gibt sie wieder, indem er blasphemisch den jedermann bekannten Englischen Gruß mit der ebenso geläufigen Hymne des deutschen Kaiserreiches verknüpft:

Gegrüßt seist Du, Drache, voll der Gaben!
Heil Dir im Siegerkranz
Retter des Vaterlands, Du
Bist erwählt unter den Drachen…

Dadurch stellt der Dichter, wenn auch in anfechtbarer Weise, die allein wirksame Spannung zwischen Parodiertem und Parodie wieder her, die Waley, dem es ja auf texttreue Übertragung ankam, aufgeben mußte.
Etwas ganz anderes zeigt uns Po Chü-yis Gedicht „Der Politiker“ (Versuche X, S. 140). Vergleichen wir zunächst die Eingangsverse in Waleys Version mit den beiden Fassungen Brechts:

I was going to the City to sell the herbs I had plucked;
On the way I rested by some trees at the Blue Gate.
Along the road there came a horseman riding…

Ich ging zur Stadt, die Kräuter zu verkaufen
die ich gepflückt. Da es noch früh am Tag war
verschnaufte ich vom Weg mich unter ein
paar Pflaumenbäumchen am östlichen Tor.
Dort wars, daß ich die Wolke Staubs gewahrte.
Herab die Straße kam ein Reiter geritten.
(1938) 

Wie üblich, meine frisch gepflückten Kräuter
Zum Markt zu bringen, ging ich in die Stadt.
Da es noch früh am Tage war
Verschnaufte ich mich unter einem Pflaumenbaum
Am Osttor.
Dort war’s, daß ich die Wolke Staubs gewahrte.
Herauf die Straße kam ein Reiter.
(1950)

Ideologisierende Tendenzen gibt es hier kaum. Dafür bemerkt man sofort, wie die Vorgänge bei Brecht viel stärker konkretisiert werden. Daß es noch früh am Tag ist, daß der Kräutersammler, durch dessen Mund der Dichter spricht, nicht unter irgendwelchen beliebigen Bäumen, sondern unter Pflaumenbäumen (bzw. einem Pflaumenbaum) ,verschnauft‘ und daß er eine Staubwolke gewahrt, ehe er den Reiter erkennt: all dies holt konkrete Einzelheiten und damit zusätzliche Wirklichkeit in den Raum des Gedichts herein. Brechts Verse sind realistischer als ihre Vorlage, und zwar in beiden Fassungen. Was die spätere, die dichterisch reifer und gelungener ist, von der früheren unterscheidet, beschränkt sich im großen und ganzen auf eine freiere Sprachgebung und kräftigere Rhythmik. Derselbe Zug zur Konkretisierung begegnet uns übrigens auch in dem Gedicht „Die Freunde“ (Versuche X, S. 139), wo Waley gewisse chinesische Bezeichnungen, die ihm unübersetzbar erscheinen, beibehält. So schreibt er einmal ,li‘ und erläutert in einer Fußnote:

A peasant’s coat made of straw.

Brecht sagt statt dessen einfach: „eines Bauern Rock.“ Ebenso verhält es sich bei dem Wort ,tēng‘, das Waley noch umständlicher erklären muß:

An umbrella under which a cheap-jack sells his wares.

Hier löst sich Brecht fast ganz von seiner Vorlage, ohne doch das chinesische Milieu zu verlassen; er setzt: „und wenn du Wasser verkauftest.“
Aber kehren wir zu Po Chü-yis Politiker zurück und betrachten wir nun seinen Schluß. Er lautet in Waleys Version und Brechts erster Fassung:

Green, green, – the grass of the Eastern Suburb;
And amid the grass, a road that leads to the hills
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Resting in peace among the white clouds.
At last he has made a ,coup‘ that cannot fail! 

Grün, grün das Gras der östlichen Vorstadt, durch das
die Straße zu den Hügeln führt! Zuletzt
hat er den ,Coup‘ gemacht, der nicht fehlgehn kann.

Der Zusammenhang ist folgender: An die oben zitierte Einleitung schließt sich in der Vorlage eine lange Schilderung des Reiters, der sich als ein gestürzter und „ins hinterste Yai-chou“ verbannter Staatsrat erweist, und seiner Freunde, die „schlaftrunken und verstört“ auf ihn gewartet haben, um ihm Lebewohl zu sagen. Aber der Gestürzte wagt nicht zu halten: grau im Gesicht und mit gehetztem Blick jagt er weiter. Der allein zurückbleibende Kräutersammler wendet sich der friedlichen Natur zu, dem Gras, den Hügeln; aber ganz zuletzt kehren seine Gedanken noch einmal zu dem Politiker zurück: Dieser hat also nun auch den berühmt-berüchtigten Coup versucht, der, wie es ironisch heißt, nicht fehlgehen kann.
Es ist deutlich, daß Po Chü-yi den sozialkritischen Gehalt seines Gedichts gerade auf diese Schlußzeile, diese Pointe konzentrieren will. Sie klärt den Leser ja erst darüber auf, warum der mächtige Staatsrat („zehntausend Käsch Diäten jährlich“] eigentlich verbannt wird – nämlich nicht willkürlich, aus bloßer Herrscherlaune, die unberechenbar zwischen Gunst und Ungnade schwankt, sondern mit gutem Grund. Um welches Vergehen es sich handelt – ob um Bestechlichkeit, Veruntreuung, Amtsmißbrauch oder was immer –, läßt Po Chü-yi offen. Und Brecht folgt ihm, wie man sieht, ganz eng; fast Wort für Wort übernimmt er die Zeile. Das war nicht anders zu erwarten, kommt es ihm doch immer auf den sozialkritischen Gehalt einer Dichtung an. Um so mehr muß es uns daher überraschen, wenn nun in der zweiten Fassung diese Zeile von Anfang bis Ende gestrichen wird. Wie konnte dergleichen bei Brecht, dem ideologischen Dichter, geschehen? Was bewog ihn zu einer solchen Änderung, die alle Bearbeitungsprinzipien, die wir bisher gewonnen haben, umzustoßen scheint?
Man muß, glaube ich, die Antwort darin suchen, daß Brecht eine gewisse Diskrepanz im inneren Aufbau seiner Vorlage (jedenfalls in der Waleyschen Übertragung, auf die allein er sich stützte) zum Bewußtsein gekommen ist. Form und Inhalt des chinesischen Gedichts beruhen auf dem Gegensatz zwischen dem einfachen Mann aus dem Volke, der still und fleißig seiner Arbeit nachgeht; und dem gefährlichen Auf und Ab, der stündlichen Bedrohtheit der Großen. Indem Po Chü-yi am Schluß unseren Blick auf Gras, Hügel und Wolken lenkt, spielt er leise andeutend die friedvolle Natur, die mit sich selber im Einklang ist, gegen das Unnatürliche der geschilderten Vorgänge und Zustände unter den ,Oberen‘ aus; mit der Bemerkung über den unfehlbaren Coup jedoch übt er, wenngleich nur ironisch, offene, direkte Kritik. Inhaltlich gehört beides ohne Zweifel zusammen. Brecht muß aber gespürt haben, daß für das poetische Gleichgewicht des Gedichts dieser doppelte Schluß, der abrupt den Blickpunkt wechselt, zu schwer wog. Weniger war hier mehr. So entschloß er sich, auf den direkt zupackenden ideologischen Angriff zu verzichten und nichts als die friedvolle Ruhe der Natur mit dem davonjagenden Verbannten zu kontrastieren: 

Grün, grün das Gras der östlichen Vorstadt
Durch das der Steinpfad in die Hügel führt, die friedlichen
Unter den Wolkenzügen.

So lautet die endgültige Fassung, ein vollkommenes Gedicht. Das ungeschminkt Sozialkritische, das sich ja leicht ins offen Klassenkämpferische hätte verschärfen lassen, ist getilgt. Brecht war Dichter genug, dem Dichterischen den Vorrang zu geben. [Er war es leider nicht immer.) Aber wird nicht paradoxerweise auch das im ideologischen Sinn Intendierte – vielleicht nur halb bewußt – erst in dieser letzten Gestalt überzeugend ausgesagt? – Es ist stets aufs neue faszinierend, den Widerstreit und das schöpferische Wechselspiel zwischen Ideologie und Dichtung in Bertolt Brechts Schaffen zu verfolgen.

Reinhold Grimm, aus Reinhold Grimm: Bertolt Brecht und die Weltliteratur, Verlag Hans Carl, 1961

 

 

Erfahrungen mit Brecht. Therese Hörnigk im Gespräch mit Friedrich Dieckmann

 

Brecht – Die Kunst zu leben. Ein Fernsehporträt von Joachim Lang aus dem Jahre 2006

 

Günter Berg / Wolfgang Jeske: Bertolt Brecht. Der Lyriker

Albrecht Fabri: Notiz über Bertolt Brecht, Merkur, Heft 33, November 1950

Walter Jens: Protokoll über Brecht. Ein Nekrolog, Merkur, Heft 104, Oktober 1956

Günther Anders: Brecht-Porträt. Tagebuch-Aufzeichnungen Santa Monica 1942/43, Merkur Heft 115, September 1957

Martin Esslin: Bert Brecht Vernunft gegen Instinkt, Merkur, Heft 163, September 1961

Robert Minder: Die wiedergefundene Großmutter. Bert Brechts schwäbische Herkunft, Merkur, Heft 217, April 1966

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (I), Merkur, Heft 254, Juni 1969

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (II), Merkur, Heft 255, Juli 1969

Sidney Hook, Hannah Arendt: Was dachte Brecht von Stalin. Nochmals zu Hannah Arendts Brecht-Aufsatz, Merkur, Heft 259, November 1969

Iring Fetscher: Brecht und der Kommunismus, Merkur, Heft 304, September 1973

Bernd-Peter Lange: Walter Benjamin und Bertolt Brecht am Schachbrett, Merkur, Heft 791, April 2015

Bertolt Brecht und weitere Sprecher: Lesungen und O-Töne 1928–1956 in Washington und Berlin. Sammlung Suhrkamp Verlag: Tonkassette 116

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Bertolt Brecht

 

BRECHTS HOLUNDER

Beim Blick durchs Fenster von seinem Schreibpult aus
gewahrte er was Rotes und etwas Schwarz
mehr nicht: die Brille fehlte sie lag am Tisch

Holunder. Auf der inneren Netzhaut stand
der Holder seiner Augsburger Kinderzeit
an roten Zweiglein glänzte er schwarz und frisch

Ein paar Minuten dachte er drüber nach
ob er zum Tisch gehn sollte den Augenschein
mit scharfem Blick zu prüfen. Doch ließ er es

Er schrieb ja schon, er brauchte die Brille nicht.

Harald Hartung

 

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Wolfgang Greisenegger: Von Wahrheit und Widerspruch
Die Furche, 12.2.1998

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Nils Schniederjann: Das umkämpfte Erbe des kommunistischen Dramatikers
Deutschlandfunk Kultur, 10.2.2023

Karin Beck-Loibl: Genie und Polyamorie
zdf.de, 10.2.2023

Hubert Spiegel: Briefmarke zum 125. Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.2023

Christopher Beschnitt im Gespräch mit Jürgen Hillesheim: „Über die Political Correctness würde Brecht die Nase rümpfen“
Cicero, 10.2.2023

Ronald Pohl: Mit Bertolt Brecht die Kunst des Zweifelns erlernen
Der Standart, 10.2.2023

Theater und mehr: Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht
ardmediathek.de

Jan Kuhlbrodt: Eine Intervention
signaturen-magazin.de

Otto A. Böhmer: Die gewissen Möglichkeiten
faustkultur.de, 10.2.2023

Brechtfestival Augsburg vom 10.–19.2.2023

Brecht125

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorNotizbücher +
Archiv 1, 2 & 3 + Internet Archive + Kalliope + ÖM + KLGUeLEX
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachruf auf Bertolt Brecht: Tumba

 

Bertolt Brecht: Lob des Lernens gesungen von Nina Hagen 2016 in Potsdam.

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