Bertolt Brecht: Gedichte Band VI 1941–1947

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bertolt Brecht: Gedichte Band VI 1941–1947

Brecht-Gedichte Band VI 1941–1947

DIE NEUEN ZEITALTER

Die neuen Zeitalter beginnen nicht auf einmal.
Mein Großvater lebte schon in der neuen Zeit
Mein Enkel wird wohl noch in der alten leben.

Das neue Fleisch wird mit den alten Gabeln gegessen.

Die selbstfahrenden Fahrzeuge waren es nicht
Noch die Tanks
Die Flugzeuge über unsern Dächern waren es nicht
Noch die Bomber.

Von den neuen Antennen kamen die alten Dummheiten.
Die Weisheit wurde von Mund zu Mund weitergegeben.

 

 

 

Zum sechsten Band

Vom Sommer 1941 bis zum Herbst 1947 wohnte Brecht, von einigen längeren Aufenthalten in New York abgesehen, in Santa Monica, Kalifornien. Der sechste Band enthält Gedichte aus diesen Jahren. Einige wurden in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt, und auch in die Auswahlbände Hundert Gedichte (Berlin 1951) und Gedichte und Lieder (Frankfurt 1956) wurde eine Anzahl von ihnen aufgenommen.
Am Anfang stehen die „Gedichte im Exil“. Schon den Svendborger Gedichten (London 1939) hatte eine von Brecht getroffene Auswahl, die er „Gedichte im Exil“ nannte, zugrunde gelegen. Und unter dem gleichen Titel stellte Brecht in den ersten amerikanischen Exiljahren noch dreimal eine kleine Gedichtauswahl zusammen. Von den maschinengeschriebenen Blättern der letzten (Dezember 1944) ließ Brecht einige photokopierte Heftchen anfertigen. Einem Freunde, dem er ein solches Heftchen mit Gedichten als Weihnachtsgruß schickte, schrieb er dazu:

Es macht mich etwas verlegen, daß ich sie Ihnen nicht im Druck geben kann, jedoch müssen wir ja mit diesem Rückfall ins frühe Mittelalter vorlieb nehmen.

Die drei kleinen Sammlungen wurden für den vorliegenden Band zu einer zusammengezogen. Die bereits in den „Svendborger Gedichten“ und in der „Steffinischen Sammlung“ (Band IV) enthaltenen Gedichte sind in diesem Band nicht noch einmal abgedruckt; Gedichte, die sich in den drei Sammlungen wiederholen, nur einmal. Einer Notiz zufolge wollte Brecht Gedichte wie „Die Landschaft des Exils“ nicht in den letzten seiner Zusammenstellungsversuche hineinnehmen; sie erschienen ihm damals sprachlich „zu reich“.
Das Gedicht „Die Maske des Bösen“ („An meiner Wand“) nahm Brecht in die „Flüchtlingsgespräche“ auf, die Gedichte „Der Kälbermarsch“, „Und was bekam des Soldaten Weib?“ und „Deutsches Miserere“ übernahm er in sein Stück ,Schweyk im zweiten Weltkrieg.
Das Gedicht „Die Literatur wird durchforscht werden“ ist früher auch unter den Titeln „Wie künftige Zeiten unsere Schriftsteller beurteilen werden“ und „Literaturgeschichte“ veröffentlicht worden; in den Manuskripten findet sich außerdem der Titel: „Lied von den Richtern“. In diesem Zusammenhang sei bemerkt: in den „Gedichten“ stehen die von Brecht zuletzt gewählten Titel; bei einigen Gedichten werden dazu diejenigen gedruckten Titel angegeben, unter denen sie ebenfalls bekannt geworden sind. Sofern dies in den ersten vier Bänden versäumt wurde, wird es bei einer späteren Auflage nachgeholt.
Den Verlust der in dem Gedicht „Die Verlustliste“ genannten Freunde, des Malers und Bühnenbauers Caspar Neher und des Filmregisseurs Karl Koch, betrauerte Brecht auf falsche Nachrichten hin.
Das Gedicht „Sah verjagt aus sieben Ländern“ widmete Brecht Berthold Viertel, der 1942 einige Szenen aus „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ in New York inszenierte.
Das Manuskript des Gedichtes „Das Begräbnis des Schauspielers“ trägt den Vermerk „Aus den Vorstellungen“.
„Garden in Progress“ (Garten im Aufbau): gemeint ist der Garten des Schauspielers Charles Laughton, mit dem Brecht an der amerikanischen Fassung seines Stückes Leben des Galilei arbeitete und der in Beverly Hills, später auch in New York, den Galilei spielte.
Die Kriegsfibel besteht aus Photos, die Brecht aus Tageszeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten hatte, und aus Vierzeilern, die er zu jedem dieser Photos schrieb. Brecht gebrauchte dafür auch das Wort „Photogramme“. Im Druck erschien die Kriegsfibel erstmalig 1955 (Eulenspiegel-Verlag, Berlin).
„Das Manifest“ ist Brechts Versifizierung des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels, die ihn über viele Jahre beschäftigte. Er schrieb damals während des zweiten Weltkrieges über dieses Vorhaben:

Das Manifest ist als Pamphlet selbst ein Kunstwerk; jedoch scheint es mir möglich, die propagandistische Wirkung heute, hundert Jahre später und mit neuer bewaffneter Autorität versehen, durch ein Aufheben des pamphletischen Charakters zu erneuern.

Wir drucken hier die zweite der vielen verschiedenen Fassungen des „Manifests“ ab, von denen keine ganz abgeschlossen ist – nicht zuletzt der Wichtigkeit wegen, die Brecht dieser Arbeit beimaß. Von Brecht schriftlich zur Diskussion gestellte Korrekturen wurden berücksichtigt. – „Das Manifest“ war als Teil eines Lehrgedichts mit dem Titel „Von der Natur der Menschen“ („Über die Unnatur der bürgerlichen Verhältnisse“) gedacht, das er in der Art des berühmten Lehrgedichts von Lukrez „Von der Natur der Dinge“ geplant und angefangen hatte. Mit Ausnahme des „Manifests“ in das Lehrgedicht so fragmentarisch, daß wir die einzelnen bisher von uns festgestellten Bruchstücke der Abteilung „Fragmente“ im achten Band zuordnen.
„Der anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy“, 1947 in Kalifornien geschrieben, hat Shelleys Ballade „The Mask of Anarchy“ („Der Maskenzug der Anarchie“) zum Vorbild.
Der Film Hangmen also Die („Auch Henker müsssen sterben“) zeigt den Widerstand des tschechischen Volkes gegen die hitlerischen Unterdrücker. Brecht schrieb die Story mit Fritz Lang, der den Film inszenierte.
Mit dem Lied „Ich werde warten auf dich“ in dem Stück Der kaukasische Kreidekreis erinnert Brecht bewußt an das Lied „Wart auf mich!“ des sowjetischen Schriftstellers und Dramatikers Simonow, das ihm sehr gefiel. – In Anlehnung an Texte von zwei slowakischen Volksliedern entstand das Lied „Zieh ins Feld ich traurig meiner Straßen“; in Anlehnung an alte estnische Volksepen, die Hella Wuolijoki unter dem Titel „Estnisches Kriegslied“ übersetzt hatte, den „Rat an den Liebsten, der in den Krieg zieht“ und „Die Schlacht fing an im Morgengraun“. „Das Lied vom Chaos“ geht auf ein altes ägyptisches Lied zurück.
Das Stück „The Duchess of Malfi“ („Die Herzogin von Malfi“) von John Webster bearbeitete Brecht für eine Aufführung in New York mit Elisabeth Bergner in der Titelrolle.
„Die Reisen des Glücksgotts“ plante Brecht zunächst als Theaterstück, später als Operntext für Paul Dessau. Zwei der „Lieder des Glücksgotts“ stammen aus früheren Jahren („Siebentes Lied des Glücksgotts“ und die dazugehörige Variante).
Als Brecht hörte, daß nach dem Krieg in Deutschland noch die Dreigroschenoper-Songs gesungen wurden und das Stück wieder aufgeführt werden sollte, schrieb er „Den neuen Kanonen-Song“ und „Die Ballade vom angenehmen Leben der Hitlersatrapen“. Für die Münchener Aufführung 1949 schrieb er ebenfalls einige Neufassungen, die wir in diesem Band mitabdrucken.

Elisabeth Hauptmann, Nachwort

 

Brechts Gedichte

enthalten die Stationen der Brechtschen Entwicklung und Wandlung. Sie zeigen, womit er durchs Leben gekommen ist. Wenn es die Geprägtheit der Brechtschen Lyrik ist, daß die Person des Dichters völlig hinter die unerbittlich aussagende Sachformel zurücktritt, so tritt in der Sache das Persönliche der künstlerischen Lebensbewältigung um so unverwechselbarer hervor. Und der durchaus inhaltlich, durchaus realistisch akzentuierte Schritt dieser Verse schließt den unverlierbaren, den zur Dauer angehaltenen Ton nicht aus… Es ist die ästhetische Weisheit Brechts, das Wissenswerte heiter zu sagen. Brechts Humor ist das Zeichen, unter welchem seine entschlossene, gesellschaftliche Parteinahme als eine hohe Kunst der Lebens- und Menschenfreundlichkeit erscheint.

Paul Rilla, Aufbau Verlag, Klappentext, 1978

 

Bertolt Brecht / Gedichte

Im Juli lieferte der Suhrkamp-Verlag drei weitere Bände mit Gedichten Bertolt Brechts aus, die Bände 5 bis 7. Es ist bekannt, dass es sich bei der Gedicht-Edition wie bei der gesamten Brecht-Ausgabe nicht um eine historisch-kritische Ausgabe handelt. Wir wollen uns hier nicht an dem Streit darüber beteiligen, inwieweit die jetzt vorgelegte Ausgabe in dem, was sie bietet, zuverlässig ist, ob politische Rücksichten genommen wurden, ob Einiges – aus welchen Gründen auch immer – von der Veröffentlichung ausgeschlossen wurde. Denn endgültig wird man ohnehin zu dieser Frage erst Stellung nehmen können, wenn der angekündigte achte Gedichtband vorliegen wird, der später aufgefundene Gedichte, Fragmente, Variationen und Nachdichtungen enthalten soll. Dass jetzt, nur acht Jahre nach dem Tode Brechts, noch keine historisch-kritische Ausgabe ediert werden kann, ist sicher bedauerlich, aber doch im Blick auf die immense und zeitraubende Vorbereitungsarbeit, die eine solche Ausgabe mit sich bringt, erklärlich. Halten wir uns darum an das Vorhandene.
Die Gedichte der drei vorliegenden Bände stammen vor allem aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Viele von ihnen haben eindeutig Kampf- und Agitationscharakter; in ihnen warnt Brecht nicht mehr vor der braunen Diktatur – das hatte er lange vorher vergeblich getan –, hier kämpft er gegen Nazi-Terror und Krieg: es sind ausgesprochene „Gebrauchs-Gedichte“, die ihre Funktion in der Anti-Hitler-Propaganda erfüllten. Wie sehr auch die Form dieser Gedichte von ihrer agitatorischen Funktion her bedingt ist, belegt Brechts bekannter Aufsatz „Ueber reimlose Lyrik mit unregelmässigen Rhythmen“. Er ist, zusammen mit zahlreichen, bislang meist unveröffentlichten Aeusserungen Brechts in dem kleinen Band Ueber Lyrik (edition suhrkamp) erschienen, der einige Hilfen zum Verständnis und zur Interpretation der Brechtschen Poesie gibt. Auch in ihm finden sich wieder einige Aeusserungen, die sich – wie so oft bei Brecht – unversehens gegen ihren Verfasser wenden. Manche der kommunistischen Tendenzgedichte der Nachkriegszeit, verweisen geradezu auf eine Notiz aus den 30er Jahren, in der es heisst:

Flach, leer, platt werden Gedichte, wenn sie ihrem Stoff seine Widersprüche nehmen…

Zwischen den im weitesten Sinne politischen Gedichten Brechts finden sich auch immer wieder Liebesgedichte, Naturgedichte, lakonisch und zart zugleich. Eigentlich dürfte es sie, hätte der Theoretiker Brecht über den Lyriker Brecht gesiegt, gar nicht geben. Denn:

… In mir streiten sich
Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum
Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers.
Aber nur das zweite
Drängt mich zum Schreibtisch.

Und zur Frage der Natur-Dichtung und der „reinen Kunst“ hatte er in den 40er Jahren geschrieben, das Geräusch fallender Regentropfen dürfe in einem Gedicht sehr wohl dargestellt und zu einem genussreichen Erlebnis des Lesers gemacht werden – allerdings erst dann, wenn alle Menschen ein Obdach besässen und niemandem die Regentropfen mehr zwischen Hals und Kragen fallen könnten. Hätte sich Brecht an diesen Vorsatz gehalten: einige der schönsten Stücke aus den Buckower Elegien wären ungeschrieben geblieben. Die Buckower Elegien eröffnen den siebenten Band der Gedichte: melancholische Spätgedichte, aber unsentimental und von einer Schärfe der Kontur, wie wir sie aus der japanischen Lyrik kennen. Was in ihnen an Politischem auftaucht, ist nicht mehr lauthals verkündete Propaganda – das Bewusstsein, an politischem Unheil mitschuldig zu sein, schwingt mit. „Freunde, ich wünschte, ihr wüsstet die Wahrheit und sagtet sie!“, schreibt hier einer, der die Wahrheit wusste und sie nicht immer gesagt hat. Nur zwei Seiten hinter den berühmt gewordenen Versen über den 17. Juni („Die Lösung“) findet sich das Gedicht „Böser Morgen“:

Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit
Heut eine alte Vettel. Der See
Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren!
Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel.
Warum?
Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend
Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und
Sie waren gebrochen.
Unwissende! schrie ich
Schuldbewusst.

Jürgen P. Wallmann, Die Tat, 2.10.1964

 

Brecht

(…)

1938, Brecht würde nie mehr die Seite wechseln, nie mehr wählen. Das Spanien des Bürgerkriegs erwies sich nicht nur als erstes Einsatzgebiet für Hitlers aufstrebende Luftwaffe, sondern auch als eines für Stalins Geheimdienste an der und mehr noch hinter der Front. Zeitgleich löschten die Stalin’schen Gerichte in den Moskauer Prozessen die Mitstreiter Lenins und Organisatoren der Oktoberrevolution aus. Brecht weiß davon und ändert kein Jota an seinen öffentlichen Texten. In dieselbe Zeit des Großen Terrors gehören auch Angriffe auf Künstler und Schriftsteller, die in Haft, Verbannung, Hungertod münden, und zwar systematisch auf die produktivsten und stärksten unter ihnen. Brecht erfährt davon aus erster Hand, von Zeugen, die von Bedrohung, Verhaftung, Hinrichtung von Freunden berichten. Es fällt der Name Sergei Tretjakow, den Brecht mehrfach in Berlin und Moskau getroffen hatte, mit dem ihn Freundschaft und politisch-ästhetisches Interesse verbanden. Verurteilt und ermordet am 10. September 1937. Es fällt der Name Carola Neher, die von der Hauptrolle als Heilige Johanna der Schlachthöfe bis zur Dreigroschenoper-Verfilmung als Polly große Brecht-Rollen gespielt hatte und nach welcher sich Brecht nun zaghaft „erkundigt“ und seinen engen Freund Lion Feuchtwanger zu dessen Moskaureise 1937 um diskrete Nachforschungen über Verbleib und mögliche Hilfe ersucht. Sie stirbt nach fünf Jahren Haft 1942 im Lager.
Was er auch sonst erfährt, wie er auf dem Laufenden gehalten wird von Besuchern am Skovsbostrand, Zeugen, die ihm unmittelbar berichten, was in der Sowjetunion geschieht – nichts davon ändert etwas an seinen öffentlichen Stellungnahmen. Schon nennt man in den deutschsprachigen Organen der Emigration Brechts Ästhetik formalistisch und dekadent. Der Angegriffene weiß genau, was das bedeuten kann. Seine Notfallpläne für das weitere Leben im Ausland sind spätestens jetzt zementiert: Niemals würde er, sollte es notwendig sein, ins Vaterland der Werktätigen fliehen. Der familiär kollektive Tross des Patriarchen Brecht durchquert 1941 eilig die Sowjetunion und erreicht von Wladiwostok aus per Schiff die Vereinigten Staaten von Amerika, das unangenehm sonnige Kalifornien. Unter Zurücklassung, das nicht nebenbei!, der bis zum Schluss jedes Opfer für ihren Brecht bringenden, nun ausgelaugt an Tbc sterbenden Mitarbeiterin-und-Geliebten Margarete Steffin. Brecht scheut sich nicht, sich und seine verbliebenen Leute in das aufstrebende Vorbild- und Traum-Land des verhassten Spätkapitalismus und Imperialismus zu retten. Eine spätere Psychologie nennt derlei Widerspruch zwischen (explizitem) Wort und (durchaus symbolischer) Tat Double Bind. Er weiß sich aufseiten des revolutionären Prozesses, er gehört zur, ach was, Bertolt Brecht ist Avantgarde.
Er ist um Begründungen nie verlegen, gerade hier nicht. Stalins Herrschaft mag keine gute Alternative zu Nationalsozialismus und Faschismus sein, aber sie ist aus der Perspektive der Linken die einzig konsequente. Brecht, der seine Anschauungen permanent auf jeder Wellenlänge in die Welt hinausposaunt, posaunen lässt, setzt damit für sein Schreiben ein Tabu. Mit hörbarem Schweigen und Verschweigen nicht erst nach dem Krieg, aber doch noch einmal nach Umzug in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands macht er sich damit einer Sache schuldig, die einen einfachen Namen hat: Brecht ist ein Lügner. Er lügt ausdrücklich als derjenige, der nur fünf Schwierigkeiten „beim Schreiben der Wahrheit“ kennt, ein Mann des genauen Worts, der schon in der Überschrift jenes wiederum berühmten und folgenreichen Texts bekennt, worum es allen Schreibenden gehen sollte wie ihm selbst jederzeit: um die Wahrheit. Brechts Wahrheit ist nur eine, die von Basis und Überbau weiß, von Ursache und Wirkung spricht, von Folgen anderer Folgen, von Kausalität. Schließlich ist sie banal, von seinen Erben nur noch zu wiederholen als Mantra, dem kaum noch etwas in der Welt entspricht (V. Braun, bei Kriegsende 5 Jahre alt), heroischer Sprachkampf proletarischer Helden in der komplexeren Welt, durchsetzt mit schwarzem Humor und immer wieder entwaffnender Ehrlichkeit (H. Müller, bei Kriegsende 15 Jahre alt), sich selbst nicht mehr glaubendes Gelächter vorführend, mit bitterem Stoff Beifall heischend, seinen Kommunismus zu Grabe tragend und als kommunistischer Zombie weiterlebend (W. Biermann, bei Kriegsende 8 Jahre alt), artistische Attitüde auf Basis ökonomischer Lehrsätze (K. Mickel, bei Kriegsende 9 Jahre alt), den Utopieverlust beklagend in ironischer bis sarkastischer, früh fatalistischer Pose (G. Kunert, bei Kriegsende 16 Jahre alt), in klaren Sätzen ausweglos, hart aufschlagend, den Sansculotten treu lebenslang (T. Brasch, bei Kriegsende knapp 3 Monate alt), vor lauter Schwierigkeiten beim Fixieren von Wahrheitsvermutungen, trotz Beschwörung des Glücksgotts und anderer Chinoiserien in Brechts Manier abdriftend, verschwimmend (F. Matthies, geboren 6 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs).
Bei Brecht aber, was für eine Selbstverständlichkeit im Gebrauch des Wortes Wahrheit! Was waren das für Zeiten, in denen das so gesagt werden konnte! Konnte es? Was für ein Anspruch, über alle Zweifel erhaben! Was für eine selbstgewisse, selbstverliebte Arroganz des „Denkenden“ Brecht! Einen so zweiflerischen Wahrheitssucher wie Walter Benjamin nimmt er zum Sparringspartner. Was Skrupel angeht, kann er ihn vollkommen ignorieren. In einer winzigen Notiz aus eben der Zeit 1938/39 zu einem Kommentar zu Brechts Gedichtsammlung Aus dem Lesebuch für Städtebewohner resümiert Benjamin:

In Wahrheit schlägt sich in den gedachten Partien dieser Gedichte in der Tat eben diejenige Verfahrensweise nieder, in der die schlechtesten Elemente der KP mit den skrupellosesten des Nationalsozialismus kommunizieren.

Sein eigener Kommentar des Texts sei „eine fromme Fälschung; eine Vertuschung der Mitschuld, die Brecht an der gedachten Entwicklung hatte“.

*

Bei der Jagd auf den ästhetisch unorthodoxen, zu fern der reinen Lehre schreibenden Brecht tun sich damals insbesondere Georg Lukács und Alfred Kurella hervor. Der Vorwurf der Dekadenz erreicht den Meister unter seinem Reetdach in Dänemark. Er reflektiert darüber in seinem im dänischen Exil begonnenen Arbeitsjournal (vorbildlich für die Kleinschreibung vieler kommender Dichter) unter dem 10.9.38 ironisch und arrogant:

in den literarischen abhandlungen der von marxisten herausgegebenen zeitschriften taucht in letzter zeit wieder häufiger der begriff dekadenz auf. ich erfahre, daß zur dekadenz auch ich gehöre. das interessiert mich natürlich sehr. der marxist braucht tatsächlich den begriff abstieg. er stellt einen abstieg der herrschenden bürgerlichen klasse auf politischem und ökonomischem gebiet fest. es wäre stupid von ihm, den abstieg auf künstlerischem gebiet nicht sehen zu wollen. die große fesselung der produktivkräfte durch die kapitalistische produktionsweise kann die literatur zb nicht auslassen. ich halte mich zunächst an meine eigene produktion. die HAUSPOSTILLE, meine erste lyrische publikation, trägt zweifellos den stempel der dekadenz der bürgerlichen klasse. die fülle der empfindungen enthält die verwirrung der empfindungen. die differenziertheit des ausdrucks enthält zerfallselemente. der reichtum der motive enthält das motiv der ziellosigkeit. die kraftvolle sprache ist salopp. usw. usw. diesem werk gegenüber bedeuten die späteren SVENDBORGER GEDICHTE ebensogut einen abstieg wie einen aufstieg. vom bürgerlichen standpunkt aus ist eine erstaunliche verarmung eingetreten. ist nicht alles auch einseitiger, weniger „organischs“, kühler, -„bewußter-“ (in dem verpönten sinn)? meine mitkämpfer werden das, hoffe ich, nicht einfach gelten lassen. sie werden die HAUSPOSTILLE dekadenter nennen als die SVENDBORGER GEDICHTE. aber mir scheint es wichtig, daß sie erkennen, was der aufstieg, sofern er zu konstatieren ist, gekostet hat. der kapitalismus hat uns zum kampf gezwungen. er hat unsere umgebung verwüstet. Ich gehe nicht mehr „im walde vor mich hin“, sondern unter polizisten. da ist noch fülle, die fülle der kämpfe. da ist differenziertheit, die der probleme. es ist keine frage: die literatur blüht nicht, aber man sollte sich hüten, in alten bildern zu denken. die vorstellung von der blüte ist einseitig. den wert, die bestimmung der kraft und der größe darf man nicht an die idyllische vorstellung des organischen blühens fesseln. das wäre absurd. abstieg und aufstieg sind nicht durch daten im kalender getrennt. diese linien gehen durch personen und werke hindurch.

Merkwürdig ist die Übersetzung des Worts Dekadenz durch den ehemaligen Lateinschüler Brecht. Aus dem Verfall macht er den Abstieg. Mit dieser deutlichen Entschärfung mildert er offenbar den Vorwurf, der ihm gilt, macht aus dem Angriff ein Angebot zur Diskussion. Die ihn angreifen, nennt er folgerichtig seine Mitkämpfer. Der notorische Nicht-Genosse grüßt im Arbeitsjournal (to whom it may concern – die Nachwelt?) seine Genossen. Der Kapitalismus „hat uns zum kampf gezwungen. er hat unsere umgebung verwüstet“. Und seiner Hauspostille unterstellt er nicht nur selbstironisch die Dekadenz, treibt Sprachspiele mit „empfindungen“ und „motiv“, sondern provoziert, wenn auch nur im vorerst privaten Arbeitsjournal, er sei gerade in diesen oft beißenden Gedichten nur „im walde vor sich hin“ gegangen. Das ist schon etwas niedlich, Meister Brecht! Während er doch schon damals um das Bild aufzunehmen, in seinen Wäldern zugleich unter Polizisten ging, vielleicht mehrheitlich unter denen von der Sittenpolizei. Die für politische Gesinnung zuständigen Abteilungen befassten sich kaum später, aber dann dauerhaft mit ihm. Die „Legende vom toten Soldaten“, angeregt durch eine Graphik von George Grosz, war den Deutschnationalen unter ihnen bekanntlich sofort aufgefallen. Der Schlusssatz der Notiz vom 10. September 1938 ist allerdings in seinem ruhigen Ernst bemerkenswert. Wenn überhaupt von Dekadenz die Rede sein sollte – ein Begriff des französischen 19. Jahrhunderts, verbunden mit den Schöpfungen von Joris-Karl Huysmans, von den Dogmatikern des sozialistischen Realismus in der Mitte des 20. Jahrhundert zu neuer Blüte gebracht –, dann hat sie also jeder verschiedentlich gemischt in sich. Linien des Dekadenten, „abstieg und aufstieg“ des Umgangs mit Form, Bild, Ornament mischen sich, soweit es um das Werk auf längere Sicht geht. Was den Menschen angeht, dem Brecht hier getrennt vom Werk als Träger von Dekadenz nahetritt, mag der dies auch ethisch, moralisch, im Sozialverhalten sein. Das stünde auf einem anderen Blatt. Wie viel Finger deuten da auf wen? Dass die Nazis den Begriff zur selben Zeit kultivierten und anwendeten gegen alles, was nicht ins arisch-heroische Kunst- und Literaturbild passte, ist kein Zufall. Mit derselben Absicht der Ausgrenzung bis hin zum Vernichten von Werken und Menschen deutschten sie das welsche, das lateinische Wort ein und sagten dazu: Entartung.

(…)

Uwe Kolbe, aus Uwe Kolbe: Brecht, S. Fischer Verlag, 2016

 

 

Erfahrungen mit Brecht. Therese Hörnigk im Gespräch mit Friedrich Dieckmann

 

Brecht – Die Kunst zu leben. Ein Fernsehporträt von Joachim Lang aus dem Jahre 2006

 

Günter Berg / Wolfgang Jeske: Bertolt Brecht. Der Lyriker

Albrecht Fabri: Notiz über Bertolt Brecht, Merkur, Heft 33, November 1950

Walter Jens: Protokoll über Brecht. Ein Nekrolog, Merkur, Heft 104, Oktober 1956

Günther Anders: Brecht-Porträt. Tagebuch-Aufzeichnungen Santa Monica 1942/43, Merkur Heft 115, September 1957

Martin Esslin: Bert Brecht Vernunft gegen Instinkt, Merkur, Heft 163, September 1961

Robert Minder: Die wiedergefundene Großmutter. Bert Brechts schwäbische Herkunft, Merkur, Heft 217, April 1966

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (I), Merkur, Heft 254, Juni 1969

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (II), Merkur, Heft 255, Juli 1969

Sidney Hook, Hannah Arendt: Was dachte Brecht von Stalin. Nochmals zu Hannah Arendts Brecht-Aufsatz, Merkur, Heft 259, November 1969

Iring Fetscher: Brecht und der Kommunismus, Merkur, Heft 304, September 1973

Bernd-Peter Lange: Walter Benjamin und Bertolt Brecht am Schachbrett, Merkur, Heft 791, April 2015

Bertolt Brecht und weitere Sprecher: Lesungen und O-Töne 1928–1956 in Washington und Berlin. Sammlung Suhrkamp Verlag: Tonkassette 116

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Bertolt Brecht

 

ZU BRECHT, DIE WAHRHEIT EINIGT

Mit seiner dünnsten Stimme, um uns nicht
Sehr zu verstören, riet er noch beizeiten
Wir sollten einfach sagen wos uns sticht
So das Organ zu heilen oder schneiden.

Ein kräftiges: das ist es, und es kracht
Wenn nicht – (wie bei den Klassikern, die es halt gab)
Ein Eingeständnis, das uns Beine macht,
Das war sein Vorschlag blickend auf sein Grab.

So was ist noch auf dem Papier zu haben.
Wir haben ihn nicht angenommen, nur
Gewisse Termini und die Frisur.

Jetzt trägt man auch die Haare wieder länger.
Das Fleisch ist dicker, und der Geist enger.
So wurde er Klassiker und ist begraben.

Volker Braun

 

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Wolfgang Greisenegger: Von Wahrheit und Widerspruch
Die Furche, 12.2.1998

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Nils Schniederjann: Das umkämpfte Erbe des kommunistischen Dramatikers
Deutschlandfunk Kultur, 10.2.2023

Karin Beck-Loibl: Genie und Polyamorie
zdf.de, 10.2.2023

Hubert Spiegel: Briefmarke zum 125. Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.2023

Christopher Beschnitt im Gespräch mit Jürgen Hillesheim: „Über die Political Correctness würde Brecht die Nase rümpfen“
Cicero, 10.2.2023

Ronald Pohl: Mit Bertolt Brecht die Kunst des Zweifelns erlernen
Der Standart, 10.2.2023

Theater und mehr: Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht
ardmediathek.de

Jan Kuhlbrodt: Eine Intervention
signaturen-magazin.de

Otto A. Böhmer: Die gewissen Möglichkeiten
faustkultur.de, 10.2.2023

Brechtfestival Augsburg vom 10.–19.2.2023

Brecht125

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorNotizbücher +
Archiv 1, 2 & 3 + Internet Archive + Kalliope + ÖM + KLGUeLEX
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachruf auf Bertolt Brecht: Tumba

 

Bertolt Brecht: Lob des Lernens gesungen von Nina Hagen 2016 in Potsdam.

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