Bertolt Brecht: Gedichte für Städtebewohner

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bertolt Brecht: Gedichte für Städtebewohner

Brecht-Gedichte für Städtebewohner

MORGENDLICHE REDE AN DEN BAUM GRIEHN

1
Griehn, ich muß Sie um Entschuldigung bitten.
Ich konnte heute nacht nicht einschlafen, weil der
aaaaaSturm so laut war.
Als ich hinaus sah, bemerkte ich, daß Sie schwankten
Wie ein besoffener Affe. Ich äußerte das.

2.
Heute glänzt die gelbe Sonne in Ihren nackten Ästen.
Sie schütteln immer noch einige Zähren ab, Griehn.
Aber Sie wissen jetzt, was Sie wert sind.
Sie haben den bittersten Kampf Ihres Lebens gekämpft.
Es interessierten sich Geier für Sie.
Und ich weiß jetzt: einzig durch Ihre unerbittliche
Nachgiebigkeit stehen Sie heute morgen noch gerade.

3
Angesichts Ihres Erfolgs meine ich heute:
Es war wohl keine Kleinigkeit, so hoch heraufzukommen
Zwischen den Mietskasernen, so hoch herauf, Griehn, daß
Der Sturm so zu Ihnen kann wie heute nacht.

 

 

 

Nachwort des Herausgebers

Als heroische Landschaft habe ich die Stadt, als Gesichtspunkt die Relativität, als Situation den Einzug der Menschheit in die großen Städte zu Beginn des dritten Jahrtausends.
Brecht, Autobiographische Aufzeichnungen, Ende Juli 1926

Dem gleich ich, der den Backstein mit sich trug
Der Welt zu zeigen, wie sein Haus aussah.
Brecht, Motto für Steffinische Sammlung

1.
Es bedeutet eine Rechtfertigung und zugleich die beste Einführung in die Lektüre dieser Gedichte für Städtebewohner, daß die Sammlung zu einem Zeitpunkt erscheint, in dem der kapitalistische Westen sich in einer schweren Krise befindet. Das hohe dichterische Niveau der Gedichte gewinnt auf diese Weise wenigstens einen Teil des ihnen vom Autor beigemessenen praktischen Wertes und der Brauchbarkeit für den Alltag zurück, die für viele von ihnen die Grundlage bilden. Denn hätte man die Sammlung auch nur vor nicht allzu langer Zeit – in jenen Jahren des Wirtschaftsaufschwungs, den man ohne Ende glaubte – den Städtebewohnern angeboten, die gewohnt waren, Straßenunruhen, Demonstrationszüge und Elendsviertel an der Peripherie nur für unschädliches Archivmaterial zu halten, etwa wie die Dokumentarfilme über die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, dann wäre der Kreis ihrer Leser klein gewesen. Viele dieser Verse hätten wie das Echo einer fernen Zeit geklungen und denjenigen neue Argumente geliefert, die Brecht zu den Klassikern der Vergangenheit abschieben möchten, die unter der Asche und den Trümmern des letzten Weltkrieges begraben liegen. Aber heute setzt die historische Dialektik wieder Bilder und Themen auf die Tagesordnung, die der Wirtschaftsübermut unseren Augen erspart und aus unserem moralischen Horizont weggefegt zu haben schien.
Das Thema der Großstadt ist eines davon. Brecht hat sich ausführlich damit auseinandergesetzt und eine lyrische Tradition, die im 19. Jahrhundert mit den Anfängen der Massengesellschaft entstanden war und ihre Höhepunkte in Baudelaire und den expressionistischen Dichtern hatte, fortgesetzt – aber auch aufgebraucht. Die Konstante dieser poetischen Linie ist der Zusammenstoß von Individuum und Masse; der Ort, wo er sich auf traumatische Weise vollzieht, ist die Stadt. Das gilt auch für Brecht. Aber wenn die Elemente auch geschichtlich gleich bestimmt sind, ihre Bearbeitungen durch die Dichter sind es nicht. Solche Verschiedenheit zu sehen und zu verstehen, mag es ausreichen, einen Vers aus Baudelaires Le goût du néant:

Le Printemps adorable a perdu son odeur.1

dem Beginn von Brechts „Über das Frühjahr“ gegenüberzustellen, in dem das gleiche Motiv behandelt wird:

Lange bevor
Wir uns stürzten auf Erdöl, Eisen und Ammoniak
Gab es in jedem Jahr
Die Zeit der unaufhaltsam und heftig grünenden Bäume.
Wir alle erinnern uns
Verlängerter Tage
Helleren Himmels
Änderung der Luft
Des gewiß kommenden Frühjahrs.
Noch lesen wir in Büchern
Von dieser gefeierten Jahreszeit
Und doch sind schon lange
Nicht mehr gesichtet worden über unseren Städten
Die berühmten Schwärme der Vögel
.2

Bei beiden herrscht die Sicherheit eines endgültigen Verlusts vor, aber bei Brecht ersetzt die Anhäufung objektiver Feststellungen die subjektive Empfindung, die sich aus dem Wort odeur erschließt. Jetzt wird man besser die Stelle verstehen, an der Brecht so entschieden mit der „Nervosität“ Baudelaires polemisiert, die nach einer subtilen Interpretation Benjamins aus dem Widerspruch entstanden ist, sich von der Masse in der Stadt angezogen und abgestoßen zu fühlen:

Die Nervosität seiner Gedichte wäre nicht schlecht, es wird weiter Großstädte geben, aber es ist zu sehr die Nervosität des schlechten Gewissens, zu einer Zeit, wo es Leute mit gar keinem Gewissen gab, abgesehen von denen mit gutem. Dafür entschädigt der Zynismus nicht. Und die große Verwirrung ist nicht eigentlich Gegenstand dieser Gedichte, sondern ihr Schicksal.3

Aber mit diesem Zitat befinden wir uns schon in einer Phase, wo die Loslösung von der Tradition bewußt ist. Für den jungen Brecht ist die Frage dagegen vielschichtiger.
Das umstrittene Verhältnis Brechts zum Expressionismus – meistens oberflächlich behandelt und jedenfalls auf einen kurzen Zeitraum beschränkt – kann neuen Interpretationen Raum geben, wenn es nicht wie üblich aus der Sicht des Theaters, sondern aus einer thematischen Perspektive gesehen und das poetische Werk des Dichters als Untersuchungsmaterial genommen wird. Dann ist zu sehen, wie Brecht, der doch nie allzu gütig mit der Dichtergeneration vor ihm umgegangen ist, in Wirklichkeit ihr Schuldner war. Nämlich dort, wo der Expressionismus der Dichtung des Jahrhunderts seinen eigenständigsten und dauerhaftesten Stempel aufgedrückt hatte: beim Thema der Stadt als „natürlicher“ Landschaft des zeitgenössischen Menschen, und das lange bevor die Neue Sachlichkeit und die Asphaltliteratur aufgetreten waren. Andrerseits ist das Stadtmotiv bei Brecht so zentral, kehrt in so zahlreichen Schattierungen und Metaphern wieder und tritt in nahezu allen Phasen des ununterbrochenen dichterischen Experimentierens auf, daß es die zeitliche Begrenzung der Jugend sprengt. Man muß sich fragen, ob es nicht mehr bedeutet als den üblichen Tribut, den jeder junge Dichter dem kulturellen Milieu leistet, das ihn geformt hat. Dazu ist als erstes zu sagen, daß es sich um ein Erbe handelte, das Brecht nicht unbefangen, sondern mit allen Vorbehalten angetreten hat, weil er der mystisch angehauchten Haltung, die den Expressionisten gemein war, ein instinktives, schon an Ablehnung grenzendes Mißtrauen entgegenbrachte. Ihre umwerfende Entdeckung des Stadtuniversums eröffnete ihnen einerseits eine unerhört neue und konkrete Welt – objektiv gesehen die der modernen Dichtung angemessenste –, wurde aber gleichzeitig von ihrer besessen subjektivistischen Sehweise umgestürzt und angegriffen, so daß sich ihnen die Möglichkeit verschloß, sich mit der eigentlichen geschichtlich-sozialen Substanz des Prozesses auseianderzusetzen, gegen den sich ihr entsetzter Schrei erhob. In diesem Gegensatz von Objektivität der Welt und Subjektivität der Antwort darauf – aus dem der Expressionismus lebt – mußte in den gespenstisch fahlen Großstadtlichtern und unter dem drohenden Druck sich auf das Einzelindividuum neigender Hochhäuser die nackte Verletzlichkeit der menschlichen Kreatur noch dramatischer erscheinen, wenn sie auf ihrem modernen Kreuzweg auf einem Zementberg an jeder Station ihr Schicksal als Opferlamm bestätigt sah. In diesem Sinn kann der absolute Subjektivismus auch als Verteidigung bis aufs äußerste des Individuums gegen den Ansturm der Massengesellschaft gesehen werden, und sein schriller Schrei als letzter Versuch des isolierten Menschen gewertet werden, der im Sog des Meeres der Objektivität die Aufmerksamkeit auf sich lenken will. Bei den Expressionisten erscheint die Masse wie eine drängende Flut und das Ende der bürgerlichen Welt tout court als Weltende. Ein bekanntes Gedicht von Jakob van Hoddis mit diesem Titel faßt alle diese Elemente zusammen:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut
.4

In einer so drohenden Atmosphäre kann das Umherirren des Expressionisten in der Großstadt nicht mehr das Verweilen des Pariser flâneur sein, sondern bedeutet das Leerlaufen des Labyrinthbewohners, Benjamin hat die tiefere psychologische und wirtschaftliche Motivierung dafür intuiert:

Das Labyrinth ist der richtige Weg für den, der noch immer früh genug am Ziel ankommt. Dieses Ziel ist der Markt („Zentralpark“).5

In Brechtschen Gedichten wie „Die Hölle der Enttäuscher“ und vor allem in den „Hollywood-Elegien“ oder in „Liefere die Ware!“ erscheint die ganze Stadt und das Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen unverhüllt wie ein großer Markt, wo das Gesetz von Angebot und Nachfrage herrscht. Auf diese Weise erweist sich bei Brecht die mystische oder pathetische Beziehung des Individuums zur Realität nicht nur säkularisiert, sondern wird auch einer eingehenden Kritik unterzogen. Er stellt der direkten oder indirekten Verherrlichung des Individuums bei den Expressionisten die Abwertung des Subjekts gegenüber. In dieser Grundhaltung findet sich, jenseits der formalen Frage von Daten und thematischen Analogien, das überzeugendste Argument für Brechts Antiexpressionismus. Ein Großteil der Gedichte aus der Hauspostille ist bereits auf dieses Ziel ausgerichtet, also lange vor dem Lesebuch für Städtebewohner, das dem systematischen Abbau der subjektivistischen Ansprüche und der Illusion des Einzelnen, vor dem vermassten Stadtuniversum in der eigenen Innerlichkeit Unterschlupf zu finden, gewidmet ist:

Aber bewahre einen Schnee im Topf auf!
Er wird schmutzig von selbst
.6

Auch die Quintessenz eines Stückes wie Im Dickicht der Städte ist genau diese, daß in der modernen Massengesellschaft das Zusammentreffen von vereinzelten Individuen auf der Suche nach einer wie immer gearteten Beziehung zum Nächsten bei aller Entschlossenheit nicht mehr möglich ist. Die Kritik könnte kaum tiefer ins Herz der expressionistischen Ideologie stoßen.

2.
Die Großstadt wird also unmittelbar als Ort der Schulung wahrgenommen, eher noch als für die Leser für den Autor selbst. Wie Karl Kraus, eines seiner moralischen Vorbilder, erlitt auch Brecht den Schock der Asphaltstadt, und die Feststellung von Garga in Im Dickicht („Wir sind in eine Stadt verschlagen mit den Gesichtern des flachen Lands“)7 mit Reminiszenzen an einen berühmten Vers aus „Vom armen B. B.“ ist ein autobiographisches Fragment, in dem sich das Kollektivtrauma der großen Stadtzuwanderung widerspiegelt. Von diesem aufwühlenden Zusammenstoß sind zwei Spuren geblieben. Die erste ist das „Lied am Schwarzen Samstag in der elften Stunde der Nacht vor Ostern“ mit ineinander verflochtenen Motiven der Erotik und der Stadt. Hier wird der Sturm auf die Stadt wie ein bestürzend-erregender Einfall in eine Gegend erlebt, die gleichzeitig verführt und abstößt wie in früher Jugend der Körper der Frau. Die zweite Spur ist „O Falladah, die du hangest!“, die Geschichte eines mitten auf der Frankfurter Allee von gewöhnlichen Bürgern noch lebend zerstückelten Pferdes. Das Entsetzen dieser Szene klärt über die Natur des Schocks auf: die Stadt tötet, was lebt, nährt sich davon und zerstreut Namen und Erinnerung daran. In „Von den Resten älterer Zeiten“ heißt es:

…………….. Schon
Erzählen die Mütter von Tieren
Die Wägen zogen, Pferde geheißen.
Freilich in den Gesprächen der Kontinente

Kommen sie nicht mehr vor mit ihrem Namen:
An den großen neuen Antennen
Ist von alter Zeit
Nichts mehr bekannt
.8

Die Stadt kennt also keine Zeit außer der Gegenwart, hat keine Geschichte und kümmert sich nicht um morgen. Auf die Vergangenheit und das, was schwach ist, wird die „zermalmende Wucht der Städte“ ausgeübt, wie es in einem Gedicht jener Jahre heißt. Auch die Natur, die andere Konstante in der poetischen Landschaft Brechts, kämpft einen harten Überlebenskampf gegen Eisen und Zement. Darum wendet sich Brecht mit Respekt und Bewunderung an den Baum Griehn („Morgendliche Rede an den Baum Griehn“) oder lenkt die Aufmerksamkeit auf den kleinen Pflaumenbaum im Hof („Der Pflaumenbaum“) oder auf die Pappel, die den Winter überstanden hat („Die Pappel vom Karlsplatz“). Aber die Stadt ruft auch andere, beunruhigendere Pflanzenbilder hervor. Im zweiten Stück (Trommeln in der Nacht, 1919) lassen die Trommeln des Titels in der Großstadt ein zugleich kriegerisches und exotisches Echo erklingen. Von Anfang an schwebt dem jungen Brecht die Vorstellung der Stadt als Dschungel vor. Aber der allumfassende Charakter des Stadtuniversums steckt in noch ungewöhnlicheren Metaphern. Bei Brecht gilt nämlich nicht nur die abgegriffene Kriminalromangleichung Stadt = Dschungel, sondern auch ihr Gegenteil: in „Von des Cortez Leuten“ wird der Wald, der in einer Nacht die Conquistadores verschlingt, zum mächtigen Pflanzensymbol für das Verhältnis Stadt – Städtebewohner, zu einer unerwarteten Variante der „zermalmenden Wucht der Städte“, die das Lebende erstickt, zu einer phantastischen Verkörperung der unaufhaltsam wachsenden Welt der Dinge um uns, die den Fluchtweg auch unter heiterem Tropenhimmel versperren. So zeigen auch bei Benjamin in den Städtebildern die Steine eine ursprüngliche Lebenskraft:

Wie die Bewohner entlegener Bergdörfer einander bis auf Tod und Siechtum versippt sein können, so haben sich die Häuser vertreppt und verwinkelt.9

Flucht ist also aussichtslos, unmöglich – man vergleiche dazu auch, wie das Thema in „Wohin zieht ihr?“ abgehandelt wird. Hier ist Brecht, wie man so sagt, auf dem Tiefpunkt angelangt. Und jetzt entsteht jenes schreckliche Gedicht „Über die Städte“:

Unter ihnen sind Gossen
In ihnen ist nichts, und über ihnen ist Rauch.
Wir waren drinnen. Wir haben nichts genossen.
Wir vergingen rasch. Und langsam vergehen sie auch
.10

Aber, wie so oft bei Brecht, ist die tiefste Verzweiflung die Bedingung für die Rettung („Me-ti lehrte: Umwälzungen finden in Sackgassen statt“).11 Das Gedicht trägt ein bedeutsames Datum: 1927 – die Zeit also, zu der Brecht beginnt, neue Instrumente der Gesellschaftsanalyse zu verwenden. Um den Anblick der kapitalistischen Stadt ertragen zu können – jener modernen Meduse, die zu Stein macht –, sieht Brecht sie mit den Augen des Historikers und setzt zwischen sich und die Schrecken der Stadt der Gegenwart eine Distanz, er verfremdet sie in der Zeit, indem er sie aus zukünftigen Zeiten betrachtet. Auf diese Weise kann er „die Denkmäler der Bourgeoisie als Ruinen sehen, bevor sie noch gefallen sind“.12 Dieser Prozeß gelangt mit der sarkastischen Grabrede auf den „Verschollenen Ruhm der Riesenstadt New York“ auf seinen Höhepunkt, gerade zur Zeit der großen Krise, die wirklich wie die Erfüllung der Prophezeiung erschien. Aber einstweilen heißt es die, die noch die Stadt bewohnen lehren, „wie die Welt läuft“. Das ist die Aufgabe des langen Zyklus „Aus einem Lesebuch für Städtebewohner“, dessen Hauptthema sich, wie schon angedeutet, in der Abwertung des Subjekts zusammenfassen läßt. Das „Lesebuch“ ist ein Vademecum fürs Überleben, ein Handbuch, das zum survival kit des perfekten Bürgers gehört. Wer sich an seine Lehren hält, wer seine harte Lektion lernt, der hat eine Überlebenschance. Nicht umsonst könnte das einleitende Gedicht, das in jeder Strophe das Gebot des Titels: „Verwisch die Spuren!“ wiederholt zu den Verhaltensregeln für den Untergrundkämpfer in einer besetzten Stadt gehören:

Was immer du sagst, sag es nicht zweimal
Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn.
Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ
Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat
Wie soll der zu fassen sein!
Verwisch die Spuren!
13

Im Lesebuch tauchen auch wieder für Brechts Nihilismus charakteristische Gedankengänge auf, wie sie häufig in der Hauspostille zu finden waren („Laßt eure Träume fahren…“; „Und nicht schlecht ist die Welt / Sondern / Voll“; „Wo alles nicht genügt / Ist nichts genügend“), aber hier ist die Taktik des Sich-gehen-lassens, des Keinen-Widerstand-leistens nicht als Aufforderung zu verstehen, in den Tag zu leben, sondern als Rat, eine langfristige Strategie anzuwenden. Was man in „Vom fünften Rad“ liest:

Ich weiß, du hörst nicht mehr
Aber
Sage nicht laut, die Welt sei schlecht
Sage es leis
.14

wird in politischen Worten dem ungeduldigen jungen Genossen, der Maßnahme wiederholt werden. Was das Thema der Auflösung betrifft, wie es von dem jungen Dichter in „Vom ertrunkenen Mädchen“ und im „Choral vom Manne Baal“ gesungen wurde, so taucht es im Lesebuch in einer typisch stadtgebundenen Situation wieder auf, im Identitätsverlust, der Entfremdung des Stadtbewohners von sich selbst und vom Nächsten. Daß der Mensch – im wahrsten Sinne des Wortes – zerlumpt ist, reicht noch nicht aus:

Die Wäsche, im Hof zum Trocknen aufgehängt
Ist meine Wäsche, ich erkenne sie gut.
Näher hinblickend, sehe ich
Allerdings
Nähte darinnen und angesetzte Stücke.
Es scheint
Ich bin ausgezogen. Jemand anderes
Wohnt jetzt hier und
Sogar in
Meiner Wäsche
.15

Die menschliche Trostlosigkeit in der Stadtwelt ist eine, die den Radgeber selbst erschüttert. Im „Bericht anderswohin“ zeigen die Schüler, daß sie ihrem Meister überlegen sind, was Anpassungsfähigkeit an entwürdigende Lebensumstände betrifft:

Aber abends sah ich, daß sie
Auf den Mauern saßen und aßen
Und
Was sie aßen, waren Steine
Und ich sah, sie hatten schläulich
Neue Speis zu essen grad noch
Rechtzeitig gelernt
.16

Die Ausmaße der von der Großstadt in der Geschichte der Menschheit bewirkten Mutation lassen sich aus dem Bild ersehen, das das biblische Wunder umkehrt: das Brot ist in Stein verwandelt. Es handelt sich um eine Vorstellung von Dauer. Im Sonett „Von Vorbildern“ wird wiederholt:

Den Hunger sah ich von Steinen nähren!17

und in dem bedeutenden Lehrstückfragment „Der Brotladen“ spielt sich eine epische Straßenschlacht mit Brötchen ab, „die den Himmel verdunkeln“, während in der rätselhaften Dichtung „Der Steinfischer“ das Netz Steine anstelle von Fischen an die Oberfläche bringt, und der Fischer stolz seine Beute den „unglücklichen“ Dorfbewohnern zeigt, die ihm zusehen. Vor dem Hintergrund dieser immer wiederkehrenden Metapher kann man vielleicht weitere Feinheiten in der Botschaft erkennen, die Brecht-Laotse seinen Mitbürgern in der „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Emigration“ hinterlassen hat:

Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt
.18

Alles in allem hat das Lesebuch sein Ziel verfehlt, wenn in „Bericht anderswohin“ auch davon die Rede ist, daß das Ich sich aus einer undifferenzierten Masse zufriedener Bürger ausschließt:

Als ich in die neuerbauten
Städte kam, da kamen mit mir
Viele, aber als ich wegging aus den
Neuerbauten, kam nicht einer
Mit mir weg
.19

3.
Eine neue, von der Politik beherrschte Phase hebt an. Die Großstadt bestätigt sich auch hier als ausschlaggebender Bezugspunkt sowohl für die moralischen und poetischen Entscheidungen Brechts („Ausschließlich wegen der zunehmenden Unordnung / In unseren Städten des Klassenkampfs / Haben etliche von uns in diesen Jahren beschlossen…“)20 als auch für die technisch-stilistischen im engeren Sinn. In seinem Aufsatz „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ erinnert der Dichter sich, wie stark er vom Rhythmus einer auf einem Demonstrationszug durch vornehme Berliner Stadtviertel gerufenen Parole beeindruckt worden war:

Wir haben Hunger.

Einige Jahre lang – für die Zeit der Lehrstücke und der Lieder, Gedichte, Chöre – leiht Brechts Vers den großen Massenbewegungen, die auf die Straße gehen, seine Stimme, und bestätigt damit auch in der veränderten Lage die Gültigkeit der Aussage „In der Asphaltstadt bin ich daheim“ („Vom armen B. B.“). Die weitere poetische Entwicklung Brechts ist bekannt. Das Thema der Stadt macht zusehends den Themen des eigentlichen politischen Kampfes Platz. Mit dem Sieg der Nationalsozialisten breitet sich der in der Stadt zusammengedrängte Gewaltcharakter der zwischenmenschlichen Beziehungen über Deutschland und Europa aus und enthüllt seine wahre Natur als offener Krieg um den Besitz der Waren und der Märkte. Mit der Emigration und dem Krieg macht der antifaschistische Kampf sein Recht im Brechtschen Liederschaffen immer stärker geltend, und erst im amerikanischen Exil wird die kapitalistische Stadt wieder zum Symbol für die Unmenschlichkeit der Verhältnisse, die alles zur Ware degradieren. Bei der Rückkehr sind die Städte ein Trümmerhaufen. Nach einigen Versen auf den Wiederaufbau in Berlin verringern die häufigen Rückschläge, die Brechts Hoffnung auf ein menschengerechtes Zusammenleben erfährt, nach und nach seine Zuversicht, ohne sie allerdings ganz aufzuheben, und die Stadtlandschaft verkümmert oder wird nur als Kontrast zu Gedichten heraufbeschworen, die der Natur, bescheidenen Dingen, kleinen Bäumchen gewidmet sind. Aber auch aus der weniger reichen Periode wird der Leser hier eine breite Auswahl finden, die ihn nicht enttäuschen wird.
Zum Abschluß sei dem Herausgeber erlaubt, die Aufmerksamkeit auf zwei kaum bekannte, an die jüngsten Leser gerichtete Gedichte zu lenken. Man weiß, wie sehr sich Brecht mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt hat, so sehr, daß er nicht auf die Meinung Benjamins gehört hat, der befürchtete, daß die Gruppe der Kinderlieder das Gleichgewicht der Svendborger Gedichte stören würde.21 In der „Wahren Geschichte vom Rattenfänger von Hameln“ ist das Thema der Stadt mit dem der Kindheit und der Verantwortung des Dichters verwoben. Um die Kinder in die Stadt der Zukunft zu bringen, muß der Rattenfänger seine ganze Kunst ausspielen, aber er darf dabei nicht das Ziel aus den Augen verlieren, die Kinder zu retten. Wenn er dem Zauber seines Lieds nachgibt, „zu hübsch, zu lang, zu wunderbar“, dann bedeutet das für die Kinder die Rückkehr in die Gefängnis-Stadt und für den Künstler den Galgen. Mehr als ein Indiz spricht dafür, daß Brecht dieses Urteil für angemessen hielt, auch wenn er dem Gericht sicher die Legitimation aberkannte. Denn wenn der Rattenfänger sich selbst folgt, verrät er seine moralische Sendung, wenn er der Schönheit nachgibt, wird er zum Komplizen einer blutigen, gewalttätigen Welt, die ihr eigenes So-Sein verteidigt, indem sie nicht nur das Lied erstickt, sondern es auch verabsolutiert. Aus diesem Grund richtet sich in „Adresse des sterbenden Dichters an die Jugend“ der „Dichter“ an die Jugend, die das Erbe ohnmächtiger Erwachsener und verlorener Kindergenerationen antritt deren Leib und Seele von der „zermalmenden Wucht der Städte“ verstümmelt worden ist und die so oft von den Dichtern verraten wurden:

Also verbleibt mir, der ich mein Leben
So vergeudet habe, nur, euch aufzufordern
Kein Gebot zu achten, das aus unserem
Faulen Maule kommt und keinen
Rat entgegenzunehmen von denen, die
So versagt haben, sondern
Nur aus euch heraus zu bestimmen, was euch
Gut ist und euch
Hilft, das Land zu bebauen, das wir verfallen ließen, und
Die wir verpesteten, die Städte
Bewohnbar zu machen
.22

Franco Buono, September 1977, Nachwort

 

Inhalt

Seit den Anfängen der Massengesellschaft im 19. Jahrhundert ist sie nicht mehr aus der ,lyrischen‘ Produktion wegzudenken: die Stadt. Vervielfältigung wie Zerstörung menschlicher Beziehungen, Befreiung von (dörflicher) Naturbornierung und Zerstörung natürlicher Bedürfnisse, kurz: Faszination und Grauen sind die Pole dieses genuin ,modernen‘ Motivs. Seine raffiniertesten Versionen verschränken beides: entdecken die Trauer des Berauschenden großer Städte und die Faszination noch ihres Unmenschlichen. Auch Brechts Stadt-Gedichte sind, obwohl gewiß das Trostlose und Unmenschliche akzentuierend, nicht ohne eine solche dialektische Kehrseite. Denn ihre gesellschaftliche Hoffnung wie ihre didaktische Maxime ist, daß „die tiefste Verzweiflung die Bedingung für die Rettung“ ist – so Franco Buono, der diese Auswahl zusammengestellt hat. Buonos Nachwort hebt das Besondere von Brechts Stadt-Gedichten hervor und skizziert die Geschichte des Stadt-Motivs in Brechts Werk.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1980

 

Der „eingreifende“ Dichter

– „Die Schlechten fürchten deine Klaue. Die Guten freuen sich deiner Grazie“ –

Bertolt Brechts Interesse an poetologischer Lyrik scheint lange von seinem theatertheoretischen Engagement überlagert und unterdrückt zu sein. Weder in der Hauspostille (1927) noch in anderen Gedichten der Weltkriegszeit und der zwanziger Jahre entdeckt man ernstzunehmende Ansätze. Wollte der unentwegt über die Revolutionierung des Dramas und über die Formen eines „epischen Theaters“ nachdenkende Autor die Lyrik von aller künstlerischen Selbstreflexion freihalten, sich hier also einen Ort der Poesie ohne Poetik bewahren? Sogar das frühe Gedicht „Prometheus“ vermeidet jegliche Anspielung auf die Künstlersymbolik, die sich an die mythische Gestalt geheftet hatte. Brechts Bedürfnis nach theoretischer Reflexion von Problemen der Lyrik kommt offensichtlich zunächst ohne die Lyrik selbst aus. Aber er macht durchaus in den zwanziger Jahren mit unkonventionellen Ansichten zur Lyrik von sich reden.
Als im Jahr 1926 die Zeitschrift Die literarische Welt ein Preisausschreiben veranstaltet, hält der zum Juror bestellte junge Brecht von den mehr als fünfhundert Lyrik-Einsendungen nicht eine für preiswürdig. Er findet die „rein“ lyrischen Produkte überschätzt. Lyrik müsse „etwas sein, was man ohne weiteres auf seinen Gebrauchswert untersuchen“ könne. Die eingereichten Gedichte „entfernen sich einfach zu weit von der ursprünglichen Geste der Mitteilung eines Gedankens oder einer auch für Fremde vorteilhaften Empfindung. Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten. In ihnen ist die Sprechweise des Verfassers enthalten, eines wichtigen Menschen.“ (XXVIII, 55)23 Lyrik hat also für Brecht Mitteilungs-, nicht nur Ausdrucksfunktion; sie ist kein Ort für ausschließlich subjektive Empfindungen, sondern für Empfindungen allgemeineren Gehalts. Dennoch bleibt die Lyrik Aussprache eines Subjekts, aber eben eines dokumentationswürdigen Subjekts. In einem Kurzaufsatz aus derselben Zeit, „Die Lyrik als Ausdruck“, präzisiert Brecht sein Verständnis des Begriffs „Ausdruck“:

Da drücken sich Individuen aus, da drücken sich Klassen aus, da haben Zeitalter ihren Ausdruck gefunden und Leidenschaften […].

Lyrik sei eben nicht zweckfreier Ausdruck, sondern schließe Handeln, Anweisung und Unterweisung mit ein. (XXVIII, 59)
Solche Bestimmungen sind zwar auch als versteckte Rechtfertigung der Hauspostille zu lesen, die Brecht ja unmittelbar, in der Anleitung für die richtige Lektüre der einzelnen „Lektionen“, als Gebrauchsgegenstand kennzeichnet, doch markieren sie zugleich die Gegenposition Brechts (schon des frühen Brecht) zu Lyrikern wie Hofmannsthal und Rilke, George oder Benn: das lyrische Subjekt läßt sich in die geschichtliche Bewegung und in deren soziale und politische Konflikte ein. Dies wird, bei aller Korrektur des frühen, gar zu pragmatischen Begriffs von Lyrik, die Grundposition Brechts bleiben.
Seine poetologische Lyrik ist zum erheblichen Teil antwortende und kritische Auseinandersetzung mit einer auf Horaz zurückgehenden Tradition. Vor allem der Gedanke des dichterischen Nachruhms und des Überdauerns der Werke beschäftigt ihn immer neu. Im ersten bedeutenden poetologischen Gedicht, „Über die Bauart langdauernder Werke“ (um 1931/32 geschrieben), steht im Argumentationsgang das dichterische Subjekt am Rande, auch handelt der Text nicht in erster Linie von Dichtungen oder Kunstwerken, sondern von menschlichen Werken allgemein, aber in ihrer Sonderart werden sie doch ausdrücklich gewürdigt, als „die Spiele, die wir erfinden“.

Wie lange
Dauern die Werke? So lange
Als bis sie fertig sind.
So lange sie nämlich Mühe machen
Verfallen sie nicht.

Einladend zur Mühe
Belohnend die Beteiligung
Ist ihr Wesen von Dauer, so lange
Sie einladen und belohnen.
(S. 387)

Das Fertig-sein wird nicht als ein Moment des Werks und seiner formalen Abrundung, sondern seines Weiterlebens im historischen Wirkungsprozeß gesehen. Nur solange der Benutzer (auch mit einer Maschine wird das Werk verglichen) und die Adressaten von ihm herausgefordert werden, hat es Bestand.

Wer verleiht den Werken Dauer?
Die dann leben werden.
Wen erwählen als Bauleute?
Die noch Ungeborenen.
(S. 389)

Im Bild der „Bauleute“ enthalten ist der Begriff der Praxis, einer Tätigkeit, die allein das Werk geschichtlich lebendig erhalten kann. Solcher Tätigkeit muß immer auch ein kritisches Denken, das Fragen, zugrunde liegen. Bei den Spielformen der Dichtung beruht ihre Unfertigkeit schon darauf, daß die Wörter mit „den Benützern ihren Sinn / Oftmals wechselten“, daß den Wörtern also in anderem sozialen und historischen Kontext auch andere Bedeutungsnuancen zuwachsen.
Voraussetzung für das Weiterleben künstlerischer Werke ist ihre geistige „Brauchbarkeit“, und sinnvoll ist das überdauern beispielsweise, wenn „ein Rat gegeben wird, dessen Ausführung lang dauert“. Aber solche Verkettung des Werks mit seiner Funktion in realgeschichtlichen Prozessen hat ihre Kehrseite. Denn nun sind Werke von langer Dauer nicht unbedingt zu begrüßen, weil sie einen Mangel an Veränderung anzeigen.

Einen guten Ausspruch kann man sich merken
Solange die Gelegenheit wiederkehren kann
Für die er gut war.
Gewisse Erlebnisse, in vollendeter Form überliefert
Bereichern die Menschheit
Aber Reichtum kann zu viel werden.
Nicht nur die Erlebnisse
Auch die Erinnerungen machen alt.
(S. 390)

Im äußersten Falle könnte also das lange Weiterleben bestimmter Werke geradezu Indiz für Fehlentwicklungen sein.
Es ist die Paradoxie einer als Werkzeug in politisch-sozialen Kämpfen sich verstehenden Kunst, die hier beschrieben wird, das Dilemma „politischer“ Dichtung, deren „Brauchbarkeit“ erlischt, sobald die Geschichte das vorgeworfene Ziel eingeholt, die literarische Intention verwirklicht hat. Das Gedicht „Über die Bauart langdauernder Werke“ ist damit lyrisch-poetologisches Seitenstück jener Wendung zum Lehrstück und zum Loblied oder Lehrgedicht, die Brecht nach seiner Beschäftigung mit der marxistischen Lehre in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre vollzieht. Mit den Lehrstücken teilt das Gedicht auch den Zug zum Modellhaften.

Gelehrt wird kein ,Inhalt‘, sondern eine Methode, nämlich rechtes ,produzierendes‘ Verhalten in einer gesamtgesellschaftlich begriffenen Interaktion. (Mennemeier)24

Dem Lehrzweck opfern hier die Reflexionen zu den Kunstwerken die Erkenntnis, daß Kunst mit ihrem ästhetischen Zusatzwert ihren Anlaß überleben kann, daß „die auf politische Wirkung zielenden Energien- ein Kunstgebilde hervorbringen können, „in dessen den Hervorbringungszweck überdauernder Form sie aufgehoben sind“ (Albrecht Schöne).25 Lieder und Gesänge sind ja mitgemeint, wenn Brecht später im „Kleinen Organon für das Theater“ (1949) seine frühere Absicht, „aus dem Reich des Wohlgefälligen zu emigrieren“, mit dem damals „beklagenswerten Zustand“ der Ästhetik begründet und nunmehr widerruft (XVI, S. 662).

Was Brecht schon in seinem ersten poetologischen Gedicht gefunden hat, ist eine lyrische Reflexionssprache, die Argumentationslogik und Bildhaftigkeit ins Gleichgewicht bringt, feste Strophen- und Versschemata sowie den Reim aufgibt, Sinnakzente und -einheiten über die Zeilenlänge entscheiden läßt und die rhythmische Bewegung so führt, daß sie auf eine zeigende oder pointierende, fragende oder auffordernde Sprachgeste zuläuft. Damit realisiert Brecht schon in diesem Gedicht, was er im Aufsatz „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ (1939) „Protest gegen die Glätte und Harmonie des konventionellen Verses“ und die „gestische“ Technik nennt, über die es heißt:

Die Sprache sollte ganz dem Gestus der sprechenden Person folgen. (XIX, S. 397f.)

Brecht erläutert das gestische Sprechen an einem Beispiel aus der Lutherschen Bibelübersetzung. Den Satz „Reiße das Auge aus, das dich ärgert“ übersetze Luther so:

Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus!

Der erste Satz enthalte eine Annahme; dann komme eine kleine Pause der Ratlosigkeit und erst dann der verblüffende Rat. Diese Formulierung sei ganz offensichtlich „gestisch viel reicher und reiner“. Eignung und Vorteil dieser gestischen Technik gerade für die poetologische Lyrik liegen darin, daß sie den Erkenntnisgehalt klarer und wirkungsvoller entwickelt und ihm dadurch genauere Aufmerksamkeit sichert, ohne den poetischen Charakter der Sprache anzutasten und das Gedicht in die Nähe des bloß versifizierten theoretischen Essays zu bringen. Die gestische Technik ist Brechts besonderer Beitrag zu einer Poetisierung poetologischer Lyrik.
Wie die ästhetische Form und die historische Verbindlichkeit von Lyrik in ein spannungsvolles, ja ein Konfliktverhältnis treten können, veranschaulicht das im skandinavischen Exil, gegen Ende der dreißiger Jahre entstandene Gedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“:

Ich weiß doch: nur der Glückliche
Ist beliebt. Seine Stimme
Hört man gern. Sein Gesicht ist schön.

Der verkrüppelte Baum im Hof
Zeigt auf den schlechten Boden, aber
Die Vorübergehenden schimpfen ihn einen Krüppel
Doch mit Recht.

Die grünen Boote und die lustigen Segel des Sundes
Sehe ich nicht. Von allem
Sehe ich nur der Fischer rissiges Garnnetz.
Warum rede ich nur davon
Daß die vierzigjährige Häuslerin gekrümmt geht?
Die Brüste der Mädchen
Sind warm wie ehedem.

In meinem Lied ein Reim
Käme mir fast vor wie Übermut.

In mir streiten sich
Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum
Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers.
Aber nur das zweite
Drängt mich zum Schreibtisch
.
(S. 743f.)

Das Gedicht wird mit einer allgemeinen Überlegung eröffnet: wahrhaft angenehm ist den Menschen nur der Glückliche, weil er noch am ehesten angenehme Empfindungen hervorruft. Eine allgemeine Gegenerfahrung erläutert die zweite Strophe am Bild des verkrüppelten Baums, dessen Mißgestalt nicht selbstverschuldet, aber dennoch berechtigter Gegenstand des Mißfallens ist. Von solcher allgemeinen Indifferenz setzt sich mit Beginn der dritten Strophe die besondere Erfahrung des Dichters ab. Zwar bietet auch ihm seine Umwelt Licht- und Schattenseiten des Daseins, Schönheit wie Mißgestalt, aber er beobachtet an sich eine Blindheit für das Schöne und Angenehme. Weder das heitere Bild der Segelboote noch die erotische Ausstrahlung der Mädchen nimmt ihn gefangen, sondern nur das rissige Garnnetz und die gekrümmte Tagelöhnerin. Relativiert werden Natur und sinnliche Schönheit durch ihre gesellschaftliche Negation. Und wie die Wahrnehmung an den harten Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse haften bleibt, so wird das Denken immer wieder neu alarmiert durch die politischen Reden Hitlers.
Wo Natur und Schönheit nicht mehr mit unbefangenem Wohlgefallen, nicht mehr ,ästhetisch‘ betrachtet werden können, ist auch der sinnlich-ästhetische Reiz des Gedichts fragwürdig geworden. Für ihn steht stellvertretend der wohlklingende Reim, von dem es im Aufsatz „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ heißt, daß er dem Gedicht „leicht etwas In-sich-Geschlossenes“ verleihe und eines der künstlerischen Mittel sei, die „Unstimmigkeiten im gesellschaftlichen Leben der Menschen“, die „Disharmonien und Interferenzen […] formal zu neutralisieren“ (XIX, 403 u. 397). So sind es in den Jahren des Exils, da „Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“ („An die Nachgeborenen“, 723), vor allem die „Deutschen Satiren“ für den Freiheitssender, in denen Brecht sein Entsetzen in kämpferische Lyrik umgesetzt hat. Wollte man den allgemeinen Überlegungen des Gedichtanfangs mit allgemeinen poetologischen Schlußfolgerungen antworten, so könnten sie lauten: Nicht zu jeder Zeit ist die zeitlose Schönheit einer Landschaft der gebotene Gegenstand für Dichtung. An den großen Krisenpunkten der Geschichte sollte Naturlyrik ihren Platz für geschichtlich „handelnde“ Lyrik räumen.
In ein lyrisches Gespräch mit Brecht getreten ist Jürgen Becker in seinem Antwortgedicht „Gute Zeiten, nicht nur für Lyrik“.26 Er erklärt eine widersprüchliche Welt als unabdingbar und die Paradiessituation als geradezu tödlich für Dichtung.

Selbst ein Satz „über die Giftwolke über dem Haus“ müsse die Freude am künstlerischen Gelingen nicht ausschließen.

Was in mir, in uns
sich streitet: die
Begeisterung und das Entsetzen,
ist ja kein Streit,
denn wir können es ja beschreiben,
mit Begeisterung, das Entsetzen.

Tatsächlich hat auch Brecht selbst weder auf die mit künstlerischer Arbeit verbundene spezifische geistige Befriedigung verzichtet, noch sich je mit einer ästhetischen Minimalforderung begnügt oder über die ästhetische Grundforderung mit sich reden lassen. Selbst den Reflexionen über „Schlechte Zeit für Lyrik “ gibt er, durch einen klaren Aufbau, mit der Korrespondenz und andererseits der wirkungsvollen Entgegensetzung der poetischen Bilder, mit der Pointierung des Reim-Motivs in der Kurzstrophe des Verspaares, eine gerundete lyrische Form, deren Schönheit in ähnlicher Spannung zum Abschied von der Reimkunst steht wie in Stadlers „Form ist Wollust“ die Formkunst des Gedichts zur Absage an die Form. – Endgültig andererseits ist bei Brecht der „Abschied von der überlieferten Idee und Rolle des Genies, auch wenn er sich als empirische Person genieähnliche Lizenzen noch gönnte“.27
Entschiedenen Anteil an der schöpferischen Tätigkeit des Schriftstellers hat für Brecht die zwischenmenschliche Kommunikation. Nicht nur als Produkt eines Individuums wird das literarische Werk verstanden, sondern zugleich als ein vielfach angeregtes und vermitteltes, zum Teil sogar als eine Ensembleleistung (zumindest im Bereich des Dramas und Theaters hat Brecht viele Mitarbeiter für seine Texte beschäftigt). Paradigmatisch für das Verhältnis des Autors zu Mitarbeitern, aber auch zum Leser ist die Lehrer-Schüler-Beziehung.

Seit du gestorben bist, kleine Lehrerin
Gehe ich blicklos herum, ruhelos…
Ohne Beschäftigung wie ein Entlassener
.
(S. 827f.)

Das sind Verse aus einem lyrischen Nekrolog auf Margarete Steffin, seine Mitarbeiterin im skandinavischen Exil, die 1941 als Todkranke mit ihm von Finnland aus die Flucht in die USA antrat und beim Zwischenaufenthalt in Moskau starb.
Brechts dialektische Auffassung läßt eine strenge Scheidung von Lernen und Lehren nicht zu. „Höre beim Reden!“ empfiehlt er dem Lehrer (1017). Erst in der Emigration ist ihm die Bedeutung des Schülers für den Lehrer, des Lesers für den Autor ganz bewußt geworden, erst jetzt vervollständigen poetologische Gedichte seine lesergerichtete Ästhetik. Erzählerisch demonstriert wird sie in der „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking“: Laotse schreibt die Weisheitssprüche nur auf, weil er einer Erwartung zu entsprechen hat, weil ihm der Zöllner die Sprüche „abverlangt“. Der Exildichter aber gleicht dem Redner, dem niemand zuhört:

Er spricht zu laut
Er wiederholt sich
Er sagt Falsches:
Er wird nicht verbessert.
(S. 557)

Kommt keine Beziehung zum Adressaten zustande, fällt auch das notwendige Korrektiv aus, fallen die Isolierten aus der Zeit heraus („Exil“):

Mit ihren Vorfahren
haben sie mehr Verbindung als mit ihren Zeitgenossen
Und am gierigsten blicken sie
Die ohne Gegenwart scheinen
Auf ihre Nachkommen.
(S. 555)

Es ist die Hoffnung auf ein künftiges Publikum, die dem Schriftsteller bleibt. Aber:

Lehren ohne Schüler
Schreiben ohne Ruhm
Ist schwer.
(S. 556)

Kein Thema hat Brecht so oft variiert wie das Horazsche Thema des Ruhms und Nachruhms. Im Exilgedicht „Zitat“ läßt er den Dichter Kirn sagen:

Wie soll ich unsterbliche Werke schreiben, wenn ich nicht berühmt bin?
Wie soll ich antworten, wenn ich nicht gefragt werde?
(601)

Ruhm bzw. Unsterblichkeit ist hier nicht Wunschziel schriftstellerischer Eigenliebe, sondern Mittel, notwendige Änderungen mitzubewirken. Andererseits bieten Brechts Biographie und Werk nicht gerade Beispiele von Selbstbezweiflung. Immerhin ist – schon im Hauspostillengedicht „Vom armen B. B.“ – eine starke Neigung zur literarischen Objektivation (Dokumentation) des Ich zu beobachten. Der soziale Gestus seiner Ichdarstellung läßt die eigene Leistung und damit die Erwartung eigenen Nachruhms hinter die Hoffnung auf soziale Veränderungen zurücktreten. Darin knüpft das 1936 entstandene Gedicht „Warum soll mein Name genannt werden?“ (Titel von der Herausgeberin Elisabeth Hauptmann) an den Hauptgedanken der Verse „Über die Bauart langdauernder Werke“ an. Doch wird zunächst eine frühere Haltung vergegenwärtigt:

Einst dachte ich: in fernen Zeiten
Wenn die Häuser zerfallen sind, in denen ich wohne
Und die Schiffe verfault, auf denen ich fuhr
Wird mein Name noch genannt werden
Mit andren
.
(S. 561)

Die Schiffsmetapher verweist auf die frühe, von Rimbaud (und seinem „Trunkenen Schiff“) mitbeeinflußte Lyrik und damit auf eine Stufe des genialischen Übermuts, doch werden in den nächsten Strophen dann eigene Verdienste aus späteren Stadien aufgezählt: dem Nützlichen Geltung verschafft, gegen die vom sozialen Unrecht ablenkenden Jenseitsvertröstungen gekämpft und die Dichtungssprache bereichert zu haben. Von solcher Beweisführung bestärkt, nimmt die vierte Strophe den Anfangsgedanken wieder auf:

Deshalb meinte ich, wird mein Name noch genannt
Werden, auf einem Stein
Wird mein Name stehen, aus den Büchern
Wird er in die neuen Bücher abgedruckt werden.
(S. 562)

Beim Bild des Ruhm verbürgenden Steins stellt sich unwillkürlich die Assoziation zur Horazschen Ode „Exegi monumentum aere perennius“ ein. Doch Brecht nimmt den Gedanken von der Unauslöschlichkeit des Namens nur auf, um von ihm als einer überholten Erwartung Abschied zu nehmen. Denn nun folgt in der fünften Strophe, angekündigt durch die adversative Konjunktion, die Gegenwendung:

Aber heute
Bin ich einverstanden, daß er vergessen wird.

Es sei nicht sinnvoll, nach dem Bäcker zu fragen, wenn genug Brot da sei, oder den geschmolzenen Schnee zu rühmen, wenn neue Schneefälle bevorstünden. Angesichts der Zukunft sei die Vergangenheit belanglos. Und so ist die lapidare Schlußstrophe nur noch eine rhetorische Frage:

Warum
Soll mein Name genannt werden?

Der Widerspruch zum Gedicht „Zitat“, das Berühmtheit und „Unsterblichkeit“ zur Bedingung verändernder Wirkung des dichterischen Werks erklärt, ist augenfällig. Indem Brecht seinen Ruhm ganz dem unumkehrbaren Lauf der Geschichte, also dem Vergessen überläßt, stempelt er das Vergangene, historisch Gewordene als bedeutungslos ab. Wohlgemerkt polemisiert er hier nicht gegen einen Nachruhm, der ganz auf die Person abgestellt ist, also gegen einen Persönlichkeitskult. Will er von den älteren nichts in die neueren Bücher übernommen wissen, so verkennt er jene Dialektik der Geschichte, wonach das Vergangene nicht nur durch das je Gegenwärtige überwunden, sondern in ihm auch aufgehoben ist.
Brecht hat im dänischen Exil, zur Zeit der Entstehung des Gedichts, in engerem Kontakt mit Walter Benjamin gestanden. Bei aller Übereinstimmung in ästhetischen Fragen gibt es bei Brecht doch auch starke Vorbehalte gegen Benjamins Geschichts- und Kunstbetrachtung. Erst gegen Ende seines Lebens (1954/55) scheint er in einem Gedicht, im Sechszeiler „Einmal, wenn da Zeit sein wird“, mit der Geschichtsphilosophie Benjamins partiell übereinzustimmen, mit Benjamins III. geschichtsphilosophischer These, wo es heißt, „daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist. Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden. Jeder ihrer gelebten Augenblicke wird zu einer citation à l’ordre du jour – welcher Tag eben der jüngste ist.“28 Zieht man das eschatologische Moment ab, so bringt Brechts spätes Gedicht einen ähnlichen Gedanken in die poetische Form:

Einmal, wenn da Zeit sein wird
Werden wir die Gedanken aller Denker aller
aaaaaaaZeiten bedenken
Alle Bilder aller Meister besehen
Alle Spaßmacher belachen
Alle Frauen hofieren
Alle Männer belehren.
(S. 1027)

Unübersehbar ist eine geheime Korrektur des Gedichts „Warum soll mein Name genannt werden?“, zumindest des zugrunde liegenden kulturgeschichtlichen Entwurfs. Im übrigen erscheint die Teilhabe am Reichtum des geistigen und künstlerischen Erbes und am geselligen Leben als eine Frage der Muße und des Vergnügens, so daß die Nähe zu einem anderen Gedicht der Spätzeit auffällt, zu „Vergnügungen“ (1027),29 wo Brecht nicht mehr nur den – utopischen, wenn auch realisierbaren – Freuden der Zukunft entgegenharrt, sondern die erfreulichen Gegenstände und Beschäftigungen seines derzeitigen Lebens aufzählt, darunter nicht von ungefähr das „wiedergefundene alte Buch“, „Begreifen“ und „Schreiben“, die „Alte“ und die „Neue Musik“, Kunst und Wissenschaft sind ihm in diesen Jahren in Ostberlin und im märkischen Buckow längst zu Organen des Genusses geworden – eines Vergnügens freilich im Sinne der Aufklärung: bezeichnenderweise heißt das letzte Wort des Gedichts „Einmal, wenn da Zeit sein wird“ ja „belehren“.
In deutlichem Bezug zur Frage aus dem Jahre 1936, „Warum soll mein Name genannt werden?“, steht das Gedicht „Ich benötige keinen Grabstein“ (vielleicht 1955/56, vielleicht 1933; Datierung nicht sicher).30

Ich benötige keinen Grabstein, aber
Wenn ihr einen für mich benötigt
Wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Vorschläge gemacht. Wir
Haben sie angenommen.
Durch eine solche Inschrift wären
Wir alle geehrt.
(S. 1029)

Vom völligen Vergessen des Namens ist keine Rede (mehr). Der Nachruhm wird erwartet, und so lautet die Frage hier, wie sich die Nachwelt angemessen zu einem toten Schriftsteller verhalte. Das Setzen eines Grabsteins, alle Formen einer versteinerten Beziehung sind entbehrlich, ja unerwünscht (wie sehr dem Autor jeder Beerdigungspomp zuwider war, zeigen die Begräbnisanweisungen in Brechts Brief an die Akademie der Künste der DDR vom 15. Mai 1955). Festgehalten wird am Begriff einer Dichtung, die zu mobilisieren vermag – dies allerdings nicht in planer, sondern künstlerisch vermittelter und die Denkleistung des Adressaten beanspruchender Weise. Totenverehrung wird als Handeln verstanden: als Annahme und Realisierung von Vorschlägen.
Hier wird eine Vorstellung des Fertigen und Abgeschlossenen erweckt, die sich mit dem Prozeßcharakter der Wirkung, von dem schon das Gedicht „Über die Bauart langdauernder Werke“ (sie „weisen Lücken auf“) spricht und der das Alpha und Omega der zuschauergerichteten Theatertheorie Brechts ist, nicht recht verträgt. Das Gedicht würde sich überzeugender in die Ästhetik des späten Brecht einordnen – und deshalb ist mir eine frühere Entstehung der Verse wahrscheinlich –, wenn die Aufforderung zum Weiterdenken der angenommenen „Vorschläge“ wenigstens angedeutet würde: sie wäre dem Autor, der soviel auf die Dialektik hielt, angemessener.
Die Übereinstimmung Brechts mit Walter Benjamin ist nirgendwo faßbarer als bei dessen Satz der VII. geschichtsphilosophischen These, daß es Aufgabe des „historischen Materialismus“ sei, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“. Die hierfür exemplarische Dichtung Brechts, „Fragen eines lesenden Arbeiters“ (1936), kann zwar nicht für die Gattung des poetologischen Gedichts reklamiert werden, doch gibt es Berührungspunkte durch das kulturgeschichtliche Problem, das schon die ersten drei Verse umreißen:

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
(S. 656)

Mit der Fron der namenlosen vielen sind die Kulturgüter erkauft; die erhaltenen Triumphbögen dokumentieren nur die Sieger; und als unendliche Kette menschlicher Leiden stellt sich die historische Reihe der Herrschaft großer Männer dar. Aber Leidensgeschichte der Menschheit wird nicht wie in Gottfried Benns „Gedichte“ als Bestandteil einer allgemeinen weltgeschichtlichen Zerstörungslust hingenommen, sondern als Leidensgeschichte der nichtprivilegierten Klasse und damit als Teil einer Unrechtsgeschichte gewertet.
Die Erwartung dichterischer Parteinahme ist am nachdrücklichsten ausgesprochen im 1939 entstandenen, dem dänischen Dichter Martin Andersen-Nexö gewidmeten Gedicht „Die Literatur wird durchforscht werden“ (740f.).

Die auf die goldenen Stühle gesetzt sind, zu schreiben
Werden gefragt werden nach denen, die
Ihnen die Röcke webten
[…]
Ganze Literaturen
In erlesenen Ausdrücken verfaßt
Werden durchsucht werden nach Anzeichen
Daß da auch Aufrührer gelebt haben, wo Unterdrückung war.

Öffentlicher Preis wird denen in Aussicht gestellt, die „auf dem nackten Boden saßen“ und „von den Leiden der Niedrigen“ und „von den Taten der Kämpfer berichteten“, und zwar in der „edlen“, sonst für die „Verherrlichung der Könige“ reservierten Sprache.
Sprache, die einem bestimmten Gegenstand angemessen war, einem anderen aufzupfropfen, ist ein fragwürdiger Rat, und tatsächlich gibt es auch in sozialistischer Literatur fatale Beispiele des Epigonentums. Aber über die Dialektik von Form und Inhalt brauchte man Brecht gewiß nicht zu belehren. So ermuntert das Gedicht wohl weniger zu einer Sprachusurpation als zu einer weiteren Demokratisierung der Kunst. Wie etwa in der Aufklärung das Bürgertum für die Selbstdarstellung die hohe Gattung der Tragödie forderte, die bis dahin den Angelegenheiten der Könige und der Aristokratie vorbehalten war, so verlangt Brecht eine weitere Emanzipation der Literatur aus dem System der Standesvorbehalte.
Zugleich aber werden neue normative Schranken gesetzt. Erkennbar im historischen Modell des Gedichts wird der marxistische Klassenkampfgedanke; bestanden wird auf dem Vorrecht der Arbeiterklasse – an die Stelle des aristokratischen und des bürgerlichen ist das proletarische Privileg getreten.
Wohl in keinem Gedicht der Spätzeit bringt Brecht Reflexionen zum dichterischen Selbstverständnis so auf den Punkt wie in dem Fünfzeiler „Auf einen chinesischen Theewurzellöwen“ (1951).

Die Schlechten fürchten deine Klaue.
Die Guten freuen sich deiner Grazie.
Derlei
Hörte ich gern
Von meinem Vers.
(S. 997)

Bei seiner Ausgabe der Hundert Gedichte von Brecht (1951) wählte Wieland Herzfelde für den Umschlag dieses Gedicht und die Abbildung eines Theewurzellöwen: der figürlich geformten Wurzeln des Teestrauchs, die in China als Glücksbringer gelten.31 Auch in diesen Versen hörbar ist ein Echo auf Horaz, auf dessen Bestimmung der dichterischen Doppelaufgabe, nützliche Dienste zu leisten – nicht allerdings im Sinne eines banausenhaften Utilitarismus – und mit Spiel und Vergnügen zu erfreuen. Eine „lyrische Parabel“, deren „poetischer Gestus“ sich „dem des chinesischen Ideogramms“ annähert, nennt Theo Buck den Fünfzeiler.32 „Klaue“ und „Crazie“, in den ersten beiden Versen, sind die Bilder für ein zupackendes, kämpferisches oder – mit einem Lieblingswort Brechts zu sprechen – „eingreifendes“, also soziales Wirkungsvermögen einerseits, für eine Wohlgefallen auslösende Anmut, also ein spezifisch ästhetisches Vermögen andererseits. Die mittlere Einwortzeile dient als Umschaltstelle der Gedankenführung vom poetischen Gleichnis auf die eigene Dichtung. Nicht in apodiktischer, sondern in der höflichen Form des Wunsches spricht sich der Selbstbezug aus. Aber ungewöhnlich schematisch ist in der epigrammatischen Parabel – und an die naive moralische Wertung des Märchens erinnert – die Teilung der Menschen in die Schlechten und die Guten.
Im Exilgedicht „Schlechte Zeit für Lyrik“ standen einander die Begeisterung über die Schönheiten der menschlichen und landschaftlichen Natur und das Entsetzen über soziales und Naturmagische Schule. Hymnendichter im völkischen Sog politisches Elend noch im Wege, war dem Dichter der sinnlich-ästhetische Reiz des Gedichtes problematisch. Im Gedicht „Auf einen chinesischen Theewurzellöwen“ kommt es zur Schärfe dieses Dilemmas nicht mehr. Zwar denkt der Dichter nicht daran, sich aus den Konflikten der Zeit herauszuhalten; er wünscht, daß sein kritisches Wort, seine „Klaue“, gefürchtet werde („die Herrschenden / Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich“), sagt Brecht im Exilgedicht „An die Nachgeborenen“, 724). Aber ebensowenig verzichten möchte er auf das Lob der Anmut und Schönheit seiner Verse. Soziale Verbindlichkeit und ästhetischer Wert der Dichtung liegen nicht mehr im Streit miteinander.

Walter Hinck: Magie und Tagtraum. Das Selbstbildnis des Dichters in der deutschen Lyrik, Insel Verlag, 1994

Brecht

(…)

Der Grund, auf dem ich auf den Felsen Brecht stieß wie der Maler am Anfang von Hitchcocks Film Immer Ärger mit Harry, war ein Stück eigener Acker: Erst nachdem mein Roman Die Lüge erschienen war, lernte ich das Personal desselben näher kennen. Im Roman trat es zwar auf, dachte aber nicht die Gedanken, sprach nicht die Sätze, verhielt sich nicht so, kam nicht in die Situationen, die ich ihm hätte aufgeben müssen, wenn ich vorher nur schon so deutlich den Prägungen durch Brecht nachgegangen wäre. Die Frisuren mancher Männer, die Zuwendung der Frauen, das Räucherwerk, die tiefen Sessel und die kahlen Wände, vor allem aber die Art, wie diejenigen sich eingerichtet hatten in den gegebenen Verhältnissen, die hätten bei tieferer Einsicht in die Rolle des Meisters vom Dorotheenstädtischen Friedhof anders ausgesehen. Indolenz und irgendwie verbrämter, zum Ende doch nicht ganz offener Hedonismus im Alltag, Rückzieher, Diskussionen in Hinterzimmern – dagegen das ewige Stück vom Dennoch des herbeigesehnten Morgenrots auf dem Theater, in der Dichtung, in halböffentlichen oder öffentlichen Verlautbarungen. Im Fall der Protagonisten des genannten Romans viel Alkohol und das daraus folgende Durcheinander. Etwas wie Durchblick wird behauptet, der ist aber so getrübt, dass die Haltung zur realsozialistischen Umgebung es erst recht ist. Im Werk der höchste Anspruch, jeder Allmachtsgedanke wird gedacht, hält sich für berechtigt. Die Lebenserfahrung dagegen summiert sich zu einer der Vergeblichkeit, der Ohnmacht. Das alles – wurde mir Lesung für Lesung und Gespräch um Gespräch klarer – im fast bewussten Gefolge von Brecht, der zwar genau dachte, aber absichtlich ungenau handelte. Das heißt, für sich als Person, für seinen Bauch und deshalb für seinen ganzen Tross und die möglichst vollen Konten in der Schweiz und deren variable, vorteilhafte Nutzung kalkulierte und handelte er absolut präzise. Dazu sagt Eisler im Gespräch mit Hans Bunge am 6. Mai 1958:

Brecht war immer ein guter Hausvater. Brecht war nie geizig, aber war ganz genau in seinen Geldangelegenheiten.

Er rechnete und berechnete oder ließ es in seinem Sinne tun von denen, die sich zur Verfügung stellten. Die Inkonsequenz, die aus der denkerischen Konsequenz folgte, war eine im politischen Handeln und generell in der Haltung. Die einmal angenommene Attitüde als Gegner des Kapitalismus, des Imperialismus, der amerikanischen Lebensweise, des Faschismus sowieso, der auf schmaler Spur definiert wurde, als Gegner der sogenannten kleinbürgerlichen, erst recht der bürgerlichen, der westlichen, wie auch immer denunzierten Lebensform – was immer vor dieser Folie und wogegen die eigene von Brecht & Co. war! –, dies und noch viel mehr führte in die Falle der Anpassung an die sozialistische, sowjetisch geprägte Gesellschaft in einer Lebensform, die dazu passte, die sich da hineinschmiegte.
Aus der denkerischen Anstrengung zur Festlegung, welche die griechisch-römische und klassische asiatische wie auch die Hegel’sche und ergo die marxistische Dialektik beerbte, wurde Reflex und vor allem Bequemlichkeit. „Brecht glaubte an den Klassenkampf, an die Revolution. Jedenfalls behauptete er dies“, bemerkt Marcel Reich-Ranicki einmal. Vor allem zum Wohle des Werks „glaubte“ Brecht an dies und das, zuletzt vorrangig zu dem seines eigenen, des Brecht-Theaters. David Caute fasste einmal zusammen, die Ambiguität von Brechts eigener Laufbahn käme vom heterogenen Erbe Piscators her. Und der „liebte das Theater mehr als die Partei“.
Mein Umgang mit Brecht also wurde erst dringlicher, als ich auf der Bühne das Personal meines eigenen Romans kennenlernte, beim Vorlesen, beim gesprächsweisen Nachdenken über die Herren, die Männer, die ich erfunden hatte oder gezeichnet nach lebenden und toten Vorbildern. Unvermittelt war er da, der Name. Ich sagte: Brecht. Ohne Übergang. Ich sagte es wie jemand, der endlich das passende Wort oder den passenden Namen findet und ausatmen darf, weil „es“ damit auf den Punkt gebracht ist. Stell dir vor, du sitzt mit einem Freund, einer Freundin, und alles ist so weit klar und schön, nur es gibt keinen bestimmten Ausdruck für das, was so klar ist oder erscheint. Das zum Greifen Nahe bekommt nun auf einmal einen Namen. Oft ist es ein Filmtitel. Man sagt dann, das wäre „wie in Casablanca“ oder „wie in Stalker“. Oder eine Musik kommt in den Sinn, „Gimme Shelter“ von den Rolling Stones oder „Lux aeterna“ von György Ligeti oder „Good Morning Portugal“ von Desmond Myers – und ihr beide seid froh, sogar sehr froh, wie erlöst. So ging es mir, als ich den Namen Brecht gefunden hatte. Im Gespräch konnte ich das auch sofort vermitteln. Es war leicht möglich, im Anschluss an die Beschreibung bestimmter Zustände, menschlicher Verhaltensweisen, eben vor allem besagter Indolenz und ihrer Basis, der Klemme des Antifaschismus, in der sich alle Grundsatzkritik ausschloss, den Ahn zu benennen, denjenigen, der das alles sozusagen erfunden hatte: Brecht. Da war er. Da stand er vor mir mit seinen genial simplen Worthülsen. Wie unerwartet vertraut! Welch ein Genpool, welch eine Patrix von Sprüchen, von Gemeinplätzen, von Klischees, und alle, verdammt nochmal, stimmig, aussagekräftig, zeitlos und zum Kopieren geeignet! Und wie sehr war zugleich alles daran, die Person inbegriffen, die Atmosphäre in den Hinterlassenschaften, vom Brecht-Museum bis zum Museumstheater am Schiffbauer Damm, vom Buckower Idyll bis zu den Fotografien der Weigel als Mutter Courage und den Fotos der Mitglieder des Berliner Ensembles zu irgendeiner der verordneten Feiern zum 1. Mai, wie sehr war alles daran Material, das die stehende Zeit des ostdeutschen Nachkriegs, der Butter auf Marken, der Milchkanne aus Aluminium, der stehenden Luft im Klub der Kulturschaffenden oder in der legendären Möwe gleich beim Grenzübergang Friedrichstraße in der Mitte Berlins repräsentierte.
Die Frage, die sich mir stellte und die nach einiger Herleitung vom Publikum in erster Instanz hingenommen wurde, sie lautete: Hätte ohne Brecht die DDR überhaupt so lange Bestand gehabt?

(…)

Uwe Kolbe, aus Uwe Kolbe: Brecht, S. Fischer Verlag, 2016

Brecht lesen und lachen

– Ein strikt sachlicher Parcours mit drei persönlichen Abschweifungen. –

Große Männer sind – unter anderem – auch Spiegel: Wer sie wahrzunehmen versucht, nimmt nicht zuletzt sich selber wahr. Das vorausgeschickt, muß ich zunächst einmal von mir selber reden – Brecht kommt rasch genug und dann sehr ausführlich zu Wort.
Nach zweijähriger Vorarbeit wird im Frühjahr dieses Jahres ein gewichtiges Werk das Licht der Welt nicht nur erblicken, sondern auch alle Welt erleuchten. Sein Titel: Hell und Schnell. Sein Untertitel: „555 komische Gedichte aus fünf Jahrhunderten.“ Seine Herausgeber: Klaus Cäsar Zehrer und ich. Seine Botschaft: Auch der Deutsche hat Humor. Seine Beweisführung: schlagend.
Das rund 600 Seiten starke Werk setzt mit „Zehn Thesen zum komischen Gedicht“ aus meiner Feder ein. Sie heben folgendermaßen an:

1. Es gibt ernste und komische Gedichte.

Bertolt Brecht unterschied zwei Linien, welchen das deutsche Gedicht der Neuzeit folge, die pontifikale und die profane. Goethe sei der letzte Dichter gewesen, welcher noch beide Stränge in seinem Werk vereinigt habe; schon Hölderlin nehme die „völlig pontifikale“, bereits Heine ganz die profane Linie ein. Der Dichter Brecht deutet an, daß ihm die Zusammenführung beider Linien erneut gelinge; zumindest ist nicht zu bestreiten, daß er den hohen Ton ebenso beherrscht wie den kessen. Beileibe nicht alle Gedichte der profanen Linie sind komisch, doch hegt auf der Hand, daß kein – mit Absicht – komisches Gedicht der pontifikalen Linie zugerechnet werden kann.

Wir überspringen acht weitere Thesen, um erwartungsgemäß bei der zehnten zu landen:

10. Das komische Gedicht markiert einen deutschen Sonderweg zur Hochkomik.

Die Deutschen gelten im In- und Ausland als humorlos, was gerne damit begründet wird, daß ihnen ein großer Lustspieldichter vom Schlage eines Shakespeare ebenso fehle wie ein großer komischer Roman vom Range des Don Quichote. Nun könnte ein Zweifler die Frage stellen, ob es denn so ausgemacht sei, daß die naturgemäß durch Helligkeit und Schnelligkeit wirkende Komik in langen und breiten Zusammenhängen besonders gut aufgehoben ist. Nicht eher in Kurzformen?
Ein Kundiger aber könnte darauf verweisen, daß sich eine seit Lessings Tagen nicht abgerissene Kette komischer Gedichte durch die deutschsprachige Hochliteratur zieht, welche in dieser Dichte und Qualität in keiner anderen kontinentaleuropäischen Nationalliteratur zu finden ist.
Jeder Generation des 19. und 20. Jahrhunderts erwuchs hierzulande ein Dichter, dessen komische Kraft ihn dazu drängte, die sich ständig erneuernden Anlässe zum Belachen und Verlachen aus neuen Blickwinkeln zu erfassen und mit neuen Redeweisen festzuhalten. Heine, Busch, Morgenstern, Ringelnatz, Tucholsky, Brecht, Jandl – jeder aus diesem Siebengestirn ist ein Stern erster Ordnung und zugleich ein Original. Bei jedem ergäbe eine Spektralanalyse seiner Aura ganz unterschiedliche U- und E-Wellen-Anteile, und doch bilden alle zusammen eine Plejade, deren Helligkeit – verstärkt durch eine Vielzahl von weiteren Komik-Sternen unterschiedlicher Größe – bei Licht betrachtet zweierlei bewirken müßte: Den düsteren Vorwurf fehlender deutscher epischer oder dramatischer Hochkomik zu überstrahlen und das finstere Bild vom humorlosen, ja zum Humor unfähigen Deutschen in den Herzen aller rechtlich Denkenden für alle Zeiten aufzuhellen.

Ende der zehnten These, doch wir stehen erst am Anfang: Was eigentlich hat der Brecht im Kreise der als komisch ausgewiesenen deutschen Dichter von Heine aufwärts zu suchen? War er nicht im tiefsten Herzen ein Verächter der „profanen“ Linie und damit aller komischen Dichtung? Hören wir noch einmal in seine bereits zitierte Eintragung vom 22. August 1940 hinein:

Sofort nach Goethe zerfällt die schöne widersprüchliche Einheit, und Heine nimmt die völlig profane, Hölderlin die völlig pontifikale Linie. In der ersten Linie verlottert die Sprache in der Folge immer mehr, da die Natürlichkeit durch kleine Verstöße gegen die Form erreicht werden soll. Außerdem ist die Witzigkeit immer ziemlich unverantwortlich […], der Ausdruck wird mehr oder weniger schematisch, die Spannung zwischen den Wörtern verschwindet, überhaupt wird die Wortwahl, vom lyrischen Standpunkt aus betrachtet, unachtsam […]. Die pontifikale Linie wird bei George unter der Maske der Verachtung der Politik ganz offen konterrevolutionär […]. George ist unsinnlich und setzt dafür verfeinerten Kulinarismus. Auch Karl Kraus, der Repräsentant der zweiten Linie, ist unsinnlich, weil rein spirituell. Die Einseitigkeit beider Linien macht eine Beurteilung immer schwieriger.

Noch einmal: Wie verträgt sich dieses Verdikt der Witzigkeit mit der Behauptung. Brecht sei nicht nur ein komischer, sondern einer der großen komischen Dichter deutscher Zunge? Gut, da der reife, zweiundvierzigjährige Brecht dem jungen, zwanzigjährigen zwar über den Mund fahren, ihn aber nicht mundtot machen kann. Und das gilt nicht nur für den. In fast allen Epochen seines Schaffens hat Brecht seiner äußerst unterschiedlich gestimmten Leier Töne entlockt, die zum Lachen waren – nicht zufällig ist der Witzverächter Brecht mit vierzehn Beispielen einer der meistvertretenen Dichter in unserer dezidiert dem witzigen Gedicht gewidmeten Anthologie.
Das will begründet werden – folgen wir also, wenn auch sehr summarisch, drei Marschrichtungen: Den beiden von Brecht für die Dichtung allgemein, also auch für seine Dichtung postulierten Linien, der profanen und der pontifikalen, sowie einer dritten, der Werkspur nämlich, die Brechts Leben seit früher Jugend bis zum allzu frühen Tod durchzieht.
Seit frühester Jugend, besser gesagt: Die Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe setzt mit Gedichten und Gedichtfragmenten aus dem Jahre 1913 ein, also mit Arbeiten des fünfzehnjährigen Gymnasiasten Eugen Berthold Friedrich Brecht.
Der weiß bereits in zartem Alter, wann er welcher Linie zu genügen hat: Eine hochgestellte Person wie der Kaiser wird pontifikal bedichtet, eine niedere wie der Klassenkamerad Kohler profan:

DER KAISER
Silhouette

Steil. Treu. Unbeugsam. Stolz. Gerad.
König des Lands
Immanuel Kants
Hart kämpfend um der Schätze hehrsten
Den Frieden. So: im Frieden Streiter und Soldat.
Einer Welt zum Trotz hielt Er Frieden dem Staat. –
Und – trug ihn am schwersten.

Soviel zur „Silhouette“ des Kaisers, und nun zum Portrait Kohlers, des Kameraden der Klasse 6a:

Ein Kohler! Wie ist er so schmal und klein
Wie sind so dünn seine Gliederlein – […]
Die Kleinen sind der Erde Salz
Die Großen, die sind dumm und faul –
Die Kleinen haben jedenfalls
Ein ziemlich großes Maul.

Zu Gunsten des jungen Dichters kann festgestellt werden, daß sich seine pontifikale Linie heroischer Prägung in dem Maße verflüchtigt, in welchem der Verlauf des Ersten Weltkriegs mit allen Illusionen über den Kaiser aufräumt. Um so wichtiger werden die Freunde, um so unbefangener wird der profanen Linie gefolgt. Die erste Gedichtsammlung des Augsburgers nennt sich Lieder zur Klampfe von Bert Brecht und seinen Freunden und stammt aus dem Jahre 1918, wobei der Löwenanteil Brechts unumstritten sein dürfte.
Ein kleines Lied dieser Collection ist „Kleines Lied“ überschrieben:

KLEINES LIED

1
Es war einmal ein Mann
Der fing das Trinken an
Mit achtzehn Jahren und –
Daran ging er zugrund.
Er starb mit achtzig Jahr
Woran, ist sonnenklar.

2
Es war einmal ein Kind
Das starb viel zu geschwind
Mit einem Jahre und –
Daran ging es zugrund.
Nie trank es: das ist klar
Und starb mit einem Jahr.

3
Daraus erkennt ihr wohl
Wie harmlos Alkohol…

Eine überzeugende Argumentation, an die ich meine erste persönliche Abschweifung anknüpfen will: Als ich vor vielen Jahren auf den ,WimS‘ genannten Nonsens-Seiten der Satirezeitschrift pardon eine vergleichbare Ehrenrettung des Alkohols versuchte, da wandelte ich, ohne von dessen Dreh zu wissen, auf Brechts Spuren: Ich schloß ganz einfach aus der Tatsache, daß zwanzig Prozent der Unfälle von alkoholisierten Fahrern verursacht werden, darauf, daß achtzig Prozent aller Karambolagen auf nüchterne Fahrer zurückzuführen, letztere also viermal so gefährlich sind wie die betrunkenen.
Daran erkennt, wer irgend ehrlich: Kein Alkohol ist hoch gefährlich – doch zurück zum „Kleinen Lied“. Zu ihm heißt es im Kommentar der „Großen Ausgabe“:

Das Gedicht parodiert Scherzverse, die nach der Erinnerung von Friedrich Mayer in Brechts Augsburger Jugendzeit Kindern und Jugendlichen geläufig gewesen sind.

Es war einmal ein Mann,
Der hatte einen Schwamm,
Der Schwamm war ihm zu naß,
Da ging er auf die Gaß.

Zeilen, die sich Brecht in der Tat eingebrannt haben müssen. Siebzehn Jahre später, 1934, zu einer Zeit der Emigration also und der Indienstnahme des Gedichts für den Kampf gegen Nazi-Deutschland, taucht der „Mann“ in einem Gedicht unversehens wieder auf, freilich nicht als Hauptperson:

Es war einmal ein Schwamm
Der hatte einen Mann.
Der Mann war ihm zu trocken
Da nahm er nur die Socken.
Die Socken waren ihm zu hohl
Da nahm er nur die Sohl.
Die Sohl war ihm zu warm
Da nahm er nur das Garn.
Das Garn war ihm zu schade
Da nahm er nur den Faden.
Der Faden war ihm zu lang
Da nahm er wieder den Mann.

Den Original-Wortlaut hat Brecht selber notiert:

Es war einmal ein Mann
Der hatte einen Schwamm
Der Schwamm war ihm zu naß
Da ging er auf die Gass
Die Gass war ihm zu kalt
Da ging er in den Wald
Der Wald war ihm zu grün
Da ging er nach Berlin
Berlin war ihm zu klein
Da ging er wieder heim.

Das sind Verse, die Peter Rühmkorf jenem anonymen Autorenkollektiv zuschreibt, das er auf den Namen „Volksvermögen“ getauft hat, und Brecht hat nicht nur dieses eine Mal von den starken, oft obszönen Tränken dieser unerschöpflichen Quelle geschlürft. Auch das folgende hielt er 1921 für notierenswert:

Komm Mädchen, laß dich stopfen
Das ist für dich gesund
Die Dutten werden größer
Der Bauch wird kugelrund.

Pures Volksvermögen, vermute ich, während mir der folgende Vierzeiler aus dem Jahre 1922 reiner Brecht zu sein scheint:

Was druckt es keiner von euch in die Zeitung
Wie gut das Leben ist! Maria Hilf:
Wie gut ist Schiffen mit Klavierbegleitung?
Wie selig Vögeln im windtollen Schilf!

Klavierbegleitung ist beim Schiffen eher die Ausnahme, aber auch ohne Musik erfreut das Wasserlassen nicht nur den Jungmann, es reizt auch den jungen Dichter. Der freilich blickt bereits 1920, also gerade mal zweiundzwanzigjährig, mit umflortem Blick auf seine „Jugendzeit“ zurück und auf die Abenteuer mit den Freunden der Lieder zur Klampfe, auf Heigei, alias Otto Müllereisert, auf Cas, alias Caspar Neher und auf Orge, alias Georg Pflanzelt:

Aus verblichenen Jugendbriefen
Geht hervor, daß wir nicht schliefen
Eh das Morgenrot verblich.
Frühe auf den braunen Ästen
Hockten grinsend in durchnäßten
Hosen Heigei, Cas und ich.

Orge im Zitronengrase
Rümpfte seine bleiche Nase
Als ein schwarzer Katholik.
Hoffart kommt zu schlimmem Ende
Sprach die Lippe, aber Bände
Sprach der tiefbewegte Blick.

Braunen Sherry in den Bäuchen
Und im Arme noch das Säuchen
Das uns nachts die Eier schliff.
Zwischen Weiden tat ein jeder
In den morgenroten Äther
Einen ungeheuren Schiff.

Ach, das ist zur gleichen Stunde
Wo ihr alle roh und hunde-
häutern den Kaffee ausschlürft
Daß der Wind mit kühlem Wehen
Ein paar weingefüllte Krähen
In die kalten Häuser wirft.

Ein ebenso komisches wie gekonntes Gedicht! Man beachte die elegante Engführung der profanen und der pontifikalen Linie, zumal in der letzten Strophe! Der Sachverhalt ist ja der denkbar profanste: Achtzehnjährige Bürgerkinder haben nach Art Achtzehnjähriger eine Nacht durchgemacht, durchgesoffen und durchgeknutscht, doch nun, zur Frühstückszeit der berufstätigen Erzeuger, geruht die Clique zum Schlafen in die Elternhäuser zurückzukehren. Ein unerhört platter Vorgang also – doch wie lädt Brecht den auf! Mit dem tieflyrischen Seufzer „Ach“ beginnt, was in hochgesteilten Metaphern gipfelt: Krähen in einer Hundewelt sind die Heimkehrer, Geworfene, bemitleidenswerte Opfer, die nach der Kühle des Windes auch noch die Kälte der Häuser zu erdulden haben – dieses kalkulierte Mißverhältnis von hohem Ton und niederem Anlaß aber sorgt für die Voraussetzung jedweder komischen Wirkung, für Fallhöhe.
Eine Fallhöhe, deren Niveau in einigen Fällen bereits durch den Gedichttitel markiert wird. „Auslassungen eines Märtyrers“ ist ein Gedicht des zwanzigjährigen Brecht überschrieben, das mit „Ich“ beginnt und unverstellt von ihm selber handelt. Der Dichter also ist ein Märtyrer. Was aber ist ein Märtyrer? Laut Lexikon jemand, der „wegen seines Glaubens oder seiner Überzeugungen (körperliche) Leiden ertragen (und den Tod erleiden) muß.“ Welche Leiden aber drohen dem Augsburger Direktorensohn, im Namen welchen Glaubens erduldet er sie?

AUSLASSUNGEN EINES MÄRTYRERS

1
Ich zum Beispiel spiele Billard in der Bodenkammer
Wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt ist und pißt
Meine Mutter sagt jeden Tag: es ist ein Jammer
Wenn ein erwachsener Mensch so ist

2
Und so etwas sagt, wo ein anderer Mensch nicht an so etwas denkt
Bei der Wäsche, das ist schon krankhaft, so was macht ein Pornografist
Aber wie mir dieses Blattvordenmundnehmen zum Hals heraushängt
Und ich sage zu meiner Mutter: was, kann denn ich dafür, daß die Wäsche so ist!

3
Dann sagt sie: so etwas nimmt man nicht in den Mund, nur ein Schwein
Dann sage ich: ich nehme es ja nicht in den Mund
Und dem Reinen ist alles rein
Das ist doch ganz natürlich, wenn einer sein Wasser läßt, das tut doch jeder Hund

4
Aber dann weint sie natürlich und sagt: von der Wäsche! und ich brächte sie noch unter die Erde
Und der Tag werde noch kommen, wo ich sie werde mit den Nägeln auskratzen wollen
Aber dann sei es zu spät, und daß ich es noch merken werde
Was ich an ihr gehabt habe, aber das hätte ich dann früher bedenken sollen.

5
Da kannst du nur Weggehen und deine Erbitterung niederschlucken
Wenn mit solchen Waffen gekämpft wird, und rauchen bis du wieder auf der Höhe bist
Dann sollen sie eben nichts von der Wahrheit in den Katechismus drucken
Wenn man nicht sagen darf, was ist.

Die eigene Mutter also bedroht den Jüngling, mit ihr streitet er für seine Wahrheit, welche in nichts weiter besteht als darin, in Gegenwart dieser Mutter sagen zu dürfen, daß die Wäsche „pißt“ – das allen Ernstes als Martyrium zu bezeichnen, zeugte von unfreiwillig komischer Verblendung, doch solcher Bierernst ist das letzte, was dem hellen und hellsichtigen Knaben droht. Der sieht nicht nur die der unangemessenen Reaktion seiner Mutter innewohnende Komik, der wirft nicht nur jenen habituell scharfen Blick der jüngeren Generation auf die Ticks und Lebenslügen der Älteren, der durchschaut dank einer erstaunlich reifen Selbstironie auch seine eigene komische Rolle in der Bodenkammer-Passion.
Sie bewährt sich und beschirmt ihn auch in anderen Lebenslagen, die Liebe und den Tod eingeschlossen. Mitte 1920 notiert Brecht ein Gedicht, das er mit „Sentimentales Lied Nr. 78“ überschreibt und folgerichtig mit einem Seufzer beginnen läßt:

SENTIMENTALES LIED NR. 78

Ach in jener Nacht der Liebe
Schlief ich einmal müde ein:
Und ich sah voll grüner Triebe
Einen Baum im Sonnenschein.

Und ich dachte schon im Traume
Vor dem Baum im Sonnenschein:
Unter diesem grünen Baume
Will auch ich begraben sein.

Als ich dann an dir erwachte
In den Linnen weiß und rein:
Ach, in diesen Linnen, dachte
Ich, will ich begraben sein.

Und der Mond schien nun ganz sachte
Still in die Gardinen ein
Und ich lag ganz still und dachte
Wann wird mein Begräbnis sein?

Als ich dann an deinem warmen
Leiblein lag und deinem Bein
Dachte ich: In diesen Armen
Will ich einst begraben sein.

Und ich sah euch wie ein Erbe
Weinend um mein Bette stehn
Und ich dachte: Wenn ich sterbe
Müssen sie mich lassen gehn.

So weit, so sentimental, doch in der letzten Strophe läßt Brecht unvermittelt die Komikkatze aus dem Gefühlssack, da nimmt er vorweg, was ein Sponti-Spruch der 70er Jahre auf die Formel bringen sollte „Wir wollen alles und das sofort“:

Die ihr viel gabt: euch wird’s reuen
Daß ihr mir nicht alles gabt:
Und es wird euch nimmer freuen,
Daß ihr mich beleidigt habt.

Die bisher angeführten Gedichte hat Brecht zu Lebzeiten nicht veröffentlichen lassen, Die „Historie vom verliebten Schwein Malchus“ fand Aufnahme in Bertolt Brechts Hauspostille, die 1927 erschien und sich aus Gedichten speist, die zwischen 1916 und 1925 entstanden waren. Dem Gedichtband hat Brecht eine „Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen“ vorausgehen lassen, in welcher wir erfahren, daß besagtes Gedicht „eine Warnung darstellt, durch Gefühlsüberschwang Ärgernis zu erregen.“
Doch stellt das Gedicht selber nicht ebenfalls ein Ärgernis dar?
In überaus holprigen Versen erzählt es in unermüdlichen zwanzig Strophen eine zugleich unverhältnismäßig platte und undurchsichtig dunkle Geschichte:

Hört die Mär vom guten Schwein
Und von seiner Liebe!
Ach es wollt geliebet sein
Und bekam nur Hiebe.

So hebt an, was uns sodann mitteilt, die Sonne selber sei die große Liebe des Schweins:

Doch die Sonne sieht wohl nicht
Jedes Schwein auf Erden
Und sie wandt ihr Augenlicht
Ließ es dunkel werden.

Dunkel um das arme Schwein
Außen und auch innen.
Doch da fiel ihm etwas ein
Um sie zu gewinnen.

Und mit einem anderen Schwein
Übte es zusammen
Mit dem Rüssel Gift zu spein
Mit den Augen Flammen.

Seltsam genug, doch es kommt noch merkwürdiger:

Und ein altes schwarzes Schwein
Zwang es (nur durch Reden)
Ihm und seinen Schweinerein
Algier abzutreten.

Was geht da vor? Kein Kommentar hilft an dieser Stelle weiter – zu Algier schweigt der Germanistenwitz. Dafür kann ich eines mit Gewißheit sagen: Als ich diese Zeilen erstmals las, 1958, als Kunststudent in Westberlin, der gerade in Ostberlin eine preiswerte Ausgabe der Hauspostille erstanden hatte, da schlugen diese Zeilen pfeilgrad in meinem Lachzentrum ein:

Algier abtreten! Was denn noch alles?!

Doch es kommt noch besser:

Und so legt nun diese Sau
Auf ’ner kleinen Wiesen
Tieferschüttert seiner Frau
Afrika zu Füßen.

Und diktiert zur selben Stund
Daß es einfach alle
Die ihm diesen Seelenbund
Störten, niederknalle.

Halten wir hier inne, um das Dunkel rund um das Schwein Malchus wenigstens ein wenig aufzuhellen. Vor allem dank Werner Hechts „Brecht Chronik“ weiß ich heute, wer mit dem Tier gemeint ist und weshalb der Dichter das verliebte Wesen derart verhöhnt: Seit Beginn des Jahres 1921 trifft sich Brecht mit der Augsburger Schaupielerin Marianne Zoff, doch er ist nicht der einzige Mann in ihrem Leben. Da ist noch ein Nebenbuhler, ein Spielkartenfabrikant mit dem sprechenden Namen Oskar Camillus Recht, es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen den ungleichen Männern, indes die Frau sich nicht für einen der beiden zu entscheiden vermag. Im Juni beschwert sich Brecht brieflich bei ihr:

Im übrigen habe ich Dich vielleicht etwas lieb. Und ich bemühe mich auf meine Weise, gegen die unerträgliche Situation anzukommen; d.h. mit Humor. Willst Du mir nicht helfen?

Ein Humor, den er bereits drei Monate zuvor mobilisiert hatte, als er am 8. März die „Historie vom verliebten Schwein“ niederschrieb, vom Schwein Recht also, dem zum guten Schluß des Gedichts freilich ein anderes Schwein über ist, das Über-Schwein alias der Dichter selber. Der straft das Schwein Malchus erst mit Leiden:

Und man sah dort, wie das Vieh
Das erschreckend blaß war
Wütend in die Wolken spie
Bis es selber naß war

– dann zwingt er es zum resignierenden Verzicht auf die Liebste:

Aber jedes Schwein ist schlau
Weiß, die Sonn im Himmelsblau
Ist stets nur die liebe Frau
Von der jeweils größten Sau.

1955, in seinem vorletzten Lebensjahr, blickt Brecht zurück in Verdüsterung:

War traurig, wann ich jung war
Bin traurig, nun ich alt
So wann kann ich mal lustig sein?
Es wäre besser bald.

Um ein auf Goethe gemünztes Germanisten-Urteil zu variieren: Hier irrt Brecht. Sogar John Fuegi, der dem Dichter so manches abspricht, menschliche und körperliche Sauberkeit, Zahlungs- und Sexualmoral sowie einen Großteil der ihm zugeschriebenen Werke, spricht dem jungen Brecht dies zu: einen ausgeprägten Hang zum Lustigsein:

Brecht war ruhelos in München und wechselte häufig die Wohnung. An die Tür seines Zimmers heftete er Notizen und Sinnsprüche, oft verdrehte Sprichwörter wie „Der Apfel fällt nicht weit vom Gaul“. Er hatt einen Hang zur skatologischen Wendung und zu bewußt unkonventionellen Vorstellungen von Moral und gutem Geschmack, wie sie in den künstlerischen Kreisen in München und des nahen Zürich, der Heimat der frühen Dadaisten, in Mode waren. Auch die Münchener Kabarettisten Liesl Karlstadt und Karl Valentin, die, wie Frank Wedekind, die bürgerlichen Konventionen seit Jahren attackierten, lernte er dort bald kennen. Brecht liebte diese Art von Humor und schrieb nicht nur selbst Derartiges, sondern blieb auch zeitlebens ein dankbarer Zuhörer dafür, der sich vor Lachen ausschütten konnte, bis er Seitenstiche bekam.

Von einem Komik-Projekt dieser Zeit weiß Hechts Chronik unter dem Datum des 20. August 1921 zu berichten:

Brecht geht mit Hans Otto Münsterer schwimmen. Sie dichten gemeinsam Lieder zu „Des Knaben Plunderhorn oder Schatzkästlein des schweinischen Hausfreunds“.

Überliefert ist lediglich eines dieser Lieder, „Die Ballade vom Hauptman Köpenick“, eine etwas undurchsichtige, leider weder plundrige noch schweinische Militär-Satire.
Dafür sehe ich mich zu einer weiteren Abschweifung gezwungen, die ich unkommentiert im deutschen Kultur- und Spaßraum stehen lassen möchte. Ohne auch nur ein Wort vom Vorhaben der Brecht/Münsterer zu wissen, hat ein weiteres Autoren-Duo Jahrzehnte später die damals im Schwimmbad liegengebliebene Fackel aufgegriffen und zu erneutem Aufflammen gebracht: In den Gesammelten Gedichten meines Freundes und Mitstreiters F.W. Bernstein findet sich der achtteilige Zyklus „Aus dem Schmatzkästlein des Schweinischen Hausfreunds“, und in meinem letzten Gedichtband Im Glück und anderswo ist ein vierteiliger Reigen angeblich neuer Volkslieder mit „Des Knaben Plunderhorn“ überschrieben. Ende der Abschweifung.
Komische Fallhöhe kann der Dichter auf zweierlei Art herstellen. Indem er angesichts profaner Anlässe den hohen Ton anschlägt oder indem er von hohen Themen in betont niederer Sprache redet.
Liebe und Liebesleid waren solche Themen, die Frage „Was ist der Mensch?“ ist solch ein hoher Gegenstand, und der heranreifende Brecht wird nicht müde, ihn so kraß wie möglich auf den Boden der Tatsachen, wenn nicht in Grund und Boden zu dichten:

Jeder Mensch auf seinem Eiland sitzt
Klappert mit den Zähnen oder schwitzt
Seine Tränen, seinen Schweiß
Sauft der Teufel literweis –
Doch von seinem Zähneklappern
Kann man nichts herunterknappern.

So hebt an, was mit Zeilen endet, die alles andere als menschlich korrekt, dafür teuflisch komisch sind:

Die Enttäuschten und Vergrämten
Sind die wahrhaft Unverschämten.

Niedergeschrieben 1922, doch die Frage nach dem Menschen geht Brecht nach, und spätestens 1928 hat sie ihn wieder eingeholt. Im August dieses Jahres findet die Uraufführung der Dreigroschenoper statt, in welcher auch „Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ zu Gehör gebracht wird. Es endet mit der folgenden Strophe:

Der Mensch ist gar nicht gut
Drum hau ihn auf den Hut.
Hast du ihn auf den Hut gehaut
Dann wird er vielleicht gut.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht gut genug
Darum haut ihn eben
Ruhig auf den Hut!

Eine schlagende Beweisführung, deren Konsequenz, das Dreinschlagen, fünf Jahre zuvor bereits ein anderer Dichter angemahnt hatte, der – im Gegensatz zu Brecht – noch heute vielfach als harmloser Humorist mißverstanden wird. Es ist Joachim Ringelnatz, der sein 1923 veröffentlichtes Gedicht „Vier Treppen hoch bei Dämmerung“ mit den Worten beginnen läßt:

Du mußt die Leute in die Fresse knacken.
Dann, wenn sie aufmerksam geworden sind, –
Vielleicht nach einer Eisenstange packen, –
Mußt du zu ihnen wie zu einem Kind
Ganz schamlos fromm und ärmlich einfach reden

– der Rest ist nachzulesen in Joachim Ringelnatz’ Sämtlichen Gedichten, ich möchte mich hier auf den Hinweis beschränken, daß Brecht und Ringelnatz einander nicht nur kannten, sondern auch miteinander aufgetreten sind. Das war am 30. September 1922, anläßlich der Uraufführung der Revue Die rote Zibebe in den Kammerspielen München, einem Gemeinschaftswerk von Bert Brecht und Karl Valentin, der uns sogleich noch einmal über den Weg laufen wird.
Dabei sind die Ereignisse der 30er Jahre, die Machtergreifung der Nazis und die erzwungene Emigration vorerst jeder komischen Weitsicht abträglich. Doch urplötzlich kommt es im Svendborger Exil zu einer erneuten Fusion von Volks- und Brechtvermögen. Zweimal greift der 36jährige Familienvater, der unter ständigen Geldsorgen leidet, zur Feder, um jemandem kostenlos und unentgeltlich eine Freude zu machen, seinem Sohn Stefan, genannt Steff. Für ihn schreibt er das fünfundzwanzigstrophige „Alfabet“, das von A wie „Adolf Hitler“ angeführt wird:

Adolf Hitler, dem sein Bart
Ist von ganz besondrer Art.
Kinder, da ist etwas faul;
Ein so kleiner Bart und ein so großes Maul.

Anders als seinerzeit den pontifikal besungenen Kaiser bedichtet der reife Brecht das hohe Tier diesmal in denkbar niederem Stil – und nicht nur ihn. Auch noble Geistesgrößen erleiden das gleiche Schicksal:

Xantippe sprach zu Sokrates:
Du bist schon wieder blau.“
Er sprach: „Bist du auch sicher dess’?
Kein Mensch weiß was genau.“
Er gilt noch heut als Philosoph
Und sie als böse Frau.

Zum guten Schluß aber legt Brecht ein weiteres Mal seine von ihm selber so titulierte „Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums“ an den Tag. Zum Buchstaben Z dichtet er:

Zwei Knaben stiegen auf eine Leiter.
Der obere war etwas gescheiter.
Der untere war etwas dumm.
Auf einmal fiel die Leiter um.

– und das ist eine wortwörtliche Übernahme aus einem Buch Karl Valentins, das unter dem Titel Neue Klapphornverse um 1920 in München erschienen war.
Kein zufälliger Rückgriff, vermute ich; eher bin ich geneigt, an einen Rückfall zu glauben. „Lustig“ kommt von Lust, und Kinder sind nicht nur unersättliche Lustsucher, sondern auch ein Jungbrunnen für die Erwachsenen. Die Lachlust des kleinen Steff provoziert den großen Brecht, sich jener Zeit zu erinnern, da das Lachen noch geholfen hatte. Und der gibt seinem kleinen Affen Zucker. Nicht nur im „Alfabet“, auch in dem „Kleine Lieder für Steff“ überschriebenen Zyklus von Tiergedichten:

Es war einmal ein Adler
Der hatte viele Tadler
Die machten ihn herunter
Und haben ihn verdächtigt
Er könne nicht schwimmen im Teich.
Da versuchte er es sogleich
Und ging natürlich unter.
(Der Tadel war also berechtigt.)

Da ist er wieder, der „Es war einmal ein Mann“-Sound der Lieder zur Klampfe aus dem Jahre 1918, doch es sollte lange dauern, bis sich in Brechts Lyrik wieder vergleichbar muntere Töne hören ließen. Vorerst waren institutionalisierter Ernst und instrumentalisierte Komik gefordert, Komik als Mittel zum Zweck also, sprich politische Satire, und auch die trat in Brechts Dichten in dem Maße in den Hintergrund, in welchem uneigentliches Sprechen alias Ironie nicht mit der Forderung nach unmißverständlicher Parteilichkeit in Einklang zu bringen war. Was zur Folge hatte, daß Brecht im Jahre 1950 so tief sank, daß er den hochgestellten Mann Stalin besang wie weiland den Kaiser – mit pontifikalem Timbre:

Josef Stalin sprach von Hirse
Zu Mitschurins Schülern, sprach von Dung und Dürrewind
Und des Sowjetvolkes großer Ernteleiter
Nannt die Hirse ein verwildert Kind.

– so lautet die zwanzigste Strophe des zweiundfünfzigstrophigen Poems „Tschaganak Bersijew oder Die Erziehung der Hirse“, und beim Lesen dieser personenkultgeilen Zeilen gedachte ich des armen, alten BB zwar mit Nachsicht, wünschte mir aber den jungen, juxversessenen zurück, der dem tristen Anlaß vermutlich mit ganz anderen Tönen zu Leibe gerückt wäre:

Die Hirse ist nicht gut
Drum hau sie auf den Hut

beziehungsweise:

Zwei Knaben stiegen auf einen Ernteleiter.
Der obere war etwas gescheiter.
Der untere war etwas dumm.
Auf einmal fiel der Ernteleiter um.
Das müssen die Knaben bezahlin:
Der Ernteleiter hieß Stalin!

Aber zurück auf den Boden der Tatsachen! Tatsache ist zweierlei: Daß Brecht noch einmal aus dem Volksvermögen schöpfte, als er 1950 auf Eislers Bitte hin neue Kinderlieder schrieb, wobei er sich auch das folgende nicht verkneifen konnte, obwohl es in jeder Hinsicht unkorrekt war und ist:

Eins. Zwei. Drei. Vier.
Vater braucht ein Bier.
Vier. Drei. Zwei. Eins.
Mutter braucht keins.

„Liedchen aus alter Zeit (nicht mehr zu singen!)“ hat Brecht das Opus überschrieben – ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Und Tatsache ist ebenfalls, daß sich Brecht kurz vor seinem Ableben noch einmal seiner Anfänge erinnerte. 1956, in seinem Todesjahr, stellt er die Hauspostille von 1927 erneut zusammen und fügt ein neues Gedicht ein, das „Orges Wunschliste“ betitelt ist. Bei Orge handelt es sich wie erinnerlich um den Jugendfreund Georg Pflanzelt, der bereits als weingefüllte Krähe unseren Parcours gekreuzt hat. Auch in der Erstausgabe der Hauspostille ist er mehrfach mit von der Partie, beispielsweise in „Orges Gesang“, der mit den Worten anhebt:

Orge sagte mir:

aaaaaDer liebste Ort, den er auf Erden hab
Sei nicht die Rasenbank am Elterngrab. […]

aaaaaOrge sagte mir: der liebste Ort
Auf Erden war ihm immer der Abort

Nun also, in einem seiner letzten Gedichte, läßt Brecht den Orge aus verblichnen Jugendstreichen wiederauferstehen und mit „Orges Wunschliste“ zu Wort kommen. Und da erscheint er noch einmal, der Geist, der stets verlacht. Was Orge sich da wünscht, steht quer zu allem, was Realitätssinn und Staatsraison dem Menschen und Bürger abverlangen. Orge nämlich wünscht sich unter anderem:

Von den Geschichten, die unverständlichen.
Von den Ratschlägen, die unverwendlichen.

Von den Mädchen, die neuen.
Von den Weibern, die ungetreuen.

Von den Orgasmen, die ungleichzeitigen.
Von den Feindschaften, die beiderseitigen.

Von den Künsten, die unverwertlichen.
Von den Lehrern, die beerdlichen.

Und Orge endet mit dem Wunsch:

Von den Leben, die hellen.
Von den Toden, die schnellen.

Der Tod kam schneller zu Brecht als gedacht, doch sein Dichterwort lebt weiter: Orges Tonfall wurde aufgegriffen und seine Wunschliste modifiziert. Von wem, werden Sie nun fragen. Von mir, lautet die Antwort – erlauben Sie mir also eine dritte, die letzte Abschweifung. 1990 fragte das Wochenblatt Die Zeit die intellektuelle Creme dieses Landes, was der jeweils Befragte dem Land zum 3. Oktober, dem Tag der Wiedervereinigung, wünsche und was er vom vereinten Deutschland erwarte. Ich erinnerte mich des Brechtschen Tonfalls und formulierte meine Antwort folgendermaßen:

Deutsche! Frei nach Bertolt Brecht
rate ich euch, wählet recht:

Von den Zielen die wichtigen
Von den Mitteln die richtigen
Von den Zwängen die spärlichen
Von den Worten die ehrlichen
Von den Taten die herzlichen
Von den Opfern die schmerzlichen
Von den Wegen die steinigen
Von den Büchern die meinigen.

Robert Gernhardt, Rede zur Eröffnung des Literaturprojektes Bertolt Brecht der Stadt Augsburg am 15.1.2004, in der Teehalle des Hotels Steigenberger Drei Mohren, gedruckt in Robert Gernhardt: Was das Gedicht alles kann: Alles. Texte zur Poetik, S. Fischer Verlag, 2010

 

 

Erfahrungen mit Brecht. Therese Hörnigk im Gespräch mit Friedrich Dieckmann

 

Brecht – Die Kunst zu leben. Ein Fernsehporträt von Joachim Lang aus dem Jahre 2006

 

Günter Berg / Wolfgang Jeske: Bertolt Brecht. Der Lyriker

Albrecht Fabri: Notiz über Bertolt Brecht, Merkur, Heft 33, November 1950

Walter Jens: Protokoll über Brecht. Ein Nekrolog, Merkur, Heft 104, Oktober 1956

Günther Anders: Brecht-Porträt. Tagebuch-Aufzeichnungen Santa Monica 1942/43, Merkur Heft 115, September 1957

Martin Esslin: Bert Brecht Vernunft gegen Instinkt, Merkur, Heft 163, September 1961

Robert Minder: Die wiedergefundene Großmutter. Bert Brechts schwäbische Herkunft, Merkur, Heft 217, April 1966

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (I), Merkur, Heft 254, Juni 1969

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (II), Merkur, Heft 255, Juli 1969

Sidney Hook, Hannah Arendt: Was dachte Brecht von Stalin. Nochmals zu Hannah Arendts Brecht-Aufsatz, Merkur, Heft 259, November 1969

Iring Fetscher: Brecht und der Kommunismus, Merkur, Heft 304, September 1973

Bernd-Peter Lange: Walter Benjamin und Bertolt Brecht am Schachbrett, Merkur, Heft 791, April 2015

Bertolt Brecht und weitere Sprecher: Lesungen und O-Töne 1928–1956 in Washington und Berlin. Sammlung Suhrkamp Verlag: Tonkassette 116

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Bertolt Brecht

 

GEDICHT NACH BRECHT UND BRAUN

Die Wahrheit
Brüder, ihr fürchtet um sie
dass ihr sie hinter den Lippen verschließt
ihr sorgt euch
sie könne verzweifelt machen
den, den sie trifft unverhofft
ihr sagt
sie könne manchmal verwirren
mag sein, aber seht ihr denn nicht
dass da, wo sie fehlt
auf den Straßen, den Plätzen
sich anderes breitmacht
Gerüchte und Lügen
die Leute ausfüllen den freien Raum
und maßen mutlos
voll Mut die Besten
wo die Wahrheit nicht spricht
Brüder, Freunde
da schweigt sie.

Gerd Adloff

 

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Wolfgang Greisenegger: Von Wahrheit und Widerspruch
Die Furche, 12.2.1998

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Nils Schniederjann: Das umkämpfte Erbe des kommunistischen Dramatikers
Deutschlandfunk Kultur, 10.2.2023

Karin Beck-Loibl: Genie und Polyamorie
zdf.de, 10.2.2023

Hubert Spiegel: Briefmarke zum 125. Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.2023

Christopher Beschnitt im Gespräch mit Jürgen Hillesheim: „Über die Political Correctness würde Brecht die Nase rümpfen“
Cicero, 10.2.2023

Ronald Pohl: Mit Bertolt Brecht die Kunst des Zweifelns erlernen
Der Standart, 10.2.2023

Theater und mehr: Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht
ardmediathek.de

Jan Kuhlbrodt: Eine Intervention
signaturen-magazin.de

Otto A. Böhmer: Die gewissen Möglichkeiten
faustkultur.de, 10.2.2023

Brechtfestival Augsburg vom 10.–19.2.2023

Brecht125

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorNotizbücher +
Archiv 1, 2 & 3 + Internet Archive + Kalliope + ÖM + KLGUeLEX
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachruf auf Bertolt Brecht: Tumba

 

Bertolt Brecht: Lob des Lernens gesungen von Nina Hagen 2016 in Potsdam.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00