Bertolt Brecht: Von der Freundlichkeit der Welt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bertolt Brecht: Von der Freundlichkeit der Welt

Brecht-Von der Freundlichkeit der Welt

DIE LITERATUR WIRD DURCHFORSCHT WERDEN
Für Martin Andersen Nexö

I
Die auf die goldenen Stühle gesetzt sind, zu schreiben
Werden gefragt werden nach denen, die
Ihnen die Röcke webten.
Nicht nach ihren erhabenen Gedanken
Werden ihre Bücher durchforscht werden, sondern
Irgendein beiläufiger Satz, der schließen läßt
Auf eine Eigenart derer, die Röcke webten
Wird mit Interesse gelesen werden, denn hier mag es sich um Züge
Der berühmten Ahnen handeln.

Ganze Literaturen
In erlesenen Ausdrücken verfaßt
Werden durchsucht werden nach Anzeichen
Daß da auch Aufrührer gelebt haben, wo Unterdrückung war.
Flehentliche Anrufe überirdischer Wesen
Werden beweisen, daß da Irdische über Irdischen gesessen sind.
Köstliche Musik der Worte wird nur berichten
Daß da für viele kein Essen war.

II
Aber in jener Zeit werden gepriesen werden
Die auf dem nackten Boden saßen, zu schreiben
Die unter den Niedrigen saßen
Die bei den Kämpfern saßen.

Die von den Leiden der Niedrigen berichteten
Die von den Taten der Kämpfer berichteten
Kunstvoll. In der edlen Sprache
Vordem reserviert
Der Verherrlichung der Könige.

Ihre Beschreibungen der Mißstände und ihre Aufrufe
Werden noch den Daumenabdruck
Der Niedrigen tragen. Denn diesen
Wurden sie übermittelt, diese
Trugen sie weiter unter dem durchschwitzten Hemd
Durch die Kordone der Polizisten
Zu ihresgleichen.

Ja, es wird eine Zeit geben, wo
Diese Klugen und Freundlichen
Zornigen und Hoffnungsvollen
Die auf dem nackten Boden saßen, zu schreiben
Die umringt waren von Niedrigen und Kämpfern
Öffentlich gepriesen werden.

 

 

 

Nachwort

„Was tun Sie“, wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?“ „Ich mache einen Entwurf von ihm“, sagte Herr K., „und sorge, daß er ihm ähnlich wird.“
„Wer? Der Entwurf?“ „Nein“, sagte Herr K., „der Mensch.“

Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner

I
Brechts Dichtungen sind früh Gegenentwürfe. Sie vereinen Affront und Exempel, Kritik und Programm. Der erste Weltkrieg mit seinem Sprung in die Revolution hatte ihm die Brüchigkeit der Bürgerwelt, die Unsicherheit aller Verhältnisse vor Augen geführt und seine jugendliche Protesthaltung radikalisiert, wurde der große praktische Anschauungsunterricht für ein neues Sehen der Dinge.
Brechts Positionen, aus denen sich neue, ungewohnte Gesichtswinkel ergaben, waren zunächst oft Ergebnisse seiner Negationen, die er bis zum Extrem führte, um sie von neuem in Frage zu stellen. 1954 resümiert er bei Durchsicht seiner frühen Stücke:

Ich sehe heute, daß mich mein Widerspruchsgeist – ich unterdrücke den Wunsch, hier das Wort ,jugendlicher‘ einzuschalten, da ich hoffe, ihn auch heute noch ungeschmälert zur Verfügung zu haben – dicht an die Grenze des Absurden herangeführt hat.

Alles gerät in Fluß: Dialektik, eine der Grunderfahrungen des jungen Brecht, wird zur spontan revolutionierenden Methode. Veränderung ist ihm Motiv, Thema, später auch Funktion seiner Dichtung. Aber nicht nur um der Wandlung willen, und weil alles Bestehende wert schien, daß es zugrunde gehe. 1927 fordert er vom Künstler, wie vom Soziologen, daß er kein Relativist sei: er hält sich an Interessen vitaler Art, er hat keinen Spaß daran, alles beweisen zu können, sondern er will nur das einzige herausfinden, was zu beweisen sich lohnt. Und später:
Im Kampf mit den alten gewinnen die neuen Ideen ihre schärfsten Formulierungen.
Überkommene Welt-Bilder, Seh- und Denksysteme, die das Material einer chaotischen Wirklichkeit scheinbar ordnen und es dadurch verklären, werden von neuen Gesichtspunkten her demontiert und zu Entwürfen gefügt. Auf solche Weise entstehen Gegen-Stücke, die Widerreden und Gegengesänge seiner Lyrik, aggressive Anti-Legenden, die den verhüllenden Begriffs- und Legendendschungel lichten sollen. Der radikalste Aspekt aber ergibt sich dort, wo der Widerspruch seine größte Schärfe gewinnt: auf der untersten Stufenleiter der Gesellschaft, von den Ausgestoßenen und Rechtlosen her, den Abenteurern und Vaganten, den Unterdrückten und Aufrührern. Eine verkehrte und von oben her apologetisch verklärte Welt wird von der Hölle gegen den Himmel (das programmatische „Gegen Verführung“ hieß ursprünglich „Luzifers Abendlied“), von den Niederen aus wahrhaftiger gesehen. Den herrschenden Gesichtspunkten als den Gesichtspunkten der Herrschenden werden die ,niedrigen‘ konfrontiert. Die materialistische, anti-ideale, plebejische Sicht stellt das apologetische Weltbild auf den Kopf.
Die revolutionäre Konsequenz dieser Sehweise hat Brecht noch 1954, bei der Verleihung des Internationalen Stalin-Friedenspreises, hervorgehoben: die wichtigste Lehre der Oktoberrevolution habe darin bestanden, daß eine Zukunft für die Menschheit nur ,von unten her‘, vom Standpunkt der Unterdrückten und Ausgebeuteten aus, sichtbar wurde. Nur mit ihnen kämpfend, kämpft man für die Menschheit.
Von hier aus lassen sich Wahrheiten finden, deren Eigenschaft es ist, die Dinge dieser Welt handhabbar zu machen.
Brechts poetische Entwürfe von Welt und Menschen wollen kein unmittelbares Abbild geben, oder höchstens nur wie in Parabolspiegeln, die das Wirkliche bis zur Kenntlichkeit überhöhen. Sie bieten Modelle der Wirklichkeit, Experimentiermodelle, mit denen gesellschaftliche Prozesse und menschliche Verhaltensarten bis zur Durchschaubarkeit rationalisiert werden, damit man an ihnen analytisch zur schwierigen Wahrheit, synthetisch zu Gegenvorschlägen gelange. Daß diese Modelle nicht nur gegen bestehende Realität, sondern auch gegen überkommene Abbilder von ihr gerichtet sind, betont Brecht verschiedentlich, unter anderem in jenem Gedicht aus der Emigrationszeit, in dem er künstlerische Arbeit als das Machen einleuchtender Bilder beschreibt:

… Da wird der Kosmos gebildet.
Nebeneinander liegen, einander bedingend, die Dinge
Vielerlei dient dazu, ein Alles ahnbar zu machen
Der nachschaffende Geist genießt die Genüsse des Schaffens
Alles scheint ihm geordnet, da er es geordnet. So manches
Was nicht hineinpaßt, läßt er heraußen und nennt es ,das Wenige‘…
Solche Bilder sind nützlich, solange sie nützen. Nicht länger.
Nur im Kampf mit andern Bildern, nicht mehr so nutzbaren
Aber einstmals auch nützlichen, bringen sie Nutzen.
Kämpfend nämlich mit neuen Lagen, niemals erfahrenen
Kämpfen die Menschen zugleich mit den alten Bildern und machen
Neue Bilder…
aaaaaaaaaaaDa nun diese neuen Modelle
Meist aus den alten gemacht, den vorhandenen gebildet
Werden, scheinen die falsch, doch sie sind’s nicht. Sie wurden’s.

II
Neue Abbildungen, im Kampf mit überkommenen Gestalt gewinnend – so geraten Brechts Dichtungen auch im Ästhetischen häufig zu Gegenentwürfen. Aller poetischen Praxis, die zu unbedachter Einfühlung, zum Mitgehen wohin auch immer, zum Einverständnis verleiten will, setzt er eine eigene Methode entgegen: Verfremdung. In der literarischen Überlieferung allenthalben spontan wirksam, ist sie von Brecht aus seinem Affront heraus früh genutzt und entwickelt worden, ehe er sie in den dreißiger Jahren theoretisch begründet hat. Sie besteht aus einem System von Techniken und Effekten, die im Betrachter, Hörer, Leser jene fruchtbar-kritische Haltung, jenes Befremden und Erstaunen hervorrufen sollen, wie sie noch stets am Anfang neuer Erkenntnis standen. Bei Brecht ist die gesamte Darbietungsweise des Materials, Sprache und Stil, die Verskunst, die Art der Konstruktion, der Vortrag von ihr bestimmt. Sie ermöglicht seinen Dichtungen ihre erstrebte Funktion, die Welt nicht allein neu zu interpretieren, sondern verändernd in sie zu wirken. Sein Programm der Auflehnung gegen eine zu verwerfende literarische Konvention, seine erklärte Feindschaft zwischen dieser Generation und allem Vorangegangenen läuft bei Brecht nirgends auf den Bruch mit der Tradition, sondern auf immer neue Versuche kritischer Aufhebungen hinaus. Der ständig neu reproduzierte Gegensatz zu veralteten Darstellungsweisen wird selbst ein Teil der Aussage. Auffällig oft knüpft Brecht an kritische, plebejisch-volkshafte, protesthaltige Überlieferungen an, die der hohen Literaturtradition zuwiderlaufen, bevorzugt Vorbilder, die dem Stoff Eigenständigkeit, der Dialektik Spielraum lassen. Oder er übernimmt repräsentative, apologetisch wirksame Konventionen auf kritisch-parodistische Weise. Formen werden wegen ihrer verfremdenden Wirkung herangezogen und werden selber verfremdet, in ihrer historischen Bedingtheit dargeboten. Verfremdung, wo sie in lügnerische Idyllik einbricht, ist jedoch nicht gegen Poesie, wo sie falschen Prunk zerstört, nicht gegen Schönheit gerichtet, sondern entdeckt neue ungewöhnliche Schönheiten und bringt sie hervor. Mehrfach hat Brecht sie sogar schlechthin als Poetisierung aufgefaßt. Doch erweitert sie den Schönheitsbegriff um den der Wahrheit, auch Häßliches einbeziehend.
Viele ästhetische Eigentümlichkeiten der Brecht-Lyrik ergeben sich aus dem engen Bezug zur Hauptarbeit, die ihr Autor nach eigenen Worten auf dem Theater verrichtete. Die meisten der Gedichte sind Lieder und Ansprachen, die nicht beim Lesen, sondern erst im Vortrag zu vollen Geltung kommen. Sie sind immer an Adressaten gerichtet, selbst wo sie sich monologisch geben: ich dachte immer an das Sprechen. Der Dichter Kin, der in einer Prosa-Arbeit für Brecht steht, wußte, daß einer auch dann mit andern spricht, wenn er mit sich spricht.
Was Brecht an Neuerungen für die Ästhetik seines Theaters entwickelt hat, trifft – bei aller Abwandlung – auch auf die Lyrik zu: daß die Aktivität der Hörer geweckt und Entscheidungen provoziert, ,organisches Wachstum‘ durch kontrastreiche Montagen, Suggestionen durch Argumente, Erlebnisse durch Welt-Bilder ersetzt werden sollen. Vor allem wird der Mensch, bislang zumeist als bekannt vorausgesetzt, bei ihm veränderlich und veränderungswürdig, zum Gegenstand der Untersuchung erhoben.
Nirgends ist Brecht um Überein-Stimmung des Poeten, seiner lyrischen Figur und des Empfangenden bemüht – unterscheidbare, gar widerstreitende Haltungen sind angestrebt. Das lyrische Ich findet sich ebenso distanziert übermittelt wie anderes ,Material‘. Es tritt, den Darstellern des Brecht-Theaters vergleichbar, als Zeigender, als Chronist auf, der seinem Publikum Ansichten und Bilder von der Welt kritisierbar vorzuweisen hat, zugleich sich selber der Untersuchung und Kritik überantwortend. Andererseits kommt auch in den ausdrücklichen Rollengedichten, über die Erkenntnismöglichkeit der Figuren hinaus, die Meinung des Verfassers zur Geltung, und die meisten seiner Objektivierungen tragen das Signum seiner unwiederholbaren Individualität.
Der Gefühlseinheit des homogen vorgestellten ,Charakters‘ wird, aus Polemik gegen die bürgerliche Fiktion des Individuums, aber auch der Wahrheit zuliebe, von Brecht ein äußerst teilbares und zerstörbares Wesen Mensch entgegengestellt, determiniert von Umständen und Interessen. Aus seinen widersprüchlichen, hart gegeneinandergesetzten Teilhaltungen, Gesten, ergibt sich der ,Gestus‘:

Darunter verstehen wir einen ganzen Komplex einzelner Gesten der verschiedensten Art… Ein Gestus zeichnet die Beziehungen von Menschen zueinander.

Und Brecht schreibt über seine gestische Sprache in der Literatur, die ein Werkzeug des Handelns sei: Er habe eine Sprachweise angewandt, die zugleich stilisiert und natürlich war. Dies erreichte er, indem er auf die Haltungen achtete, die den Sätzen zugrunde liegen: Er brachte nur Haltungen in Sätze und ließ durch die Sätze die Haltungen immer durchscheinen. Eine solche Sprache nannte er gestisch, weil sie nur ein Ausdruck für die Gesten der Menschen war. Man kann seine Sätze am besten lesen, wenn man dabei gewisse körperliche Bewegungen vollführt, die dazu passen, Bewegungen, welche Höflichkeit oder Zorn oder Überredenwollen oder Spotten oder Memorieren oder Überrumpeln oder Warnen oder Furchtbekommen oder Furchteinflößen bedeuten.

Brecht erhebt den Gestus zum ordnenden Prinzip, mit seiner Hilfe die kompliziert gewordenen Beziehungen unter den Menschen zur überschaubaren Folge von bedeutenden (auch deutbaren) und typischen Ausdruckseinheiten zu vereinfachen. Jeder Gestus ist Haltungsäußerung, ist Aktion, und aus dem Gegeneinander der Einzelaktionen ergibt sich als Resultante der gesellschaftliche Grundgestus eines Werkes, die Aktion des Autors auf den Partner hin.
Der Gestus ist nicht nur für Brechts Theater, sondern auch für seine Lyrik eine grundlegende ästhetische Entdeckung.
Als Möglichkeit mittelbaren Ausdrucks erlaubt er lyrische Einvernahme von vielem, das als extrem unlyrisch galt: philosophische Problemstellung und Argumentation samt ihrer Logik und Kausalität, Didaktik, aber auch Gestikulation und Rede des Alltags. Er erweckt Assoziationen, und ist zitierbar. Gedanke und Gefühl, aber auch alle formalen Elemente werden ihm unter- und beigeordnet. Das geht so weit, daß es Brecht beim Vortrag weniger darauf ankam, die gedankliche Substanz in allen Nuancen zu übermitteln, als den Grundgestus herauszuarbeiten, der zu seiner Wahrnehmbarkeit zwar des Sinns der einzelnen Sätze nicht ganz entraten konnte, aber eben doch dieses Sinns nur mehr als Mittel zum Zweck bedurfte. Der Gestus ist übernehmbar, und überzeugungskräftig, wie es Brecht in einem (Fragment gebliebenen) Gedicht darzustellen versuchte:

Das Operieren mit bestimmten Gesten
Kann deinen Charakter verändern
Ändere ihn… die Art der Rede
Ändert den Gedanken.
Eine gewisse heftige
Bewegung der Hand… überzeugt
Nicht nur andere, sondern auch dich, der sie macht.

Die Gedichte, wie alle Erkenntnis- und Haltungsmodelle des Brecht-Werkes, reproduzieren selten das fertige und wünschenswerte Ergebnis, sondern die Fragestellung und den Erkenntnisvorgang. Entscheidungen werden dem Zuhörer nahegelegt, nicht abgenommen. Der Singende oder Hörende übernimmt den Gestus zur Probe, nicht ohne Vorbehalt – Erkenntnis soll in ihm selbst sich ereignen, mit aller Frische und Brisanz, die ihr im Status ihrer Geburt eigen ist.

III
Lyrik der Wandlungen, Wandlungen auch der Lyrik: in Form, Gestus und Thema. Doch gibt es Beständigkeiten. Die Tendenz der Veränderung, die Richtung von Brechts Lyrik, ihr Gegenprogramm zur Welt heißt: Freundlichkeit. Verfremdung hat den Auftrag, zur Verfreundlichung beizutragen.
Die Problematik verknüpft sich eng mit der Frage nach dem menschlichen Glück. Dessen Forderung ist für Brecht immer ein Axiom geblieben:

Das Recht des Menschen ist’s auf dieser Erden
Da er doch nur kurz lebt, glücklich zu sein
Teilhaftig aller Lust der Welt zu werden
Zum Essen Brot zu kriegen und nicht einen Stein.

Glück ist der erstrebenswerte Zustand, Freundlichkeit eine Aktion, auf das Glück hin oder unfreiwillig von ihm weg, je nach der Konstellation.
In der bedrohlichen oder gleichgültigen, kühlen Welt der frühen Balladen richten vereinzelte Helden alle Freundlichkeit auf sich selber und alle Unfreundlichkeit nach außen.
Aus Notwehr gegen eine asoziale Umwelt werden asoziale Haltungen produziert, wird Amoral gegen eine verlogene Moral ins Feld geführt. Die Außenseiter der Unter- und Halbwelt haben jenen Blick, der die Vorspiegelungen der Oberwelt zu durchschauen vermag. Da ist Luzifer, der vor jenseitigen Verführungen und jeglicher Askese, vor Fron und Ausgezehr warnt. Und Villon, dem nicht nur das Fressen, auch Brutalität, die Kälte und schließlich das Sterben schmeckte.
Abenteurer mit Sehnsucht nach dem großen stillen fahlen Himmel, den sie sich strahlender denken, als er je sein kann, die groß und untragisch scheitern und sich von keinem Gott in die Hölle beordern lassen, weil sie immer in der Hölle waren.
In der Naturwelt ihrer Emanzipationen und ihrer Untergänge heißt ihr Gegenprogramm: Vitalität. Der herrschenden Ideologie und ihren Idolen, einer Ethik, die Todesfurcht in willfährige Aufgabe aller irdischen Vorteile ummünzen möchte, wird materialistische Diesseitigkeit konfrontiert. Dem Tugendsystem, das zur Niederhaltung der Tugendhaften mißbraucht wird, widersetzt sich ein System von ,Lastern‘, worin alle Lüste, alle leiblichen und geistigen Freuden ihren Platz haben. Teils früher, teils später werden hier auch Genüsse wie Denken und Erkennen, Lernen und Lehren, Tun und Schreiben einbezogen. Selbstverständlich Natur, und Liebe, und Lust des Beginnens an der Schwelle einer neuen Zeit. Alle diese lasterhaften Menschenlüste sind Freundlichkeiten, die der Welt abgetrotzt und erwiesen werden, gegen mancherlei Behinderung. Die Tugenden werden umgestülpt, daß die wärmende Seite ihrem Träger zugute komme.
Die verfochtene Amoral ist die eines Moralisten, der sich auf anarchische Weise vor zerstörerischen Ansprüchen zu retten sucht. Protest erfolgt im Predigertone, Parodie und echte Umkehrung in einem, die Götter des Jenseits werden durch irdische Gegen-Götter ersetzt. Da ist die Leitgestalt Baal, der auf sich selbst und seine animalische Natur zurückgeworfene Mensch, voll höhnischer Selbstbehauptung und Lust an allem. Auch an der Vergänglichkeit, die sein Gegner und sein Verbündeter ist. Das Baal-Thema hat Brecht Jahrzehnte später in einer Oper über die Reisen des Glücksgottes fortführen wollen, der von sich sagt:

Ich bin der Gott der Niedrigkeit
Der Gaumen und der Hoden
Denn das Glück liegt nun einmal, tut mir leid
Ziemlich niedrig am Boden.

Dieser kleine dicke Götze, der die Menschen Glück und den Kampf für Glück lehren will, ist nicht totzukriegen:
die Gifte, die man ihm reicht, schmecken ihm, und allen Übeln der Verfolgung noch weiß er Genuß abzugewinnen.
In dem Lied „Von der Freundlichkeit der Welt“ hieß es:

Von der Erde voller kaltem Wind
Geht ihr all bedeckt mit Schorf und Grind.
Fast ein jeder hat die Welt geliebt
Wenn man ihm zwei Hände Erde gibt.

Schon die Helden der Frühzeit verstehen auch aus Kälte, Leid und Gefahren Glück zu ziehen. Es geht um Stärkung der Appetite, ihre Haltung ist die des ,Essers‘, dem alles Vorhandene mundet, der die Felder abgrast und noch die Geier verspeist, die ihn zerreißen wollen, der die Welt sich einverleibt, bis er satt ist von ihr; der das Chaos aufbraucht:

Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es.

Das Leben erscheint ihnen groß, trotz aller Unfreundlichkeit, am größten, wo es nicht mehr bereitsteht.
Die Szenerie der Natur, in der sie agieren, ist eine Gegenwelt zur Gesellschaft und zugleich ihr vereinfachtes Abbild. Diese zwei Natursichten: als Spiegelung, Modell, Symbol gesellschaftlicher Vorgänge, und als deren Gegenbild, werden auf vielfache Weise neben- und widereinander gesetzt, um Entzweiung des Menschen mit seiner Natur, Widersprüche der Gesellschaft, Behinderungen der Lust und der Freundlichkeit zu zeigen. Die Wirkung unterschiedlicher Gesichtspunkte wird in dem Gedicht „Überall vieles zu sehen“ besonders verdeutlicht: ein und dieselbe Landschaft ergibt sehr abweichende Bilder, je nachdem ob man sie ästhetisch, militärisch, sozial, landwirtschaftlich, poetisch-aufrührerisch oder geologisch-historisch betrachtet. – Die Freundlichkeiten der Natur und eine ihrer größten, die Liebe, werden durch gesellschaftliche Kraftfelder deformiert, gar zunichte gemacht.
Dabei ist Brecht nirgends auf Harmonie aus. In der Liebe war Dissonanz früh gewollt, und auch noch die spätere Klage enthält Billigung. Liebe erscheint wandelbar wie die Liebenden, die sie in flüchtigen Augenblicken vereint, und ist am größten, wo sie endet. An ihrer Vergänglichkeit steigern sich Lust und Begierde, und nur als Wolke und Wind, Sinnbilder des Unbestands, dauert sie im Gedächtnis. Wie alle Gefühle wird sie reduziert auf ihre kleinste Größe: ihre größtmögliche Intensität, daß sie bestehen könne; wird sie unterkühlt, damit sie haltbarer sei, aber selbst dann nicht: von Dauer. Gerieten zu Beginn Glück und Freundlichkeit meist in Gegensatz, weil Glück vor allem durch Unfreundlichkeit zu erobern war, und mußten der Welt ihre lustvollen Freundlichkeiten egoistisch-brutal entrissen werden, so zeigt sich immer häufiger Vergnügen an sozialer Geste, an eigener Freundlichkeit: einer Tugend, weil verderblich, einem Laster, weil genußbringend. Freundlichkeit, bisweilen identisch mit Güte, erfährt mannigfache Wandlungen in ihrer Bewertung, wie das Böse, das dem System zunächst mit einiger Selbstverständlichkeit immanent war, später beklagt und der Gesellschaft zur Last gelegt wird. Doch gilt sie noch weithin als Schwäche, zu kräftigen nur durch ihr untrennbar verbundenes Gegenteil. Zur Erhaltung einer untergangsreifen Gesellschaft mißbraucht, wird sie für den einzelnen wie für die Gesamtheit zum Schaden, auch und gerade, wenn sie vorübergehend Linderungen schafft. So wird in den Zeiten äußerster Verfolgung die Freundlichkeit aufgehoben: negiert, für die Zukunft bewahrt, verwandelt.
Die größte und einzige Freundlichkeit gegenüber dieser Welt wird ihre Ablehnung, und Veränderung. Kampf ist Freundlichkeit, bejaht in seiner Kälte, wie die Kälte des Windes früh bejaht worden war. Güte bedeutet nun Vernichtung derer, die Güte unmöglich machen.
Da kann Schlechtigkeit der Zustände gutgeheißen werden, weil sie Lösungen erzwingt. Da läßt sich Liebe, Lust, Natur, Güte als Inkonsequenz, als reformistische Abhaltung von weltveränderndem Tun begreifen, gegen die große Verfreundlichung gerichtet. Die Glücksforderung wird gestundet, aber sie soll am Ende mit Zinsen eingelöst werden. Die Abenteurer der Balladen suchten

Grinsend und fluchend und zuweilen nicht ohne Zähren
Immer das Land, wo es besser zu leben ist.

Die sich gelegentlich eine kleine Wiese mit blauem Himmel darüber, immer wieder: Himmel, erträumten, haben zuvor den Dschungel der Gesellschaft zu lichten. Doch ist es Bedürfnis nach Wärme, das sie in die Kälte treibt. Auch nach Wärme ihrer eigenen Haltung. Die den Boden bereiten für Freundlichkeit, klagen bitter, daß sie nicht freundlich sein dürfen.
Dichtung macht der Gesellschaft den Prozeß. Daß Freundlichkeit verderblich wird, spricht ihr das Urteil: es lautet auf Untergang und Verwandlung.
Motive und Themen wie Aufbruch, neue Zeit, die großen Städte, der neue Mensch, Wandlung, Zukunft (alle schon im Expressionismus intoniert) lassen die Problematik der Freundlichkeit in die der Gesellschaftsveränderung, der sozialen Umwälzung münden. Die radikale Lösung wird nun dort betrieben, wo Ethik ihre Wurzeln hat, in der ökonomischen, sozialen und politischen Basis der Gesellschaft. Die Ellbogen des einzelnen reichen nicht aus, ihm die Freundlichkeiten der Welt zu verschaffen. Das kollektive Zerbrechen der Behinderungen ermöglicht die breitesten Lösungen. Daß es ihm um die Lösungen ging, hat Brecht mehrfach betont, auch daß es vor allem Produktivität war, die ihn anzog:

Wenn es für meine Klasse (die bürgerliche) noch irgendeine Möglichkeit gegeben hätte, die auftauchenden Fragen gründlich zu lösen, – ich bin überzeugt, daß ich dann nur wenig Gedanken an das Proletariat verloren hätte. Zu meiner Zeit konnte sie die Fragen nicht einmal mehr gründlich stellen.

Es ist von dialektischer Folgerichtigkeit, wenn der spontan anarchistische und asoziale Protest des jungen Brecht über vielerlei Zwischenstufen dorthin gelangte, wo seine Gegnerschaft ihre äußerste Konsequenz, das Bürgersystem seine praktikabelste Ablehnung fand: bei den handelnd Unzufriedenen.
Mitleid, Solidarität der Unterdrückten (auch sie von den ,Oberen‘ als ein Laster verpönt), Gerechtigkeit werden vonnöten sein. Beschrieben werden die Freundlichen: Revolutionäre, Lehrer und Lernende, beispielhafte Gescheiterte, Weise, die sich ihre Weisheit entreißen lassen. Freundlichkeit ist auch die Unwandelbarkeit des Wandelbaren in den Zeiten der Verfolgung, ist jede ergiebige Haltung, und immer mehr wird produktive Veränderung zu ihrem Synonym. Freundlichkeit ist eine Produktivkraft, die in Widerspruch zu den hemmenden Verhältnissen gerät und an deren Sprengung wirkt. Ist die Einheit von Kritik und Programm, ist Negation und deren Aufhebung.
Ziel nach langen Wegen wird sein: ein Zustand der Gesellschaft, bei dem der Mensch dem Menschen ein Helfer ist und die Lüste der Freundlichkeit so wenig mißbrauchbar als für die Ausübenden verderblich sind; bei dem Freundlichkeit zu sich und andern identisch wird. Eine Welt, die ihrem Bildnis und Gegenentwurf ähnlicher geworden ist.
Brechts freundliche Hinterlassenschaft des Gebens und Abverlangens: sein Werk als ein Werkzeug, als Beihilfe zur größten aller Künste: der Lebenskunst. Zu der Freundlichkeit dieses Werks gehört auch das Fragmentarische, das unabgegolten Brauchbare. Das Menschen braucht, als Mitwirkende und Weiterführende. Das Antworten fordert, die des Autors, und weitere. Das Fragen erweckt.

Hubert Witt, Nachwort

Zur Auswahl

Vor der Herausgabe seiner Hundert Gedichte hatte Brecht notiert:

Jedes Gedicht ist der Feind jedes andern Gedichts und sollte also allein herausgegeben werden. Gleichzeitig benötigen sie einander, ziehen Kraft auseinander und können also vereint werden. Der Hut, unter den sie gemeinhin gebracht werden, ist der Hut des Verfassers, in meinem Fall die Mütze. Aber dies ist auch gefährlich, die vorliegenden Gedichte mögen mich beschreiben, aber sie sind nicht zu diesem Zweck geschrieben. Es handelt sich nicht darum, ,den Dichter kennenzulernen‘, sondern die Welt und jene, mit denen zusammen er sie zu genießen und zu verändern sucht. Aber: Zu dem ,Wert‘ eines Gedichts gehört das ,Gesicht‘ des Verfassers.

Die vorliegende Auswahl versucht im Hinblick auf die Welt wie auf den Dichter der Freundlichkeitssuche Brechts in verschiedenen Themenbereichen nachzugehen. Sie kam, bei zwangsläufiger Begrenzung des Umfangs, nicht ohne grobe Vereinfachungen der Themen- und Motivverflechtung aus. Doch wird durch Querbezüge zwischen den Gruppen, die entgegen der vorgenommenen Sondierung den widersprüchlichen Zusammenhang betonen sollen, größere Differenziertheit sichtbar. Innerhalb der Gruppierungen kommt Chronologie zur Geltung, doch der thematische Zusammenhang wurde ihr übergeordnet. Am meisten Kraft könnten die Gedichte auseinander ziehen, wenn sie in ständig wechselndem Konnex gelesen würden. Für dieses Büchlein wurde versucht, die Texte so folgen zu lassen, daß sie Entwicklungen des Autors nachzeichnen und daß ihre Gemeinsamkeiten wie Gegnerschaften produktiv werden.

 

Sein Leben war so chaotisch,

dass er daran fast zugrunde gegangen wäre“

Vermutlich muss man als Brecht-Forscher ein ruhiger und ausgeglichener Mensch sein, denn der Gegenstand liefert so viel in verschiedenste Richtung strahlende Energie, produktive wie destruktive Kräfte, dass man sich ihm nur im Modus der Selbstbeherrschung nähern sollte. Bertolt Brecht war ein Mensch und Künstler der Extreme, sein Jugendfreund Caspar Neher hat ihn als „Hydratopyranthropos“, als „Wasser-Feuer-Mann“ bezeichnet. Stephen Parker, Germanist an der Universität Manchester, spricht ganz ruhig und leise, sein vorherrschendes Gefühl ist Neugier. Parkers „Bertolt Brecht“, gerade bei Suhrkamp erschienen, ist ab sofort die gültige Biografie dieses Jahrhundertschriftstellers. –

Richard Kämmerlings: Professor Parker, ist Ihnen Brecht eigentlich sympathisch?

Stephen Parker: Brecht ist vor allem widersprüchlich. Ich versuche, eine gewisse Empathie aufzubringen. Brecht war ein großer Künstler mit ganz offensichtlichen Schwächen.

Kämmerlings: Wenn Sie eine Zeitreise machen könnten, welchen Brecht würden Sie gern treffen? Den jungen, den der Zwanzigerjahre, den Exilanten, den späten?

Parker:Wenn ich etwas jünger wäre, würde ich unbedingt beim jungen Brecht in seinem Augsburger Freundeskreis mitmachen wollen. Unbedingt! Das „Baalische Weltgefühl“, von dem sein Freund Hanns Otto Münsterer gesprochen hat, das hätte man erleben müssen. Aber ich bin ja heute älter als je Brecht wurde. Also wäre ich lieber in Ost-Berlin an seiner Seite gewesen, um ihn besser verstehen zu können.

Kämmerlings: Erscheint Ihnen der ältere Brecht rätselhafter?

Parker: Nein, alles reicht sehr weit zurück. Die Verhaltensmuster, die er noch in der frühen DDR zum Vorschein bringt, kann man nur vor dem Hintergrund von früheren Erfahrungen erfassen. Vor allem dieses Oszillierende, Hin- und Herschwingende in seinem Verhalten. Schon ein Mitschüler hat Brecht als „vorlaut und zurückhaltend zugleich“ charakterisiert. Dieser Gegensatz hat sich im Laufe der Zeit verwandelt, etwa in seinen Taoismus, dem Wechselspiel von Handeln und Nichthandeln.

Kämmerlings: Seine langjährige Sekretärin und Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann, sein „Chief Girl“, formuliert einmal, Brecht habe „grobe“ Dinge gesagt, „doch sehr höflich“. War das eine Maske?

Parker: Das würde zu kurz greifen. Diese beiden Aspekte, das Vorlaute und das Reservierte, konnten als Maske eingesetzt werden. Aber sie waren beide Bestandteil seiner komplizierten Persönlichkeit.

Kämmerlings: Helmut Lethen hat in seinem Buch Verhaltenslehren der Kälte den „coolen“ brechtschen Habitus als generationentypisch beschrieben: Eine ganze Generation, die traumatisiert aus dem Weltkrieg kommt, legt sich Panzerungen und Masken um ihre verwundeten Seelen, wie Brecht seine notorische Lederjacke.

Parker: Eine zentrale Erfahrung für Brecht. Er hat nicht an der Front gedient, war aber Sanitätssoldat und hat Schreckliches gesehen, Schwerverletzte, Amputationen. In einem späteren Brief an seinen Sohn Stefan stellt er die zentrale Frage:

Wie konnte man unempfindlich werden?

Brecht hat früh die Erfahrung gemacht, dass man sich schützen muss. Er hatte eine sehr dünne Haut und musste sich eine dicke Haut zulegen. Um 1916 erfindet er sich neu, der im Krieg verwundete Caspar Neher spielt eine wichtige Rolle. Und von da an schreibt Brecht über wilde Abenteurer und harte Männer, die Prüfungen standhalten müssen.

Kämmerlings: Aber es ist ja nicht nur Projektion. Er hat ja selbst diesen Machismo im Privaten auch gelebt.

Parker: Das sitzt bei ihm tief im Fleisch. Für Brecht spielt auch der Tod der Mutter 1920 eine zentrale Rolle. Unmittelbar danach ist er sehr aggressiv geworden, hat seinen alten Freundeskreis zerschlagen. Er war ein angry young man, in der Zeit vom Kriegsende bis etwa 1923/24, wo es dann nicht mehr so weiterging. Er musste eine neue Gemütslage finden. Dazu gehörte auch die Vertiefung in chinesische und antike Philosophie, die Beschäftigung mit Montaigne und Hegel. Ataraxie, Gelassenheit, wird immer wichtiger, erst recht dann später in der Emigrationszeit.

Kämmerlings: Brecht und Gelassenheit?

Parker: Für einen sozialen Umgang überhaupt war das notwendig. Er litt früh unter Chorea minor, zwanghaftem Zittern und Zuckungen. Wenn er öffentlich in Erscheinung treten wollte, musste er Mittel finden, um das zu lindern. Diese Krankheit hat ihn sein Leben lang begleitet.

Kämmerlings: In einer Biografie geht es immer um Kontinuität und Bruch. Oberflächlich gesehen gibt es bei Brecht viele Brüche, radikale Kehrtwendungen in ästhetischen und politischen Konzepten. Sie betonen aber eher tiefer liegende Kontinuitäten, und hier spielen seine Krankheiten, das Bewusstsein seiner fragilen Körperlichkeit eine zentrale Rolle.

Parker: Eine große Frage der Brecht-Forschung lautet, warum sich Mitte der Zwanzigerjahre auf einmal alles ändert. Traditionell hat man dafür seine Entdeckung des Kommunismus verantwortlich gemacht. Aber das kam erst danach. Brecht selbst spricht im Sommer 1925 von der notwendigen „Regelung der Appetite“. Er hat eingesehen, dass er sehr früh sterben würde, wenn er sein Leben nicht ändern würde. Das war so chaotisch geworden, dass er daran fast zugrunde gegangen wäre. Das betraf seinen Alltag, seinen Lebenswandel, inklusive seiner ganzen Affären. 

Kämmerlings: Er stellte seinen Tagesablauf um, steht früh auf, setzt sich an den Schreibtisch, verzichtet auf Alkohol. Sein turbulentes Beziehungsleben ändert sich nicht.

Parker: Er kann sich nicht zähmen. Lion Feuchtwanger hat das gut erkannt in einem Brief an Arnold Zweig nach Brechts Tod:

Auch hätte er es nie ertragen, so ruhig und vorsichtig zu leben, wie man es ihm sehr früh schon empfohlen hatte.

Er hat es immer wieder versucht, einiges erreicht, aber sich richtig zu mäßigen, das war ihm nicht gegeben.

Kämmerlings: In diesem Zusammenhang zitieren Sie Elias Canettis wunderbare Einschätzung Brechts, der hungrig und asketisch zugleich wirkte:

Der Hunger konnte auch als Fasten erscheinen, als enthalte er sich mit Absicht der Dinge, die Gegenstand seiner Gier waren.

Parker: Da hat Canetti etwas sehr genau gesehen.

Kämmerlings: Vielleicht weil Canetti selbst so ein notorischer Frauenverbraucher war. Was Brecht sich erlaubt, etwa mit seiner Jugendliebe Paula Banholzer („Bi“) oder – gleichzeitig – mit seiner ersten Frau Marianne Zoff, ist einfach unfassbar. Woher kommt das?

Parker: Brechts Vater und auch der Bruder waren immer Frauenhelden gewesen, da musste Brecht mithalten. Man kann auch von einer allgemeinen Krise der Männlichkeit sprechen. Der Machismo ist auch eine Gegenreaktion auf die sichtbare Schwäche. Vor dem Hintergrund der Krankheit und des Todes musste der Mann sich behaupten. Brechts Verhalten war sehr altmodisch, aber nicht untypisch.

Kämmerlings: Wie beurteilen sie Brechts Verhalten um den 17. Juni?

Parker: Brecht war Anfang der 50er-Jahre mit der DDR-Kulturpolitik sehr unzufrieden, er wurde selbst mehrfach angegriffen, in der Formalismusdebatte war er die Hauptzielscheibe. Aber die Errungenschaften der DDR bedeuteten ihm viel, die Verstaatlichungen der Landwirtschaft und der Industrie, die Öffnung der Universitäten für Arbeiterkinder. Die Westmächte empfand er als Kriegstreiber. Der 17. Juni war dann für ihn ein sehr schwerer Schlag, der Bruch zwischen Arbeiterschaft und Partei, aber er schrieb die bekannten Solidaritätsadressen. Zugleich aber war er an Sitzungen der Akademie der Künste maßgeblich beteiligt, in der eine neue Kulturpolitik gefordert wurde. Das alles fand hinter verschlossenen Türen statt.

Kämmerlings: Hätte er anders gehandelt, wenn er gesünder gewesen wäre? Hat er daran gedacht, die DDR zu verlassen?

Parker: Er hat tatsächlich über ein erneutes Exil nachgedacht, dann wegen eines Dritten Weltkriegs, in dem Deutschland der Schauplatz sein würde. Er dachte, er müsste dann nach China gehen. Er fühlte sich in Deutschland nie mehr richtig heimisch. Wenn er nicht krank gewesen wäre… – tja, aber er war immer irgendwie krank. Er hatte sich mit dem Taoismus das Paradoxe zu eigen gemacht – das Vorlaute und das Reservierte, Handeln und Nichthandeln, keinen Widerstand zu leisten, wo man nur verlieren kann. Er fragt sich, was er mit seinen Energien leisten kann.

Kämmerlings: Brecht starb 1956, da war er keine sechzig. War er ein Unvollendeter?

Parker: Er hat erreicht, was er wollte, die Durchsetzung seines Theaters noch erlebt. Es war ein sehr intensives Leben. Die erstaunlichste Zeit für mich ist die um 38/39. Die Svendborger Gedichte, Galilei, Arturo Ui, Lukullus, Mutter Courage, eine unglaubliche Gleichzeitigkeit. Es ist auch noch nicht verstanden worden, wie wichtig die erste Fassung des Galilei von 1938 war – weil man lange nur die Nachkriegsfassung kannte. Die Erstfassung thematisiert ganz eindeutig den Ketzer im Konflikt mit einer autoritären Macht, die man eindeutig als die Sowjetunion identifizieren muss. Das wollte natürlich im Osten niemand auch nur anfassen. Der Brecht-Biograf Werner Mittenzwei hat Galilei als antifaschistisches Stück interpretiert, das ist verrückt und grundsätzlich falsch. In Wahrheit hat Brecht darin das ganze Trauma der späten Dreißigerjahre verarbeitet.

Die Welt, 9.7.2018

Der Lyriker Bertolt Brecht

Man kann Brecht nur ganz verstehen, wenn man seine Herkunft aus dem Expressionismus kennt, und man versteht den Expressionismus nur richtig, wenn man sieht, daß er in Brecht noch aktuell ist. Schon die äußere Erscheinung dieses Dichters verrät den verlorenen Sohn des Bürgertums. Er trägt die graue Proletarierjoppe über dem Hemd ohne Krawatte, „eine Mischung von Arbeiter und Sträfling“,1 von der sich die feinen Leute in der Literatur indigniert abwenden. Er ist das Gegenteil dessen, was man sich in guter Gesellschaft unter einem Dichter vorstellt, das Gegenteil von Stefan Georges Majestät, Hofmannsthals Anmut, Rilkes Zauber, Thomas Manns diplomatischer Eleganz. So wie er sieht der neue Dichtertyp aus, der seit 1920 in Figuren wie Joyce, Kafka, Döblin, Jahnn auftauchte, der unauffällig lebte und Dynamit schrieb. Besonders in Deutschland, wo das literarische Urteil noch weitgehend durch den Aufblick zu Goethe bestimmt wird, läßt man solche Autoren offiziell nicht als Dichter gelten. Sie lassen sich auf kein Piedestal stellen, sie verkörpern die „Entmythologisierung“ der Literatur.
Ihre Anrüchigkeit rührt daher, daß sie eine neue Funktion des Wortes kennen, der eine andere gesellschaftliche Stellung des Dichters entspricht. Man kann sich mit ihnen nicht hingerissen identifizieren, fast jedem gefällt an ihnen etwas nicht. Das ist zum Teil von ihnen gewollt, zum Teil die Folge eines Konflikts, der ihnen selbst nicht gefällt. Bei Brecht ärgern sich die einen über seinen Kommunismus, andere über die Schönheitsfehler seines Kommunismus, wieder andere über die Verwüstung seines großen Talents durch die Politik. Das Ärgernis bedeutet so oder so nichts anderes, als daß er ernst genommen wird. Im Moment, wo er nicht mehr skandalös wirkt, ist der Sinn seiner Kunst verfehlt, wird auch sie zur unverbindlichen Literatur, der man Beifall klatscht.
Im Marxisten Brecht fand der soziale und politische Gedanke des Expressionismus seinen bedeutendsten dichterischen Ausdruck. Auch seine tiefste Erschütterung war das Grauen vor dem Krieg und der Geistesverfassung der Bourgeoisie, die ihn auf dem Gewissen hatte. Er setzt den militanten Expressionismus fort, der politisch durch die russische Revolution, künstlerisch durch Wedekind, Büchner und den jungen Schiller fasziniert wurde. Sprachzertrümmerung lag ihm von Anfang an fern, weil er das Wort als Waffe brauchte. Doch auch er ging über die Literatur hinaus, indem er den Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft aufnahm und die Ansätze zu einem revolutionären Drama kraftvoll zusammenfaßte. Sowohl Georg Kaisers allegorisierende Industriedramen (Gas und Gas II) wie die pazifistischen Oratorien Unruhs, Tollers und die maschinellen Inszenierungen Piscators fanden bei ihm ihren Widerhall. Auch sein Ziel war die Begründung eines öffentlichen, zeitgebundenen, kollektiven „Gebrauchstheaters“. Er studierte seit 1924 die Schriften des Marxismus und benützte seit etwa 1930 mit seinen „Lehrstücken“ das Theater als Tribüne für die Bekehrung zum Kommunismus. Der Dichter hatte nach seiner Überzeugung nur noch als Diener des sozialistischen Staates ein Lebensrecht. Er durfte nicht mehr seine persönlichen Stimmungen, nur noch die Probleme der Gesellschaft gestalten. Es war ganz im Sinn des aktivistischen Berliner Expressionismus, wenn er behauptete, daß „der romantische Gedanke individueller Schöpfung heute ein Irrtum“ sei, daß die moderne Arbeitsteilung das Schöpferische in einen kollektiven Prozeß umwandle, der die Änderung der Zustände zum Ziel haben müsse. Den bürgerlichen Dichter porträtierte er in den Versen:

Dort spricht der, dem niemand zuhört:
Er spricht zu laut
Er wiederholt sich
Er spricht Falsches:
Er wird nicht verbessert.

Hinter Brechts Absage an die Einsamkeit des Künstlers steht ein persönliches Drama. Man legt sie falsch aus, wenn man sie als eine schlau gewählte Maske erklärt, mit der er sich durch die Gefahren der Zeit gedrückt habe. Sein erstes Stück war nicht der Spartakus, der 1922 als Trommeln in der Nacht aufgeführt wurde, sondern der 1918 geschriebene Baal, den man als zweites spielte. In dieser Verschiebung zeichnete sich bereits sein Schicksal ab. Das Dichterdrama Baal, durch ein bombastisches Grabbeschauspiel Hans Johsts provoziert, ist ein unpolitisches, lästerliches Bekenntnis zum nackten Glück des Daseins, ein pantagruelischer Mythus des Fleisches, eine Huldigung an die Poètes maudits Villon, Marlowe, Büchner, Rimbaud, Verlaine, Wedekind. Als ketzerisches Bild des Genies und romantisch überhöhtes Selbstbildnis gehört es neben Jahnns Perrudja. In dem vorangestellten „Choral vom großen Baal“ heißt es:

Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal
War der Himmel schon so groß und still und fahl
Jung und nackt und ungeheuer wundersam
Wie ihn Baal dann liebte, als Baal kam.

Ob es Gott gibt oder keinen Gott
Kann, so lang es Baal gibt, Baal gleich sein.
Aber das ist Baal zu ernst zum Spott:
Ob es Wein gibt oder keinen Wein.

Unter düstern Sternen in dem Jammertal
Grast Baal weite Felder schmatzend ab.
Sind sie leer, dann trottet singend Baal
In den ewigen Wald zum Schlaf hinab.

Baal, Dichter trunkener Gesänge und wüster Balladen, ein Schnapssäufer und Fresser, Varietésänger, Eulenspiegel, Wüstling, Mörder und Zuchthäusler, der die Weiber verhext, in den Kneipen verkommt, seinen Freund aus Eifersucht ersticht und in einer Bretterhütte einsam verendet, wälzt sich schamlos in seinen viehischen Lüsten:

In die Sonne mit dem Tier! Ans Tageslicht mit der Liebe! Nackt in der Sonne unter dem Himmel!

Er wird nicht satt von allen Arten der Lust, er ist ein bedenkenloser Lehrmeister der Liebe:

Wenn du die jungfräulichen Hüften umschlingst, wirst du in der Angst und Seligkeit der Kreatur zum Gott.

Seine andere Gottheit ist die Schnapsflasche; Saufen, Lieben und Dichten sind ihm die drei höchsten Formen der Trunkenheit. „Bist du im Schnaps ersoffen oder in der Lyrik? Verkommenes Tier! Verkommenes Tier!“ sagt sein Freund zu ihm. Als ein unflätiger, zotiger Fettkloß kommt er wie Pan aus den Wäldern zu den Menschen, die ihn einen Schweinehund nennen, aber seine Lieder zur Laute immer wieder hören wollen. Er lebt wie ein sündloses erwachsenes Kind noch im Paradies, ein Freund der Tiere, Bäume und Landstraßen, ein Bettler, dem die Schöpfung gehört. Dieses Ungeheuer legt sich in den Dreck hin wie in ein gemachtes Bett und flüstert sterbend:

Es war sehr schön… alles.

Baals letzter Gedanke ist, daß er auf den Regen horcht.
Der zwanzigjährige Brecht verherrlicht den verbrecherischen Glanz des Lebens aus erster Hand wie Wedekind, der in Frühlings Erwachen den Rausch des Geschlechts so darstellte, wie es noch nie geschehen war, und dann in Lulu eine denkwürdige Verkörperung der Lust geschaffen hatte. Der Baal ist expressionistische Naturpoesie, ein Werk der mythisch-erotischen Weltvision, die Döblin, Däubler, Loerke und Jahnn neu begründeten. Auch in Jahnns Pastor Ephraim Magnus, den Brecht inszenierte, wird die geile Brunst der Jugend als die reinste Offenbarung Gottes gepriesen. Aber Brechts Sinnlichkeit ist nicht tragisch gebrochen wie die Jahnns, der seinen Glauben an den schönen Leib durch das Grab widerlegt sieht. Für Brecht gehört auch die Verwesung zur Herrlichkeit der Natur. Schon im Baal erscheint das von Rimbaud stammende, auch von Trakl und Heym aufgenommene Motiv des ertrunkenen Mädchens, dessen Leiche mit Tang und Ratten im Haar den Fluß hinabtreibt. Es bedeutet bei Brecht das Ja zur Welt bis in den Tod. Sogar Christus wird blasphemisch als Zeuge dafür genannt. Glück auf Erden, Auslöschung des Ich heißt mythisches Einswerden mit dem Universum. Dieser Rausch läßt keinen Gedanken an die Gemeinschaft zu, er ist reine Anarchie. Das Genie steht in Opposition zur Gesellschaft schlechthin, auch die Holzfäller spucken ihm ins Gesicht. Der trunkene Baal, der bald in der Nacht singend über die Felder schwankt, bald in den Wurzeln eines Ahorns ein Lied „Der Tod im Wald“ vorliest oder mit der Gitarre das Licht zerschlägt, bevor er einen seiner Gesänge vom „Land, wo es besser zu leben ist“ anstimmt, vertritt ein sozial unverantwortliches, im Grund noch romantisches Ideal.
Das soziale Denken kam bei Brecht erst nachträglich hinzu. Er setzte die Selbstherrlichkeit Baals in die Forderung um, daß der Mensch ein Recht darauf habe, glücklich zu sein – in diesem nie bezweifelten Axiom des Sozialisten Brecht lebt die heidnische Auflehnung seines Erstlings weiter. Auch in vielem andern blieb er ihr treu: in der Liebe zu Bettlern, Vagabunden und Verbrechern, zum Wald und zu den Bäumen, zu den Elementen und allen lebensvollen Dingen, nicht zuletzt in seiner sprachschöpferischen Kraft. Er rückte von der Naturseligkeit seiner Jugend ab, aber sie blieb die Gegenstimme zu seiner politischen Intelligenz. Das läßt sich am besten in seiner Lyrik verfolgen, die jetzt in ihrem ganzen Umfang zugänglich wird.2 Hier, wo die Verhüllungen durchsichtiger, die Aussagen direkter, die Zeugnisse lückenloser sind, vernimmt man den ganzen Reichtum der Zwischentöne, der aus dem „Kampf zweier Männer“ in seiner Seele hervorging. Schon das umfangreiche lyrische Lebenswerk neben dem dramatischen deutet auf diesen Kampf. Er war als Lyriker von Anfang an so exponiert wie als Dramatiker, denn auch seine Gedichte schlugen allem ins Gesicht, was man um 1925 in Deutschland für große Lyrik hielt. Statt Pathos, Rausch und Zauber gab es da Nüchternheit und Ironie, statt Wortbrokat schmucklose und aggressive Moral, also nichts für verwöhnte Genießer. Diese beleidigte er absichtlich mit der Roheit seiner Motive und der scheinbaren Primitivität seiner Verse, die aller glatten Vollendung Hohn sprechen. Auch als Lyriker setzt er den polemischen Expressionismus fort, schon seine frühen Verse wirkten neuartiger und gefährlicher als das meiste, was damals in den avantgardistischen Zeitschriften und Anthologien stand, obschon sie erst ein Vorklang waren.
Bert Brechts Hauspostille von 1927, sein erstes Gedichtbuch, ist das lyrische Seitenstück zum Baal und enthält fast alle dort vorkommenden Gesänge, aber darüber hinaus so viel mehr, daß sie sich wie ein Brevier der expressionistischen Strömungen ausnimmt. Auch hier ist Brechts sprengende Kraft noch stark mit sich selbst beschäftigt, die soziale Empörung nur schwach angedeutet. Armut, Elend und Auflehnung sind noch poetische Motive für Balladen und Bänkelsänge, es gibt ausgesprochen antisoziale Gedichte wie das misanthropische „Vom Mitmensch“. Ganz vorn steht eine Nachdichtung von Rimbauds „Bâteau ivre“. Der Gesang dieses den Expressionisten heiligen Wracks ist die Grundmelodie des Buches, und es schließt mit einem neuen Mythus der eigenen Person, dem Epilog „Vom armen B. B.“, der Brecht noch ganz im Fahrwasser des Symbolismus zeigt.

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern,
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein
Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

Der neunstrophigen Fassung dieses Selbstporträts liegt eine doppelt so lange zugrunde, in welcher Brecht noch ausgiebiger in romantischer Selbstbetrachtung schwelgt.3 Er porträtiert sich als mißtrauischen, lasterhaften Naturburschen, seine Beziehung zur Revolution erschöpft sich darin, daß er bei den kommenden Erdbeben seine Virginia nicht ausgehen lassen will. Denn arm nennt sich B. B. im sentimentalen Sinn des „armen Hamlet“ und des „pauvre Lélian“ Verlaines, als Bürgerschreck stellt ihn auch eine beigefügte Radierung Nehers dar, die ihn, den Stil eines humanistischen Epitaphs parodierend, als Weltwunder rühmt. Schwarze Wälder und Asphalt: auf diesen Kontrast ist das ganze Buch gestellt. Seine inhaltliche Anstößigkeit liegt in der wilden Waldromantik und in der Verachtung der Städte, die eines Tages nicht mehr sein werden. Im Schnittpunkt dieser beiden Tendenzen liegt die Parodie der Überlieferung, die Aufmachung des Ganzen als christliches Erbauungsbuch. Die „Anleitung zum Gebrauch“ imitiert alte Andachtsbücher, die altmodische Numerierung der Strophen das Kirchenlied, der „Große Dankchoral“ den Lobgesang Neanders (der auch in der Heiligen Johanna verspottet wird). Auch andere Stücke sind ausgesprochen blasphemisch. Mit Parodie und Travestie rückt der junge Brecht auch vom Klassischen ab, indem er Sonette auf ordinäre Themen oder im salopp-nihilistischen Tonfall schreibt.4 Die „Liturgie vom Hauch“ benützt als Refrain Goethes „Über allen Gipfeln“, das sie wohl absichtlich falsch zitiert. Baals Unflätigkeit und Schnapspoesie kommen ausgiebig zu Wort, seine Liebe zu den Bäumen spricht aus der „Morgendlichen Rede an den Baum Green“ und aus „Vom Klettern in Bäumen“, seine unverschämte Heiligsprechung des Fleisches aus den erotischen Liedern und Balladen, die auch die verschworene Freundschaft junger Männer verherrlichen. Glaube an das Glück des Augenblicks, das alle Vergangenheit überstrahlt, ist am vollendetsten in der„Erinnerung an Marie A.“ gestaltet. In alldem rumort noch der jugendliche Mythus des eigenen Ich, am überschwenglichsten dort, wo sich die Sinnenlust zur dionysischen Hochzeit mit den Elementen steigert:

Schwächer als Wolken! Leichter als die Winde!
Nicht sichtbar! Leicht, vertiert und feierlich
Wie ein Gedicht von mir, flog ich durch Himmel
Mit einem Storch, der etwas schneller strich!

Wieder mischen sich aber in die zynischen auch sentimentale, ja  Heinesche Töne. Die Hauspostille fällt stellenweise noch in die Klangzaubereien der Symbolisten zurück. Die „Ballade von dem Soldaten“ verwendet effektvoll Haufen- und Binnenreime, rhythmische Ritardandi und Synkopen. Wie raffiniert ist die Beugung des Rhythmus auch in dem Vers: „Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt“ („Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“) oder im Schlußvers von „Vom Klettern in Bäumen“:

Seit hundert Jahren abends: er wiegt ihn.

Die Ballade ist ja überhaupt als Gattung ein Stück Romantik. Brecht ordnet sich wohl oder übel in eine erzbürgerliche Tradition ein, indem er sie noch einmal kultiviert. Auch wenn er aktuelle, proletarische Helden besingt, die „keineswegs weniger bedeutend als die berühmten Taten der Feldherren und Staatsmänner der Lesebücher“5 sind, tut er immer noch das gleiche, was schon Bürger in seinem „Lied vom braven Mann“ mit der gleichen Begründung tat. Den Griff auf Stoffe aus der amerikanischen Welt und aus der modernen Industrie hat ihm Fontane vorweggenommen, auch für seine rhythmischen Kühnheiten fehlt es beiden Vorgängern nicht an Parallelen. Neu ist erst, daß er auch die Gattung Ballade parodiert. Er impft ihr immer frecher das Kabarettchanson der Inflationszeit und den amerikanischen Song ein, den er aus Kipling kennt, und ersetzt sie schließlich fast ganz durch diese modernen Abarten des Balladesken, in denen sein Gesang kratzig und bitter wird. Diese Mischung erzeugt zusammen mit seiner geistigen und stilistischen Verwegenheit einen solchen Wandel des Tons, daß man beim Erscheinen der Hauspostille einen nie erlebten Ausbruch aus der Tradition der deutschen Lyrik vor sich zu haben glaubte. Vor allem rhythmisch ist sie außerordentlich originell, das unterscheidet sie aufs stärkste von der Eintönigkeit der nur noch geschriebenen und gelesenen modernen Lyrik. Ihre Verse gehen ins Blut, teilen elektrische Schläge aus, können panisch berücken und brutal verletzen. Der „gestische“ Rhythmus, von dem Brecht später spricht, steht ihm schon hier zu Gebot. Seine rhythmische Vitalität rührt daher, daß er die Vers- und Strophenmaße körperlich erlebt, weil er seine Gedichte singend konzipiert. Gesang heißt bei ihm weder heroische Rhapsodie noch biedere Volkstümelei, er bedeutet den scharfen Bänkelsängerton, in dem er selbst seine Gedichte vortrug und den Schallplatten festgehalten haben. Er war wie Baal mit der Gitarre verwachsen und trug seine Sachen schon als Student nach eigenen Melodien vor. Er war im Volk und im volkstümlichen Kabarett Süddeutschlands zu Hause, schon bevor er den Baal schrieb. Seine Lyrik wurde in der literarischen Unterwelt geboren, auch darin war er ein Schüler Wedekinds. Sowohl die Melodien der Proletarier wie die der Neger waren ihm bekannt, er studierte die Regeln des Songs, der damals mit dem Jazz nach Deutschland kam, und gewann aus diesen Mustern den harten, nachlässigen Ton, der bei ihm immer mehr die alt- und neuromantische Litanei ablöste. Die Hauspostille enthält noch beide Stile. Baal liest im Drama ein Lied vor, das ganz eichendorffisch anhebt:

Und ein Mann starb im ewigen Wald
Wo ihn Sturm und Strom umbrauste.

In der Hauspostille ist es ins Amerikanische versetzt, mit dem Kostüm hat sich der Ton geändert:

Und ein Mann starb im Hathourywald
Wo der Mississippi brauste.

Zum Wesen des Songs gehört die Banalität. Der Stil dieses von den amerikanischen Negern stammenden Schlagerliedes entsprach genau der neuen Absicht Brechts, sich zur Stimme der Natur und der Unterdrückten zu machen. Aufreizender als im Kostüm zeigt sich die Amerikanisierung wieder in der Rhythmik. In der „Ballade von der Hanna Cash“ ist der Text völlig dem rasanten Tempo der Melodie unterworfen:

Die hatte keine Schuhe und die hatte auch kein Hemd
Und die konnte auch keine Choräle!
Und sie war wie eine Katze in die große Stadt geschwemmt
Eine kleine graue Katze zwischen Hölzer eingeklemmt
Zwischen Leichen in die schwarzen Kanäle.

Die Schnelligkeit paart sich mit schockierender Häßlichkeit. Es wimmelt von formalen Verstößen um des sinnlichen Lebens willen: „Daß er tot noch grad gnug Himmel hat.“ Die Lockerung der Form gibt sich ironisch oder anarchistisch, als artistische Bösartigkeit, der alles zuzutrauen ist. Es ist noch harmlose Parodie, wenn es in der „Legende vom toten Soldaten“ heißt:

Da kam eines Nachts eine militär-
ische ärztliche Kommission.

Es ist anklagendes metrisches Lumpenkleid, wenn die Moritat „Von der Kindesmörderin Marie Farrar“ in polizeilichem Protokolldeutsch aufgetischt wird:

Sie sagt, sie sei, nur kurz im Bett, von Übelkeit
stark befallen worden…

Und es ist beleidigend aggressiv, wenn in „Orges Antwort, als ihm ein geseifter Strick geschickt wurde“ eine Strophe lautet:

Doch gäbe es Höhen und Täler
Die man noch gar nie gesehn:
Es sei desto rentabler, je wähler-
ischer man sei im – Vorübergehn.

Alle diese Greuel können sich auf den Satz berufen, mit dem Lessing die Verse von Nathan der Weise gegen ihre Kritiker verteidigte:

Ich dächte, sie wären viel schlechter, wenn sie viel besser wären.

Jene Jamben wollten ja nicht ästhetisch genossen werden, sondern die Menschen besser machen. Auch der Dichter der Hauspostille hofft auf eine bessere Welt.
Viel deutlicher als im Baal ist aber der innere Bruch zwischen Trunkenheit und Nihilismus. Sie kontrastieren aufs schroffste wie bei Gottfried Benn, wie bei Heine. Der schwarze Humor verdeckt einen hochempfindlichen Phantasiemenschen, der sich mit abgefeimten Masken und Kunstgriffen gegen die Gemeinheit der Welt abschirmt und in den Galgenbrüdern seiner Balladen, den schmutzigen Kindern seiner Parabeln das eigene Außenseitertum darstellt. Seine Naturseligkeit reicht vom sybaritischen Genuß bis zum Gestank des Verfaulens, aber sein Grauen vor der Schöpfung ist nicht zu überhören. Das läßt sich am Motiv des „Trunkenen Schiffs“ verfolgen. „Vom Schwimmen in Seen und Flüssen“ feiert das Glück der Vereinigung mit dem Element:

Mein Leib, die Schenkel und der stille Arm
Wir liegen still im Wasser, ganz geeint
Nur wenn die kühlen Fische durch uns schwimmen
Fühl ich, daß Sonne überm Tümpel scheint.

Das ist der Himmel auf Erden, der Mensch wird zum Gott:

Man soll den Himmel anschaun und so tun
Als ob einen ein Weib trägt, und es stimmt.
Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut
Wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt.

So gleitet auch das trunkene Schiff dahin:

Grün und wehend in den Eingeweiden
Fuhr ich langsam, ohne viel zu leiden
Schwer mit Mond und Pflanze, Hai und Wal.

So schwimmt aber auch das ertrunkene Mädchen, das verwesend aus den Bächen in die größeren Flüsse hinabtreibt, langsam schwerer werdend von Tang und Algen, bis Gott die zu Aas Gewordene vergißt. In einem nicht veröffentlichten Gedicht6 schwimmt der Dichter selbst satt und mit Musik gefüllt aus der Welt hinaus und landet als verfaultes Aas in einer Bucht, wo ein Baum aus ihm in den Himmel wächst. Diese Form des Verschwindens im All erscheint auffallend oft: im Lied von der überfluteten Eisenbahntruppe von Fort Donald, in den Balladen von des Cortez Leuten, von den Seeräubern, vom Mazeppa und andern Stücken. Auch die Wollust der erotischen Lieder schlägt immer wieder in die Poesie der Verwesung um.
Brechts ganze frühe Dichtung schwankt zwischen Grobianismus und Melancholie, Sinnlichkeit und Weltflucht. Das Unzeitgemäße seines Naturburschentums war ihm bewußt. Sein drittes Stück, Im Dickicht der Städte, kreist um diesen Konflikt, ohne ihn lösen zu können. Sowohl der Aufbruch nach Tahiti wie das Eingehen in die Gemeinschaft erweisen sich als unmöglich, der Ringkampf endigt mit den Worten:

Das Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit.

In den Songs der Dreigroschenoper verschärft sich die Halunkenromantik ins Kriminelle, bleibt aber noch poetisch, so daß sie zum Ärger Brechts mit Jubel statt Entrüstung aufgenommen wurde. In Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny nimmt die Gaunerpoesie ein Ende mit Schrecken. Diese Stadt des Goldes ist ein Schlaraffenland, wo Fressen, Saufen, Lieben und Boxen jedermann vertraglich garantiert sind, stellt sich aber als das Modell der kapitalistischen Gesellschaft heraus und verfällt dem Chaos. Als letzte Blume der Anarchie blüht hier der Preis der Liebe im Duett vom Kranich und der Wolke, die miteinander „von allen“ davon ins Weltall entfliegen. Es steht, um den nihilistischen Schluß verkürzt, bereits in den Lesebüchern, aber es wird von den Wartenden im Bordell gesungen, und der Schluß lautet:

Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. Und wann werden sie sich trennen?
Bald. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.

Brecht war reif für den Bruch mit dem glänzenden Elend des spätbürgerlichen Dichtertums. Er vollzog ihn, als er seine Bücher auf den Scheiterhaufen brennen sah. Sein politischer Verstand sagte ihm, daß Macht nur mit Macht bekämpft werden kann, und er trat zum Kommunismus über, weil er das rote Kollektiv für die einzige Rettung vor dem braunen hielt. Er tat es in dem Moment, als das Gorgonenhaupt über Europa aufstieg, und blieb dabei in den Jahren, wo die freie Welt um das Standhalten der russischen Armeen zitterte. Es war eine der Entscheidungen, zu denen sich damals die Dichter seiner Generation gezwungen sahen, eine Parallele zum Zusammenbruch Döblins vor dem Kruzifix, zur Bekehrung Werfels, zur Verzweiflung Barlachs und Loerkes, zur Kapitulation Benns vor dem Hakenkreuz. Brecht kapitulierte und verzweifelte nicht, er tat den Sprung in einem militanten Glauben, der damals noch ein guter Glaube war. Er hätte auch der Kunst ganz abschwören und sich in die politische Arbeit stürzen können, aber er entschied sich nicht so. Er rettete seine Kunst, die ohne Disziplin verloren war, und trat in das Lager der freiheitlichen Dichtung über, das seit Lessing nur noch in tragischen Episoden der deutschen Literatur sichtbar, seit den Tagen der Naturalisten verwaist ist. Auch dabei war ihm Büchner das Vorbild, doch er wußte, daß die Reihe der deutschen Kämpfer mit der Feder über Hutten bis zu Walter von der Vogelweide zurückreicht. Parteinahme für ein politisches Dogma ist für jeden freien Geist der Sündenfall, mag sie unter noch so schwerem äußerem Druck geschehen. Das haben die großen politischen Dichter selbst am besten gewußt. Es ist das Opfer, das sie bringen, eine Schuld, die sie auf sich laden. Auch Brecht war seit der Entscheidung für den Kommunismus eine tragische Figur. Mit dem Eifer des Konvertiten unterwarf er sich einer selbstmörderischen Askese. Schon vor der Flucht aus Deutschland hatte er begonnen, seine Arbeiten als Mitglied eines Autorenkollektivs zu signieren und sie als numerierte „Versuche“ unscheinbar wie geschäftliche oder politische Schriftstücke drucken zu lassen. Er verbiß sich vor allem in die Probleme des proletarischen Theaters und suchte die Quadratur des Zirkels: das sakrale Drama eines unheiligen Zeitalters, das den Marxismus als alleinseligmachende Lehre zelebriert. Er fahndete nach geschichtlichen Mustern einer unbürgerlichen, öffentlichen, „nicht-aristotelischen“, „epischen“ Bühnenkunst und fand sie im chinesischen Theater, im mittelalterlichen und barocken Mysterienspiel, das ja auch dogmatisches, das Individuum auslöschendes Lehrstück war, und bei Schiller, dessen großartige Rechtfertigung des dramatischen Chors ihm wichtige Argumente für die Entzauberung des Theaters lieferte. Seine eigenen Lehrstücke sollten den Zuschauer kalt lassen und zu kritischer Stellungnahme erziehen, indem sie ihm das Urteil über den dargestellten Vorgang überließen. Diese Theorie des „Verfremdungseffekts“ war die marxistische Formel für sein Dilemma zwischen Poesie und Moral. Er predigte sie vor allem sich selbst und machte sich seine mimische Leidenschaft verdächtig. Sie ist nichts anderes als eine moderne Fassung der romantischen Ironie und schon in manchem älteren Meisterwerk durchgeführt. Die Figur des Trunkenbolds und Ausbeuters Puntila, ihr bestes Exempel, geht nicht über das hinaus, was Kleist in seinem Dorfrichter Adam leistete. Ironisch zwischen Gut und Böse oszilliert auch Schillers Wallenstein, wenn man ihn als Satire versteht, wie Schiller ihn verstanden wissen wollte. Für Brecht war diese Theorie die Illusion, die ihm die Schreckenszeit überstehen half. Er knüpfte mit ihr an die Thesen der „neuen Sachlichkeit“ und der „Gebrauchsdichtung“ an, die in Deutschland seit dem Zerfall des ekstatischen Theaters diskutiert wurden. Hier zeigt sich klar, daß die neue Sachlichkeit eine Phase des expressionistischen Manierismus war. Der V-Effekt war Brechts Antwort auf die Orgien primitiver Instinkte im Dritten Reich, ein Beispiel für den Temperatursturz, der jetzt eine neue Stufe der modernen Kunst einleitete, und vor allem ein Rezept für experimentierlustige Regisseure.
Verfremdung ist auch das Stilprinzip von Brechts marxistischer Lyrik, namentlich der in die Lehrstücke eingestreuten dozierenden Gedichte, die in den Liedern, Gesängen, Chören von 1934 gesammelt sind. Sie zeigen, wie er das Ende der Dichtung erlebte. Die Farbenglut der Hauspostille ist erloschen, wie in den Lehrstücken regiert die doktrinäre Schwarzweißmalerei der Parteilinie. Brecht verneint auch als Lyriker die magische Identifikation mit dem Dichterwort, unterdrückt seine Gabe des Singens und schreibt vernünftige Lyrik wie die Aufklärer im Jahrhundert Gellerts und Lessings. Die Spruchgedichte der Deutschen Satiren und des Lesebuchs für Städtebewohner, die Chöre der Kulis und der Kontrolleure in der Maßnahme, die Chöre der revolutionären Arbeiter und die eingelegten Lieder in der Mutter („Vom Ausweg“, „Vom Flicken und vom Rock“, das „Lob des Lernens“ und das „Lob der dritten Sache“) steigern die Trivialisierung der Lyrik, auf die schon der junge Brecht zusteuerte, zum sozialistischen Realismus stalinistischer Prägung. Aus öden Alltagsreden komponiert, sprechen sie den Leser höflich mit „Sie“ an, benützen rüde Bilder („In einem Tank kommen Sie nicht durch ein Kanalgitter“) und sind oft nur in Zeilen abgesetzte Prosa. Die Abkühlung der Sprache wird grausam bis zum Gefrierpunkt getrieben, die Säure des Exils ätzt alles Exaltierte und Expressive aus ihr weg, so daß sie hager und herzlos wird. Nur noch die unerbittliche, den Bourgeois vernichtende Wahrheit darf gesagt werden:

Ohne allen Umschweif, in kärglicher Sprache
Reinlich die Worte setzend.

Das Wortgemächte des Literaten alten Stils umschreiben die Verse:

Der Dichter gibt uns seinen Zauberberg zu lesen.
Was er (für Geld) da spricht, ist gut gesprochen!
Was er (umsonst) verschweigt: die Wahrheit wär’s gewesen.
Ich sag: der Mann ist blind und nicht bestochen.

Kürze war schon immer das Merkmal der männlichen Reife. Leuchtende, satte Kürze zeigen in der Prosa Nietzsche und Freud, in der Lyrik Goethe und Hölderlin, der diesen Stil in dem Gedicht „Die Kürze“ rechtfertigte. Knappheit, konkrete Anschaulichkeit sind Attribute der plastischen Gestalt, um die auch der in die Erde verliebte Brecht zeitlebens bemüht war. Er wäre gewiß so oder so als Mann gedrungener geworden. Aber seine Kürze ist nüchtern, wie es Greisenwerke sind. Daß er sich so fanatisch verleugnete, war auch in der geschichtlichen Situation begründet. Wer im Orkan gehört werden will, muß sich kurz fassen. Aber man muß auf seine schwermütig-zarten späten Gedichte blicken, um zu ermessen, was er in sich abtötete und was dabei in ihm vorging. Diese sackleinene, als unpersönliches Fabrikat gestempelte Agentenlyrik ist das Büßerhemd eines Bekehrten. Die Liebe zur sinnlich greifbaren irdischen Gestalt äußert sich in ihr als Wille zur äußersten Konzentration mittels harter Fügungen und abrupter Übergänge. Er geizt mit Worten, setzt schlagende Bilder und treibt die Kunst des Weglassens auf die Spitze. In dieser Schwundform hofft er das lyrische Gedicht in die Gegenwart herüberzuretten. Der Rudimentärstil, den Stramm in der Retorte herstellte, ergibt sich bei ihm aus einer schicksalhaften Zwangslage. Nur als Instrument des sozialen und politischen Kampfes kann das Gedicht nach seiner Überzeugung noch weiterleben, es muß freiwillig verarmen und sich der Erziehung der Völker zum Sozialismus widmen.

Lyrik muß zweifelsohne etwas sein, was man ohne weiteres auf den Gebrauchswert untersuchen muß. Alle großen Gedichte haben den Wert von Dokumenten.

Dieser „Muß“-Stil lautet so:

Wir bitten euch ausdrücklich, findet
Das immerfort Vorkommende nicht natürlich!
Denn nichts werde natürlich genannt
In solcher Zeit blutiger Verwirrung
Verordneter Unordnung, planmäßiger Willkür
Entmenschter Menschheit, damit nichts
Unveränderlich gelte.

Daß ein Arbeiterpublikum so angesprochen wird, versteht sich freilich nicht von selbst. Es ist nicht der Ton der Proletkunst. Die gewöhnliche kommunistische Parteipoesie – etwa Johannes R. Bechers – schwelgt wie jede Parteipoesie in ausgeleierten Phrasen und serviler Weitschweifigkeit. Brechts gußeiserner Stil geht weit über die Vorschriften und Bedürfnisse der Partei hinaus. Diese Erstarrung weckte das Mißtrauen der Bonzen, die den Verfasser als Formalisten denunzierten und für einen getarnten Aristokraten hielten. Auffallend ist auch der Umstand, daß Brecht nach wie vor hartnäckig am Vers festhält. Selbst eine so blutige Zeitsatire wie Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui ist in Blankversen geschrieben, zwar sehr liederlichen und als Travestie gemeinten, aber auch als Zerrform aufschlußreichen. Am weitesten – zu weit – geht darin die Heilige Johanna der Schlachthöfe, die als Parodie der Jungfrau von Orleans angelegt ist und nebenbei auch Hölderlins „Schicksalslied“ und berühmte Stellen von Faust II mißbraucht. Es entstanden daraus Meinungsverschiedenheiten über den Sinn dieses Stücks, denn das Schillersche Pathos wird darin nicht nur verspottet, die Personen sprechen selbst immer wieder im feierlichen Kothurnstil. Als Chordramatiker setzt Brecht die Anläufe Unruhs, Tollers, Kaisers zu einem forensischen Oratorium fort. Er läßt sich dabei auf so gewagte Experimente wie das fast ganz aus Chören bestehende Schulstück „Die Horatier und die Kuriatier“ ein. Aber auch seine Prosa bereitet den Schauspielern Schwierigkeiten, weil sie nur scheinbar restlos vernünftig ist. Es liegt ihr ein heimliches Pathos zugrunde, das die Sätze schwellt und einem barocken Hochstil entgegentreibt.
Das Festhalten am Vers rechtfertigt Brecht damit, daß er ein Mittel zur Erzeugung des Verfremdungseffekts sei. Die eingelegten Lieder, Gesänge und Chöre sollen die Verzauberung durch das Theaterspiel verhindern, ironische Distanz des Publikums zur Bühne schaffen. „Eine kühne und schöne Architektur der Sprachform verfremdet den Text“,7 behauptet er ganz im Sinn des klassischen Schiller; aus dieser Erwägung hatte ja auch Lessing in seinem Lehrstück gegen den Judenhaß den Blankvers Shakespeares benützt. Brecht hat für dieses Verfahren aber noch eine ganz andere Begründung. In dem Aufsatz „Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters“8 beruft er sich darauf, daß die Straßenverkäufer als Urbilder natürlichen Theaterspielens den Vers verwenden.

Sie benutzen feste unregelmäßige Rhythmen, ob es sich um den Verkauf von Zeitungen oder Hosenträgern handelt.

Da ist der Vers nicht als Anreiz zu kritischer Reflexion, sondern als spontaner Naturausdruck aufgefaßt. Auch in dem Aufsatz „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“9 führt Brecht die rhythmisierten Rufe von Straßenverkäufern und demonstrierenden Arbeitern als Beispiele einer aus dem Volk kommenden Rhythmik an, die seine Behandlung des Verses beeinflußt hätten. Er habe gehobene Sprache ohne die ölige Glätte des Blankverses und Rhythmus ohne das übliche Klappern gebraucht und deshalb wie Luther „dem Volk aufs Maul“ gesehen. Die Sprache des Volkes sei gestisch reich, weil unmittelbarer Ausdruck des Lebens, und er habe sich an ihren rhythmischen Kontrastreichtum nicht nur deshalb gehalten, weil er formal gegen den Strom schwimmen wollte, sondern weil ihm daran gelegen habe, die Disharmonien und Interferenzen im gesellschaftlichen Leben der Menschen unabgeschwächt auszudrücken. Lyrik ohne Reim und ohne regelmäßige Rhythmen scheine ihm als Tonfall der direkten, momentanen Rede geeignet. Er hätte beifügen können, daß schon Rimbaud und Laforgue den reimlosen „vers libre“ aus dem Volkslied übernahmen und damit die Revolution der Verskunst auslösten, die im Expressionismus weiterzündete.
Diese knappen Hinweise werfen ein Licht auf Brechts rhythmische Genialität. Seine Verse nähren sich nach wie vor aus der Volkssprache. Die Liebe zu dieser ist ein Erbstück aus der Welt Baals, das er nun in den Dienst der agitatorischen Dichtung zwingt. Auch in seiner neuen Verskunst ist der Kampf zwischen Natur und Doktrin wirksam. Einige Gedichte dieser Jahre sprechen ihn offen aus. Das nicht publizierte „Über das Frühjahr“ trauert über den Verlust der Natur. In „Bekämpfung des Primitiven“ (aus dem „Flug der Lindberghs“) heißt es:

Also kämpfe ich gegen die Natur und
Gegen mich selber.

In „Schlechte Zeit für Lyrik“ gesteht Brecht:

In mir streiten sich
Die Begeisterung über den blühenden Apfelbaum
Und das Entsetzen über die Reden des Anstreichers.
Aber nur das zweite
Drängt mich zum Schreibtisch.

Das Entsetzen verschlägt ihm den Gesang. Aber seine Parteinahme für das kämpfende Proletariat ist eine andere Form von Baals Liebe zu den unterdrückten Kindern der Erde. Auch der Marxist Brecht bleibt ein Dichter des irdischen Glücks, beschreibt die Schönheit eines freien Lebens, oft genug in Bildern, die den Horizont eines proletarischen Auditoriums übersteigen. Im Panzer des Propagandisten lötet er Katechismusverse, deren nach außen gerichtete Rede im Grund Selbstgespräch ist. Die Kunst des Weglassens erstreckt sich auch auf die Zweifel, die er verschweigt. In dieser Verfremdung taucht das lyrische Selbstporträt der Hauspostille wieder auf, unkenntlich gemacht nach der Maxime im „Lob der illegalen Arbeit“ (in der Maßnahme):

Reden, aber
Zu verbergen den Redner.
Siegen, aber
Zu verbergen den Sieger.

Manche dieser harten Verse, die wie ein Pistolenlauf gegen den Leser gerichtet sind, werden zu Monologen, wenn man sie genau betrachtet. Der Volkserzieher spricht von sich selbst, wenn er von der „guten Sache“ spricht, und setzt sich die Waffe auf die Brust, wenn er scheinbar auf die andern zielt. Der Untergang der Bourgeoisie, der Sieg des Marxismus sind für ihn beschlossene Sache, aber er meint auch den Untergang des Bürgers in sich selbst.

Wenn ich mit dir rede
Kalt und allgemein
Mit den trockensten Wörtern
Ohne dich anzublicken
(Ich erkenne dich scheinbar nicht
In deiner besonderen Artung und Schwierigkeit)

So rede ich doch nur
Wie die Wirklichkeit selber
(Die nüchterne, durch deine besondere Artung unbestechliche
Deiner Schwierigkeit überdrüssige)
Die du mir nicht zu erkennen scheinst.

Für dieses Selbstgespräch erfindet die Lyrik des Emigranten einen Stil der Camouflage, der dem Erfinder in manchen Fällen wohl selbst nicht bewußt ist. Zunächst spinnt er noch an der Legende vom armen B. B. weiter und macht seine Personen zum Gegenstand wortkarger Genrebilder, die einzelne Stationen seiner Wanderschaft festhalten. In „Gedanken über die Dauer des Exils“ zeichnet er seine Ungeduld, die gern Siegesgewißheit wäre:

Schlage keinen Nagel in die Wand
Wirf den Rock auf den Stuhl.
Warum Vorsorgen für vier Tage?
Du kehrst morgen zurück.

Im Lesebuch für Städtebewohner gibt er Ratschläge für das Dasein in der Illegalität, die ein indirektes Bild seines Verschwörerlebens enthalten:

Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo
Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht
Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten,
Zeige, o zeige dein Gesicht nicht
Sondern
Verwisch die Spuren!

Was immer du sagst, sag es nicht zweimal
Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn.
Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ
Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat
Wie soll der zu fassen sein!
Verwisch die Spuren!

Diese Verfremdung der eigenen Person wirkt wie eine Vision Kafkas, dessen Prozeß kurz vorher erschienen war. An Kafka erinnert es auch, wenn vom Unentschlossenen gesagt wird:

Er will allerdings noch ein Haus bauen
Er will allerdings noch alles beschlafen
Er will allerdings nicht zu schnell urteilen
(Ach er ist schon verloren, es steht doch nichts mehr hinter ihm!).

Ein Höhepunkt dieser gespenstischen Umkehrung ist es, wenn Brecht, indem er das „Lob des Kommunismus“ (in der Mutter) singen läßt, die Formel für seinen neuen Stil prägt:

Er ist das Einfache
Das schwer zu machen ist.

Aus dem Rahmen fällt auch der Reichtum der Formen, den er als Kommunist entwickelt. Er erneuert die Urformen der Kampflyrik, die in der Satirenliteratur des sechzehnten Jahrhunderts beliebt waren: den parodierten Choral und Psalm, das Spruchgedicht, das Streitgespräch, das Kampflied, die Prophetie, die Parabel, für welche „Vom Sprengen des Gartens“ oder das auf die schwarzuniformierte SS gemünzte „Lied von der Zubereitung des schwarzen Rettichs“ (im Schweyk) Beispiele sind. Das ist die lyrische Parallele zur Anlehnung der Lehrstücke an die Dramaturgie der Reformationsschauspiele, der humanistischen Schuldramen und des barocken Jesuitentheaters. Auch in der Lyrik handelt es sich nicht um historisierendes Anknüpfen, sondern um spontane Neuschöpfung. Die Vorbilder sind so radikal modernisiert und profaniert, daß nur kundige Augen den Zusammenhang sehen. Das Überlieferte wird parodiert, travestiert, ironisiert, der Kontrast zwischen sakrosankter Form und profanem Gegenstand kraß unterstrichen, weil Brechts intellektuelle Skepsis das Hergebrachte nur in dieser Weise anerkennt. Aber in dieser Umformung erkennt er es an. Sogar Formen wie das Sonett werden als antiklassische Kontrafakturen von ihm beibehalten, das Liebeslied in der Mahagonny-Oper ist in Terzinen gedichtet. Am bedeutsamsten wurde für den Lyriker das Spruchgedicht, eine klassische Form der lehrhaften Dichtung. Seit den in Dänemark entstandenen Svendborger Gedichten (1939), die Brecht als Flugblätter drucken ließ und über den deutschen Freiheitssender sprach, als die deutschen Armeen ganz Europa und halb Rußland erobert hatten, kleidete er seinen didaktischen Moralismus in ein bettelhaft anspruchsloses Gewand. Das war der entzauberte Gesang zur Gitarre, mit dem er begonnen hatte. Diese Zeitgedichte sehen die Welt nicht mehr als Schöpfung, sondern als Menschenwerk. Sie geben dem Leser Rätsel auf, um ihn begreifen zu lehren, warum die Welt sinnlos geworden ist und wie sie zum Guten verändert werden kann. Manche der simplen, in Wahrheit tödlich zugeschliffenen Zeilengruppen sehen aus, wie wenn sie von Lessing stammten, etwa der Gedenkspruch für einen im Krieg gegen Frankreich gefallenen deutschen Soldaten:

Ihr Leute, wenn ihr einen sagen hört
Er habe nun ein großes Reich zerstört
In zwanzig Tagen, fragt, wo ich geblieben!
Ich war dabei und lebte davon sieben.

Der Verfasser dieser Sprüche hat allen ästhetischen Prunk von sich abgetan, er glaubt die Phrasen einer verfluchten Epoche nicht mehr. Aber seine Ruhe ist zum Zerreißen gespannt, in seiner eisigen Kälte verleugnet sich ein Leidender.
Die dialektische Spannung zwischen Natur und Doktrin verrät sich in den Dramen der Emigrationszeit auch darin, daß manche ihrer stärksten Figuren und Szenen die unbekümmerte Vitalität der Frühwerke wieder aufleben lassen. Man hat längst bemerkt, daß der Soldat Schweyk, die Mutter Courage, der Gutsbesitzer Puntila, der Richter Azdak Metamorphosen Baals sind. Diese Gestalten stehen dem marxistischen Dogma am fernsten und sind der Mittelpunkt von Stücken, die alle Macht anprangern und zu Brechts bedeutendsten Leistungen gehören. Eine Metamorphose Baals ist auch der kleine dicke chinesische Gott des Glücks – der „gestohlene Gott“ von Jahnns gleichnamigem Stück den Brecht um 1940 zum Helden eines Operntextes machen wollte, wie er in der Vorrede „Bei Durchsicht meiner ersten Stücke“ erzählt. Daß ihm sein Verhältnis zum Marxismus früh zu schaffen machte, beweist das Leben des Galilei (1938/39), das im Hinblick auf die Atombombe den Verrat der Wissenschaft an die Macht zur Diskussion stellt. Es enthält auch seinen eigenen Konflikt: den Verrat der Dichtung an den Staat. Seine innere Situation ist in der „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ unmißverständlich ausgesprochen.
Diese Spannung erklärt, warum seine kommunistische Lyrik etwas Einzigartiges ist. Da ihm alle Feierlichkeit verhaßt war, konnte er sich weder das hohe Pathos Schillers noch das primitive Pathos der Maifeiern zu eigen machen oder beides kombinieren, wie die literarischen Parteigenossen es taten. Er mußte sich auf der Suche nach einem zugleich elementaren und lehrhaften Stil auf sein Genie verlassen. Die sinnliche Fülle seiner Sprache geriet in die Mühle des Leidens, der schlaflosen Nächte, wurde grausam verstümmelt und scheinbar für immer zerstört. Aber nun bewährte sich ihre gesunde Abstammung von der Umgangssprache des Volkes, die schon in ihrem mundartlichen Einschlag sichtbar ist. Er verwendet wie Döblin in Berlin Alexanderplatz und Barlach in seinen niederdeutschen Volksszenen den plastischen Satzbau der Mundart, dazu Wortformen wie „vor“ für bevor, „hinter“ für nach hinten, „wo“ für welche, „beir“ für bei der usw. Der „Schweyk“ und der „Puntila“ sind volkstümliche Lustspiele, deren Sprache gerade so weit mundartlich getönt ist, daß ein stilisierter volkstümlicher Ton entsteht. Als Ideal schwebt Brecht die schlichte Unmittelbarkeit vor, die auch heute noch die Rede der einfachen Leute auszeichnet. Er verachtet das blutarme Intellektuellendeutsch und verehrt Pestalozzi, er weiß, wie die Prosa der Kalender, der alten Schwankbücher aussieht. Als größtes Beispiel für die weltändernde Kraft des Wortes hat er seit seiner Jugend Luthers deutsche Bibel vor Augen, sie ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen und schlägt, parodiert oder gläubig, auch in seinen kommunistischen Dichtungen immer wieder durch. Er steht in der Tradition der großen Volksliteratur, die von Luther über Grimmelshausen und Hebel zu Gotthelf führt. Zu diesem deutschen Erbgut hat seine Sprache weltweite Anregungen – anglikanische, exotische, asiatische – in sich aufgenommen. Die äußere und innere Not des Exils kelterte daraus die Sprache seiner dritten Epoche, eine der großen Dichtersprachen unserer Zeit. Sie ist unliterarisch, ohne in selbstgefälligen Provinzialismus zu verfallen. Baalische Vitalität ist in ihr durchsetzt mit Alltagsjargon, Fremdwörtern, amtlichen Floskeln und Dialekt, all dies gebändigt durch einen wachen Verstand und gemildert durch einen gelassenen Humor.
Da auch die Lehrstücke auf diesem reichen Nährboden gewachsen sind, blühen in ihnen dicht neben den abstrakten Thesen nach wie vor die Blumen der Naturpoesie. Die Balladenkunst der Jugend lebt in gesungenen Einlagen wie dem „Lied vom Sankt Nimmerleinstag“ (im Guten Menschen von Sezuan), dem Balladenvorrat der Frau Kopecka (im Schweyk) weiter. Die Hymnik Baals erscheint in der klagenden letzten Hymne der „schwarzen Strohhüte“ (in der Heiligen Johanna) oder in den Gesängen der kahnschleppenden Kulis in der Maßnahme, die an den berühmten „Gesang der Wolgaschlepper“ in Jushnis „Blauem Vogel“ erinnern. Die kabarettistischen Songs im Stil der Dreigroschenoper heißen jetzt „Song von der Ware“ oder „Lied von den Gerichten“. Balladen und Songs gehen nebeneinanderher, Brecht unterscheidet sie nicht genau. Die Liebe der Expressionisten zu China ist auch im Marxisten ungebrochen, so gut wie seine Liebe zum amerikanischen Milieu, nur daß er die Chinesen und die Neger jetzt im nüchternen Tageslicht des Klassenkampfes sieht.
Brechts Leiden unter der Sklaverei konnte durch die Niederlage Deutschlands nicht beendigt werden. Es heilte nur scheinbar, als er sich in Ostberlin niederließ, die politische Lage war ja nicht so, daß sie ihn innerlich entspannte. Die Zukunft Deutschlands war auch jetzt ein Fragezeichen, er lebte eingeklemmt zwischen den Kiefern einer Zange, die sich jederzeit schließen konnte. Zwar leitete er nun ein eigenes Theater, in dem er seine neue Dramaturgie verwirklichen konnte. Doch er vollendete kein neues Stück mehr, und seine alten wurden nicht im Osten, sondern in Westdeutschland, Zürich und Paris gespielt. Die auf den stalinistischen Realismus vereidigten Kritiker verbellten ihn, die Partei drangsalierte ihn, das Arbeiterpublikum, für das er viel zu geistvoll und kompliziert war, trieb ihn mit seiner Unfähigkeit, den Verfremdungseffekt mitzumachen, zur Verzweiflung. Man ließ ihn gewähren, denn man brauchte ihn für die Propaganda. Der von der Feigheit und Dummheit der Zeit frei Gebliebene führte das Doppelleben, das Der gute Mensch von Sezuan darstellt, und befleckte sich mit Zugeständnissen, um sich halten zu können. Es half ihm nichts, daß seine für offizielle Anlässe gelieferten Verse, absichtlich oder nicht, erstaunlich schlecht waren, Schweyks Schläue im Umgang mit der Diktatur konnte ihn innerlich nicht beruhigen. Er mußte sich als Gespenst seiner selbst Vorkommen, weil er, zur Flucht zu stolz, unter der ihm längst fragwürdig gewordenen Fahne ausharrte. Nur ein besseres Ende des Krieges hätte ihn vor dieser Zwangslage bewahren können. Er war kein Verräter, aber ein Gefangener. Er wurde wieder zum Außenseiter, sein Gesicht bekam einen leichenhaften Zug. Der schlimmste Mißbrauch seiner Person war die Unterschlagung seiner kritischen Stellungnahme zur Unterdrückung des Berliner Juniaufstandes von 1953, von der die Öffentlichkeit nur die verbindliche Schlußformel zu sehen bekam. Nach seinem frühen Tod, der wohl mit dem Gram darüber zusammenhängt, kamen Gedichte ans Licht, die zeigen, was er litt. „Die Lösung“ verhöhnt das Vorgehen der Regierung gegen den Aufstand in der Stalinallee. In „Böser Morgen“ ist ihm die Welt zum Ekel geworden.

Warum?
Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend
Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und
Sie waren gebrochen.
Unwissende! schrie ich
Schuldbewußt.

Die Gedichte der letzten Jahre, die vollkommensten, die er hinterließ, sprechen aus großer Einsamkeit, nicht mehr haßerfüllt oder verbittert, sondern mit einem Unterton von Trauer und Klage. An den umfangreicheren Zeitgedichten, die er nach der Rückkehr schrieb, fällt die Ergriffenheit auf, mit der er das zerstörte Deutschland anspricht. In den Strophen „Vom armen B. B.“ hatte er einst salopp prophezeit:

Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!
Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es.
Wir wissen, daß wir Vorläufige sind
Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.

In der apokalyptischen Landschaft der Nachkriegsjahre verhehlt er seinen Schmerz nicht mehr. Wenige haben so echt geklagt wie er, man muß an des Andreas Gryphius „Tränen des Vaterlandes“ denken. Er scheut sich nicht, den romantischen Ton Heines, das Pathos Hölderlins und der Bibel wieder aufzunehmen:

O Deutschland, bleiche Mutter! Wie sitzest du besudelt
Unter den Völkern.

Mehr als je liebt er aber nun die klingende Härte Büchners, das lyrische Epigramm. Er will mit möglichst wenig möglichst viel sagen, wie in jenen Sätzen gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands:

Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.

Aber statt Abstraktion gibt er nun Bilder, in denen eine neue Schönheit aufglänzt. Die Extreme verbinden sich, Gedanke und Sinnlichkeit werden eins. Die Schönheit dieser Kurzgedichte beruht auf dem Gegensatz zwischen formelhafter Kürze und Reichtum der Mitteilung. Das Menschliche kommt wieder zu seinem Recht, die Kälte der Exilsprüche weicht einer verhaltenen Wärme. Baal ist gütig und weise geworden, er entziffert am Unscheinbaren das Geheimnis des Friedens. Seine Freundschaft mit den Bäumen formt den herrlichen „Pflaumenbaum“, dessen Zeilen so armselig sind wie das Schattengeschöpf, dem sie gelten. Die Liebe zu China bringt Gebilde hervor, die wie zarte Pinselstriche einer Tuschzeichnung hingesetzt sind und zuweilen an die Sprüche des Taoteking erinnern. Teils sind sie meditierende Naturlyrik, teils lächelnde Polemik. Auch von sich selbst spricht der Enttäuschte jetzt in leisen Worten. Denn auch das lyrische Selbstporträt beschäftigt ihn bis zuletzt. Es erscheint noch einmal verändert, es hat alle Sentimentalität der Jugend, alle Schärfe des Exils abgestreift. „Rückkehr“ zeichnet sich durch die Weiträumigkeit der Bilder, die rhythmische Gelöstheit, die verschwiegene Erschütterung aus.
Die Krone aller seiner Selbstdarstellungen ist aber das Triptychon „An die Nachgeborenen“, mit dem er sich schon 1938 hinter dem Rücken der Partei nicht an den Westen, sondern an die Nachwelt wandte. Schon das schlechte Gewissen dieser Verse ist keine Maske mehr. Hier spricht einer, der sich schuldig fühlt und resigniert auf sein Leben zurückblickt. Selten hat ein Dichter so skeptisch von sich gesprochen. Die Schmach der Zeit macht ihm auch seine Person zweideutig. Der Verzicht auf jegliche Pose und Leidenschaft – „Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit / Ohne Furcht verbringen“ – drückt die Ruhe dessen aus, der die Dinge in sich selber selig ruhen sieht, die ewige Ruhe, von der Baal einst träumte, wenn er „faul und zufrieden am End“ in den hohen Himmel sah. Das dritte Stück des Triptychons lautet:

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir doch:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unser
Mit Nachsicht.

Diese Verse sind mehr als das Vermächtnis eines großen Dichters. Sie sind ein Nachruf auf seine ganze Generation. Brechts Glaube an eine glücklichere Nachwelt, an dem er festhält, ist die letzte Form ihrer Hoffnung auf die bessere Welt, die sie schaffen wollte. Von Revolution ist hier kaum mehr die Rede, nur noch von der Entstellung durch Haß, Zorn und Verzweiflung. Sie entstellen alle revolutionäre Kunst, erhalten sie aber auch lebendig, solange die Niedrigkeit der finsteren Zeit andauert. Brechts Lyrik ist ein Tagebuch dieser die Schönheit entstellenden Leidenschaften. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von den esoterischen Gedichtwerken, die man so laut als die für unsere Zeit repräsentative Lyrik preist. Sie ist einfach und lauter wie ein Kristall, denn er war ein Mensch dieser Welt und wollte verstanden werden. Sie spiegelt unsern Flammenhimmel und ist nur vor diesem Hintergrund verständlich. Als Ausdruck der Zeitereignisse und eines persönlichen Schicksals spiegelt sie auch ihre Herkunft aus dem Expressionismus. Ihr Dichter steht mitten in dem Riß, der Deutschland heute durchzieht, an seiner schmerzhaftesten Stelle. Kein Wunder, daß er Ärgernis erregt. Es ist noch nicht soweit, daß die Nachgeborenen mit Nachsicht an ihn und seine Generation denken könnten.

Walter Muschg, aus Walter Muschg: Von Trakl zu Brecht. Dichter des Expressionismus, R. Piper Verlag, 1961

Brecht

(…)

Die Frage nach Brecht und dem Bestand des deutschen Realsozialismus ist so klein wie eine Wurzel, die aus dem Weg ragt und einen stolpern macht. Aber sie ist von der Form eines Drudenfußes. Vielleicht sind der Ausgangspunkt bei dem politischen Dichter, die Fixierung auf die historische Einbettung von Person und Werk in Arbeiterbewegung, Exil, Wirken im Osten Deutschlands und Nachleben als DDR-Ikone etwas wie Blindheit auf einem Auge. Nicht aus demselben zu verlieren sind Brechts Masken. Die stetige und dominierende ist die eines neuen Luthers. Sie ist weitgehend identisch mit der des politischen Dichters. Beide betreffen Brechts Auswahl von Themen, primär seine radikale Arbeit an der Sprache. Lüften wir diese schwere und große Maske ein wenig und schauen darunter auf den betont maskulinen, nach heutigen Maßstäben – mit Vorsatz und Lust – sexistischen Schriftsteller.
In den 1970er Jahren gab es unter deutschen Lesern eine Faszination für den Boxkampf zwischen Charles Bukowski und Ernest Hemingway. Ersterer hatte ihn erfunden, um seine Verehrung für den Vorgänger auszudrücken. Bei Brecht verhält es sich nicht anders, nur ist bei ihm die Verehrung nicht eine der vorangehenden Schriftstellergeneration, mit der Ausnahme Gorki, auch nicht eine der Dichter, mit der Ausnahme François Villon, sondern primär eine der männlichen Gewalt als Figur, als dynamischer Vorgang und als Essenz. Er interessierte sich für Boxer, interviewte sie, ging zu Boxkämpfen. Seine Urgestalt auf dem Theater, sein Alter Ego Baal, ist Dichter, Frauenverächter, Schläger und Mörder. Die Sprache seiner Liebesgedichte kennt die ganze Skala, kann unerhört zart sein, wenn er die Betreffende an sich binden will, ist zugleich sexuell offen, umstands-, schonungs- bis tabulos und überquert vielfach den rabiaten und frauenverachtenden Rubikon. Letzteres meist in Rollengedichten oder Liedern wie „Ratschläge einer älteren Fohse an eine jüngere“ von 1927, das bitte vollständig nachzuschlagen wäre, wenn hier nur Strophe 9 von 14 zitiert ist:

Für unsereinen ist es eine harte Nuß
Sieht sie, daß ihre Fotz zu weit wird (wie bei mir)
So daß ein Mann gar nichts mehr spürt bei ihr
Und er sich um den Schwanz ein Handtuch wickeln muß.
So eine muß beizeiten daran denken
Ob ihr die Gäule was fürs Vögeln schenken.

Das Sonett „Über die Verführung von Engeln“ ist unter dieser Art von Gedichten das Meisterstück. Er schreibt es 1948, im Jahr der Rückkehr aus dem Exil. Auch dies kann nur vollständig wirken. Die letzten zwei Zeilen des der Form nach an Shakespeare orientierten Sonetts lauten:

Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht
Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.

Hier geht die Blasphemie einmal auf, wirkt zeitlos, meine ich und stelle mich damit gern bloß als einen, der den Engel in Schutz nimmt vor dem Vergewaltiger.
Der Umgang mit diesem Engel, mit Engeln überhaupt, steht selbstverständlich unter anderem, Näherliegendem, was ein echter Mann mit einem solchen Geschöpf tut – im Gedicht: beinahe einvernehmlichen Sex haben –, auch dafür, was der Denker und Dichter Brecht mit der nicht proletarischen, mit der nicht marxistischen Welt tun will – mit der ganzen! Alles, was bürgerlich ist, kleinbürgerlich, überhaupt klein, bekommt hier ab, was Brecht ihm ausdrücklich verpassen will und kann. Dazu gehört auch Dichtung, prominent unübersehbar die von Rainer Maria Rilke: „Und eine Sehnsucht (wie nach Sünde) / geht ihnen manchmal durch den Traum. / […] Nur wenn sie ihre Flügel breiten, / sind sie die Wecker eines Winds“, von den „schrecklichen“ Engeln zu schweigen. Und erst recht f… Bertolt Brecht mit seinem Gedicht Stefan Georges Engel, der in dessen Vorspiel zu dem Band Teppich des Lebens beschworen ist:

da trat ein nackter engel durch die pforte:

Sein „ehrengift“ wird „nicht im zwang errungen“. Aus Verachtung für solche Töne tut Brecht eben diesem Engel Gewalt an, zeigt, dass er es kann, dass er es will. Dass er von Stefan George nichts wissen wollte und auch nichts wusste, hatte er schon 1928 aus Anlass des 60. Geburtstags von oben herab verlauten lassen. Ich gehe nicht davon aus, dass er viel von ihm gelesen hatte, wohl auch nicht jenes Vorspiel. Wie tiefsitzend virulent dennoch das Urteil war, zeigte, dass er im Mai 1933 unmittelbar in Versen darauf reagieren musste:

Als ich las, daß sie die Schriften derer verbrannten
Die die Wahrheit zu schreiben versucht hatten
Aber den Schwätzer George, den Schönredner, einluden
Ihre Akademie zu eröffnen, wünschte ich heftiger
Daß die Zeit endlich kommt, wo das Volk einen solchen Menschen bittet
Öffentlich bei einem Bau in einer der Vorstädte
Einen Schubkarren mit Mörtel über den Bauplatz zu schieben, damit
Einmal einer von ihnen eine nützliche Handlung verrichte

Brecht hatte am Ort seines Exils gelesen, dass der für ihn ausdrücklich „reaktionäre“ Stefan George von Goebbels eingeladen war, einer Deutschen Akademie für Dichtung innerhalb der Preußischen Akademie der Künste vorzustehen. Der Dichter, dem Brecht Zwangsarbeit nahelegte, tat aber nichts dergleichen. Er kehrte nicht aus der Schweiz zurück und verstarb dort im Dezember 1933. Brechts ausdrückliche Meinung über den Dichter passte so oder so gut zur Einschätzung der späteren DDR-Obrigkeit, die Stefan Georges Werk als das eines Wegbereiters des Nationalsozialismus auf den Index der verbotenen Literatur setzte.
Es gibt Brecht auf unerhört verschiedene Art. Seine Sprachlust an grober Lust gehört zu seinem Profil in allen Gattungen. Und er hat aus verschiedenen Anlässen, zu diesem und jenem nachvollziehbaren Zweck, sogar feine und zarte Liebesgedichte verfasst. Der politische Dichter ist, obwohl von ihm gewollt und alles überstrahlend, allemal nicht das einzige Bild, das immer wieder neu gezeichnet werden wird. Und seine politisch-poetischen Absichtserklärungen und Deutungen des Gangs der Welt sind schon gar nicht alles, was ihn und sein Werk zu einem der Glutkerne für das Sprachspiel des Realsozialismus werden ließ. Hinter der politischen Fassade steckte unter anderem der Apologet des kriminellen Machos vom Anfang. In den Figuren, die in dem dämonischen Mahagonny oder in einem fiktiven London sich nahmen, was sich bot oder nicht schnell genug weg war, war schon angelegt das Loblied auf den Revolutionär und schließlich den revolutionären Herrscher, der sich die Städte und die Staaten nimmt, den Diktator im Namen des Proletariats. Die Reduktion der Welt auf Oben und Unten, Arm und Reich, auf die übliche schlechte und die anzustrebende gute Sache wurde bestätigt und verstetigt durch den Machtantritt Hitlers und das folgende lange Exil während des unerhört erfolgreichen Siegeszugs und schließlich sehr zähen Niedergangs und Untergangs des Nationalsozialismus. Dass Brecht und Genossen fast nie die Selbstbezeichnung des Hitlerregimes benutzten, sondern bei der übergreifenden Vokabel Faschismus blieben, spricht eine eigene Sprache, drückt etwas wie heilige Scheu aus (während man sich zeitgenössisch selbstverständlich auf begriffliche Präzision berief). Die Welt reduzierte sich in jener Zeit auf den Slogan „Sozialismus oder Barbarei“. Diese Alternative war bestimmend für das Denken und Streben der meisten Künstler und Schriftsteller in Europa, die das Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland sowie des Faschismus in Italien, Spanien und anderen Ländern erlebten, kommentierten und bekämpften. Brechts Ansatz wurde nur bestätigt. Weder sein Schreiben noch seine Lebensweise mussten sich ändern.
Das Vorbild der Denk- und Lebensweise, die von dem Dichter Brecht herkommt, lebt. Es ist ein zäh fortbestehendes Rollenmodell des kritischen Dichters, Schriftstellers, Künstlers, das die realen Verhältnisse weitgehend ignoriert. Er mischt sich in die Belange der Wirtschaft, des Fortgangs der Menschheit, der Politik ein, obwohl deren Dynamik ihn überfordert. Er nimmt sich Teilaspekte und stellt sie auf die laut scheppernde Bühne, die er eine moralische Anstalt wähnt. Er hat eine Meinung und stellt sie in die Zeitung, wo sie nicht besser, eher schlechter als andere Meinungen aussieht. Sein Tun zielt vor allem auf das Ende der Dynamik, die ihn umgibt. Er bietet einfache Lösungen an. Zugleich schmarotzt sein eigenes Leben an dem Gewinn, den die Dynamik mit sich bringt. Und sein einziges Handwerkszeug, seine Sprache, ist dasjenige, das tatsächlich teilnimmt am dynamischen Prozess. Das gilt aber nur auf dem Niveau, das Brecht vorgibt. Alles Mediokre ist vom Übel. Noch schlimmer wird es, wenn sich einer im Ton vergreift wie Günter Grass in dem antiisraelischen Gedicht unter dem Stammtisch-Titel „Was gesagt werden muss“ von 2012, das von Unkenntnis erfüllt war und sowieso jedem Sinn für Poesie entriet. In der offenen Gesellschaft ist Dummheit kein Verbrechen. Es finden sich immer wieder Gleichgesinnte auf dem Markt, und der hat einen großen Magen. Brecht hatte meistens kluge Ratgeber um sich, mehrheitlich Ratgeberinnen, und er nutzte das. Trotzdem war das Verhalten Brechts, auch das seiner Ratgeber und der ihm Nachfolgenden in der geschlossenen Gesellschaft, Teilhabe am Verbrechen. Allen voran der große Denkende, „Herr Keuner, der Denkende“, sorgte für den Niedergang des Denkens, für Teilhabe an der Herrschaft des Mittelmaßes. Brechts Methode war kritisch sie war sogar ätzend darin. Sie trug gern und überall ihre Überlegenheit zur Schau. Das hat sich auch vererbt. Als sie sich in den Dienst der Partei und der Macht Stalins und seiner Nachfolger stellte, das heißt frühzeitig und offenbar vor Überheblichkeit in Kauf nehmend, was vorging, kam ihr das Kritische abhanden. Das geschah schrittweise, bei Patriarch Brecht vor dem Exil, im Exil, endgültig durch die Entscheidungen danach. Und die Nachfolgenden schauten darauf und nahmen und taten dasselbe.
Die Kritik am Kapitalismus, an der industriellen Gesellschaft in der Version der alten Besitzverhältnisse, wie sie das Kommunistische Manifest von 1848 enthielt, lenkte Brecht bis an sein Ende. Das Niveau dieses Nachdenkens im 19. Jahrhundert erreicht, wurde nie überflügelt. Mehr wurde über die Macht, die Energie der Warenwirtschaft, die Eroberung der ganzen Welt durch den Motor des Profits, des Geldes, der bestehenden Produktionsweise nie vorgebracht, als was man dort bis heute liest. Wie der Profit die Welt gestaltet, wie er den Umgang des Menschen mit seinesgleichen bestimmt. Wie der Profit Welt und Menschen zerstört, solange es ihm nutzt. Wie der Profit dafür sorgt, dass Welt und Menschen erhalten bleiben weil es sonst keinen Nutzen mehr gibt. Die Konsequenz aus der Analyse der Produktions- und Verteilungsverhältnisse zogen Marx und Engels in der Vision des Ausstiegs aus der Geschichte, des Endes der Geschichte im Kommunismus. Mehr als eine Fußnote ist in diesem Zusammenhang Brechts Beschäftigung mit dem Hexameter.
Der sonst sich den klassischen Versmaßen verweigerte, er machte eine Ausnahme. 1945, noch im amerikanischen Exil, begann er, das Kommunistische Manifest in Hexametern nachzugestalten. Beraten wurde er dabei u.a. von seinem philosophischen Mentor Karl Korsch. Brechts Verständnis des antiken Verses ging selbstverständlich nicht auf Homer zurück. Er hatte auch nur Lateinkenntnisse vom Gymnasium und den Studienanfängen her, Griechisch las er nicht. Lion Feuchtwanger und Hanns Eisler haben (nach den vergnüglichen Aussagen des Letzteren in dem beeindruckenden Gesprächsband Fragen Sie mehr über Brecht) für ihn in einer „Manifest-Sitzung“ in Kalifornien die Anfangsverse der Ilias auf Griechisch deklamiert. Eisler fand die Idee seines Freundes sowieso schlecht, die Verse schlecht, alles daran. Er dachte kurzfristig pragmatischer als Brecht. Seiner Meinung nach sollte die kommunistische Lehre für die Jugend in Deutschland nach der Nazizeit so einfach wie möglich aufbereitet werden, so modern wie gerade von Brecht zu leisten. Brechts Konzept kam von Lukrez, vom ausführlichen lateinischen Lehrgedicht her. Er wollte, was ihm das Größte und Wichtigste schien, auf die Kothurne antiker Verse stellen. Es wäre Verfremdung gewesen einerseits, aber es wäre auch Weihe. Der Austausch der Inhalte, eine vertraute Vorstellung eigentlich: Brecht wollte neuen Wein in alte Schläuche gießen. Hie, prominent in Klopstocks Messias, dem ausführlichsten Werk in deutschen Hexametern, der größte Stoff für den Dichter, die Leidensgeschichte Jesu, seine Auferstehung und die Erlösung der Menschheit. Da, im Kommunistischen Manifest, nun in der heroisch antikisierenden (pardon, nur in einer deklamatorisch aufbereiteten) Version des Bertolt Brecht, die Geschichte des Kapitalismus und derjenigen, die unter ihm litten, aber auch wuchsen, der Arbeiter, des Proletariats, bis hin zur Revolution, der diktatorischen Herrschaft dieser einen Klasse zum Zweck der Erlösung der gesamten Menschheit aus jeglicher Unfreiheit. Brecht kam nicht zu Rande, schrieb, lesen wir bei Eisler, keine echten Hexameter, fabrizierte nur etwas Ähnliches. Dennoch fasste er bis 1954 das Manuskript immer wieder an.
Die Vorstellung, wie und warum aus der proletarischen Revolution die Erlösung der Menschheit hervorgehen würde, hatten sich Marx und Lenin bei Hegel abgeschaut. Statt des Weltgeists sollte die Menschheit zu sich selbst kommen. Nur traf das nicht ein. Das Proletariat, in Europa zur Zeit von Marx erst entstehend, zur Zeit Lenins zwar kaum in Russland, aber von England bis Deutschland in die explodierenden Städte strömend, elend und noch mehr verelendend, schuf aus sich selbst niemals, was die darin utopische Wissenschaft von der Gesellschaft voraussagte. Der Kapitalismus legte einen Gang zu, viele Gänge, er baute Getriebe und Motor des Gangs der Geschichte, des Fortschritts um. Er nahm die nächste und die wieder nächste Hürde. Nichts konnte ihn aufhalten, bis heute nicht. Die Besitzverhältnisse haben sich nicht geändert, außer dass sie in der früher sozialistischen Welt wieder die alten geworden sind und gewaltige Kräfte entfalten wie gehabt. Unschöne auch, wie gehabt. Die Verteilung wird verhandelt und neu verhandelt. Neue Player kommen ins Spiel, lokale und globale, alte treten ab.
Brechts Referenz war eine Zeitungs- und Kriminalroman-Erfindung der City of London, er sagte das auch gern, wenn er Kapital und Börse meinte. „Die City“ war für ihn das Herz der Geldwirtschaft, das Wettbüro böser Jungs, Machos wie er. Auf gleiche Art erfand er das Amerika, das Chicago, das er brauchte, um das kriminelle Wirken des zirkulierenden Geldes zu zeigen. Wie gesagt, störte ihn die Wirklichkeit oft beträchtlich. Darin war er ganz ein Mann des Theaters. Zu Brechts Lebenszeit war das industrielle Zeitalter noch nicht beendet, es hatte mit den Weltkriegen und den Gaskammern der Judenvernichtung sein perverses Potential entfaltet. Das profitorientierte Wirtschaften hatte auch den Nationalsozialismus getragen, es wurde auch damit und darin verdient, am Krieg sowieso immer. Selbst die Atombombe war, so gesehen, nichts anderes als die vollendete Vereinigung von Wissenschaft und Technik aus dem Geist des Kapitalismus. Danach gab es eine Generalüberholung in den Verliererstaaten. Und mit neuem Schwung schuf Geld wiederum Geld. Brecht kam genau so weit mit seinem Verständnis. Keiner seiner Nachfolger kam weiter als bis dahin und bis zu der Feststellung, dieser Kreislauf müsse aufhören. Der Sieg der Arbeiterklasse aber blieb, gegen alles Klassenbewusstsein, ein Phantom. Die Vision für die Zukunft, die der Marxismus aus der Geschichte ableitete, war schon in der russischen Oktoberrevolution von 1917 gescheitert, auf den Schrott geworfen, in ihr Gegenteil verkehrt. Mit der Diktatur der leninistischen Partei war dieses Stück Geschichte eigentlich beendet. Leider war es das nicht. Es folgten Stalin, GPU, Gulag, alles, wofür das Sowjetimperium stand. Die Behauptungen und Idealisierungen aus dem Geist der Dialektik bei Brecht mündeten in Affirmation der Gewaltherrschaft der Besserwissenden. Sela.
Das Schlimmste: Nach Brecht kam kein grundlegend neuer Gedanke dazu. Die Intelligenzija ostdeutscher Prägung, solange sie im Staat blieb, auch darüber hinaus, solange sie ihren Anspruch auf Mitgestaltung der sozialistischen Gesellschaft oder nur auch den produktiv-kritischen, also von der Grundlage her wohlwollenden Kommentar nicht aufgab, saß in der Falle der Ideologie. Das westdeutsche linke Denken darf, ohne selbst Gegenstand meiner Rede zu sein, dazugedacht werden. Das politisch-ideologische Fundament dessen, was in die Öffentlichkeit drang, entwickelte sich nicht weiter. Vielleicht zum Zynismus und zunehmend teutonischen Theaterdonner, zur Clownerie des Tanzes auf der Mauer bei Heiner Müller. Volker Braun bestätigte 1989 den Eintritt in die letzte seiner obligatorischen Warteschleifen:

Wann sag ich wieder mein und meine alle?

Wolf Biermann ist, als sein störrischer Kommunismus peu à peu wegbrach, zum Glück seinem poetischen Sentiment treu geblieben. Und er hat seine Stimme erhoben als Freund Israels, was auf der Seite des politischen Spektrums, der er sich unverdrossen zurechnet, nicht genug geschätzt werden kann.

(…)

Uwe Kolbe, aus Uwe Kolbe: Brecht, S. Fischer Verlag, 2016

 

 

Erfahrungen mit Brecht. Therese Hörnigk im Gespräch mit Friedrich Dieckmann

 

Brecht – Die Kunst zu leben. Ein Fernsehporträt von Joachim Lang aus dem Jahre 2006

 

Günter Berg / Wolfgang Jeske: Bertolt Brecht. Der Lyriker

Albrecht Fabri: Notiz über Bertolt Brecht, Merkur, Heft 33, November 1950

Walter Jens: Protokoll über Brecht. Ein Nekrolog, Merkur, Heft 104, Oktober 1956

Günther Anders: Brecht-Porträt. Tagebuch-Aufzeichnungen Santa Monica 1942/43, Merkur Heft 115, September 1957

Martin Esslin: Bert Brecht Vernunft gegen Instinkt, Merkur, Heft 163, September 1961

Robert Minder: Die wiedergefundene Großmutter. Bert Brechts schwäbische Herkunft, Merkur, Heft 217, April 1966

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (I), Merkur, Heft 254, Juni 1969

Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (II), Merkur, Heft 255, Juli 1969

Sidney Hook, Hannah Arendt: Was dachte Brecht von Stalin. Nochmals zu Hannah Arendts Brecht-Aufsatz, Merkur, Heft 259, November 1969

Iring Fetscher: Brecht und der Kommunismus, Merkur, Heft 304, September 1973

Bernd-Peter Lange: Walter Benjamin und Bertolt Brecht am Schachbrett, Merkur, Heft 791, April 2015

Bertolt Brecht und weitere Sprecher: Lesungen und O-Töne 1928–1956 in Washington und Berlin. Sammlung Suhrkamp Verlag: Tonkassette 116

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Bertolt Brecht

 

GEDICHT NACH BRECHT UND BRAUN

Die Wahrheit
Brüder, ihr fürchtet um sie
daß ihr sie hinter den Lippen verschließt
ihr sorgt euch
sie könne verzweifelt machen
den, den sie trifft unverhofft
ihr sagt
sie könne manchmal verwirren
mag sein, aber seht ihr denn nicht
daß da, wo sie fehlt
auf den Straßen, den Plätzen
sich anderes breitmacht
Gerüchte und Lügen
die Leute ausfüllen den freien Raum
und maßen mutlos
voll Mut die Besten
wo die Wahrheit nicht spricht
Brüder, Freunde
da schweigt sie.

Gerd Adloff

 

DIE KAMMER DES TOTEN BRECHT

Die letzten Zeitungen
(FAZ und Neues Deutschland)
vom achten August
liegen vergilbt
auf dem Tisch.
Dies Bett stand nie in Mandelay-City.
Es steht steif und hölzern da.
An der Wand gegenüber
ein Kränzchen
gelb von Immortellen,
der Schein vom Schein eines Heiligen.
Einatmen
ausatmen
still.

Ich denke, es versanken
paar Kontinente
und paar Meere bildeten sich neu,
von den himmlischen Parzellen zu schweigen,
als er ging.
Sein Glück und sein Unglück
haben sich rentiert.

Elisabeth Borchers

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Internet Archive +
Kalliope

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Wolfgang Greisenegger: Von Wahrheit und Widerspruch
Die Furche, 12.2.1998

Zum 125. Geburtstag des Autors:

Nils Schniederjann: Das umkämpfte Erbe des kommunistischen Dramatikers
Deutschlandfunk Kultur, 10.2.2023

Karin Beck-Loibl: Genie und Polyamorie
zdf.de, 10.2.2023

Hubert Spiegel: Briefmarke zum 125. Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.2023

Christopher Beschnitt im Gespräch mit Jürgen Hillesheim: „Über die Political Correctness würde Brecht die Nase rümpfen“
Cicero, 10.2.2023

Ronald Pohl: Mit Bertolt Brecht die Kunst des Zweifelns erlernen
Der Standart, 10.2.2023

Theater und mehr: Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht
ardmediathek.de

Jan Kuhlbrodt: Eine Intervention
signaturen-magazin.de

Otto A. Böhmer: Die gewissen Möglichkeiten
faustkultur.de, 10.2.2023

Brechtfestival Augsburg vom 10.–19.2.2023

Brecht125

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorNotizbücher +
Archiv 1, 2 & 3 + Internet Archive + Kalliope + ÖM + KLGUeLEX
Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachruf auf Bertolt Brecht: Tumba

 

Bertolt Brecht: Lob des Lernens gesungen von Nina Hagen 2016 in Potsdam.

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