Bettina Wegner: Wenn meine Lieder nicht mehr stimmen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bettina Wegner: Wenn meine Lieder nicht mehr stimmen

Wegner-Wenn meine Lieder nicht mehr stimmen

FÜR MEINE WEGGEGANGENEN FREUNDE

Wenn ich nach einer angstdurchträumten Nacht
aaaaaerwache
da kommt es manchmal, daß ich weinend lache
weil ich vermisse, was ich einmal hatte
die Schutzhaut, meine harte, meine glatte
die ist zerrissen und blieb irgendwo.

Es sind so viele von uns weggegangen
ach, hätte niemals niemand damit angefangen.
Trauer und Wut, das hat euch weggetrieben.
Mensch, wär das schön, ihr wäret alle hiergeblieben
bei euch, bei uns und auch bei mir.

Stille Statistik wird sich jetzt mit euch befassen
und doch habt ihr ein bißchen mehr verlassen
als euren Zorn und eure Bitterkeit
das viel an Unrecht und Verlogenheit.
Da war noch andres, das lohnte, hier zu bleiben.

Ich meine alle, die euch wirklich brauchen
und jetzt in ihrer Trauer untertauchen
die euch noch folgen werden auf die gleiche Reise
und die hier bleiben, sterben still und leise
an euch, an uns und an sich selber auch.

Ich werde dieses Lied vielleicht nur summen
und eines Tages vielleicht ganz verstummen.
Schweigend und klein verbucht man die Verluste.
Ich weiß nur sicher, daß ich bleiben mußte
daß unsere Ohnmacht nicht noch größer wird.

1978

 

 

 

Bunter Vogel, Flügel gestutzt oder:

Wo sind wir denn bloß hingekommen…

Eines Tages wurde in der DDR die Singebewegung ausgerufen. In Städten und Dörfern schossen Singeklubs wie Pilze aus dem Böden. Man gab dem internationalen Trend nach und verband diesmal das Unvermeidliche mit dem Nützlichen. In Berlin wurde ein Zentrales Studio für Unterhaltungskunst eingerichtet, Möglichkeit einer musikalischen Ausbildung für junge Leute. Wenn sie die Abschlußprüfung bestanden, steckte ihnen der Berufsausweis in der Tasche mit einer Einstufung als Schlagersänger, Chansonnier oder Musiker. Staatliche Stellen, etwa die Konzert- und Gastspieldirektion, vermittelten Auftritte, und wenn ein Solist oder eine Gruppe populär wurden, regnete es Einladungen und selbstverständlich Gage.
All das, sagten wir, um einen Biermann zu ersetzen, der vom Fenster weg mußte. Die Sänger versuchten wie er zu singen, die Texte freilich waren zahm, panegyrisch, kritiklos, überheblich heiter.
Anders bei Bettina. Sie erhielt den Berufsausweis 1972, obwohl ihre Biographie Schönheitsfehler hatte. Sie ist 1947 geboren, wurde Bibliotheksfacharbeiterin, Schauspielschülerin, exmatrikuliert, Siebdrucker, Bibliotheksangestellte. Die Exmatrikulation passierte 1968 auf Grund Verteilens von Flugblättern. 1968 war ein seltsames Jahr, nicht nur für Bürger tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit. Bettina bekam eine Haftstrafe, die später ausgesetzt wurde. Sie ist eine leidenschaftliche Person, die nie Erwartungen erfüllt, wenn sie dabei lügen oder weghören müßte. Sie sang ihre eigenen Lieder und drückte die Situation vieler Menschen in der DDR klar und ohne viel Federlesens aus.
Ihre Verse sind Liedertexte. Mal stehen sie Gedichten sehr nahe, mal kommen sie wie Schlager daher. Sie handeln von Liebe und noch mal Liebe, Liebe zu dem Land, in dem man aufgewachsen ist, mit dem man sich herumschlägt in der Hoffnung auf Sozialismus. Sie spricht von Leuten, aus denen nichts geworden ist. Der junge Mann vom Dorf bleibt fremd in der Stadt und resigniert; die HO-Verkäuferin endigt ihr Leben mit Tabletten; die Rentner in der Ackerhalle sehen verwirrt aus und begreifen den Geldwechselautomaten nicht. Andere Lieder stecken randvoller Fernweh, die DDR-Definition von Paris wird gegeben. Und immer stellt sie reinen Herzens unbefangen gesellschaftliche Zustände fest und in Frage, verdrängt und beschönigt nichts; ist ziemlich respektlos; sagt WIR.

Wo sind wir denn bloß hingekommen
das Ungeborne übt
schon den Bückling.
Wer schützt uns noch
und wie
vor uns?

und:

zu sehn wie alles rings zu Steinen wird
die Wärme ist uns schon Legende.
Wir fassen nichts, wir haben uns verirrt.

Die Angst, lebend zu sterben. Ketzergedichte ? Warnung und Hoffnung.

So ist am Ende doch geblieben
was zu zerstören immer noch mißlang
ein Rest der Fähigkeit zu lieben
und Angst vor dem, was uns bisher verschlang.

Und wenn die Welt voll Teufel wär. Ein schwarzer Choral. Bettina hatte zwei Veranstaltungsreihen, die ihr Spaß machten, bei denen die Leute Schlange standen, obwohl es nur Literatur, Musik und Gespräche gab, nicht mal Tanz hinterher. Eine war der Eintopp im Haus der Jungen Talente. Bettina lud bekannte und unbekannte Literaten und Musiker ein, moderierte den Abend normal berlinerisch und sang zwei, drei eigene Lieder. Da haben Stefan Heym, Christa Wolf, Klaus Schlesinger, Ulli Plenzdorf, Jürgen Fuchs, Dieter Schubert, Thomas Brasch, Volker Braun, Günter de Bruyn, Uwe und Hermann Kant gelesen. Es gab Pop- und Jazzgruppen, Liedermacher und Schauspieler. Die Leute nahmen kein Blatt vor den Mund, sprachen über sich und die Welt, waren ehrlich wie Bettina. Bis auf ein paar Hingeschickte, die machten sich Notizen.
Als der Eintopp zugemacht wurde, weil er nicht mehr tragbar war für einige maßgebliche Angsthasen, hatte Bettina noch eine Gelegenheit im Weißenseer Jugendklub. Der Eintopp hieß nun Kramladen und war genauso wichtig und beliebt, wurde ganz schnell aus technischen Gründen geschlossen. Wieder hatten junge Leute ihre Texte gelesen, und Jurek Becker, Adolf Endler, Martin Stade. Ulli Gumpert und Baby Sommer spielten hervorragenden Jazz, Bier gab’s und fünf verschiedene Sorten Stühle, der Saal war großartig häßlich. Dort hörte ich Bettinas Magdalena-Lied. Immer, wenn ich in der U-Bahn an der Magdalenenstraße vorbeikam, fiel es mir ein, und oben die Haftanstalt.
Die Auftritte haben abgenommen seit dem Herbst 1976.

Ich hab vor allen Leuten gesungen, vor Jugendlichen, Veteranen, Lehrlingen, Arbeitern, Studenten, Intellektuellen, Christen, Angestellten, Armeeangehörigen. Die Reaktionen waren sich ähnlich, nur die Fähigkeit, sie auszudrücken, verschieden. Ich glaube, die Leute haben mich immer verstanden und angenommen, weil sie gewußt haben, daß ich sie nicht betrüge und daß ich mich als einer von ihnen betrachte…

CBS hat ihre erste Platte herausgebracht. Sie gehört zu diesen Versen, daß man eine Ahnung hat von Bettina,

Sarah Kirsch, Vorwort

 

Bettina Wegner,

die beste Liedermacherin der DDR – ohne Publikum in ihrem Land –, veröffentlicht zum erstenmal ihre Texte. Vom Lebensanspruch des einzelnen, von der Zerbrechlichen und von den Zerbrochenen handeln ihre Lieder. Aber auch von der Ungebrochenheit, vom sinnvollen Widerspruch, von trotziger Beharrlichkeit: von Kindern, von Erwachsenen, voller Sehnsucht nach Geborgenheit; und von ihr selbst – von ihrer Trauer in dem Land, in dem sie leben will.

Rowohlt Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1979

 

„Die Heimat ist ein für alle Mal weg“

– Die Liedermacherin Bettina Wegner über Volkslieder, die DDR, die Rückkehr der Faschisten und wie ihr Song „Sind so kleine Hände“ entstand, der zur Ostwesthymne der Wendezeit wurde. –

Es ist nicht weit vom nördlichen Berliner Ortsteil Frohnau bis zum Brandenburger Umland. Bettina Wegner lebt hier seit 1983, seit sie von den Behörden der DDR vor die Wahl gestellt wurde, ins Gefängnis zu gehen oder ausgebürgert zu werden. Die Liedermacherin teilt ihr kleines Haus unweit der S-Bahn-Station mit einer Katze. Im Flur hängen alte Plakate von Musikern und Schriftstellern. Eben ist ihr der Deutsche Musikautorenpreis der Gema zugesprochen worden. Der Musiker und Schriftsteller Sven Regener, Mitglied der Jury, würdigt sie als „kompromisslose und klare Künstlerin, die konsequent und gegen alle Widerstände ihren eigenen künstlerischen und politischen Weg ging.“ Seit ihrer Abschiedstournee im Jahr 2007 gibt Bettina Wegner keine Solokonzerte mehr, tritt aber immer wieder mit Freunden auf. Im Sessel ihres Hauses in Frohnau gibt sie Auskunft über ihre aktuelle Weltsicht und raucht dabei gelegentlich eine Zigarette.

Jens Bisky / Lothar Müller: Frau Wegner, in Ihrem Lied „Von Deutschland nach Deutschland“ aus dem Jahr 1986 gibt es die Zeile „Was bleibt, ist die Heimat als Niemandsland“. Gilt das immer noch?

Bettina Wegner: Ja. Ich finde es gerade sehr betrüblich, dass der Begriff Heimat dauernd von bestimmten Parteien benutzt wird, so dass man sich schon blöd vorkommt, wenn man das Wort auch in den Mund nimmt. Ich kannte nur eine Heimat. Ich bin 1947 in Westberlin geboren, mein Vater arbeitete als Journalist in einer Ostberliner Zeitung, in der Täglichen Rundschau, und verdiente Ostgeld. Da wir damit 1949 in Westberlin die Miete nicht mehr bezahlen konnten, sind meine Eltern nach Ostberlin gegangen. Sie waren ohnehin überzeugte Kommunisten, aber der sehr ehrenhaften Art, die schon in der Nazizeit Kommunisten waren. Ich liebe meine Eltern sehr, gerade auch dafür, dass sie sich, als ich 1968 in den Knast musste, von mir nicht distanziert haben. Heimat war für mich die Elsa-Brändström-Straße in Pankow, und das war in dem Moment weg, als ich 1983 hierher kam, nach Frohnau.

Bisky / Müller: Also ist Frohnau nicht Ihre Heimat geworden?

Wegner: Ich sage bis heute noch „hier“ und „drüben“, und wenn ich „hier“ sage, meine ich den Osten. Wenn ich aber in den Osten gehe, ist das auch nicht mehr Heimat, es ist ja alles anders. Die Heimat ist ein für allemal weg, es gibt sie für mich nicht mehr. Ich bin nur noch Gast auf dieser Erde.

Bisky / Müller: Welche Lieder haben Sie in Ihrer Jugend in der DDR gehört?

Wegner: In der Kindheit Stalins Lieblingslied, „Suliko“, so ein schönes georgisches Volkslied, und diese blöde Ratte nimmt sich das als Lieblingslied. Alter Sack, der.

Bisky / Müller: Mit deutschen Volksliedern wurde auch einiges angestellt.

Wegner: Ich habe eine Vorliebe für die nicht so fröhlichen Lieder, Marschlieder müssen sowieso raus aus meinen Ohren, müssen weg. Ich singe gerne deutsche Volkslieder. Aber es gibt deutsche Wendungen, bei denen ich einen Schreck kriege: „Jedem das seine“ oder „Arbeit macht frei“. Das geht Jüngeren nicht mehr so, aber bei mir ist sofort das Bild der KZ’s da.

Bisky / Müller: Aber „Ich hab die Nacht geträumet“ geht?

Wegner: Ja! Und „Wenn ich ein Vöglein wär“, und ,,Brüderlein und Schwesterlein“. Und Eichendorff, singe ich immer noch.

Bisky / Müller: Und die angelsächsische Musik?

Wegner: Das war die Musik, die wir gehört und nach der wir getanzt haben, Rolling Stones, Beatles. Zu meiner Musik gehörten Jimi Hendrix und Janis Joplin. Und zu meinem Programm gehörten immer auch jiddische, hebräische und deutsche Volkslieder. Inzwischen gehören zu meiner Musik auch die Rapper, mit denen ich anfangs nicht viel anfangen konnte, aber zum Glück erziehen einen die eigenen Kinder. Und ich liebe Amy Winehouse, eine Wahnsinnsfrau.

Bisky / Müller: Noch einmal zurück zu 1968, was bedeutete das Jahr im Osten?

Wegner: In erster Linie Prag. Alle, die ich kannte, alle in meinem Alter haben gehofft, dass wenigstens etwas davon sich auch in der DDR verwirklichen kann. Wir haben Dubček bewundert. Ein tschechisches Volk findet seinen kommunistischen Präsidenten toll, das gab’s ja eigentlich nicht. Und dann kamen die Panzer und walzten das nieder. Für mich gab es politische Orientierungspunkte. Spanien, das war lange her, und danach gab es für mich eben, nur die ČSSR, Dubček und Allendes Chile. Das eine haben die Amis kaputt gemacht, das andere die Russen.

Bisky / Müller: Sie haben Flugblätter geschrieben, wurden verhaftet, vom Prozess gibt es Tonaufnahmen.

Wegner: Ich habe mir die Bänder erst spät angehört, ich habe da so ein kleines Stimmchen, und ich hatte ja schon mein Kind, habe noch gestillt. Aber das hat den Gefängnisarzt überhaupt nicht interessiert. Der hat nur gefragt, ob ich mir das Leben nehmen will. ,,Sind Sie blöde“, habe ich geantwortet, „ich habe gerade ein Kind gekriegt“. Und damit war ich dann haftfähig.

Bisky / Müller: Was war der Anlass der Verhaftung?

Wegner: Viele meiner Freunde hatten schon Flugblätter verteilt. Ich wusste, was darauf stand, von Thomas Brasch, mit dem ich das Kind hatte. Dann wurde Thomas verhaftet, und da habe ich Blätter in vier Teile zerrissen und die gleichen Parolen darauf geschrieben „Es lebe das rote Prag!“ ,,Hoch Dubček!“ ,,Glaubt nicht den Zeitungslügen, sonst werdet Ihr mitschuldig!“

Bisky / Müller: Waren Sie sich über die Konsequenzen im Klaren?

Wegner: Ich kannte den Paragrafen über „staatsfeindliche Hetze“, ich wusste, dass man dafür zwischen einem und fünf Jahren bekommt. Ich habe mit zwei Jahren gerechnet. 16 Monate habe ich bekommen. Aber die Strafe konnte ausgesetzt werden, und da wir alle Kinder von Genossen waren, wurde das auf uns angewandt.

Bisky / Müller: Wie wichtig war für Sie die zweite Zäsur, das Jahr 1976, die Ausbürgerung Wolf Biermanns?

Wegner: Das war auch eine Frechheit, aber das hat das Herz nicht so getroffen. Und was die Gruppe damals formuliert hat, die sich bei Stephan Hermlin getroffen hat, das war ja noch ein liebenswürdiger Brief: ,,Wir bitten die Genossen, ihre Entscheidung zurückzunehmen.“ Ich hätte das nicht schreiben dürfen, bei mir hätte gestanden: ,,Sofort zurücknehmen! Seid Ihr verrückt geworden?“ Aber da gab es wirklich massenhaften Protest, erst die Schriftsteller, dann die Musiker, die Schauspieler, die bildenden Künstler.

Bisky / Müller: Mit dem Lied „Kinder“ sind Sie so bekannt geworden sind, dass die Zeilen „Sind so kleine Hände“ und „Leute ohne Rückgrat / Hab’n wir schon zuviel“ sprichwörtlich wurden. Wie ist das entstanden?

Wegner: Das war eine ganz ulkige Situation. Ich saß in einem Zug und war schon sehr angezählt in der DDR. Die Gruppe MTS, mit der ich damals unterwegs war, haben immer auf die Plakate geschrieben „MTS und Sängerin“, weil mein Name ja nicht auftauchen durfte. Und der Werner Sellhorn hat ein Programm gemacht „Tucholsky und Lieder von heute“. Auf diese Weise konnte ich mich noch ernähren. Und durch Auftritte in Kirchen. Ich saß also im Zug, weil das Auto der Gruppe MTS voll von Musikinstrumenten war, und weil der Veranstalter die Reise bezahlt hat, habe ich in der ersten Klasse gesessen. Da setzte sich ein dicker Herr mir gegenüber, der hatte so etwas wie einen Diplomatenkoffer und tippte andauernd mit seinen dicken Fingern auf dem Koffer rum, und sah überhaupt nicht aus wie ein glücklicher Mensch. Und dann habe ich an die Hände meiner Jungens gedacht, als die noch Babys waren. Die Fahrt dauerte vielleicht zwei Stunden, und als ich ausgestiegen bin, war der Text fertig.

Bisky / Müller: Wie wurde es so erfolgreich?

Wegner: Durch Dirk Sager. Der war ja lange Korrespondent für das ZDF in Ostberlin und ein richtiger Freund geworden. Bevor er als Korrespondent nach Moskau ging, hat er für Kennzeichen D einen Abschiedsfilm gedreht. Also kam er zu mir in die Wohnung und fragte: ,,Bettina, hast Du ein neues Lied?“. Ja, hab ich gesagt, und er wollte das Allerneueste hören. Ich aber fand „Kinder“ wichtiger, und das habe ich dann gesungen. Nach der Ausstrahlung gingen in Westberlin die Leute in die Läden und wollten die Platte kaufen. Und dann gab’s irgendwann die Literaturtage International in Kreuzberg, im Kulturhaus Bethanien. Da durfte ich auftreten, ich war die einzige, die auf diesem Schriftstellertreffen gesungen hat. Hans-Georg Soldat vom Rias hat das mitgeschnitten und dann wurde das über Biermann und andere an CBS gegeben. Biermann hat gesagt, die wird bald verboten, macht daraus ’ne Platte.

Bisky / Müller: In einem Lied aus den Neunzigerjahren singen Sie: ,,Dieses neue große Deutschland macht mich stumm.“

Wegner: Das ganze große Land macht mir derzeit richtig Angst, und zwar nicht wegen Corona. Ich fürchte mich weniger vor den Faschisten, sondern vor deren Wählern. In meinem Bekanntenkreis gibt es einen einzigen jungen Mann, der sie wählen wollte. Aber da ich den als einzelnen Menschen kenne und schätze, konnte ich mit ihm über alles reden. Ich hab ihm gesagt, er soll sich einmal Gauland mit seinem „Wir werden sie jagen“ anschauen. Der Höcke macht mir Angst und Leute, die in einer Partei sind, wo solche Leute sagen, was sie sagen, und am meisten Angst machen mir eben die Wähler. Kann sein, dass die nur jemanden ärgern wollen, aber die machen mir mehr Angst als die Köppe in der Partei.

Bisky / Müller: Warum?

Wegner: Weil die Partei auf etwas trifft, das nie weg war. Ich glaube, dass die Studenten im Westen mehr Druck ausgeübt haben auf das westdeutsche Volk sich mit der eigenen Beteiligung an der Nazi-Zeit auseinanderzusetzen. Wir in der DDR waren immer das antifaschistische Land. Wir hatten aber nach 1945 in der DDR genauso viele Nazis wie im Westen. Und das wurde nicht bearbeitet. Also war es nie weg.

Bisky / Müller: Nun ist aber Gauland aus dem Westen, Höcke auch. Meuthen und Weidel sind auch aus dem Westen.

Wegner: Ja, das kennen wir, die Führer kommen aus Österreich, und wer hat sie gewählt? Die Deutschen. Und die setzen sich auf die Parole von damals drauf, ,,Wir sind das Volk“, und reden von „Wende 2.0“, diese Westhälse.

Bisky / Müller: Sie sagen, es war nie weg, aber irgendetwas muss auch neu sein.

Wegner: Neu ist, denke ich, dass sich die ehemalige DDR-Bevölkerung benachteiligt fühlt. Die Jungen ziehen weg, die Alten bleiben hocken. Es ist ja auch viel zerklatscht worden, aber ein solches Gefühl der Benachteiligung könnte sich auch anders äußern. Man hätte auch in die Gewerkschaft eintreten und sagen können: Baut uns das Werk wieder auf, das Ihr uns weggenommen habt. Diese Salzmine zum Beispiel, große Sauerei. Wir – jetzt sage ich schon wieder wir – hatten das bessere Salz. Und was machen sie? Zu. Unser Salz, die Kalimine in Bischofferode. Das regt mich auf. Aber weil das so ist, muss ich ja nicht zu Pegida und zu diesen Schranzen gehen.

Bisky / Müller: Und welche Lieder ließen sich jetzt, in der Gegenwart, machen?

Wegner: Ich schreibe keine Lieder mehr. Schon lange nicht mehr. An irgendeinem Punkt habe ich bei dem Versuch ein Lied zu schreiben, gemerkt, das hast Du alles schon gesagt, nur besser. Was ich sagen konnte, habe ich gesagt. Ich schreibe auch keine Hymnen für die Kinder am Freitag. Ich liebe diese Kinder, aber meine Umweltlieder habe ich alle geschrieben. Und auch über Nazis. Da muss ich mich jetzt doch nicht hinsetzen und mir einen Reim auf Höcke machen oder Gauland oder die Zippe da.

Bisky / Müller: Was ist Ihr letztes Lied?

Wegner: Ich habe ja viel nachgedichtet. Nachdichtungen sind schwieriger als Alleindichtung und ich hatte mich festgebissen an Leonard Cohens „Dance me to the end of Love“. Auch, weil ich wusste, dass er das für die Menschen geschrieben hat, die im KZ umgekommen sind und weder ihre Liebe zu Ende leben noch Kinder in die Welt setzen konnten. Ich wollte die Poesie so lassen, wie er sie geschrieben hat.

Bisky / Müller: Es bleiben also nur Konzerte mit den alten Liedern?

Wegner: Ja, und genau das mache ich.

Bisky / Müller: Was wären die aktuellen alten Lieder?

Wegner: Die „Kinder“ sind drin, ,,Heimat“ ist drin, „Von Deutschland nach Deutschland“ ist drin, dann Roma-Lieder, Lieder über Krieg. Der Konstantin Wecker, mit dem ich zusammengearbeitet habe, hat mal gesagt, er hätte am Anfang Angst gehabt, weil ich so eine Feministin sei. Das stimmt aber nicht. Ich bin eine Frau, so ist das nun mal. Einmal haben mich Frauen aus muslimischen Ländern, die einen Film machen wollten gefragt, ob ich einverstanden wäre, wenn eine Sängerin darin „Kinder“ auf Arabisch singt. Sie wollten das tun, weil muslimische Frauen oft glauben, dass Prügel zur Erziehung gehören. Da habe ich mein Lied wieder geliebt.

Süddeutsche Zeitung 11.3.2020

 

Bettina Wegner erhält den 12. Deutschen Musikautorenpreis für ihr Lebenswerk

 

Kerstin Decker: Porträt einer Legende. Liedermacherin Bettina Wegner und die Kunst, aufrecht zu stehen.

Zum 70. Geburtstag der Autorin:

Andreas Montag: Bettina Wegner wird 70 „Leute ohne Rückgrat haben wir schon zu viel“
Mitteldeutsche Zeitung, 2.11.2017

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Gunnar Decker: Den Atem verströmen
nd, 3.11.2022

Jan Feddersen: Sind so große Herzen
taz, 4.11.2022

F.-B. Habel: Solange wir noch lachen
junge Welt, 4.11.2022

 

Bettina Wegner zum 75. Geburtstag „Alles, was ich wünsche“ am 29.10.2022 in der Kulturkirche Neuruppin

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Eine Folge Heut Abend zu Gast: Bettina Wegner.

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