Bob Kaufman: Solitüden

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bob Kaufman: Solitüden

Kaufman/Strawalde-Solitüden

ICH HAB MEINEN KUMMER GEFALTET

Ich hab meinen kummer gefaltet in einen mantel
aaaaaaus sommernacht,
Jedem kurzen gewitter ist in den zeiten sein raum
aaaaazuerkannt,
Die gelassen verfolgte geschichte der katastrophen
aaaaaliegt in meinen augen begraben.
Und doch, diese welt ist nicht nur dieses unmöglich
aaaaakosmische spiel,
Und die sonne steht immer noch dreiundneunzig millionen meilen weit von mir entfernt,
Und in den imaginären tiefen der wälder wird das geschorene nilpferd
aaaaasich in ein lustiges einhorn verwandeln.
Nein, ich handle nicht mehr mit den kauzigen wächtern aller gestrigen zusammenbrüche,
Die herumwühlen in den längst ausgeweideten stollen vergangener leiden.
Der blues kommt gekleidet wie die nach innen gerichteten antworten auf diese reise.
Tja und, ich habe die räume des mondes durchsucht in den sehr kalten nächten der sommer.
Und bitte, ich habe noch einmal den nicht zu vollendenden zweikampf gefochten.
Eben weil er für dieses mal nicht zu vollenden war.
Und ja, es hat zeiten gehabt da ich wünschte ich wäre ein anderer.

Die trägödien werden gesungen bei nacht auf den trauerumzügen der dichter;
Die wiedergefundene seele gehüllt in den glanz von vertrautheit.

Übersetzung: Ulrich Zieger

 

 

 

Vorwort im Telegrammstil für Kaufman

in Solitudes Crowded With Loneliness.

Ein verdammter langstreckenläufer allein in einer welt von lemmingen improvisiert er die te deums eines totalen erinnerns inmitten ätzender visionen von offenen türen hinter denen deplacierte blaue paradiese der sinne liegen Seine zunge hing heraus fast verdorrt in imaginären liebeslandschaften seine schmerzen zusammengekauert im afrikanischen traum auf dem heimweg mit parker wo sie nachher tanzen werden O himmlischer hobo auf unheiligen missionen mit gefechtsberichten und segenssprüchen O bird vogel mit grasgefieder der noch genau weiss wo er ist Auf der höhe des lebens sitzt er an der decke und er hat den wind gesehen Und wollt ihr seine augen haben nun dann haltet eure brüste und lest seine wahrhaftig-nördliche legende geschrieben auf landschaften des lebens in den karten amerikas wo nachtigallenschlag uns noch erreicht und die suche nach extase trotz allem weitergeht

Lawrence Ferlinghetti, Druckhaus Galrev, Programmheft, 1990

 

Editorische Notiz

Bob Kaufman starb am 12. Januar 1986 in San Francisco. Er gehörte in den fünfziger Jahren zu den Freunden Jack Kerouac’s und Ken Keysie’s, mit denen er bei ersten Lesungen der späteren Beatniks auftrat. Damals gab es außerdem Sputniks. Elterlicherseits jüdischer Afroamerikaner, ging er als Matrose zur Handelsmarine, reiste als Gewerkschaftsagitator durch die USA, wurde dabei verhaftet, heirate, hörte Charly Parker und Lester Young in einschlägigen Clubs, und schrieb Gedichte, die selbst oft stark an Jazz erinnern. Im New Yorker der frühen sechziger Jahre beeinflußte er den jungen Bob Dylan, der sich in dieser Zeit gerade von einem folk-singer zu einem singer/song-writer umformte (Bringing It All Back Home).
Aus Protest und Verachtung für die amerianische Aggressionspolitik in Fernost, sowie eine psychiatrische Behandlung in diesem Zusammenhang, muß Bob Kaufman später für Jahre völlig verstummt sein, manche sprechen von einem zehnjährigen ununterbrochenem Schweigen.
Seine ersten Gedichtbände „Golden Sardine“ und „Solitudes Crowded With Loneliness“ (dt. etwa: Einsamkeiten Durmischt mit Verlassenheit) erschienen Mitte der sechziger Jahre in New York, bald darauf wurde ein Band in Frankreich vorgelegt, wo Kritiker in Kaufman einen „schwarzen Rimbaud“ erblickten. Später folgten „The Ancient Rain, Poems 1956-1976“, sowie „Closing Time Til Dawn“, welcher meiner Kenntnis nach posthum erschien.
Bob Kaufman hatte sich in seinen letzten Lebensjahren vollständig aus dem literarischen Betrieb zurückgezogen, der Legende nach soll er hin und wieder ein paar Gedichte in Bars verkauft haben, um weitere Drinks zu bezahlen, wie vor ihm Maxwell Bodenheim in Greenwich Village.
In deutscher Sprache lagen über lange Zeit nur wenige Gedichte Bob Kaufmans in Anthologien vor, bis 1982 der Schweizer eco-Verlag, und 1990 die Berliner edition qwert zui opü jeweils eigene Übersetzungen von „Solitudes…“ herausbrachten, die inzwischen leider vergriffen sind.

Ulrich Zieger, Gegner, März/April 2000

Bob Kaufman zieht immer noch, wie in den seligen Tagen

Ginsberg’schen Howls und Kerouac’schen on the roads durch die Cafés von San Francisco und zelebriert den Rausch der Wörter, die Nüchternheit eines Spaßvogels, die Härte einer Lyrik, die trotz der erschlagenden Langzeilen und er Wucht ihrer Poetik lakonisch wirkt.

Die Leute vom Prenzlauer Berg um den rührigen Sascha Anderson haben nun ein voluminöses, bibliophil ausgestattetes Buch mit einem Querschnitt durch Kaufmans Arbeiten, meist Lyrik, vorgelegt, in amerikanisch und deutsch, das die längst fällige Entdeckung des Beat-Dichters ermöglicht. Indes, das Vergnügen ist teuer (was einzusehen ist, hält man das Buch in Händen) und auf wenige beschränkt (es erscheint in einer Auflage von nur 300 Exemplaren). Aber man hat gut daran getan, es nicht bei den Übersetzungen zu belassen, sondern Kaufman in seinem heimischen Duktus zu Worte zu bitten. So hat der Sprachkundige die Möglichkeit, die eigentümlich skandiertende, von Be-bop inspirierte, aufrührende Poesie zum Anlaß zu nehmen, sich in die Schwingungen Kaufmans zu versetzen. Die Übersetzungen (zum Teil sind es auch nur Adaptionen Kaufman’scher Themen, die eigenständige Gebilde zum Besten geben – eine hübsche Idee, wenn in ihrem Tenor ein eigener Band erschienen wäre; so, eingeschlossen von straighten Übertragungen wirken sie ein bisschen rausgerissen aus dem großen Fluß des Amerikaners; und ich hätte mir genaue deutsche Fassungen gewünscht – und daneben die inspirierten Nachdichtungen), die Übersetzungen also verlangen zum Teil ein tiefes Einfühlungsvermögen; denn wer die Beat-Sprache, ihren Slang nicht kennt, wird sich wundern, was auf einmal Katzen in einem Gedicht machen – nur, weil in den Anmerkungen vergessen wurde, darauf hinzuweisen,, dass das US-Cat für einen coolen Typen steht; ebenso verhält es sich mit der Übersetzung von square als viereckig, was hierzulande kein Mensch verstehen wird; „your’re so square / baby I dont care“ sang schon Buddy Holly und square ist nichts anderes als ein Slangwort für Spießer, spießig. Aber derlei Fehlschlüsse sind gottlob selten. Ansonsten haben wir die Möglichkeit, die ausufernden, zum Teil gewaltig anmachenden Verse als Begleitmotiv für ein herrschaftsfreies Leben anzusehen, ihrem ansteckenden, aufrüttelnden Gestus innerlich zu lauschen und uns immer wieder auf das Unvorhergesehene vorzubereiten: „Jazz- hör ihm zu auf dein eigenes Risiko“

Kaufman lebt in der steten Morgendämmerung, er ist ein Poet der schimmernden Geheimnisnacht, ein aufgeschreckter Romantiker, dem die Zeilen entspringen wie Anderen alltägliche Flüche. Seine einsamen Gesänge an das Ende unserer Gesellschaftsideale, wenn er liebevoll und zornig zugleich, seine Atemzüge verdichtend, in unser Vorderhirn robbt, um uns aus der Eintönigkeit der Geschäftigkeit zu locken, sind Exkursionen voller Trauer und Humor. Nie verbissen, selten pathetisch, ab und zu von erschlagender Ritual-Dominaz, entfacht er in seinen Lesern die Vorstellung eines poetischen Lebens, das auf alle Ismen mit sprenkelnder Ironie antwortet; oder sich in Bewusstseinsströme schwingt, deren blühender Irrwitz, deren Wörtergewalt überall anecken.

Schade, daß den Übersetzungen der 14 Mitwirkungen nicht beigegeben wurde, woher die einzelnen Texte stammen: auch wäre eine Notiz über das bisherige Leben und Schaffen Bob Kaufmans verdienstvoll gewesen. Leider wissen wir auch nichts über die Auswahlkriterien der Gedichte – ob Bob Kaufman sie selber so gewollt hat? Trotzdem, es ist erfrischend und antörnend, in diesem umfangreichen Band zu lesen, auch wenn die Texte zum größeren Teil bereits Ende der 50er Jahre geschrieben wurden, wie die Prosa-Kaskade „2. April“ oder das „Abommunist Manifest“, die bereits 1959 als eigenständige Publikation in Ferlinghettis City Light Books herauskamen. Dennoch also: Endlich mehr von dem schwarzen Poeten aus San Francisco, der, wie Karl O. Paetel in seiner, kürzlich im Maro Verlag neu aufgelegten, wegweisenden  Anthologie „Beat“ anmerkte, einen Gutteil seiner Zeit in Gefängniszellen verbringt, weil er einen Privatkrieg mit der Polizei seiner Wohnstatt führt.

Hadayatullah Hübsch, MID, Nr. 66 August September 1991

Celebrating Second April

IM September 1979 planten Raymond Foye und ich eine Benefiz-Lesung für die Lyrik-Zeitschrift Beatitude, die von Bob Kaufman und William J. Margolis gegründet worden war. Wir verbrachten Monate damit, eine Auswahl von Gedichten verschiedener Schriftsteller zur Veröffentlichung vorzubereiten, zusammen mit einer Auswahl von zuvor unveröffentlichten Kaufman-Gedichten und einem Essay über seine Arbeit von Foye. Als wir mit dem Sammeln und Ordnen fertig waren, machten wir alles zum Druck fertig. Man sagte uns, wir würden 2400 Dollar für 1000 Exemplare brauchen. Allen Ginsberg war einverstanden, bei der Lesung mitzumachen, ebenso Lawrence Ferlinghetti, Joanne Kyger, Harold Norse, Peter Orlovsky – und Bob Kaufman. Es war Kaufmans erste große Lesung seit über fünfzehn Jahren. Foye entwarf ein Plakat, für das er ein Foto von Kaufman verwendete, auf dem er in gestreifter Jacke und Strohhut vor dem alten City Lights Verlagshaus steht. Die Veranstaltung war nicht nur ein Mittel, um Geld aufzutreiben, sie war auch eine längst überfällige Würdigung von Kaufman.
Als ich Kaufman erzählte, daß Ginsberg lesen würde, sagte er: „Allen Ginsberg ist der Präsident der Dichtkunst. Er ist unser Papst. Wir werden ihn nach Rom schicken. Zuerst werden wir ihm einen Capuccino im Café Trieste ausgeben müssen und dann in einem gecharterten Doppeldecker nach Rom fliegen. In Rom werden wir alle Sanskrit lernen und eine neue Version der Heiligen Messe schreiben.“
Foye und ich waren überrascht, am Morgen der Lesung eine Schlagzeile auf der ersten Seite des San Francisco Chronicle zu finden: „Beat-Treffen in North Beach… siehe Seite 2.“ Als wir die Seite aufschlugen, fanden wir einen Bericht über unsere Lesung und Hintergrundinformationen über die Beteiligten. „Das wird helfen, eine Menge Leute zusammenzubringen“, sagte ich, da wir uns fragten, wie wir die Kosten decken sollten.
Ich hatte Kaufman früh an diesem Tag getroffen, und er hatte mich am Kragen gepackt: „Ihr müßt den Laden schmeißen, wenn ich weg bin“, sagte er. „Bob Kaufman wird eines Tages verschwinden. Man wird es noch nicht einmal merken. Ihr könnt ihn im Flußarm suchen, oder im Sumpf, aber ihr werdet ihn nicht finden.“
„Denk dran, Bobby. Heute abend. Halb acht. Wir brauchen dich dort eine halbe Stunde vor Beginn der Lesung.“
Zwei Stunden vor der Lesung sah die Straße vor dem Savoy Café und Theater aus wie der Eingang zu einem großen Rock-Konzert. Es waren schnell alle Plätze ausverkauft, und wir sprachen mit Ginsberg und den anderen Dichtern über eine zweite Vorstellung. Alle waren einverstanden, und auch die zweite Vorstellung war ausverkauft. Eine Stunde vor der ersten Vorstellung um 20 Uhr wurde einigen hundert verstimmten Fans mitgeteilt, daß keine Karten mehr da waren.
„Dies ist ein wichtiges Ereignis“, sagte ich zu einem Radio-Reporter, der mir mit einem Mikrophon auf der Terrasse des Savoy Tivoli auflauerte. „Heute abend wird Bob Kaufman ,The Abomunist Manifesto‘ lesen, ein bedeutendes Gedicht der San Francisco Lyrik-Renaissance. Seit zwanzig Jahren hat er mit Ginsberg und Ferlinghetti gemeinsam gelesen.“ Ich sagte weiter, daß Kaufmans Werk ins Französische übersetzt wurde, daß seine Arbeit zuhause aber aus irgendeinem Grunde nicht anerkannt würde.
„Ist es wahr, daß Gouverneur Jerry Brown heute abend hier sein wird?“ fragte der Reporter.
Ich zuckte die Achseln und ging in das Theater. Foye und Ginsberg überprüften gerade die Lautsprecheranlage und riefen mich zu sich, weil es noch ein paar Probleme gab.
„Zum Glück sind alle hier“ sagte ich und sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum Beginn, und das Savoy war brechend voll. Dann bemerkten wir, daß Kaufman fehlte. Normalerweise wäre das kein Grund zu größerer Beunruhigung gewesen, aber da ich mich an seine Äußerungen vom Morgen erinnerte, konnte das bedeuten, daß er in einem Flugzeug Richtung New York saß oder durch die Stadt zog, von einem Jazz-Lokal ins nächste.
„Ich werde runterlaufen und ihn suchen“, sagte ich. Ich verließ den Saal und warf einen Blick in die Cafeteria, einen der Plätze, wo man ihn sonst immer antraf, und ging dann zum Café Trieste. „Ich sah ihn vor ein paar Minuten“, erzählte mir einer seiner Bekannten, der dort saß. „Ich glaube, er ist hochgegangen zur Lesung.“
Als ich zum Savoy zurückgelaufen kam, schob mich Foye ins Theater. Kaufman war noch immer nicht in Sicht. Hinter mir saßen Ginsberg, Orlovsky Ferlinghetti und die jüngeren Schriftsteller und warteten darauf, daß es losging. Foye begann mit der Begrüßung. Das Licht der Scheinwerfer blendete uns. Wir konnten das Publikum kaum erkennen. Ich sah mich schon, wie ich mich für Kaufmans Abwesenheit entschuldigte und selber eine Auswahl seiner Gedichte las. Ginsberg rief mich zu sich und sagte, ich solle nochmal jemanden nach draußen schicken und ihn suchen lassen. Inzwischen hatte die Lesung begonnen.
Ich beschwor Bilder von Kaufman herauf, wie er allein an den Docks im Hafen umherwanderte. Gerade als ich vorschlug, wir sollten einen Ersatz für ihn finden, sprang er auf die Bühne. Ginsberg ließ gerade ,Plutonium Ode‘ vom Stapel, wobei er fast die Lautsprecheranlage in die Luft jagte.
Kaufman beugte sich zu mir herüber und fragte: „Soll ich ,Second April‘ lesen?“
„Was ist mit ,The Abomunist Manifesto‘?“ fragte ich.
„Wo ist es? Was haben sie damit gemacht?“ antwortete er sehr erregt.
Ich blätterte Solitudes Crowded with Loneliness durch, sein erstes Buch, und markierte die Seite, auf der das Gedicht begann. Kaufman hatte ein Exemplar von Golden Sardine mitgebracht, eine Sammlung, die 1967 von City Lights veröffentlicht worden war. „Das ist altes Beatnik-Zeug, aber ich werde es lesen“, flüsterte er.
Er war dran mit Lesen. Er erhob seinen dünnen, dunklen Körper vom Stuhl und ging zum Podium. Ginsberg lächelte ihn an. Das Publikum schien sich nach vorn zu beugen. Dort stand der winzige Kaufman mit einem Umhang über seinem wallenden weißen Hemd, seine braune Haut schimmerte vom Licht der Scheinwerfer. Er begann zu lesen. Seine anfangs gedämpfte Stimme wurde klarer, als das Gedicht dem Ende zuging:

ABOMUNISTS JOIN NOTHING BUT THEIR HANDS OR LEGS, OR OTHER SAME.

ABOMUNISTS SPIT ANTI-POETRY FOR POETIC REASONS AND FRINK.

ABOMUNISTS DO NOT LOOK AT PICTURES PAINTED BY PRESIDENTS AND UNEMPLOYED PRIME MINISTERS.

The Abomunist Manifesto ist eher ein Dokument als ein Gedicht. Es hat Elemente des Jazz-Humoristen Lord Buckley, einen Hauch von Edward Lear und ist Ausdruck vom Geist jener Zeit. In dem Abschnitt Further Notes schreibt Kaufman:

Krishnamurti can relax the muscles of your soul,
Free your aching jawbone from the chewinggum habit.
Ouspensky can churn your illusions into butter and
Give you circles to carry them in, around your head.
Subud can lock you in strange rooms with vocal balms
and make your ignorant clothing understand you.

Das Werk hat eine ausgesprochen politische Bedeutung, aber es ist in einer Sprache geschrieben, die es mehr sein läßt, als bloße Agitation. Wenn ich an das Gedicht denke, erinnere ich mich immer daran, was Kaufman einmal sagte, als er gefragt wurde, wie er sich denn als Dritte-Welt-Dichter fühle: „Es gibt keine dritte Welt. Es gibt tausende von Welten. Sie existieren alle zur selben Zeit, in genau dem selben Moment. Ich lebe in allen diesen Welten. Genau da lebt ein Dichter.“
Bob Kaufman strebte danach, so offen zu sein, wie das für große Lyrik nötig ist. Er beschrieb es mir so: er glaube, daß enge ideologischen Belange die „Quelle“ austrocknen könnten. Er sagte einmal zu mir: „Ich bin ein Schwarzer, ein Jude, ich bin weiß, grün und gelb und habe einen traurigen Menschen in mir, der darum kämpft, nach draußen zu gelangen.“ Oft beginnt er ein Gedicht mit seinen Augen oder seinem Kopf oder irgendeinem anderen Teil seines Körpers und bewegt sich dann hinaus in die Welt. Er ist kein instinktiver Mensch, sondern betrachtet seinen Körper als den Schlüssel zur Erschließung „der Mysterien“, auf die er sich in seinen Werken bezieht. In ,Blues for Hal Waters‘ bezeichnet er seinen Kopf als „my secret cranial guitar“; ein anderes Gedicht fragt: „would you wear my eyes?“ Auch in den traurigsten Gedichten erscheint er glücklich, weil er die Sprache und ihre Möglichkeiten ekstatisch liebt:

My body once covered with beauty
Is now a museum of betrayal.
This part remembered because of that one’s touch
This part remembered for that one’s kiss −
Today I bring it back
And let it live forever.

Er war zufrieden in den Wirklichkeiten, die er sich mit den eigenen Gedichten schuf. Er lebte in ihnen und durch ihre Sprache. Wer ihn kannte, kam so immer wieder in den Genuß wunderbarer Formulierungen, die teils ganz spontan entstanden – oder aber passend zur Situation aus seinem Gedächtnis hervorkramte.
Als wir uns 1975 auf einer Party das erste Mal trafen, sagte er: „Ich kannte Ihren Onkel, Herman Cherry, in Woodstock… Herman Cherry, er malte ,Fruit Compote‘ und schenkte es mir… Herman Cherry flog zur Spitze des Washington Monument und malte ,Fruit Compote‘, und dann wickelte er es ein und schenkte es mir am Lincoln Monument. Herman Cherry ist ein Flugzeug, das mit ,Fruit Compote‘ über Amerika fliegt – ein kleines Bild in einem vergoldeten Rahmen, das er mir vor 30 Jahren in Woodstock gab… Ich war Gewerkschaftsführer…. Rimbaud ist eine Orangenblüte… Cherry ist ,Fruit Compote‘, gemalt für Bob Kaufman, Dichter.“ Dann begann er, T.S. Eliots ,The Love Song of J. Alfred Prufrock‘ zu rezitieren. Dabei gestikulierte er gekonnt, wiegte seinen drahtigen Körper vor und zurück, während seine Finger ein unsichtbare Instrument spielten. In den letzten Teil von ,Prufrock‘ fügte er Zeilen aus Yeats’ ,Sailing to Byzantium‘ und ,Ode to Walt Whitman‘ von Federico Garcia Lorca wie auch Zeilen aus seinen eigenen Werken ein. In den folgenden Jahren sollte ich noch öfter solche Auftritte in Cafes, Bars und in meiner eigenen Wohnung sehen, besonders während der Monate, in denen Kaufman bei mir wohnte, nachdem das Hotel Dante abgebrannt war.
Eine Woche nach dieser ersten Begegnung ging ich durch die Adler Alley, einen schmalen Durchgang zwischen North Beach und Chinatown, in dem überall Abfall von den nahegelegenen chinesischen Fischmärkten herumlag und an dessen North Beach Ende City Lights Bookstore und Vesuvio’s lagen. Vesuvio’s war die Bar, in der Dylan Thomas und Jack Kerouac gewöhnlich verkehrten, wenn sie in der Stadt waren. Ich fühlte mich allein und ungeliebt. Plötzlich tauchte Kaufman auf.
„Neeli Cherkovsky“, sagte er und sah vollkommen ernst aus, „laß uns den Weg zum Saturn finden.“
„Bobby, es geht mir nicht gut. Ich bin ganz alleine. Ich habe niemanden, der mich liebt.“ Ich sah ihm direkt in die Augen, in der Hoffnung, ein paar tröstende Worte von ihm zu hören.
„Du bist ein Dichter. Du kannst niemals allein sein. Du hast die Poesie“, sagte er hartnäckig, während er mich mit erstaunlicher Kraft am Arm packte.
Das bewegte mich tief, aber ich fand niemals ganz heraus, wie ein Mann, der Solitudes Crowded with Loneliness geschrieben hatte, so etwas sagen konnte.

Bob Kaufman: der Sohn einer kreolischen Mutter aus Martinique und eines orthodoxen jüdischen Vaters; geboren 1926 in New Orleans; begeisterter Jazz-Fan, der durch die Welt des Improvisierens seinen eigenen Klang fand. Kaufman schrieb wenig, er trug aber viel vor. Vieles von seinem Werk können wir nur deshalb lesen, weil seine Frau Eileen es aufschrieb, während er frei vortrug. Golden Sardine ist voll von Gedichten, die durch Kaufmans Freunde Mary Beach und Claude Pelieu auf Papierfetzen gerettet worden waren. Sein letztes Buch, The Ancient Rain entstand dank der sorgfaltigen Recherchen von Raymond Foye, der alle unveröffentlichten Arbeiten Kaufmans, die aus seinem ausgebrannten Hotelzimmer gerettet worden waren, zusammentrug: alte Tonbandaufnahmen, beschriebene Papierfetzen, Servietten und halbverkohlte Manuskripte. Kaufman selber wollte nichts mit der Zusammenstellung des Buches zu tun haben.
Bevor er nach San Francisco kam, hatte Kaufman schwarze Minenarbeiter im Süden gewerkschaftlich organisiert und war Matrose der Handelsmarine gewesen, so reiste er mehrmals um die Welt. Seine Botschaft war ein allgemeiner Protest gegen Senatoren, die von den heiligen Kongreßhallen aus antikommunistische Hexenjagden veranstalteten, gegen Staaten, in denen die Todesstrafe existierte, und gegen Generäle, die Soldaten in die Schlacht schickten. In der Gemeinde der Schriftsteller, die sich in und um North Beach versammelte, fühlte er sich mehr und mehr der Schriftstellerei verbunden und begann ernsthaft zu schreiben.
Kaufman lebte bis 1961 in San Francisco; er war Stammgast des Co-Existence Bagel Shop, von The Place, Hot Dog Palace, Coffee Gallery, Mike’s Place und anderen Beat-Schuppen. Von 1961 bis 1963 lebte er in New York. In Europa war sein Ruf ständig gewachsen, besonders in Frankreich, wo er als der „Schwarze Amerikanische Rimbaud“ bekannt wurde. Er heiratete Eileen und hatte einen Sohn namens Parker, benannt nach dem Jazz-Musiker Charlie „Bird“ Parker.

Second April, letztes Statement eines Außenseiters, einem Mann, der mit kaltem klinischen Blick auf eine im Alptraum gefangene Gesellschaft schaut, ist eine traumatische Sequenz des Surrealen, die Kindheitserinnerungen wachruft, pubertäre Träumereien, Verurteilungen einer Gesellschaft, die in der Gefahr schwebt, im Inneren leer zu werden. Kaufman betont die Kraft der Lyrik und des Jazz, um zu verändern, um aus der Tiefe des Herzens nach draußen zu den anderen zu strahlen.
Kaufmans Protest, eingehüllt in Jazz-Bilder und dem Ruf nach dem Absurden, schließt ein, menschliche Schwächen anzuerkennen. Jeder Teil von Second April ist eine „Session“ wie beim Jazz: „Session quarter zero… is tubercular leaves, chipped nose saints, alabaster sphinx cats… burning warehouses, nonchalant cops, popbopping black leather angels, feathered fathers…“ Jedesmal, wenn ich ihn das Gedicht lesen hörte, stellte ich mir vor, in einem riesigen Jazz-Club zu sein und von einem Raum in den nächsten geführt zu werden. Ich folgte dabei seiner Traurigkeit, seinem Alleinsein, seiner Entfremdung, seiner Stimmung und beugte mich der göttlichen Offenbarung seiner Sprachkünste. „We are attacking our hair, it waves to neighbours in skies, kinky relatives,“ und „we cook old chaplinesque shoestrings, they watch, we have never, have we, never ever, never.“
Second April beeindruckte Ferlinghetti, der es 1959 auf einem City-Lights-Plakat veröffentlichte. Er nannte es „eine autobiographische Reise, die aus dem blinden Zusammentreffen von Ereignissen wie Kreuzigung, Tod und Auferstehung von Jesus Christus, der Atombombe und der Geburt des Autors selbst entspringt.“ Das Gedicht schlug ein wie eine Bombe, als es das erste Mal in North Beach gelesen wurde und es entwickelte sich schnell zu einer wichtigen Waffe im Beat-Arsenal:

O man in inner basement core of me, maroon obliteration smelling futures
of green anticipated comings, pasts denied, now time to thwart time,
time to frieze illusionary motion on far imagined walls,
stopped bleeding
moondial clocks…

Er bereitete die Bühne für eine Welt, in der die normale Zeitrechnung aussetzen muß, so daß sein inneres Selbst nach außen springen und das Bewußtsein neu formen kann. Wenn Ginsberg in Howl („I saw the best minds of my generation destroyed by madness…“) vom „Ich“ nach außen schaut und sich anschickt, sich über Amerika zu erstrecken und zu verdammen, was die „Vordenker“ seiner Generation durchdrehen ließ, nimmt Kaufman uns mit tief in sein Inneres und kommt dann langsam zurück ans „Licht“, indem er von Zeit spricht und uns erzählt, wir sollten uns von der Sklaverei der Uhren befreien. Er lenkte die Leute nach innen und dann vorwärts: „on to Second-April, ash-smeared crowns, perfect, conically balanced, pyramid-peaked heads, shuddering…“.

Ich war an der Reihe, Kaufmans Asche in die Bucht von San Francisco zu streuen, von einem kleinen Boot aus, in dem außer mir noch die Schriftsteller Howard Hart, Jack Hirschman, Lawrence Ferlinghetti, Jack Micheline, Bobs Sohn Parker und Bobs Bruder George aus Berkeley saßen. Immer wenn ich ihn vermisse, suche ich Trost in seiner Lyrik. Seine Liebe zu dem Dichter Federico García Lorca war offensichtlich für alle, die ihn kannten, und Hinweise auf den spanischen Modernisten sind in seinem gesamten Werk reichlich vorhanden. In einem Gedicht mit dem Titel ,Lorca‘ schreibt Kaufman:

Spit olive pits at my Lorca,
Give Harlem’s king one spoon,
At four in the never noon.
Scoop out the croaker eyes
aaaaaaof rose flavored Gypsies
Singing García,
In lost Spain’s
Darkened noon.

Weil Bob Kaufman sich stark mit Lorca identifizierte und weil er für ihn der wichtigste Dichter der Sinnlichkeit und Einsamkeit war und all dem was dazwischen lag, strebte Kaufman nach der Klarheit des Ausdrucks und der Intensität, die man in Lorcas Gedichten ,Somnambular Ballad‘ und in dem Zyklus ,Poet in New York‘ findet.

Sitting here alone, in peace
With my private sadness
Bared of the acquirements
Of the mind’s eye
Vision reversed, upended,
Seeing only the holdings
Inside the walls of me…

Für viele war Kaufman der letzte Rebell, der Mann, der außerhalb der Gesellschaft lebte. Wie sozialkritisch seine Gedichte auch immer sein mögen, sie sind dennoch die Werke eines Mannes, dessen sehnlichster Wunsch es war, ein Teil der Gesellschaft zu sein. Einige seiner letzten Gedichte beschäftigen sich sehr stark mit „dem, was dort draußen“ in Amerika geschieht. Er verbrachte sein ganzes Leben in Armut, fühlte sich als Stimme des Volkes, als ein neuer Whitman, der, trotz „privater Traurigkeit“, eine umfassende Vision des Landes entwickelte:

THE AMERICAN SUN HAS RISEN,
THE OTHER SUNS HAVE LEFT
THE SKY, THE POEM HAS ENTERED
THE REALM OF BLOOD. BLOOD IS
NOW FLOWING IN ALL SKIES AND
ALL THE STARS CALL FOR MORE
BLOOD…

Kaufmans innere Vision geht auf seine frühesten Gedichte zurück:

I wish that whoever it is inside of me,
would stop all that moving around,
& go to sleep, another sleepless year
like the last one will drive me sane…

„To be driven sane…“, für Kaufman mag das bedeuten, zu verlieren, was er als grenzenloses Glück der Poesie ansah. Nicht umsonst lautete seine Unterschrift „Bob Kaufman, Poet“. Mit diesem Glück – der Berufung zum Dichter – kam jedoch auch die Beschäftigung mit den Themen Tod, Alleinsein, Einsamkeit. Solitudes Crowded with Loneliness – weit davon entfernt, ein trauriges Buch zu sein – hat eine Ausgelassenheit, die sich durch den ganzen Text zieht. Sie ist nicht immer offenkundig, aber sie ist dort inmitten der Entfremdung, die er so deutlich sah:

What of the answers
I must find questions for?
All these strange streets
I must find cities for,
Thank God for beatniks.

Er konnte seinen Leser in tiefste Traurigkeit stürzen, in das intensive Gefühl, ein Außenseiter zu sein, abgeschnitten von anderen oder von sich selbst, dennoch kehrt der Leser immer wieder mit wachem Geist zurück.
Mit klarer Sprache beschwor er surreale Stimmungen herauf, indem er Einzeiler aus dem Ärmel schüttelte, die, angehäuft in einem Gedicht, visionär wirkten: „The radio is teaching my goldfish Jujitsu… / My old lady has taken up skin diving & sleeps underwater / I am hanging out with a drunken linguist who can speak butterfly / And represents the caterpillar industry in Washington D.C.“
Als Bob und ich uns 1975 erstmals begegneten, hatte er den größten Teil seiner Werke schon geschrieben und war zu einer Legende geworden. Die Leute sagten zum Beispiel: „Bobby sagte kein Wort während des ganzen Vietnamkrieges“ oder „Bobby hörte nach der Ermordung von Präsident Kennedy auf zu reden“. In seinem Vorwort zu The Ancient Rain, schrieb Raymond Foye: „Kaufman legte ein buddhistisches Gelübde über ein zehn Jahre dauerndes Schweigen ab; Auslöser dafür war die Ermordung von Präsident Kennedy.“ Später hörte ich, wie seine alten Freunde Dinge über ihn sagten wie: „Er redete die ganze Zeit, Mann“, oder „Hey, Bobby hat ab und zu was gesagt.“ Manchmal las ich seine Gedichte und fühlte mich schuldig, so, als wäre ich verantwortlich für die tiefgründige Vision, die so oft von Kummer durchdrungen war: „THERE ARE TOO MANY UNFUNNY THINGS HAPPENING TO THE / COMEDIANS,“ schrieb er in ,The Travelling Circus‘, ein typisches Kaufman-Wortspiel aus The Ancient Rain. Im selben Gedicht schreibt er über „publishing two volumes of my suicide notes.“ Gequält, ohne Furcht vor irgendetwas, wenn er das Banner des Gedichts hochhält:

THE POET NAILED ON
THE HARD BONE OF THE WORLD,
HIS SOUL DEDICATED TO SILENCE
IS A FISH WITH FROG EYES,
THE BLOOD OF THE POETS FLOWS
OUT WITH HIS POEMS, BACK
TO THE PYRAMID OF BONES
FROM WHICH HE IS THRUST
HIS DEATH IS A SAVING GRACE

CREATION IS PERFECT…

Tod und Schöpfung werden dramatisch gegenübergestellt und sind der Mittelpunkt einer wirbelnden Vision. Das Gedicht wird zum Todesurteil, das ihn isoliert und panische Angst vor letzten Wahrheiten erzeugt; und doch bringt es auch Erleichterung, es ist zumindest eine Möglichkeit, die Wut darüber auszudrücken, daß man die Leere der Existenz nicht füllen kann. Jeder Vers zählt. Jedes Gedicht ist eine endgültige Stellungnahme, nicht Teil eines Prozesses sondern das Aneinanderfügen von Erkenntnissen. Etwas, das beständig sein soll: „The blood of the poet flows out with his poems.“ Bob Kaufman, Poet.
Ich denke zurück: Kaufman sitzt mir in meiner Küche gegenüber. In der Hand halte ich einen schwarzen Hefter, voll mit beschmutzten Seiten, auf die ich Gedichte getippt habe. Seine Augen ruhen auf mir und dringen in meine private Traurigkeit ein, während ich laut lese. Ich ertappe mich dabei, wie ich langsamer werde, wenn ich mich auf sicherem Boden befinde und wie ich schneller lese, wenn ich mich unsicher fühle… in der Hoffnung, daß er die holprigen Stellen übergehen wird. Ich kann ihn nicht täuschen. Er hört jedes Wort, die ganze Zeile fällt auseinander. Dies ist der Mann, den ich für einen unscheinbaren Irren hielt, als wir noch in der Harwood Alley zusammen wohnten.
Ich versuchte mich zusammenzunehmen – und dachte an Kaufmans Gedicht ,Hollywood‘ oder an das lange wilde Gedicht, mit dem Golden Sardine beginnt. Es beschreibt die Hinrichtung von Caryl Chessman durch den Staat Kalifornien. Sie findet auf dem Rücken einer visionären Bisonherde statt, Bilder von Frauen aus dem Eltern-Ausschuß und Männer aus dem Kiwanis-Klub, die versuchen, den Baum zu fällen, aus dem das Gedicht wächst… Ich werde in Bobbys Dunkelheit hineingezogen… Ich bin allein… Ich kann mich nicht äußern und doch beginnen sich Worte zu formen. Bob Kaufman, besessen von seinem „inner basement core“, erklärte:

I refuse to have any more retired burglars
picking the locks on my skull, crawling in
through my open windows, i’ll stay out forever,
or at least until spring, when all the wintered
minds turn green again…

Das ist wohl die verspielteste Maske, die ich je einen Dichter habe tragen sehen. Kaufman überwindet sich selbst, steht über seiner eigenen Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit, wird aber in sich zurückkehren, wenn der menschliche Verstand (und das Herz) „turn green again“, wenn die Menschen warmherzig sind, wenn Liebe regiert.
In dem Winter, als wir in der Harwood Alley zusammenwohnten, saßen wir meist in der Küche – wahrscheinlich dachten wir beide an den Frühling und an irgendetwas Grünes – während wir vor Kälte zitterten. „Bob, was denkst du?“ fragte ich oft. Gewöhnlich bekam ich dafür einen kalten Blick oder er starrte einfach ins Leere, manchmal sagte er auch: „Nichts … nichts.“ Der todsichere Weg, ihm eine Antwort zu entlocken, war es, Hart Crane, Federico García Lorca, T.S. Eliot oder Wallace Stevens zu lesen. Er fühlte sich Cranes funkelndem Lebenskometen nahe, wenn er Teile aus The Bridge auswendig zitierte oder Fragmente aus White Buildings. Ab und an zitierte Bob in den North Beach Cafés Stevens’ ,Music then is feeling, not sound‘ oder gab eine phantastische Version von Lorcas ,The King of Harlem‘ zum Besten.
Eines Abends, als er am Küchentisch saß, las ich Kaufman die ersten paar Seiten von Whitmans ,Song of Myself‘ vor. Während ich las, trommelte er mit den Fingern seiner rechten Hand auf den Tisch und folgte dem großen Whitman-Klang, den ich mit meiner Stimme nachzuahmen versuchte. Als ich aufhörte, um Luft zu holen, schrie er: „Mehr. Mehr Whitman.“

Bob schrieb einmal, daß der erste Mensch unfähig war, die erste Wahrheit zu überleben und deshalb den Selbstmord erfand. In seinem gesamten Werk schleudert er uns die sprichwörtliche nackte Wahrheit ins Gesicht, heiß durch die Musik und kühl durch den klaren Verstand. Er konnte sich zurückziehen, nicht nur in sich selbst sondern auch in die Erinnerung an seine Jugendtage als Seemann oder in Kinderträume. In ,Night Sung Sailor’s Prayer‘ segelt Kaufman davon:

Voyager now, on a ship of night
Off to a million midnights, black, black
Into forever tomorrows, black
Voyager off to the time worlds,
Of life times ending, bending, night.

Die Zeilen bringen mich zu der Stelle: „… Sappho, rolling drunks in coffee galleries, cock robin is / posthumously guilty, chicken little was right all along, Vachel’s basic savages drive Buicks now, God is a parking meter…“. In diesen Zeilen fangt er so viel ein… er beschwört Sappho und Vachel Lindsay herbei. Die Vorstellung von Lindsays Amerikanern, jenen Leuten, denen Lindsay während der rauhen 20er Jahre seine Gedichte „vorsang“, Leuten, die in großen Buicks die Highways entlangfuhren, ihre geistigen Werte durch das Bild von Parkuhren, Zeit und Geld gezeichnet.
Ich lese noch einmal Bobs Gedicht über Caryl Chessman, den langen, donnernden Anfang von Golden Sardine. Man könnte das Gedicht leicht an ,Leaves of Grass‘ anfügen.

CARYL CHESSMAN INTERVIEWS THE P.T.A. IN HIS SWANK GAS CHAMBER BEFORE LEAVING ON HIS ANNUAL INSPECTION OF CAPITAL, TOUR OF NORTHERN CALIFORNIA DEATH UNIVERSITIES, HAPPY.

Chessman, ein verurteilter Kidnapper, wurde in der ganzen Welt zum Symbol für Leute, die gegen die Todesstrafe waren. Kaufman schloß sich dem Protest an und brachte seine ironisches Einfühlungsvermögen zum Einsatz:

CARYL CHESSMAN KNOWS, THE GOVERNOR OF CALIFORNIA KNOWS, GOOD JOHNNY THE POPE KNOWS, SALVATORE AGRON KNOWS & ALL THE LEAKY EYED POETS KNOW, IN THEIR PORES. NO ONE IS GUILTY OF ANYTHING AT ANY TIME ANYWHERE IN ANYPLACE…

Die bewegendsten und denkwürdigsten Verse des Gedichts sind die, in denen Kaufmans Protest abhebt, über der amerikanischen Landschaft schwebt, die Ironie noch intakt, eine große, alles umfassende Vision von Amerika an seinem historischen Mittelpunkt (der durch Kaufmans Wortspiel zu einem hysterischen Mittelpunkt wird). Der Dichter in San Francisco, ein Kind New Orleans’, zieht über den Kontinent, springt zurück zu Pein und Aufruhr einer Nation, die heftige Geburtswehen durchmacht. Am Ende dieses Abschnitts erwähnt Kaufman seinen Sohn Parker, den er ruft, um Chessmans Bedeutung zu bezeugen – wenn der Staat ein Leben nimmt, dann ist das Mord. Hier findet sich eine Vorstellung, die ebensogut von Whitman stammen könnte:

… CARYL CHESSMAN WAS AN AMERICAN BUFFALO, THUNDERING ACROSS CALIFORNIA’S LYING PRAIRIES, RACKED WITH THE POISON THE ARROWS OF AUTHORITY, GUARDING THE BRILLIANT… VISIONS OF MILLIONS OF GENOCIDED RED CRAZYHORSE PEOPLE, DEAD IN THE MAKESHIFT GAS CHAMBERS OF SUPPRESSED HISTORY…

„Lorca… Federico García Lorca!“ brüllte Kaufman aus meinem Wohnzimmer, wo er auf dem Fußboden geschlafen hatte. Ich ging hinein und fand ihn auf einem Stuhl sitzend, mit einer kleinen Lampe neben sich, kettenrauchend und ab und zu einen Schluck Cola trinkend.
„Was ist mit Lorca?“ fragte ich.
„In der Nacht, in der Lorca kommt, werden die Neger den Süden verlassen… wenn Lorca kommt, wird Harwood Alley in New Orleans sein… wir werden auf den Wäscheleinen leben…“
Er zitierte Teile aus einem seiner neuesten Gedichte – ein Gedicht, das in The Ancient Rain enthalten sein würde. Es fängt an:

THE NIGHT THAT LORCA COMES
SHALL BE A STRANGE NIGHT IN THE
SOUTH, IT SHALL BE THE TIME WHEN NEGROES LEAVE THE SOUTH FOREVER…

North Beach ist mein Zuhause“, sagte Kauftnan einmal zu mir. „Wenn ich nachts im Bett liege, und Billie Holliday draußen vor meinem Fenster den Blues und Paul Robeson in meinem Kopf die sowjetische Nationalhymne singt, und ich nicht schlafen kann, dann gehe ich nach draußen und wandere durch die Straßen von North Beach. Und ich weiß, daß ich zuhause bin.“ Er beschrieb sich einmal selbst als „der Dichter aus dem Bagel Shop“, wenn er mit anderen Stammgästen in diesem schon lange nicht mehr existierenden Kaffeehaus an der Grant Avenue saß, Kaffee trank und ein Päckchen Zigaretten nach dem anderen rauchte, wobei er sich neue Gedichte ausdachte. Als ich das erste Mal nach North Beach kam, war aus dem Cafe ein Bekleidungsgeschäft geworden. Heute ist dort North Beach Video.
Nachdem der Bagel Shop geschlossen hatte (Bob schrieb ein Gedicht über dieses Ereignis in North Beach), traf man ihn woanders: in der Coffee Gallery, im 12 Adler Ploce und in Vesuvio’s. Bei Vesuvio’s beugte er sich einmal zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: „T.S. Eliot ist mein Vater.“ Zu jener Zeit fand ich das lustig. Ich dachte daran, wie anders Kaufman sich kleidete und lebte als dieser Mann, der in St. Louis geboren und aus Furcht vor seiner barbarischen Heimat nach England geflohen war. Eliot hatte ein Ohr für diese zwingenden Geheimnisse, die ein Gedicht wirklich ausmachen. Laut Raymond Foye brach Kaufman sein langjähriges Schweigen, indem er die Rede des Erzbischofs Thomas Becket aus Eliots ,Murder in the Cathedral‘ bei einer Zusammenkunft in North Beach rezitierte. Kaufman und ich fuhren einmal raus zum Strand bei Land’s End. Während des ganzen Weges dorthin sagte er nichts, er zog es vor, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. Ich parkte auf einer hohen Klippe, so daß wir die Golden Gate Bridge und die Marin Headlands sehen und die Seehunde unten auf dem Felsen hören konnten. Ich schlug vor, hinunter zu den Felsen zu gehen. Kaufman schwieg weiter, ging aber hinter mir her.
„Alles Lebendige, das dem Tod entgangen ist, lebt mit gesenktem Kopf weiter“, sagte er.
„Ist das von dir?“ fragte ich.
„Lorca“, sagte er. „Ich schrieb es für García Lorca, vor langer Zeit, als er ein Zigeuner in Sevilla war… als ich dort an den Strand gespült wurde. Unendlicher Mond. Traumloses Spanien.“
Jetzt zitierte er sich selbst. Ich begann aufs Geratewohl Zeilen aus Lorcas Gedicht für Whitman zu zitieren. „Y tú bello, Walt Whitman, con su barba…“
Ich hatte den Rest des Gedichtes vergessen und wollte, daß Kaufman zu Ende zitierte. Aber er war nicht neben mir. Ich rannte den Weg hinunter und konnte ihn nicht finden. Panik erfaßte mich. Herrjeh, dachte ich, manchmal stürzen Leute diese Klippen herunter und ich schaute den schmalen Weg entlang auf die zerklüfteten Felsen und die bedrohliche Brandung hinunter.
„Bobby… wo bist du?“
Die Stille lastete schwer auf mir, als zwei Männer vorbeikamen, denen gehorsam ein Pudel folgte. Ich ging einen Pfad entlang, der in ein dichtes Gebüsch abbog und dann zu einer sandigen Uferböschung hin abfiel. In dem Gebüsch war es kühl. Als ich die sandige Lichtung erreichte, hätte ich genauso gut in der Sahara sein können.
„Mach nicht so einen Unsinn, Bob…“
Dann sah ich ihn weit unten auf einem Felsblock sitzen. Ich rannte hinunter zu ihm.
„Wie bist du so schnell hierher gekommen?“
„Ich bin aus New Orleans“, sagte er, „und als ich von dort fortsegelte, war es für immer…“
Er zeigte auf einen großen Tanker, dessen Bug auf die Bucht gerichtet war. Wir beobachteten zusammen, wie er unter die Brücke glitt.
„Sichtbare Glückseligkeit“, sagte er.
Wir waren bald wieder im Auto und rasten Richtung North Beach. Ich sah ihn von der Seite an, als er eine neue Zigarette anzündete. In der Hoffnung, er sei nicht so wachsam wie sonst und ich könnte einige biographische Informationen über ihn bekommen, fragte ich: „Wie war es, als du zur See gefahren bist? Hast du viele Bücher gelesen? Wann bist du das erste Mal zur See gefahren?“
„Neger… Neger… Neger“, brüllte er. „Die Welt ist voll von Negern… und der König von Harlem hält einen Löffel über Whitmans Bart, der voll von Schmetterlingen ist.“
Whitman und Bob Kaufman trafen sich mal wieder.

1983 mietete Kaufman zusammen mit Lynn Wildey, einer Kollegin und Freundin, ein kleines Haus in Guerneville am Russian River, neunzig Meilen nördlich von San Francisco. Ich fuhr mit einem jüngeren Kollegen hin, um sie zu besuchen und um eine Lesung in einem nahegelegenen Cafe abzuhalten.
„Neeli Cherkovski! Eric Walker! Wie geht es euch? Habt ihr die Grant Avenue im Auto?“ sagte Kaufman, als er uns an der Haustür begrüßte.
Als erstes wollte er einen trinken gehen. Lynn hatte aber schon etwas zu Essen gemacht, also aßen wir, und besuchten dann einen Nachbarn. Kaufman schwieg wie immer. Später fuhren wir zu einer Bar direkt am Fluß, wo Lynn und ich ihn zu überreden versuchten, über seine frühe Jugend zu sprechen. Wir hofften, genug biographische Informationen zu bekommen, so daß ich mit einem schon lange geplanten Projekt beginnen konnte.
„Hör mal, Bobby, erzähl mir nur ein paar Dinge, zum Beispiel dein Vater, was hat er eigentlich gemacht?“
„Wir waren jüdisch und katholisch. Meine Mutter nahm mich mit in die Kirche. Manchmal gingen wir in die Synagoge. Ich spielte in Bayou Saint John. Jetzt hol’ mir aber ein Bier, Neeli.“ Kaufman umklammerte mein Handgelenk. „Nur ein Bier, und dann erzähl’ ich dir alles.“
Ich holte das Bier, bemerkte aber, daß er an dem Interview in keinster Weise interessiert war. Also sprachen wir über den Fluß, das Wetter und ob es ihm gefiel, so weit weg von North Beach zu leben.
Dann stellte ich eine Frage über das Schreiben. „Bob, warum magst du Whitman so sehr?“
„Noch ein Bier“, sagte er mit einem dämonischen Funkeln in den Augen.
Ich bestellte noch eine Runde Bier. „Whitman überfällt Amerika“, sagte er.
Das war sein abschließender Kommentar zu Whitman. Ich wandte eine neue Taktik an. „Was würdest du zu jungen Schriftstellern sagen?“
Seine Augen wurden lebendig. Er stand abrupt von seinem wackligen Stuhl auf, riß beinahe unseren wackligen Tisch um, und sagte: „Schreiben! Ich würde einem jungen Schriftsteller sagen, er soll schreiben! Alles aufschreiben! Nichts zurückhalten!“ Nachdem er das gesagt hatte, setzte er sich wieder hin, starrte in sein restliches Bier, trank es und verlangte ein weiteres. Ich fand seine Zurückhaltung lästig, obwohl sie nichts Neues war. Es mußte einen anderen Weg geben, ihn zum Reden zu bringen. Während ich noch ein Bier bestellte, forderte Lynn ihn auf, etwas offener zu werden. Ich sah sein Gesicht in den Zweigen draußen vor dem Fenster am Ende der höhlenartigen Bar, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß das Interview für ihn endgültig beendet war.
In seinen frühen Jahren hatte Kaufman versucht, die Gesellschaft zu verändern. Er stürzte sich als Gewerkschaftsführer in die politische Arena. Die ihn damals kannten, berichten lebhaft von seiner Leidenschaft, wenn er vor einer Menschenmenge redete oder irgendeine Unterdrückung beschrieb, die er abschaffen wollte.
Später zog er sich in seine Lyrik zurück, wo er alles fand, um gegen Unterdrückung zu kämpfen. Die Lyrik selbst wurde zu einem Weg, das Leben zu definieren und mit all den sozialen und persönlichen Angelegenheiten, die ihn beschäftigten, fertigzuwerden. Lorca war der Ansicht, daß große Lyrik und jede große Kunst von ,duende‘ besessen sei, einer geheimnisvollen Substanz, die von innen strahlt und die wenig zu tun hat mit einer vorgefaßten Meinung von Kunst als Handwerk, sondern mehr mit einem Körper gewordenen Geist, der begreift, was es bedeutet, Mensch zu sein, zu leben und zu sterben. Es ist ein Geist, den man suchen muß, der aber niemals begrenzt oder vollständig analysiert werden kann. Kaufman sehnte sich danach, diesen Geist von ,duende‘ zu erfassen, sich den Dämonen, die ein Gedicht bewohnen, zu stellen.
Bob redete in seinen letzten Jahren häufig vom Tod. Eines Abends kam er spät ins Spec’s, eine Bar gegenüber von City Lights und redete auf die Leute ein. „Ich lebe hier nicht mehr. Ich lebe jetzt auf dem Olymp. Ich benutze diesen Körper nur noch für schmutzige Buchgeschäfte.“ Später, als der Barkeeper die letzte Runde ansagte, erklärte Kaufman: „Ich habe meinen eigenen Tod gesehen. Eines Tages werde ich die Grant Avenue entlanggehen. Dann wird es in einer Telefonzelle klingeln. Ich werde den Hörer abnehmen. Am anderen Ende wird Jean Cocteau sein. Und er wird sagen: ,Das Blut des Dichters‘.“
Als Lynn Wildey mich 1986 eines Sonntagmorgens anrief, um mir zu sagen: „Der Dichter Bob Kaufman ist tot“, holte ich mir sein Gedicht ,Awe‘:

At confident moments, thinking on Death
I tell my soul I am ready and wait
While my mind knows I quake and tremble
At the beautiful Mystery of it.

Nachdem meine Kollegen und ich alle von dem kleinen Boot aus, ein wenig von Bobs Asche in die Bucht von San Francisco gestreut hatten, drehte sich Ferlinghetti zu mir um und sagte: „Ich denke, wenn ich mich mal zurückziehe, werde ich auf einem kleinen Boot draußen bei Mission Rock leben.“ Ich hätte fast geantwortet, ,Aber dann wird die Küste voll mit Eigentumswohnungen und Bürohochhäusern sein‘… Statt dessen lächelte ich. Ich blätterte The Ancient Rain durch und las es für mich allein.
Als ich mich wieder Ferlinghetti zuwandte, sagte ich: „Wovon ziehen sich Dichter eigentlich zurück?“

Neeli Cherkovski aus Heartbeat, Maroverlag, 1991

JAZZ, Gefängnis und Gott

– Bob Kaufman – eine impressionistische Biografie. –

Einführung
Als Bob Kaufman am 12. Januar 1986 einundsechzigjährig in San Francisco starb, im Schlaf übrigens, hinterließ er drei Gedichtbände und eine Handvoll Flugschriften.
Das ist alles was gedruckt wurde, alles, was geblieben und zwischen Buchdeckel geklemmt worden ist, doch wenn all die Gedichte, die er in Kneipen, an Straßenecken und in alltäglichen Gesprächen gemacht und vorgetragen hat, in den Druck gegangen wären, hätten wir einen Band, der es, was den Umfang betrifft, mit dem Oxford English Dictionary aufnehmen könnte.
Das war sein Stil: etwas empfinden und es mitteilen – auf der Stelle, egal, wann und wo.
In welcher Phase seines Lebens man ihm auch begegnet sein mag, wie immer sich sein Ruhm oder sein Elend zum Zeitpunkt der Begegnung manifestiert haben mögen, ihm zu begegnen war in jedem Fall ein großes Glück und eine lehrreiche Erfahrung.
Er besaß natürlichen Charme und eine leidenschaftliche Intensität, die mehr und mehr sein ganzes Wesen beherrschte.
Er war nie ein Aufsteiger. Erfolg reizte ihn nicht. Er lehrte nie in Literaturkursen, schrieb keine Rezensionen, gab keine Bücher heraus, produzierte sich nicht bei den Zusammenkünften der Beat-Generation.
Die Quellen seiner Dichtung sind fünfzig Jahre sensiblen Teilhabens an den Kräften der Zeit.
Er durchschritt die amerikanische Kultur, das Herz an ihren Lebensströmen, lauschte den heimlichen Stimmen, die im Dunkel flüstern und schreien und brüllen, wenn der Tag anbricht, und für jedes Wort, das er schrieb und sprach, bezahlte er teuer mit Leib und Seele und schließlich mit dem Leben.
Nehmt seine Bücher zur Hand und lest seine Gedichte, so werdet ihr fühlen, wie teuer er bezahlt hat.
Geboren in New Orleans am 18. April 1925 als Kind einer schwarzen Mutter und eines jüdischen Vaters, war der Jazz, der seine Wurzeln in dieser Stadt hat, das erste, was ihn prägte.
Als junger Bursche ging er zur Handelsmarine, fuhr neunmal rund um die Welt und nahm die ethnischen Sehnsüchte der Menschen in zahllosen Anlaufhäfen in sich auf.
In seinen Jahren auf See befaßte er sich mit den Werken F. Garcia Lorcas, Hart Cranes, T.S. Eliots, Walt Whitmans, las Lenin und Karl Marx.
1948 arbeitete er als Gewerkschaftsfunktionär für Harry Wallace und versuchte, den arbeitslosen Bauern und Bergleuten in West Virginia, Tennessee und Kentucky die Vision eines sozialistischen Amerikas nahezubringen.
Er reiste durch die Hafenstädte an der Westküste – Spokane und Seattle, San Francisco und San Diego – und klärte die Seeleute über ihre gewerkschaftlichen Rechte auf.
Ein junger schwarzer Gewerkschäftsfunktionär war im Amerika der Nachkriegszeit nicht gerade willkommen, und so erfuhr er in Gefängnissen, Versammlungssälen und Krankenhäusern aus erster Hand, wovon seine Kameraden träumten, wovor sie Angst hatten.
Anfang der fünfziger Jahre kam er nach New York, wo eine Fülle von Einflüssen auf ihn einstürmte: Bebop, Aktionsmalerei, Beat-Lyrik. Seine Freunde waren unter anderem Mercer Ellington, Charlie Parker, Miles Davis, aber auch Franz Kline, Lary Rivers, Jackson Pollock. New York war ein Nährboden für Experimente und Ketzertum; wilde Visionäre aller Kunstrichtungen bevölkerten Greenwich Village.
Bob blühte auf. Er trampte durch das Land – es war die Zeit von Kerouacs On the Road. Er lernte Denver kennen, Austin und Gallup. In San Francisco gab er die erste Nummer von Beatitude heraus, las ziellos und unterstützte all und jedes im Namen der Dichtung. Er führte ein Leben, das ganz und gar dem Dienst an seiner Kunst, an seiner Muse geweiht war.
Seine Abenteurernatur, sein anarchisches Wesen brachte ihm an beiden Küsten Verhaftungen und Prügel ein.
1936 hatte er in New York einen Zusammenstoß mit einem Polizisten; die Folge war eine Zwangseinweisung in das Bellevue Hospital, wo er mit Elektroschocks behandelt wurde.
Diese Erfahrung fügte ihm körperliche und seelischen Verletzungen zu, an denen er für den Rest seines Lebens leiden sollte. Seine Dichtung tauchte ein in jenen wilden, unbewachten Raum, wo die eigene Identität mit den Träumen kollidiert. Er kehrte nach San Francisco zurück und legte ein Schweigegelübde ab, an das er sich, wie manche sagen, zehn Jahre lang hielt.
Der größte Teil seiner veröffentlichten Arbeiten blieb in Amerika unbeachtet. In Frankreich hingegen nannte man ihn den „schwarzen Rimbaud“ und in Deutschland einen „Riesengroß“.
1981 erhielt er ein Stipendium der National Endowment of the Arts in Höhe von 12.500 Dollar, die er eiligst durchbrachte, in der Hauptsache in einer Kneipe am Broadway in San Francisco, wo er sie für Wodka und Orangenjuice anlegte.
Als man ihn fragte, wie er diese Summe so schnell aufgebraucht habe, antwortete er, es müsse wohl daran gelegen haben, daß er nur große Scheine hatte.
Er fraß das Leben in sich hinein, und davon nährte sich seine Dichtung, und als er genug hatte, starb er.
Seine Freunde vom North Beach in San Francisco richteten ihm eine Trauerfeier im New Orleans-Stil aus. Es war ein Leichenzug mit einer Dixiland-Band, der an all den Kneipen haltmachte, in denen er seine Gedichte gelesen und aus denen man ihn hinausgeworfen hatte. Bei dem Gedenkgottesdienst in der Kirche spielte ein Jazz-Trio. Ein lokaler Rundfunksender übertrug einen Nachruf und spielte Charlie Parkers „Just You Just Me“, während man seine Asche in die San Francisco-Bucht streute.
Als das Boot mit der Trauergemeinde wieder in den Hafen einlief, teilte ein vollkommen geformter, siebenfarbiger Regenbogen den sonnigen Himmel, wölbte sich majestätisch über der Szene und verschwand dann still im klaren Blau des Firmaments.
Ich bin weder Kritiker noch Biograf, sondern ein Freund, dem Bob Kaufman über viele Jahre Kraft und Inspiration spendete, und ich bin glücklich über diese Gelegenheit, mich seiner zu erinnern und diese Erinnerungen weiterzugeben, mit seinen Augen zu sehen aus meiner Perspektive.
Ich danke Eileen Kaufman, der Frau des Dichters, für ihre Unterstützung und ihren Beitrag zu Bobs Biografie.
Mein Verleger Ken Weichel danke ich für sein Verständnis, dafür, daß er mich diese Biografie auf die einzige mir mögliche Weise schreiben ließ – in Versunkenheit. Und ich danke Lady Tara d’Ambrosio, die in Höhen und Tiefen für mich da war und stets das Feuer nährte.

 

M. C. , 19. November 1986 San Francisco

In seinen Gedichten ist soviel Weisheit, daß man nach jeder Verszeile innehalten, lauschen, sie in sich aufnehmen muß, jeden Winkel seines geheimsten Innern muß man reinigen, die Nervenenden blankreiben, lauschen, Worten, die gebraucht sind als Klangfarben der Kraft, Speerspitzen aus festem, gehärtetem Stahl, die durch die Schutzgitter des Bewußtseins dringen, mit den Adern lauschen auf die Spannungen und Vibrationen der Ur-Impulse, wandern auf seinen Spuren durch das Morgengrauen der Großstadt, ehe der Verkehr beginnt, wenn das leise Wimmern der Telegrafendrähte und der Untergrundbahnen, die schläfrigen Melodien der Straßenecken zum Leben erwachen, dann sich in den Rinnstein legen und das Ohr ans Herz der Städte, das Unisono spüren und sich davon losreißen, fort, mit Zentrifugalkraft, nach außen und nach innen, hören die Kontermelodien und -rhythmen der Kultur, verschmelzen mit den Fundamenten der Welt ringsumher, dann sich losreißen, alles hinter sich lassen und improvisieren, reinen Tisch machen und die Bilder heraufdämmern lassen, das Brüllen hören und Rufe und vereinzelte reine Töne, Lachen, Weinen, spiralengleich, kaskadengleich, sich treiben lassen inmitten all dessen, da alle deutbaren Zeichen versunken sind, und wieder Kurs nehmen auf die Anfänge, Neubeginn mit den Narben und der Stärke, die der Weg dorthin einträgt, verdreht, überdreht, laut, prall, betriebsam, Wiederholungen, zu Bruch geschlagene Grammatik, gemachte Worte, Übereinandergeschichtetes, Rufe und Flüstern und das einsame, zielstrebige Zugehen auf eine beinah vollkommene, deutlich vernommene eigene Wahrheit –

Ehe er sie aufzuschreiben vermochte, lauschte er, dann sprach er sie aus, blies sie wie ein Jazz-Solo, gab sie weiter an alle, die ihm zuhörten, die da waren, manchmal an niemanden, an nichts, an Klinkerwände und Barspiegel und Sackgassen und die Gesichter und Augen derer, die dort waren, dort, wo er die wahren Bedeutungen und Gewichtungen dessen, was die Welt zu bieten hat, erkannte.
Er mußte hinhören, bevor er schreiben konnte, also lauscht mit ihm gemeinsam, lauscht dem Geräusch, das entsteht, wenn Selbstkontrolle und Ordnungssinn aus euren Köpfen entweichen, hört den hohen, schrillen Schrei, womit die Normen die Grenzen sprengen und aus Fleisch und Geist entfliehen.
Laßt euch treiben mit ihnen.
Segelt mit ihm am Fallschirm der Stimmungen, hört ihn seine Sachen vortragen, hört, wie sein Atem das Gefühl zum Werkzeug macht, das die Gräber des Lebens öffnet, in denen die Hoffnung lebendig begraben ist, hört ihm zu an den Straßenecken, auf Parties, allein, wenn alle gegangen sind, in Hausfluren, beim Tanz, beim Jazz, in der Küche bei den Serviermädchen, in Parkanlagen, an Swimmingpools, hört ihn seinen ganz eigenen Wahnsinn den Bullen von San Francisco ins Gesicht stammeln, die Geheimnisse des Geistes und die Lieder des Höhlenmenschen –

Seht, wie Funken aus seinen Fingern sprühen, wenn er seine Sprachimprovisationen spielt, lange, straffgespannte Verssaiten abgreift wie Bebop-Solos über Kultur und Identität, wie das ganze Chaos Gestalt annimmt, wie sich die Bilder fügen, ihre Ursprünge und Bestimmungen offenbaren in der dünnen Luftschwingung vor seinem Gesicht, Schweiß und in alle Richtungen gezerrte Adern, die Bedeutungen, die sich behaupten in diesem Sturm von Qual, und der Kern der Fabel, der zerspringt in winzige Klangsplitter, wie Farbkleckse aus Worten, die in die Tiefe gleiten, zu Orten jenseits der Erinnerung, ein Kreisen von Erde und Stein, Grammatik, Syntax, Verstand zerschmettert im Dienst des Gefühls, da er aus dem Hinterhalt vorprescht und den verschiedenen Sinnkomplexen und Bedeutungen nachjagt, vorüberhastend an Worten und Symbolen und Klang, um tief unten zu verweilen und die Furchen einer heißlodernden, grellblendenden Vision nachzuzeichnen, die Wegkarten der zum Satz, zur Zeile, zum Absatz verwandelten Worte, sie auseinanderreißt, wieder zerstört, auflöst, herumwirft, bis sie Gedicht werden, bis sie – Unglück und Glück in einem – ihre eigene Identität haben, wie Parker und Monk frei genug sind, sich voneinander loszureißen, aus eigener Kraft die Richtung zu wechseln, die Noten und die Räume zwischen den Melodien und Kontermelodien und -rhythmen auszuhalten bis an die Grenze der Geduld, über die Ursprünge hinaus, bis an den Rand von etwas Neuem, Gefährlichen, mit Rufen und langen Atemzügen und Lachen und Weinen und dem ekstatischen Kauderwelsch barbarischer Vornehmheit verdreht, überdreht, laut, süß, sexy – die Musik und seine Worte werden Zeugen all des Schmerzes, all des Verlangens, der Weisheit und des wilden Schreckens, die durch seine Seele rasen, verloren sich abkämpfend, trotzt er, hält sein einziges, unschuldiges, zartes Leben hoch, verletzbar, nimmt all die Gefahren, die da sind, in seinem Herzen auf, so hoch reckt er die Hände, ergibt sich, da er weiß: die Dichtung wird alles klären, bricht aus von Zuhause und beginnt seine schrecklichen Irrfahrten –

 

NEW ORLEANS 1930 CORPUS-CHRISTI-GEMEINDE 7. BEZIRK
Seine Mutter sitzt am Klavier, sie sind alle auf der Veranda, dreizehn Kinder, acht Schwestern, fünf Brüder. Einander verbunden wie ein Stamm, eine Familie. Es ist heiß an diesem Sommerabend. Zwielicht und das ferne Summen der Mücken. Eine Zitronenscheibe treibt auf der eisgekühlten Coca Cola. Angenehm scharfe Säure mischt sich mit dem Karamelgeschmack. Und das Eis. Der kalte Aufprall auf die Lippen, das elektrisierende Schaudern, wenn es zwischen den Backenzähnen zerkracht.
Seine Mutter sitzt auf einem Küchenstuhl, die Arme sind entspannt, die Finger über den Tasten gespreizt, sie spielt ein Lied, das alle kennen, auch die Nachbarn, und sie singen miteinander, oder sie spielen Ball oder Murmeln, oder sie schwatzen, oder sie träumen. Ihr Kopf ist leicht seitwärts gewandt, nach der Veranda, sie schaut den Kindern zu, sieht die Sonnenstrahlen über das Unkraut tanzen, die Lichtsprenkel auf die rostigen Dosen, die schroffe Schattenlinie auf dem Grat des Zaunes, hinter der der Horizont nur mehr als unbestimmtes, dämmriges Schimmern erkennbar ist.
Lange, elegante Finger, glänzende Knochen unter der Oberfläche der Haut, ihre elfenbeinfarbenen Fingerspitzen und die Klaviertasten – blaßrot und schwarz und weiß.
Jetzt krabbelt das Baby heran, kommt auf geradem Weg über den Fußboden gekrochen, gebohnertes Holz, grellbunter Läufer, der Fleck von verschüttetem Rotwein, krabbelt heran und hängt sich an ihr Bein, umklammert ihre Beine mit beiden Armen, umschließt sie, hält sie fest, hält sich an ihnen fest und lächelt zu ihr hinauf, mit einer ihren Hand spielend, langt sie nach unten und hebt das Baby auf Schoß, hebt das Baby hoch und setzt es sich auf den Schoß, auf die kleine Fläche vor der endlosen Reihe von Schwarz und Weiß, birgt es dort sicher mit einer Hand, neigt die Schulter leicht nach vorn, um ihm mehr Schutz zu geben, das Kind einzuschließen in eine nestartige Wölbung aus Körper und Liebe, ihm mehr Mama zu geben und mehr Musik. Ihr Kleid ist von der Schulter gerutscht, und die pralle Brust ist teilweise entblößt. Schwarze Tasten, weiße Tasten – prallgerundete blaßrote Brustwarzen.
Die Hände des Kindes langen nach oben, greifen nach ihren Brüsten, seine Finger gleiten durch die Luft, so wie die ihren über das Klavier gleiten, wollen die Tasten dort unten berühren, jeder einzelne Finger, die Handgelenke, die Arme dem eindeutigen Befehl des Nervenzentrums gehorchend, das ganze kleine Geschöpf ist Lachen und Schluchzen zugleich, dann gespanntes, ekstatisches Gemurmel, harmonischer Gesang, der mit Klavierakkorden verschmilzt, sie hebt es sanft höher hinauf, damit der Kreis sich schließt durch die Berührung, sein kleiner, gespitzter Mund schiebt sich vor, um die ihm dargereichte Brust zu erlangen, die sich arglos ausliefert im feuchten Klang von tausend Küssen.
Seine Augen sind fest geschlossen, flackern unter den Lidern, müssen all diese Bilder der Freude aufzeichnen, offene, glasige Augen, nebelverhangen an den Rändern, beinah atemlos, ein dünner Speichelfaden rinnt ihm als silbrige Spur das Kinn hinab, atemlos reißt er den Mund auf, läßt los, lehnt sich zurück, um das Gesicht der Mama zu sehen, sein Mund noch immer im Schatten der Brustwarze, der Brustwarze, die sich vorreckt, um mehr Mund zu bekommen, mit einem mächtigen Seufzer macht er sich wieder über sie her, die entspannten Beine weit gespreizt, die Finger öffnen und schließen sich, er ist geborgen in ihrem Arm, zwischen ihren langen Armen, in der sicheren Wölbung dort, zwischen den leisen Noten, in dem Lied, das sie auf der Veranda singen, das sie summen, nie wird er diesen dünnen, tiefen Klang aus Säugen und Musik vergessen und wie sein Atem tanzte über der Luft, so anmutig, wie die Sonne untergeht jeden Tag, so war es, genau so.

 

NEW YORK 1957 – 1964
Er lungert überall herum, wo man Leute von seinem Schlag für gewöhnlich antrifft.
San Remo. Rienzi. Kettle. Cedar. Der Park. Birdland. Er versuchte sich Stoff zu beschaffen. Fragte. Hörte zu. Sah hin.
Einmal führte die Spur zu einer Abrißparty in Harlem. Dort war es so laut von den Gesprächen und der Musik und dem Geräusch, das entsteht, wenn Körper in einer heißen Nacht in einem Zimmer zusammengedrängt sind, daß er aufhörte zu fragen.
Die Sonne ist flächig und weiß und dämmert im Morgengrauen herauf, als er in die U-Bahn steigt, um die lange Reise in die City anzutreten.
Dränge mich durch den eisernen Wagen näher an die Schienen die Funken sprühen im U-Bahnschacht fliegen flackernde Strahlen von Neoneiern vorbei an den schmutzigen Fenstern gerinnen im Kreisen der Elektrik zu etwas das an riesige Schmerztabletten erinnert. Mein Lachen ist laut wie die Geleise.
Bobs Spur gleicht den Sandzeichnungen in einem Zen-Garten – lauter Speichen, ruhige, rasche Kräfte, die forttreiben in dünne Luft. Jeder hatte seine Story über ihn parat, seine lebendige Anwesenheit unter seinen Freunden schuf ein permanentes Fantasieszenarium – Erinnerungen, Klagen, Gerüchte, traumhafte Verwechslung, als würden Crazy Horse und King Kong verschmelzen zu einem Mythos.

Das ist alles, Mann, das ist alles, was ich über Bob weiß, das letzte Mal sah ich ihn im Rienzi, da hat er verrückt gespielt… du weißt ja, wie er sein kann, ein echtes Arschloch… hat sich die Drinks vom Tresen geschnappt und von den Tischen, richtig gemein, und dann kam er auf die sanfte, du kennst ja seine sanfte Tour, wenn er Süßholz raspelt, Zeug redet, das keiner versteht, wo keiner außer ihm weiß, was das soll, wenn er ganz langsam spricht und simpel, aber ich weiß, er macht sich lustig über die Leute, er verarscht dich, wenn er so anfängt. Ich finde ihn gut, wenn er fies ist… ich meine, ich finde das eigentlich nicht gut, aber ich weiß, woher das bei ihm kommt. Er hat Scheiße gebaut im Rienzi, hat über die Erde erzählt und was unten ist, am Grund… am Grund der Erde dann hat er seine Gedichte abgelassen… seine beschissenen Gedichte, hat den ganzen Abend nicht mehr aufgehört. Stundenlang geblubbert hat er, alle vollgelappt, die es hören wollten, und dann stand er allein da mit seinen Gedichten, und keiner hat ihm zugehört, die Leute haben versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, verstehst du, die wollten seinen Rap nicht, haben sich gefragt, was los ist mit dem Typ.
Da kommt er hinter ein paar Leuten in die Bar, die sind da rein, weil sie sich’n netten Abend machen wollen, nicht, um sich verarschen zu lassen, das war nicht zu übersehen, ich meine, die Jungs hatten weiße Schuhe an, du weißt schon, College – Stil, weiße Playboys… ich meine, du Weißer, verstehst du, was ich meine?… Verstehst du, wie Bob da ausgeflippt ist?… Der hat total durchgedreht, hat nur noch auf die weißen Schuhe von den Jungs gestarrt, und die Jungs wollten sich’n netten Abend machen, verstehst du, die wollten nicht, daß einer sie auf die Schippe nimmt vor ihren Bienen, und da geht Bob rüber an ihren Tisch und setzt sich hin und fängt an, die Miezen anzumachen, echt verschärft, du, kippt ihre Drinks runter und redet vom Grund der Erde und läßt seine beschissenen Gedichte ab, und dann springt er auf einen Stuhl und redet davon, daß alle in den Erdmittelpunkt stürzen müssen, in irgendein tiefes, schwarzes Loch und so Scheiß von wegen das Loch würde alles runtersaugen, und ob wir das nicht fühlen?… Du weißt ja, wie er sein kann, Mann, der hat abgehoben.
Danach bin ich gegangen. Ich hab gehört, sie konnten ihn nicht loswerden zur Sperrstunde. Er hat eine Szene gemacht und wollte nicht raus. Die im Rienzi mögen ihn, aber muß auf dem Teppich bleiben, sonst kriegt er Hausverbot wie in den anderen Kneipen. Ich weiß nicht, wo er ist, Mann. Vielleicht vögelt er die Mieze von der Küste. Er war mit ihr im Park.
Dann hat er angefangen, dem einen Typen auf seinen weißen Schuhen rumzutrampeln, bis sie total zerlatscht waren, verstehst du. Der Typ hat gelacht und wollte cool bleiben, aber man sah, daß er die Nase voll hatte und drauf und dran war, Bob in den Arsch zu treten… seine Biene fand das Ganze echt cool, sie fand, Bob wäre der absolute… ein echter Village-Typ eben, ach, wie originell, so was mal im wirklichen Leben zu sehen… und Gedichte macht er auch noch, und’n Schwarzer ist er… Scheiße, die war total aus dem Häuschen.
Ich hatte noch was zu erledigen. Keine Ahnung, wo er jetzt ist. Scheiße, Mann… hast du was zu rauchen…?
Er suchte weiter.
Wo Bob war, da entstand aus der Kraft seiner Dichtung der Gral der Erlösung.
Dorthin gelangen, ehe es vorbei ist.
Eh all das Leben ihn verschlingt, ihn austrocknet, zuviel Blut fordert, um die Wunden reinzuwaschen.
Dorthin gelangen.
Sich verdrahten mit jener Kraft, die Maschinen und Menschen eins werden läßt und das Ohr verkabeln mit seinem und mit seinen Augen und mit seinem Herzen.
Seinen Schmerz spüren, noch ehe er ein Gedicht daraus gemacht hat, die Hand über seine legen auf den Schenkeln seiner Frauen, oder wenn sie einen Schuß braut, einen Joint dreht, oder beim Rasieren, die Hände ausbreiten über seine Vergangenheit, das jüdisch- schwarze New Orleans, wo seine Wurzeln liegen, und die Dunkelheit dort mußt du mit ihm teilen auf Dachfirsten und in Gassen, in den einsamen, unsentimentalen letzten Rufen aus den Saloons und Suppenküchen und im letzten Leuchten der Neonlampen und der Wachtürme und all der Lichter im Inneren, die herunterbrennen, um schließlich ganz zu verlöschen.
Suchend von einem Nachtlokal zum anderen schleichen. Buswartesäle, Absteigen, wo sie einem für einen Vierteldollar ein Laken auf den Fußboden legen, Pennergassen, Suppenküchen und der Singsang des Vaterunser vor wässriger Suppe und einer dünnen Scheibe Wunderbrot, das seine wundersame Kraft verloren hat.
Die lange, ernüchternde Suche, die Nase wie er an der Grasnarbe der Sprache, der Sprache, die er in Fleisch und Knorpel des Eintopfs Amerika flüsterte und schrie, Ohren und Augen heftend an Nuance und Rhythmus und geheimen Sinn, um sie ganz in sich aufzunehmen, und irgendwie weiterleben, um alles wieder auszuspucken, es mit einem Fußtritt zurückzuschleudern, es zurücksickern zu lassen in Sprache und Geste und auf die beschriebene Seite.
Ausdrücken den Traum der asphaltierten Autobahnen.
Dada und Magie und Barbaren und Trauer und Jazz und Büffel und Kain und Abel.
Es aufschreiben.
Die Art und Weise, wie die Landschaft unter den Füßen verschwindet, die Haufen Menschheit, die sich an den Straßenrändern türmen und sich kaum rühren, wenn er das Ohr an ihre Münder legt, die Weisheit ihrer letzten Atemzüge zu erhaschen.
Der Horizont und was dahinter liegt.
Aufzeichnen den Überschuß dieser ganzen meschuggenen, unnatürlichen Welt.

Das ist alles, was ich weiß, Mann… Ich komme in den Park, weil ich ihn hier treffen soll, ebenso wie du… er rief an und machte den Vorschlag, sagte, ich soll in den Park kommen… Er schuldet mir einen Fünfer und läßt sich nicht blicken, Scheiße, er hat Schulden in der ganzen Stadt. Ich habe ihn in den Kneipen gesucht, Cafés, ich kenne seine Stammlokale, aber er war nicht da, keiner hat ihn mehr gesehen, seit der Sache mit den Bullen neulich in der McDougal, er war verrückt den Abend, ich hoffe, er kriegt irgendwo die Kurve, weil die Leute langsam sauer werden. Er hat ein paar Notizbücher bei Bart gelassen… hat überall Kleider und Kram gebunkert und angerufen und gesagt, er kommt vorbei, und sich dann nicht blicken lassen. Ich hab dir ja erzählt, daß er bei dieser Mieze von der Küste war, aber da geht keiner ans Telefon. Wahrscheinlich ist er dort, und sie haben den Hörer neben der Gabel liegen, und er redet wieder Scheiße von wegen wer braucht schon ein Telefon? Ich hoffe, er kriegt die Kurve, er hat durchgedreht letzte Woche

Sieh hoch!
Das ist ihre Tür. Einladendes Blinken der Türglocke.
Wenn du, Monk gehört hast, Monks große Füße unter dem Klavier tanzen gesehen hast, schau, wie gespreizte Finger hämmern und klopfen und Folgen neuer Akkorde, neuer Melodien, Variationen… die das Gehör attackieren, bis er eins geworden ist mit jenem Etwas, bis es ganz durch ihn gegangen ist, bis er es schwingen lassen kann, und da, in den Minuten der Stille, in dem Raum zwischen den Noten nehmen seine eigenen Gedichte Gestalt an – da, in der Anarchie von Monks Musik der völligen Neuheit des Gehörten, in Beben und Zittern und schönen Mysterien beginnt er zu sehen, wie Worte Gestalt annehmen, wie sie als Sätze daherkommen und sich zu den Dingen fügen, die er zu sagen hat – der Klang ist da, wie von Zigeunerliedern, wie von Buschtrommeln, wie Rufe in vielen Zungen, der Klang ergibt den Sinn, lange bevor er ihn niederzuschreiben vermag –
Die Tür,
Hör die Klingel und wie alles, was dort drinnen ist, reagiert, klingle noch einmal, warte, Stille, erfüllt von all den Bildern, Wortspielen, hingekritzelt in die Neonkreisen der Straßenlampen.
Schritte, und sie öffnet, nur einen Spalt, die Sicherheitskette vorgelegt, um die Gestalt im halben Licht des Hausflurs eingehend zu betrachten.
Wer?
Er sieht anders aus. Die Augen blankgewetzt von all dem Schauen, die Kleider hängen ihm um den abgemagerten Körper, der reduziert ist auf rasch zu befriedigende Bedürfnisse, auf Effektivität, ein effektiver Körper, eingerichtet auf die einfachen organischen Notwendigkeiten, ohne Ausschweifung oder Sentimentalität.
Seine zittrige Hand umklammert eine Zigarette als lebensrettendes Requisit, die übrigen Finger trommeln Congarhythmen an die Wand, das Lächeln hat sich festgefressen, die Kinnlade ist zu Beton erstarrt unter den Stoppeln.
Was soll man sagen?
Er will es richtig ausdrücken. Es korrekt herauspräparieren aus all den wirbelnden, triefenden, aufspritzenden Worten in seinem Kopf, um es zu klarem Klang zu fügen, sich zu ergeben und es herausrinnen zu lassen, zu sprechen wie andere Menschen auch, zu kommunizieren wie Affen, Wale, Pflanzen, es herausrinnen lassen und fortlaufen, fort sein, ehe der Klang sich verliert im Abstand zwischen ihnen.
Ich will ein Mädchen. Eine neue. Eine, die nie so etwas gehört hat. Erkunden. Langsam reden, träge, Pausen verstehen. In einem kühlen, dunklen Raum liegen bei geöffneten Fenstern im raschen, kalten Wind und rauchen, Drinks trinken, die auf der Zunge brennen und dann sanft hinabgleiten zum Grund, in Kleidern, doch berührend die nackten Stellen an den Rändern des Neuseins. Wenn ich dann ihren Körper liebte, wild, in seinen geheimen Höhlen, könnte es für mich der Anfang des Wissens sein, schwebend in grünen Wassern und die Strömung teilend, wenn wir uns einander nähern in der steigenden Glut, einer südlichen Glut mit langen Tagen, die münden in den Dunst der Abende in jenem Dämmerraum, ehe die Sterne aufgehen, meine Finger legen auf die Stelle unter ihrem Kinn, wo der Puls synchron ist mit dem Harmoniebogen von Herz und Hirn, und mein Blut stiege, um der Glut ihres Feuers zu begegnen in der Stille jenes Ortes, alle Schwäche und all mein Verlangen suchte ich zu verbergen, ein tapferes Gesicht wollte ich machen und die wilde Maske des alltäglichen Karnevals hier ablegen, so ausgeliefert nun, wüßte sie, was ich was ich will, was ich brauche, was ich bin, sie wüßte all das in jener besonderen, vollkommenen Stelle, die unter meinen Fingern pulste, dem Herzen zu, und sie wüßte, ich möchte, daß sie diesen Teil von mir versteht und spürt, ich möchte ihn heraufheben zu jener Stelle und ihn loslassen, ihn seinen Platz behaupten lassen in dem Raum, den wir einnehmen, einen Tempel bauen um uns beide und das Vertrauen anbeten, das wir in diese erste Begegnung trügen, Fremde, wild und naß wie harte, blaue Regentropfen, und ein Regenbogen über dem Beton, kreiselnd, zischend mit rasenden Dampfströmen, die die winzigen Insekten erzeugen, wenn sie in alle Richtungen auseinanderstieben, und wir wären noch Gefährten, wenn die Nacht vorüber ist, im harten Licht des Tages.
Ich sehe ihre Hand an der Tür.
Lange, lackierte Nägel, rubinrote Fingerspitzen reflektieren das Licht, eine Hälfte ihres Gesichts späht heraus.
Ein halber Körper.
Hallo… Ein halber Körper ist besser als keiner…
Was?
Gedanken wie Bücherstützen umfassen die Welt heute nacht.
Was soll das?
Schon mal schale Rosenknospen getrunken?
He…?

von Elfenbeintürmen…?
Bist du das, Bob?
Was denkst du?
Scheiße.
Schon mal heilige Zeit getrunken…
Du siehst aus wie Scheiße…

aus dem Trichter von Shivas Horn…
Ich schwitze. Ich friere. Ich möchte weglaufen. Was tue ich hier?
Sie öffnet die Tür.
Ich sehe zwei Augen, Ohren und Haar, das zur anderen Hälfte ihres Körpers gehört.
Scheiße, Mann… was ist los mit dir?
Laß mich rein, will ich sagen. Ich bin die ganze Nacht über die Erde gewandert am Saum der Sonne entlang hab schwere Gedichtformen geschleppt schwer wie Stein blieb mit den Füßen stecken im Schlamm der Stadt doch mein Kopf ist leicht baumelt an einem letzten Faden am festverknoteten Babyhals herabgeglitten die Träume der Nacht Licht gebündelte Strahlen von Feuerwerken in meinem Inneren verlorene Fantasien aus meiner Höhle der irr taumelnden Seevögel tanzende Profile tief in Trance tief tief unten und schmutzige Augen.

Bob indessen –
auf den Dächern, parkenden Autos, zusammengebrochen auf Fußböden, in Hausfluren, auf Parkbänken, deine Augen weit aufgerissen, um die erste Verschiebung in der hohlen Mitte des Ich zu beobachten und wahrzunehmen, jenen ersten leisen Wink, daß er sich um den Verstand lebt, den er vor seinen Augen verbrennen sieht, Brennstoff für all die Antworten auf all die Fragen, die er fragte, das Aufglimmen dessen, was dort drinnen ist, tief unten, nahe dem Grund und darunter, ein Spiegel, der das hartverkrustete, schmerzende Gebäude zeigt, das sich über Jugend und Unschuld erhebt, sein geschundener Skeptikerkopf läßt die Knochen erkennen, und die Verbindung wird immer lockerer, da er die Identität tauscht mit allem, was er sieht, und die Kanten der Fragen beginnen zu schmelzen und ihre Triebkraft zu verlieren, und die Masse all dessen steigt ihm bis an die Schenkel hinauf, schwer wie die Unterströmung der Meeres, und er drängt vorwärts, langsamer doch stetig, den Blick geheftet auf den Adler mit dem verborgenen Kompaß, der ihm die Richtung weist.
Da bist du –
unter jenen Lumpen, liegst im Rinnstein, am Rande einer großen Lichtschliere.
Geduldig und wartend.
Reglos wie eine Chinesische Vase, weißt du, die Bewegung des Alls, die du unter deiner Nacktheit spürst, treibt dich zu den Anfängen des Wissens – folgte dem Weg, lach den Dämonen lauter in die Fressen und suche Schatten unter den Schwingen der Engel, nun eingehüllt von Kräften, die das Dunkel auslöschen, verzehrt vom Feuer, verglüht im allzerstörenden Brand.
Überlebender der Arschtritte.
Die Augen offen und dennoch schlafend?
Schlafend mit offenen Augen?
Alk, Gras… Musik.
Ein lastendes Gewicht auf seiner Brust, er spuckt Nikotin und Rauch und greift in die Wolken nach einem Strohhalm, kriecht zum Schlafzimmer, zum Bett, zu den Möbeln, zur Wand und beruhigt sich dort in der Ecke, bis keine Wand mehr da ist und das Kreisen wieder beginnt, der Lärm von gestern nacht, der ihm noch immer in den Adern rumort, die Worte, die verzahnt sind mit Gesichtern und Mündern ohne Zungen und Fingern, die die Klaviatur seiner Wirbelsäule abgriffen.
Er sucht Halt, und die Wand weicht zurück vor seiner Berührung, und er hängt gleichsam freischwingend zwischen den Schemen des Zimmers und den Umrissen, die sein Geist heraufbeschworen hat, und aus dem Windkanal des Morgens bläst es ihm mit aller Kraft seiner verkaterten Fantasie in sein suchendes Gesicht, bis sein Körper fortweht und nur sein Geist zurückbleibt, der die Empfindungen um ihn her in den unsichtbaren Ätherwellen des Raumes zu entschlüsseln trachtet. Klatsch!
Er fällt, löst sich auf.
Sonnenlicht auf der Matratze.
Ein Arm wölbt sich als schattiger Bogen über seine Augen. Nackt – bis auf Schuhe und Socken – eine Socke. Knittrige Seiten, herausgerissen aus einem Schulheft.
Weinbefleckte Seiten. DICHTER IN NEW YORK. unterstrichen. Durchgestrichen. Eingeprägt. Im Liegen fällt er abermals, hat nichts, woran er sich halten kann, und der lange Sturz ins Nichts ist ein kaltes, haltloses Gleiten ohne alle Sicherheit, ein Sturzflug in die Ängste vor dem Lärm, der die Worte aussperrt, Worte, die ein rasender Wind in die Zwischenräume des Geistes weht, ein Wind, der sich in Rauch verwandelt und in Klänge, Klänge aus dem Nebenzimmer, Lippen, um Vokale gerundet, bilden Worte, Worte, die hervorblubbern aus dem Kopf der Frau, die am Tisch sitzt, das kleine schwarze Instrument an die Schläfe gepreßt, das herauswächst aus ihrem Kopf, schwarzer, schimmernder Zauberstab aus Stimme und Erwiderung, indes eine lange, sich windende Schlange an ihrem Arm herabkriecht, um sich zu ihren Füßen zusammenzurollen, eingepreßt in ihren Kopf, nackt am Tisch, ein langer Blick durch die geöffnete Tür, den rechtwinkligen Bogen des Abstandes nicht erfassend, doch mit weniger entstellter Stimme unsichtbare Worte zu ihm hinstoßend, Worte, dann Lachen, dann Schweigen, Worte, nackt, nur ein schmales Handtuch vorgehalten, wehend, suchend in den Ätherwellen des Zimmers, das flatternde Handtuch schmilzt um ihren Körper wie die Prophetie des Eises.
Orangenjuice nippen, lächeln, nicken, winken, ein ruhender Arm gibt Lichtsignale, reglos, lächeln, lachen, das Handtuch, es fällt herab, zerstäubt im Zeitlupentempo in kleine Regenblättchen, sie legt den Hörer auf die Gabel, gleitet langsam durch die Sonnenstrahlen zum Schlafzimmer, zu ihm, der Raum zwischen ihnen öffnet sich wie kleine Fenster an Wolkenkratzern, öffnet sich wie Lücken im Stacheldraht, wie eine Hölle.
Lächelt… reicht ihm Juice…
Hallo –

Er geht von der McDougal zur Thompson und kauft an einem Kiosk ein Päckchen ZIG ZAG, Zeitungen und ein Sandwich mit Wurst.
Wurst und Paprika auf einem weichen Brötchen.
Er schlendert zum Park hinüber, während er das Sandwich ißt.
Das Planschbecken ist voll von Kindern, Wasserbällen, Schwimmhilfen, Segelschiffchen, Gummischwänen. Washington Square im Sommer Bongo Flöte Drogenhandel Radiogedudel Nachmittag.
An einem Ende der Mini-Arc de Triomphe mit dem langen Band der Fifth Avenue, das sich bis zum Horizont des Villenviertels dehnt. Rotlackierte Doppeldeckerbusse ziehen träge ihre Kurven im Park und davor.
Nichts als Touristen um diese Jahreszeit hier unten im Stadtzentrum.
Jetzt kommt einer über den Rasen zu ihm. Dunkle Sonnenbrille, Bebop-Spitzbart, Baskenmütze.
Lange Kette aus Schlüsselringen umgehängt, baumelt ihm um die Knie. Redet ihn schon von weitem an. Redet und schiebt sich die Sonnenbrille den schweißnassen Nasenrücken hoch.
Du suchst Bob.
Ja.
Warum.
Wir sind Freunde… cooles Ding.
Cool. Hab ihn gestern abend gesehen.
Wo?
Im Vanguard. Bei Miles.
Allein?
Bob?
Von wem reden wir denn?
Ich rede von Bob Kaufman.
Ja. Wo ist er hin?
Bart war da. Und ’ne Mieze aus Frisco.
’ne Mieze aus Frisco?
Ja. Pushst du? Und du?
Willst du Stoff?
Was hast du zu bieten?
Marihuana.
Kostenpunkt?
Du weißt doch. Drei Stück ein Dollar.
Gib mir einen.
Einen? Was zahlst du?
Vierteldollar.
Nein. Scheiße. Die Sonnenbrille rutscht auf die Nasenspitze, rotgeränderte Augen, passend zur roten Baskenmütze.
Gib mir einen.
Macht ’n halben Schein.
Für einen?
Mann, du brauchst doch einen.
Er war mit ’ner Mieze da?
Wer?
Bob. Gestern abend…?
Sagte ich ja. Willst du nun Stoff oder was…?
Gibt zwei Vierteldollar, nimmt den Joint, ein dünnes Röllchen in grobes braunes Papier gedreht.
Da soll Gras drin sein?
Garantiert. Ja, Bart und ’ne Mieze aus Frisco, ’ne Blonde.
Später. Läßt fünf gespreizte Finger ins Nichts sausen und geht.
Ich hole die Info durch.
Spreche die Worte auf den Rhythmus meines Atems. Mieze aus Frisco.
Lasse die Bilder herauftanzen.
Spreche die Worte. Mieze aus Frisco.
Weißes Kostüm, Stöckelschuhe, sonnengebräunt nein, er hat es falsch und geht mit dem Radiergummi über dieses Bild, radiert das L. A.-Bild aus, pustet die Yachthäfen und die Autobahnen und die Kabrioletts weg und setzt Frisco ein dafür, das schlaue und ehrgeizige Nordkalifornien, Weißwein und Zen und Ökologie, eine Stadt, auf Hügeln erbaut, gesäumt von einer schimmernden Bucht und mit einer Gefängnisinsel und Leuten, die im Freien sitzen und viel lachen, mit Martinis und China Town und italienischem Essen und einer sehr langen Brücke, deren Türme die weit ausgespannten Strahlen der untergehenden Sonne rahmen.
Frisco. Er sagt es sich in seinem Kopf.
Der Goldrausch.
Der fernst erreichbare Punkt Amerikas.
Die Endstation… oder der Anfang.
Sicher – Bob und seine Mieze werden das Vanguard verlassen haben, nachdem Miles sein letztes Solo gespielt hatte. Diese coolen, reinen Trompetentöne noch im Kopf, die romantischen Arien, die er bläst, unterschwellige Ahnung von Melodien, Songs, die man kennt, die man sein ganzes Leben lang gehört hat, und die Miles jetzt so spielt, daß man sich modern und cool findet und perfekt gekleidet, ganz auf der Linie und bezaubernd und die Zukunft rundum positiv sieht.
Miles war wie geschaffen für den Heimweg durch die sommerliche New Yorker Morgendämmerung mit einem Menschen, den man gerade kennengelernt hat und von dem man die Hände nicht lassen kann. Dieser coole Heimweg, während man die Variationen pfeift, die Ideen hinauf und hinunter durchspielt in den coolen Straßen mit den coolen Namen – Patchin Place, Waverly, Minneta, Carmine, Jones, Remisen auf den Höfen hinter Haupteingängen mit nackten Ziegelmauern und Dachfenstern und eisernen Wendeltreppen, die hinaufführen zu Schlafzimmern mit gerahmten Drucken von Van Gogh.
Sie wäre entzückt, geriete in Verzückung, wäre high und im siebenten Himmel, diese Mieze aus Frisco, bei alledem. Es ist genau so, wie New York in ihrer Vorstellung zu sein hat. Schnell, verzehrend und so furchtbar romantisch wie die verrückten Sachen, die Bob den ganzen Weg lang gesagt hat, ein Stop-Rap, für den er nur das Medium war, sein Körper ließ die Worte Klang werden, während er sich im Rausch und in der Trance dessen, was er zu sagen hatte, bewegte, kollernd und brabbelnd und lachend mit den schrillen Schreien der Weisheit, dann der Sprung in die Tiefe, um die schrecklichen Dämonen zu beschreiben, die er hinter jeder Ecke sieht, Gedichtfetzen, Crane, Lorca, Elliot, Baudelaire, Karl Marx, neue Schöpfungen mit den Permutationen all dessen, was ihn beeinflußt hat, und die Gemälde in den Fenstern der Galerien und auf den Speichern von Bowery, in den Kunstseminaren der Cooper Union, in der Liga der Kunststudenten, die Raps im Cedar mit Kline und Pollock und Gorky, mit Zeichnungen, die man hinwirft auf die Tischplatte, mit dem Finger aus Tropfen und Lachen warmen Biers auf nasse Servietten gemalt, die im selben Augenblick zerfallen, da die Figuren und Kompositionen zum Leben erwachen, geheime Zeichen, die sich selbst zerstören im Augenblick der Schöpfung, und hinter den Bühnen der Clubs mystische Gespräche mit Bassisten und Schlagzeugern über Harmonien und Akkorde und Sequenzen, und nächtelang Raps in Küchen mit entrückten Klavierspielern, die kaum reden, mit ernsten Schweigen geradeausstarren, und nur ihre Finger wirbeln und hämmern flink durch die rauchige Luft.
Er würde all diese Sachen sagen, und das Gesagte würde Song werden, und die Songs würden zu Gedichten werden, und die Dinge, die er in dieser Nacht gesagt hatte, würde er nie wieder sagen, und wer nicht dabei war, würde sie niemals hören, nie erfahren. Den ganzen Heimweg lang weit in die Nacht hinein, und sie würde wachbleiben an seiner Seite all die Zeit, weil sie wußte, es gibt keine Möglichkeit sich einzumischen oder teilzuhaben, keine Möglichkeit, diesen schwelenden Leistungsbrand zu ersticken, der weiterbrennen würde bis zur Explosion all dieser Worte und Bilder, die er immerfort, pausenlos paffend, sah und ausdrückte und niederschrieb und allen, die in der Nähe waren, klarzumachen versuchte und sich bemühte, jeden Moment, jede Geste und alle Kräfte des verborgenen, grell leuchtenden Universums auf sie zu beziehen und zu definieren und zu erfassen und auszusprechen.

Hallo, komm rein.
Okay. Wo ist Bob…
Ihre Augen verengen sich. Fast ein Lächeln. Bob? Sie schüttelte den Kopf.
Machst du Witze…?
Ist er hier?
Sie hält die Tür fast ganz auf. Du weißt, daß er nicht hier ist.
Ja? Nein.
Nein. Kommst du rein?
Drinnen. Er sieht die Kippe noch im Aschenbecher brennen.
Sie sagt, Bob hat sich von ihr getrennt. Nimm einen Zug. Geht durchs Zimmer.
Er setzt sich. Raucht. Beinah innerlich cool. Der Tischventilator.
Rauchen beruhigt ihn.
Getrennt? Wann? Seit wann? Er fühlt sich wie Wachs. Sieht ihre Beine.
Zerkratzt vom Rasieren.
So vor einem Monat vielleicht… drei Wochen.
Er hat nicht angerufen?
Sie schüttelt den Kopf. Betrachtet die Kippe. Befeuchtet ihre Fingerspitzen mit Speichel.
Ist nicht vorbeigekommen?
Sie sagt nein. Scheiße.
Ist er okay?
Wer weiß. Wen kümmert’s. Sie meint es nicht so. Steht auf. Bewegt sich. Schlurft und schwenkt die Hüften. Nimmt einen langen Zug. Klemmt die Kippe in eine Haarklammer. Geht durchs Zimmer.
Er vergißt beinah, weshalb er gekommen ist. Eine dicke Binde vor den Augen. Dick wie die Luft draußen. Die Spannung in seinem Körper löst sich etwas.
Also… was ist?
Begegnet ihrem Blick. Schaut hinter die glänzende Oberfläche. Eine Spur Marihuana verbrennt ihm die Lippe. Nimmt einen letzten langen Zug.
Sie lehnt sich zurück auf dem Küchenstuhl. Schlägt die Beine übereinander. Knöchel, weiß wie die polierten Kaffeetassen auf dem Automaten.
Wozu all die Fragen?
Ich suche ihn.
Warum?
Suche ihn einfach. Sie wissen beide, daß es nicht die wahre Antwort ist. Sitzen da und schweigen verlegen.
Wann hast du ihn zuletzt gesehen? Jetzt möchte sie es wissen.
Scheiße… vor Wochen.
Wo?
Im Cedar. Kann sein.
Was?
Im Cedar.
Und danach, was schätzt du?
Kann sein, er ist zurück nach Frisco.
Nein.
Nein?
Er ist in der Stadt.
Er ist in der Stadt.
Woher weißt du das?
Er ist in der Stadt.
Ja?
Ich spüre es. Ihn.
Geht zum Fenster. Sieht nach draußen.
Sie sehen zusammen nach draußen.
Draußen.
Ich spüre dich, Bob. Ich weiß, du bist da draußen, irgendwo auf den Dschungelpfaden der Stadt, in den Wasserlöchern leerer Kneipen zur Sperrstunde, drüben in der Betonschlucht, die McDougal Street heißt.
Nahe.
Inzwischen drei, vier Wochen hintereinander, hintereinanderweg auf der Flucht, um die Hüllen zu verbrennen, zu der das Leben geworden ist, abzufackeln die bequemen Antworten, zu sehen, wie die Ängste heimwärts galoppieren.
Du mußt jetzt müde sein, auf dem absteigenden Ast, fast am Ende vom Laufen, nicht bereit umzukehren oder aufzugeben.
Du mußtest nur die Todesschwärze sehen und die beinah vollkommene Stille hören, da sie sich nun vereinigt haben und dir ist gut in der Hitze jener Verschmelzung, die harte, ermüdende Arbeit Leben stellt ihre eigenen Regeln für dich auf, nach denen du spielen sollst, leben und sterben.
Der Laden ist zu, abgeschlossen, die Türnische, in der du liegst, ist so eng, daß du die Beine fest angezogen hast, und dein Blut zirkuliert längst nicht mehr richtig, zwei tote Gewichte schlafen unterhalb der Taille, Prüfsteine der Schwerkraft, auf Erde gebettet, auf Beton, auf den Mittelpunkt des Landes, wo du die Energie sich brechen spürst in deinem Körper wie Lichtstrahlen in einer Lupe.
Jetzt regnet es.
Ein dichter New Yorker Sommerregen, der nach Müll und Benzin und Schalen von Wassermelonen riecht.
Deine unbeschuhten Füße sind ihm ausgesetzt, und bald durchnässen seine warmen, dicken Tropfen dir die Beine, und die Nässe kriecht hinauf in deinen Körper, bis zum Solarplexus, und dein Herz und deine Kehle ertrinken in blasigen Pfützen, die ineinanderfließen, reißende Ströme aus Regen und Tränen und Schweiß und Sperma, die du trinkst mit rascher, animalischer Gier, und im Widerschein des Regens leuchtet dein Körper in klarem, ruhigem Licht.
Du spielst die Regentropfen ab in präzisem Takt, präzise, bis er sich auflöst, sich ganz verliert, untergeht in den Geräuschen der Straße und im Strömen des Blutes, das durch die Adern rinnt, dann wieder geordnet, wieder im Rhythmus wie Trommelschläge, dem Tenorsolo einer Ballade unterlegt, Wirbel und Hall auf den Becken.
Regen und Trommeln in deinem Kopf, und zwischen den Tönen hörst du noch die Stille, und in der Stille findest du deine Gedichte.
Die Musik und die Straße und der Körper verwandeln sich in Worte, und die Worte kommen heraufgetanzt mit schnellen kleinen Bebop-Schritten und drängen sich vor eines nach dem anderen wie Trompetensolos über Akkorden, wie dichte Baßlines schaffen festen Grund für Melodienflüge und Arpeggios auf dem Klavier die zu Heldentum erglühen und Wolken bilden aus Farbe und Strahlen von harter klarer Weichheit.
Alle Empfindungen des Körpers und des Geistes verwandeln sich dir zu klaren Worten, und nur diese brauchst du und brennst mit ihnen die Tünche von den Mauern der Stadt, auf die du schreibst, U-Bahnwagen fügst du ein, Verkehrschaos, Mord, Raub, Vergewaltigung, Überfall und die unvermittelten Augenblicke, da aus Fremden Freunde werden. Deine Reflexe zeichnen all diese Zuckungen auf, all das Schluchzen, Flüstern und Brüllen, und du notierst sie in deinem Gedächtnis mit einem Stift, geschnitzt aus bleichen, weißen Knochen.
Sie sehen zusammen nach draußen.
Es wird regnen.
Die brennende Schwüle verwandelt sich in Flüssigkeit und wäscht die Stadt mit Gummi und glitzernden Brocken Splitt.
Ich sage es dir. Er kommt wieder.
Ja?
Wie immer.
Bist du sicher?
Ja. Wenn er sein Ding gemacht hat. Er kommt wieder mit seinem Unsinn, seinen Visionen und dem ganzen Scheiß.
Was willst du, Mel?
Nichts.
Du bist Bobs Freund.
Stimmt… Regen, ja, Regen wäre gut.
Sag die Wahrheit. Jetzt hat sie begriffen. Verbissene Konzentration.
Die Wahrheit? Worüber?
Geh weg vom Fenster. Der Schatten ihres Körpers bleibt zurück im Gegenlicht.
Sie zündet sich eine Pall Mall an.
Die Worte kommen mit dem Rauch. Ich will nur Bob wiederhaben.
Sicher.
Was sicher? Ich auch.
Ja? Argwohn in ihrem Tonfall und Nachdenken und Verstehen.
Er wird…
Was willst du hier?
Meine Hände in den Taschen. Müde. Der Hals ist dick. Ich habe weder Schlaf noch Ruhe gehabt.
Was?
Was willst du hier. Du kommst nicht oft.
Nichts.
Nichts?
Bob sehen… Bob finden… dich sehen.
Siehst du mich?
Nein.
Was?
Nicht wirklich.
Was du siehst… das kriegst du.
Was kriege ich?
Sie weiß, die Wahrheit ist härter als jede alberne Lüge, die sie mir erzählen könnte.
Die Worte kommen heraus wie kleine schwarze Wolken. Er hält dich für seinen Freund.
Ja?
Ja.
Na und?
Also warum kommst du her und machst mich an? Was tust du, wenn er weg ist?
Ihre noch immer offene, wachsame Miene gleicht einer unter den scharfen Spitzen der Worte und Gedanken langsam zum Leben erwachenden Glut.
Was tust du nachts?
Besser, du gehst, Mel.
Was tust du, wenn er weg ist? Du kannst doch nicht einfach nur warten.
Ich warte. Ich warte einfach nur.
Scheiße.
Ich bin ein einfältiges Mädchen.
Meinst du?
Geh, Mann… bitte.
Ich gehe. Nicht weit. Vorwärts, nicht zurück. Vorwärts, um den gespenstischen Raum zwischen uns zu überbrücken.
Sie hält stand. Gibt nicht auf.
Noch immer zu weit entfernt, um sie berühren zu können, weiß er, daß er die wirklichen Regungen seines Herzens, die flüchtige Wahrheit des Brauchens, am schwersten mitzuteilen vermag.
Was sind wir? Er fragt ins Leere. Du, ich und Bob. Zwei einfältige Leute und ein Spinner.
Du weißt nicht, was für ein Spinner das ist. Ihre Augen weiten sich fragend von Ohr zu Ohr.
Doch ich weiß.
Nein.
Ich weiß es. Ich habe ihn gesehen, wenn er voll war, fertig, brutal.
Das meine ich nicht.
Was dann.
Etwas anderes… er… ich weiß auch nicht.
Bist du Sozialarbeiterin?
Nein.
Was dann?
Einfach ich selbst .
Gib uns eine Chance…
Eine Chance?
Der Gedanke faßt langsam Fuß, bringt ein Lächeln unter tote Augen. Ich mache noch einen Schritt vorwärts. Einen winzigen, zögernden Schritt. Keinen großen. Ich meine es so.
Hörst du?
Nein.
Hör zu.
Laß Bob sausen. Ich liebe dich.
Schweigen keilt sich zwischen Straßenlärm, Geräusche aus Nachbarwohnungen, Wasserbahntropfen, Herzschläge.
Sag das nicht.
Warum nicht?
Laß. Geht wieder zum Fenster. Ihr Körper zerschneidet die Luft mit harten, energischen Bewegungen, nackt unter den Falten des kunstseidenen Kimonos.
Steht am Fenster und sieht nach draußen ins Nichts.
Ich will das nicht hören. Tonbandstimme. Ich will das nicht wissen.
Du bist eiskalt.
Ja
Gib uns eine Chance.
Bitte geh.
Ja. Er fürchtet sie zu verärgern. Wie lange soll man kämpfen um das, was man will? Wieviel soll man geben?
Scheu. Fassungslos. Er geht.
Es wird regnen, die Dächer der parkenden Autos fangen die schwüle Vorwarnung auf, und dicke Wolkenballen senken sich nieder, stoßen wie schwere Finger aus Finsternis in den Raum.

Sie verschließt die Tür.
Schaltet das Nachmittagsprogramm an.
Geht langsam zurück, wartend, auf Schritte horchend.
Ihre Schritte verhallen allmählich in dem stillen Zimmer.
Gespenstisches Flimmern des Bildschirms ohne Ton.
Ihre Schritte.
Nicht seine.

Er ist noch immer dort draußen.

Bob sah schlecht aus. Hatte stark abgenommen. Die Zähne fielen ihm aus, die Ohren wurden schlechter, er hörte nur noch ein leises Rauschen.
Furchen um Augen und Mund.
Er sitzt auf der Bettkante und trinkt Bier, während ich am Fenster stehe.
Acht Uhr morgens. Ein grauer Sommerhimmel, feucht wie eine nasse Socke, hängt über der Straße.
Wie hast du mich gefunden?
Ich sehe nicht hin. Kann Bob nicht so sehen.
War leicht.
So, war leicht. Wie das?
Vielleicht bin ich ein Detektiv, ein Privatschnüffler. Ich biete ihm ein Stück Wurstsandwich an.
Laß. Totes Schwein? So was ißt du?
Klar. Was ißt du denn?
Ja.
Was?
Was ich will.
Du siehst schlecht aus.
Bin auf Diät.
Warum? Ein großer Sprengwagen fährt vorbei und schwemmt die Straßen ein. Wasserkaskaden, schieben den Schmutz in den Rinnstein… Apfelsinenschalen, Kippen, Plastiktüten, Salatblätter, Hundekacke, eine Murmel, Lumpen, ein Schuh…
Diät? Wofür?
Für die Gesundheit.
Du siehst aus wie Scheiße.
Das kommt von dem ganzen Dreck, den ich esse… gegessen habe. Jetzt trinke ich bloß morgens ein Bier, dann nichts mehr bis zum späten Abend und dann was leichtes, einen Schokoriegel, Tasse Suppe, ’ne Apfelsine.
Die Apfelsine liegt vor ihm auf dem Albumdeckel, das Taschenmesser mit den vielen Teilen, Korkenzieher, Nagelfeile, Löffel, Schere, Dosenöffner, Schraubenzieher, er schält das rauhe Äußere ab, läßt eine dünne weiße Hautschicht um das Fruchtfleisch stehen, schneidet mitten hindurch, Hälften, dann in Viertel, dann in Achtel, beugt sich jetzt tief darüber, um jedes Stück entlang der Mitte in nasse, durchsichtige Fruchtscheiben zu spalten.
Wischt mit dem Finger über den Albumdeckel und leckt den Saft ab, spürt, wie er direkt in den leeren Magen fällt. Biergeschmack auf der Zunge.
Hält die Scheibe gegen das Fenster und sieht die Lichter sich dahinter bewegen.
Schatten und Formen dämmern herauf hinter dem nassen Fruchtfleisch.
Also, was willst du? Wie?
Warum läufst du weg?
Ich bin nicht weggelaufen.
Niemand hat dich gesehen. Du hast sie verlassen.
Na und?
Warum?
Ich gehöre… niemandem. Oder?
Oder?
Oder?
Was denkst du?
Wozu denken? Denken ist Kontrolle. Er will die Kontrolle verlieren. In der Mitte sein. Fühlen, wie alles um ihn her kreist. Zusehen, wie alles zerfällt in lauter kleine Teile und jeder versucht, sie zu greifen, sie festzuhalten… sie wieder zusammenzufügen. Er will nichts zusammenfügen. Sollen die Teile davonfliegen.
Warum? Um zu sehen, was dort ist. Dort draußen, hinter den Grenzen der Kontrolle, dort will er sein.
Er hätte diese Apfelsine mit den Fingern zerschneiden können, sie in Scheiben schneiden können, wenn er es gewollt hätte… den Willen gehabt hätte.
Kein Messer. Keine Schneide. Nur eine schöne Mitte aus Feuer und Flamme.
Als Mel gegangen ist, sitze ich da mit den Resten dessen, was er gesagt hat.
Reglos.
Überdenke, was wir geredet haben und sage es mir wieder her, spiele es mir ab mit den Pausen und den Verschleifungen, und die Klänge der Gedanken werden zu Farben.
Betrachte mir die Trümmer dessen, was wir gesagt haben:
Ich weiß, er versucht, mir seine Art zu leben aufzudrängen, ich soll nach seiner Pfeife tanzen.
Deuten und Umdeuten.
Ich will meine verborgenen Ecken behalten.
Ich will ihm die Story vorlügen, die er hören möchte.
Also, was weiß ich?
Anonymes Bett und dieses Fenster, in das ich nicht hineinschauen, aus dem ich nicht hinaussehen will.
Ich will heute nichts Unbekanntes sehen.
Noch ein Mysterium, und ich drehe durch.
Die Wand im Rücken, so kann ich mich raushalten.
Mir die Scheiße irgendwie vom Leibe halten, sie wegscheuchen.
Okay, Ich werde in die Tiefe springen, die Ungewißheiten suchen im immer enger werdenden Zimmer, im Playback des Denkens hoch oben auf den Wellenkämmen des Geistes, im Echo der Spiele und all der simplen Sachen lerne ich immer perfekter, dem ganzen Mist zu entgehen. Ich kam hierher und schloß mich ein, damit ich ausbrechen kann. Jede Nacht komme ich her und lösche die Buchseite meines Verstandes, um die Worte zu finden, mit denen ich meine Wahrheit sagen kann.
Jage vor dem Morgengrauen mit hohen Sätzen über die Hürden des Verstandes.
Jetzt Frühlicht, und noch immer ziehe ich umher, ein paar verrückte Krakel auf einem Schreibblock mit Symbolen der Nöte und mit Bekenntnissen.
Ich stelle mir vor, wie die Leser und Zuhörer mir folgen zum Grund der Dinge, Leute, mit denen ich eindringen kann in den Dschungel. Stimmen prallen gegen meinen Kopf von allen Seiten, nennen mich einen Schwindler, alles, was ich sehe, wirbelt um mein Bett, rinnt ineinander, kleine Flüsse aus Alphabeten und Tränen und Finger, die einer nach dem anderen zerbrechen, zersplittert werden von der Kraft, der in einem dunklen Schacht, an den Rändern von Fantasie und Traum allgegenwärtig lauernder Gefahr.
Dunkel verhüllte Gestalt im Fließen des Frühlichts, Rückblende aus einem fernen Leben, auf das der Blick fällt durch die Korridore des Mondscheins, ein Friedhof mit Bussarden, Grabsteine, und auf jedem mein Gesicht, Schatten über den Kornfeldern, ein leichter Windhauch atmet in den Bäumen, gespenstisch wehende Vorhänge aus Blättern, Blättern, die mit anmutigen Gesten Sympathie bekunden, ohne Berührung, mit elektrischen Funkenschlag vorüberleuchten, ein Glaskrug mit welken Blumen, Ameisen klettern in das grüne Wasser und wieder heraus und hinterlassen exakte Dreieckmuster, die von Blitzlichtlampen angestrahlt sind wie in einem Studio.
Ihr Gesicht ist weich, tief eingesunken die eisblauen Augen in gepuderte Wangen.

 

SAN FRANCISCO – DAS NEW RIVIERA HOTEL 1959
Das Fenster als Rahmen für den Park.
Die Zwillingstürme der Kathedrale, von denen ein Westküstenquasimodo Ausschau hält nach seiner Esmeralda, dem Zigeunermädchen, das in jeder Vollmondnacht zur Jungfrau wird.
Ein blauer Jeansrock, T-Shirt, Sandalen, lebhaft geschminkte Augenpartie, knallig kirschroter Mund.
Die Wände über und über mit Plakaten bedeckt, Helden und Mythen, Kulturwahrzeichen und Symbole von Macht und Ruhm und Glück, Bands, Ideale, Manifeste… Fotos von Dichtern, Indianern, Heiligen, Revolutionären.
Das Zimmer ein Mosaik aus dickwandigen Aschenbechern, fettverschmierter Kochplatte, tropfendem Wasserhahn, zum Trocknen über die Schreibtischschubladen gehängten nassen Sachen, Büchern, Zeitschriften, in die Fasern des Teppichs eingetretenen Grassamen, die unter nackten Füßen knirschen.
Bücher und Papierfetzen mit den Anfängen und Schlüssen und Rändern von Worten, Worten mit Narben der Erinnerung an Vergangenes und glühend von Prophetie. Biegsame Wände unter den Plakaten umhüllen die Bewegungen, die hier drinnen hausen.
Wir flüstern um der Deutlichkeit willen.
Schriller, ohrenbetäubender Schrei aus dem Badezimmer am Ende des Flures. Tagtäglich exakt zu dieser Stunde schreit es mit einer solchen Regelmäßigkeit, daß ich meine Nerven darauf abgerichtet habe, in bebender Vorahnung warte auf seine dramatische Abruptheit, und die Tonhöhe steigt, die Lautstärke schwillt, bis zur Unerträglichkeit strafft sich der Schrei, ein Schrei, der keine Erlösung verheißt, sondern die furchterregende Erkenntnis, daß der Schreiende sich gerade erst warmschreit und irgendwann im Lauf des Tages das Hirn und die Wirbelsäule und der ganze Körper diesem Klang, werden folgen müssen in die totale Auflösung allen Schmerzes und aller Ängste, aus denen er geboren ist.
Und wir sitzen schweigend auf dem Bett und wollen einander nicht ansehen, wollen in den Augen des Anderen nichts Nacktes oder unbewachtes sehen, da dieser Klang im Raum vibriert.
Sitzen also schweigend, horchend, bis der Klang die Wirklichkeit des Gehörs trübt mit der schrecklichen Angst, bis er Teil wird aller Dinge, die wir hörten, lebendig und bewußt und fordernd unsere tiefste Anteilnahme.
Und wir versuchten auszuhalten, bis die nackte Gewalt der Anstrengung sich verausgabt hätte und der Raum und das Hotel untergingen im bebenden Widerhall, der selbst zu einer engen Schlucht wird, suchend den einhüllenden Klang.
Sitzen also beisammen und versuchen, den zu identifizieren, der schreit.
Zeichnen alles auf mit unserem Verstand, um das Grauen abzuwehren. Was vermag einen so hingebungsvollen Schmerz auszulösen?
Gott, Liebe, Kunst, Schönheit, Wahrheit, Pein, Wissenschaft, Dichtung, Feind, Freund, Vertrauen, Verlust, Frau, Kind, Menschheit, Sexualverbrecher, Sexualobjekt, Sex, Jude, Nigger, Eskimo, Bier, Drogen, Jukebox, Liebe, Haß, Geld, Picasso, Land, Billie Holliday, Kopf, Arsch, Schwanz, Sympathie, Nichts, Pein, Rotz, Geliebte, Freund, Kunst, Meister, Demokratie, Klasse, Verteidigung, Parker, Pollack, Céline, Genet, Monk, Satie, Alligator, Lachen, Reden, Psyche, Flucht, Benares, Pappi, Langspielplatte, Mama, geistige Gesundheit, Lächeln, Kuß, Berührung, Tränen, das Sonnensystem, die Unterströmung, Hemmungen, Unterernährung, Hunger, Krieg, Frieden, Blues, Big Business, Wissenschaft, Mord, Vergewaltigung, Marx, Freud, Artaud, Lenin, Stalin, Gott, Eier, Klöten, Morgengrauen, Spinnen, das Beste, das Schlimmste, Korruption und der zweiunddreißigste Aufschub.
Wir sitzen also und warten auf den Schrei und wünschen uns endlich den einen Schrei, einen Schrei, so total und so allwissend, daß jeder andere Schrei die scharfe Schneide jenes Schrei, der uns tagtäglich exakt zu dieser Stunde durch unsere Herzen und Träume fährt, abstumpfen müßte.
Hoffen und Senden Energieströme aus dem Raum, hinaus in den Flur und zu dem verriegelten Badezimmer und in die Lungen dieses angstvoll Schreienden, lotend nach dem Schrei, der das Ende allen Schreiens wäre, dem einen Schrei, der das Hotel einhüllen würde in sein Grauen, das Gespenst unter der Matratze hervorscheuchen würde, der die abgetretenen Teppiche verschlänge, die Treppe mit den bröckelnden Stufenrändern niederrisse, die schmutzverkrusteten Fensterscheiben und die verzerrten Abbilder in den Spiegeln einschlüge, die von Fingerabdrücken klebrigen Türknäufe säuberte und einen frischen Luftzug in die von Erinnerungen versiegelten Kammern trüge, der durch die Gänge rasen und alles erfassen und zerstören würde auf seinem Weg und nichts übrigließe als Frische und Leere, der alles forttrüge, was er dort fände, und uns erlösen würde von allem, was uns schreien macht, eine mächtige und totale Zerstörung, die alles, was wir früher waren, hinwegfegt und nichts übrigläßt als eine sanfte, quallenartige Weise menschlichen Beisammensitzens in stillen Räumen auf Bettkanten, in der die Angstlust vor diesem Schrei versickert, bis er uns so natürlich und vertraut und sicher wird, wie wir atmen.
Morgen.
Ich wache auf, fühle mich wie ausgedörrt.
Das Rascheln des Laubes auf den Zweigen moosbedeckter Bäume.
Krächzender Ton, wenn ich schlucke.
Das Bett ist von Gräbern umgeben.
Ich versuche mich nicht zu bewegen.
Starre an die Decke und zu den Silberwolken. Jetzt sind sie fort. Keine Gräber mehr. Ich drehe mich auf die Seite und falle beinah in das Loch der Erde, klaffende Grube mit dem Geruch von Gebet und Totenblumen, und ein Wall frischaufgeworfener Erde rings um das Bett. Ich will schreien, um die Dinge, die ich höre, zu verscheuchen.
Kann ich einen Menschen finden, der mich hört.
So zerschlagen, wie ich bin, mag ich keine Leichen um mich haben. Wenn ich langsam gehe, renne ich vorwärts und schaue mich um, ob ich mir folge.
Allein und schweigend.
Ich grabe mich ein in die Gebeine der Worte.
Bilder, die ich brauche, um in die Tiefe zu gelangen.
Den Zorn herauszuschreien und die Verwirrung.
All die Gemeinheiten, die ich nicht unter Kontrolle bringen kann, drehen sich in meinem Kopf, vollführen einen fast geordneten Wörtertanz. Die Kälte frißt Lebendfutter, als ich mich mit Sonnenstrahlen wärme, den Schlagzeuger dränge, lauter zu trommeln gegen den Schlaf. Das Richtige tun.
Geruch von gebratenem Schweinefleisch, Reif auf den Baumwollfeldern, Kannibalismus, die Kraftströme der großen Städte, Zigeunerköniginnen tanzen mit Schleiern in den Farben des Tages, Rauch des Tages, Rauch vor den Fenstern im lautlos strömenden Regen, Lachen auf den Korridoren gemieteter Nächte, Tränen, die diese Nacht verlängern. Kalte Hotelzimmer mit fragilen Rhythmen von Jazz-Combos und unbekannten Sängern und Löffelspielern und Steptänzern, lauschend, das Ohr am Straßenpflaster, auf die Botschaften der Buschtrommeln, die heranwehen über die von Kettengliedern markierten Spuren der Sklaverei, zitternd wie die Beutevögel zittern im Licht dieses Morgens, im Straucheln der Zeit, ehe sie auffliegen, die Luft zerteilen über schaumgekrönten Wellen, Atlantikbrechern mit dem Tosen von Ebbe und Flut und all dem Unrat und den Wünschen, die angeschwemmt werden an allen Stränden des Geistes, all diese gestaltlosen Meere aus reiner Farbe und Emotion, vom Leben hochgepumt auf die Malgründe des Lebens, sich darin verlieren, zum dritten Male untergehen, treiben in Himmeln aus flaschengrünem Glas, Bierflaschen, ins Meer geschleudert mit geheimen Botschaften, entschlüssele den Code und höre die erstickten Laute einer Zivilisation, die kämpft um standzuhalten und versucht zu sprechen.
Das Richtige tun.

Müde, ich gehe in den Park.
Bob ist fort.
Ist Bob verrückt geworden? Jetzt ein sanfter Sommerregen.
Tropft auf mein Haar, sickert hinab bis zu den Wurzeln, kühler Heiligenschein um meine Ohren.
Großstadtgeruch nach nassem Schmutz und Schmieröl und Metall. Leute hasten vorüber mit Zeitungen auf dem Kopf, Skandale und Sportresultate zerfließen im Regen zu Bächen aus Papier.
Tiefnasses Hemd klebt an Schultern und Rücken.
Ein plötzlicher Blitzschlag und das massive Grollen des Donners, mehr Regen, harter Regen von wildentschlossener Heftigkeit. Ich bin naß, durchnäßt, nirgends ein Ort, vielleicht, vielleicht läßt Bob sich blicken.
Ich sitze schweigend und verborgen im Flirren der impressionistischen Bewegungen um mich her, geworfen auf meinen Durst, mein Verlangen… dort draußen, jenseits der Schranken von Zaun und Bank, der Spielplatz mit Sommerschaukeln und Rutschen, Teich, Planschbecken und dürrem Gras, dort draußen im Labyrinth der Straßen von Greenwich Village ist mein Antrieb, mein Double, mein wichtigster Mann, einfach Fleisch und Blut, das Antworten gestikuliert, Sätze, die niederreißen die Schranken meines gewordenen Selbst, mein Führer auf Pfaden aus strahlendem Mondlicht in den Tiefen der sternerleuchteten Wälder, rein und voller Leben, spricht eine Sprache, die auf den Zungen schimmert wie zerbrochenes Glas… Worte um zu beschreiben, was im Innern ist… – Angst und Mysterium und Freundschaft, den Verlauf der Baumwurzeln, die Schwingen gefiederter Dinge, Geruch von Kaffee, Sommerhitze, Drogen, Bongos, den Feind, Geldverleiher, Heiligsprechung, feinen Staub auf den Wangen alter Damen, die Springquellen menschlicher Freude, das morgendliche Zupacken der Angst, trockenen Mund, Tabak, Sünde, Erlösung und die Erschütterungen.
Ich sehe eine einsame, nasse Gestalt auf einer Bank in einem Park im Zwielicht.
… alle Dinge weisen auf jenen Weg, den du gehen mußt, die Hitze hat die Stadt eingekesselt und einen Schleier aus Dunst und Wolken geworfen über alles, was sich regt, übers Gesicht und Kopf und Herz… – Finger schnippen im Takt mit der Musik, die die Worte machen in deinem Kopf, eine unkontrollierbare Lawine von Worten stürzt hernieder.
Ich lege meinen Kopf sanft auf die Arme.
Regen kreist winzigen Funken gleich um die schweigende Gestalt, neutral, vorsichtig.
Ein Ort wie dieser.

 

SAN FRANCISCO 1959
Jeansrock. T-Shirt. Sandalen.
Komm her, Frau. Steig über die Schranken. Bring ihn her. Bring her diesen ersten Kuß von Fremden. Lege deine Lippen auf meine Nervosität, laß Finger ringen wider den Verstand, um das Brauchen zu signalisieren und die Plätze zu tauschen in der Kapitulation und dieses Wunder zwischen den Schenkeln zu fassen – vollkommen heilig einmalig.
Lehn dich zurück, das Hemd schiebt sich an den Armen hoch, erstarrt, hängengeblieben in der Gebärde des Greifens, aufgelöst wie Haar im Sturm ist ihr Körper, naß von der Hitze des Zimmers und prall und riecht nach brennender Tanne, die Nadeln schwellen an den Rändern, bereit, die Bretter des altertümlichen Bettes zu verheizen, ihr Bauch bläht sich, und sie dreht das Kinn zum Fenster, die Augen verengen sich, fixieren die verzerrten Fotos, die aufblitzen auf den inneren Bildwänden, während die wilde Hitze sich in die schläfrigen Lüste hinter meinen Augen drängt.
Lehn dich zurück.
Sieh ihre Schultern von hinten gesetzloses und nacktes Zittern in der leichten Unterströmung der Berührung da die Elektrizität die Punkte des Vakuums zwischen Hirn und Wirbelsäule miteinander kurzschließt.
Ich wandere auf diesem Einbrecherpfad mit Fingerabdruck, Lippen und Zunge Linien ziehend von den fernsten Polen ihres Daseins bis zu jener Stelle jenseits davon, wo alle Weichheit lauert, hinaus in die dunkle Höhle am Saum des Schaumes, durchdringend die Untiefen vor den Brechern, wo die Wellen ihre mühelose Bewegung aus Kraft und Rhythmus beginnen, die ewige Bewegung uferwärts, dort das Licht spüren als scharfen, bohrenden Strahl reinen, korallenfarbenen Blutes, Umrisse in Blindenschrift, einen blinden Liebenden Schritt für Schritt weiter aufwärts zu leiten, Knochen für Knochen, Rippe für Rippe, Speichel auf Speichel.
Zu der dunklen Höhle, deren Ränder in dicken, öligem Dunst liegen, prismengleich widerspiegelnd die Bestimmung jeglichen Augenblicks. Dann spüren, wie sie unter der Berührung zuckt und steif wird und beinah flieht, sehen, wie die halbgeschlossenen Augen nun sich weiten, und dort alles projiziert sehen, was meine Augen spiegeln, und das Innere des Hirns, das Kreisen der Erinnerungen wie ein Playback von Daten und Träumen und Wahrscheinlichkeiten.
Spüren, wie ihr Becken sich leicht hebt und der Raum sich zum Ort verengt, da ich mich nähere, mich nähere bis auf nur mehr fünf Millionen Jahre Geschichte und Einsamkeit, und spüren, wie sie sich meiner Annäherung öffnete, und wie der Panzer und die Muskeln nachgeben unter Schwirrflug der Libelle über die Waldwege mit den Leuchtschildern der Autobahnen, und dann der rasende Flug meiner Nerven, wenn sie mich fortläßt auf die Reise zu den fernen Polen der Finsternis unterm schrillen Meeresschmatzen ihres Speichels in all ihre Höhlungen und lebenserhaltenden Systeme sich schließen und sich mit meinen verkoppeln.
Der Anfang aller Dinge, die wir miteinander tun, liegt nun da, lackglänzend, und ein neues Rad dreht sich in unserer Verschmelzung, Räder ohne Speichen drehen sich, ohne Kabel und Stecker, etwas Unbekanntes erschafft sich zwischen uns, da die Entfernung kürzer wird, verdämmert zu einem hellen Fleck in einer Prise Sand, auf den Zungen driftend treiben wir von Punkt zu Punkt.
Wir werden Flugobjekte auf den Bahnen der Sterne, unser Treibstoff ist der Äther aller Planeten, wir rasen zu dem Herzen hin, das zwischen uns schläft, lassen uns schleudern zu jenem Fleck wie Lichtspeere über der sinkenden Landschaft.

 

AUSTIN TEXAS 1948
Nigger, –!
Hurensohn –!
He Nigger, komm raus hier!
Schneidend wie ein Messer dringt das Wort ins Fleisch.
Dringt unter Schlaf und Haut. Du denkst, du träumst. Jenen klassischen gewalttätigen Alptraum, von dem du gehofft hast, du würdest ihn nie haben. Dein Blick fällt auf die Hose über dem Stuhl, die Schuhe unter dem Tisch, die schmierigen Wände des Motelzimmers und die dünne Sicherheitskette vor der Tür. Wieder jenes Wort, gezischt durch den reifgrauen Morgen, und das Hämmern gegen die Wände, gegen die Tür. Das Zimmer bebt vor Haß, und du mußt jetzt wach sein, irgendwie bei Bewußtsein, als die Tür in den Raum fliegt, aus den Augen gerissen, aus dem Rahmen gedrückt vom Gewicht der Männer mit den blutunterlaufenden Augen, die über die Trümmer hinweg eindringen. Als du die Faust an deiner Kehle spürst, als du spürst, wie dein Körper aus dem Bett gehoben wird, als du das durchdringende Knacken hörst, mit dem sie dir den Arm nach hinten drehen, und die verzweifelte Angst fühlst, als dein Ellbogengelenk sich unter dem Druck auskugelt, weißt du, daß du nicht träumst, nicht einmal Alpträume haben solche Gesichter, jetzt zwingt er mich zu Boden, auf den Knien liegend frage ich warum?… warum?… warum, zum Teufel… er sieht den Fuß zurückschwingen und beobachtet, wie er vorwärtsstößt, hört, wie der schwere Arbeitsschuh gegen mein Gesicht prallt und mein Nasenbein unter der Wucht bricht, und die Woge von blindmachendem, stechenden Schmerz, die durch meinen Kopf rollt, sieht den Stahl blitzen, als die Klinge des Klappmessers hervorschnellt, und den Stich ins Fleisch, daß das Blut aus meiner Brustwarze spritzt, und wie sie schwitzend zurücktreten um zu schauen und um sich nicht schmutzig zu machen, wie sie mir noch einmal in die Magengrube treten, und der metallische Geschmack von Galle und bebendem Ekel… da geht eine Rippe zu Bruch. Ich höre sie knacken, und das würgende Gefühl, zu ersticken, keine Luft zu kriegen, als ich Schreien will und keinen Laut hervorbringe, nur ein Gurgeln, und geronnenes Blut spucke, mit Erbrochenem und Zahnstücken gemischt – jetzt gehen sie, verlassen das Zimmer mit einem letzten Tritt, der bestimmt ist für meine Eier und doch wieder die gebrochene Rippe trifft.

 

SAN FRANCISCO 1959
Halt mich.
Ihre Finger auf meinen Rippen.
Spielen mich wie ein Jazz-Solo.
Wir sind den Wurzeln unserer Knochen auf der Spur, den Anfängen und den Enden der Nerven, den schimmernden Säften, die steigen unter der Berührung.
Ich hebe ihre Hände.
Hebe sie, damit sie Bände sprechen, die Bände von Geschichte, die sie in dieses Bett bringt. So ausgestreckt ist sie überblendet – im Flug, hinterläßt ihre Federn auf meiner Brust, ihr Kopf ruht zwischen ihnen, jeder Atemzug ein Aufflattern geflügelter Dinge, Wolken, die fortwehen zu den Umrissen des Fleisches.
Nahaufnahme ihre Augen über mir, nebelverhangen, der Mund geschwollen von heftigem Gebrauch, unsere Pulse in raschem, kurzem Rhythmus, sparen Kräfte für die Entfernungen, die wir überwinden müssen – die Kraft erschöpft von der Überfahrt, und nun tun sich die geheimen Orte auf, die geheimen, vor Fremden verborgenen Orte haben wir betreten und alle Nacktheit und den Raum erforscht und verzehrt und benutzt.
Ihre Hände schweben über uns, geben sanfte Winke in der zähen Luft, singende Finger in schweigendem Kreischen um mein Herz, zerren an den Nervenknoten, während ein strahlender Duft uns einhüllt, ein Geruch, ölig wie die Bordwände großer Schiffe oder wie die Luft, wenn in einem geschlossenen Raum ein Scheinwerfer explodiert, und ein Geschmack nach Brunnenwasser, das man heraufzieht im Dunkel der Nacht mit einem Schöpfeimer, so schwer und triefend, und die Spritzer hinterlassen ein reines, gestaltloses, glitzerndes Muster auf meinen nassen Füßen und die Hände greifen übereinander, ziehen das knotige Seil herauf, hoch zum Gesicht, zum Mund, über ihr Fleisch, tief hinab zur Quelle der begrabenen Dinge. Ich dringe langsam in sie ein, und alles, Bett und Zimmer und Erde streben aufwärts, der Begegnung zu. Pazifiksilber mit Gebeinholz, blankgescheuert an den Rändern, gezeichnet von Zeit, erhebt sich sacht aus dem Meer, die Maserung gleicht den Konturen auf der Oberfläche bejahrter Gesichter.
Mel, Bruder, ich hab dir gestern schon gesagt, daß ich ihn nicht gesehen hab. Geh doch mal zu Bart, Bart, Mann, du weißt ja, Bart ist Bobs dickster Freund.
Warum.
Warum? Warum? Weil Bart immer was da hat, Bart ist’n Dealer… der hat gutes Gras. Ich hab Bob bei Bart zuhause kennengelernt. Sie haben sich gestritten und sich angeflappt wegen irgendwas, und Bart wollte nicht, daß Bob sein Zeug benutzt, und es ging um’n gepanschten Schuß und um Stoff… Bei Bart zuhause, Mann, hör auf, mich nach Bob auszufragen, Mann, ich sehe nicht durch bei Bob, klar?
Wo wohnt er?
Wer?
Bart.
Das weißt du doch. Ich hab dich. bei ihm gesehen… Scheiße…
Immer noch in dieser Bruchbude?
Wo sonst.
In der Bowery? Wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen?
Genau. Frag Bart. Aber ich bin nicht sicher, daß du Bob findest, selbst dann nicht.
Warum nicht.
Der ist fertig, Mann… spielt verrückt. Verrückt.
Wie?
Mit seinen Scheiß-Stimmungen. Sitzt ganz ruhig da, starrt geradeaus ins Nichts, lacht über nichts und wieder nichts und sieht durch dich durch, als ob du gar nicht da bist, und dann kriegt er seinen Flitz und kreischt los wegen irgendwas Belanglosem, was irgendwer macht, und nichts ist gut genug für ihn, Scheiße, Mann, wir haben alle unsere Ängste, stimmts? Wir brauchen sein Geblubber nicht. Der ist wie ’ne Schlange, Mann. Manchmal macht es Spaß, mit ihm zusammenzusein, und manchmal ödet er einen bloß an… Arschloch.
Und dann stellt er sich taub, verstehst du, tut so, als ob er nicht hören kann, und du mußt alles zwei-, dreimal sagen, eh er antwortet… wenn er antwortet. Er soll ein Messer bei sich haben, ein Klappmesser, er war im Cedar und hat es auf und zu schnappen lassen und hat die Leute genervt damit und sich die Drinks von den Tischen geschnappt und sie ausgetrunken… dann ist er an die Bar und hat den Scheiß vorgetragen, den er immer abläßt, Worte ohne Sinn, Mann, und so macht er stundenlang weiter, schwenkt die Arme und so Scheiß und tanzt rum und trägt vor, und die Leute wissen, der ist total verrückt, und sie versuchen, einen Bogen um ihn zu machen, und er tanzt weiter und erzählt seinen Mist, ausgeflippt, und keiner versteht diesen Scheiß, keiner hört ihm zu.
Die im Cedar mögen ihn, aber sie können es nicht ausstehen, wenn er mit Messern rumfuchtelt und so Scheiß, damit vergrault er die Gäste, und der Barkeeper hat ihm einen Arschtritt verpaßt, hat ihm Hausverbot auf den Arsch gestempelt, und später ist er wieder angekommen und wollte sich einkratzen, hat getan, als ob nichts gewesen wäre, aber die haben ihn nicht reingelassen, und er schreit warum nicht und fängt an zu streiten und greift sich ’ne Coke-Flasche und schwingt sie wie ’ne Keule, und der Bartender zieht ihm eins über Baseballschläger… verfehlt knapp seinen Kopf und trifft ihn an der Schulter, und Bob schreit und will über den Tresen springen, und der Barkeeper holt nochmal aus… Mann, ich war dabei, ich wollte meinen Augen nicht trauen, verdammt, überall verschüttete Drinks und zerbrochene Gläser und so Scheiß, und ich sage: „Mann, Bob, hau ab hier, verdammt nochmal, bevor sie dich umbringen!…. Komm zu dir!… Verdammt, Junge, komm zu dir!… Hau ab!“ Und ich schlepp’ ihn mit Toni zusammen raus, eh ihm der Barkeeper die Rübe abhaut… wir zerren ihn aus der Tür raus, und er blutet und brüllt, man will ihn töten, und dann ist er den Block runtergelaufen. Es war schlimm, Mann, aber verstehst du, er hat angefangen, er wollte keine Vernunft annehmen, hat den wilden Mann gespielt, getobt wie’n Wilder, die ganze Straße lang…
Ich will nicht über Bob reden, Mann, geh zu Bart, wahrscheinlich ist er dort gestrandet, vorausgesetzt, er lebt noch.

Tiere.
Mund an Mund und Ohr an Herz. Wo findet man die weiche Sicherheit?
Ineinander verstrickt.
Jetzt,
nur jetzt, in diesem Augenblick gibt es keine Risse oder Begierden, reiner Glanz weht von der dunklen Seite des Schädels her in alle Winkel, wir beben und zerfallen in winzige Fetzen Farbe, Körper und Geist lösen sich auf in wirbelnde Rauchsäulen mit dem Geräusch des tosenden Meeres, der scheinbar nahen See, verschmelzen zu einem Skelett und das Denken hält inne für einen Moment, verharrt auf seinen Bahnen, vollkommen und absolut, wie ein Fels.

SAN FRANCISCO SWISS AMERICAN HOTEL 1980

Die Fensterscheibe war seit langem zerbrochen, zerschmettert von einer unbestimmten Wut, Glasscherben fallen auf die Straße, ein Regenguß aus scharfkantigen Kristallen, die sich im Zimmer aufhäufen zu buntspiegelnden Hügeln, unzählige Abbilder von Straßenverkehr und Neon.
Langsam schließen sich vier Gerümpelwände um ein ungemachtes Bett, kein Laken, kein Kopfkissen, ein Klumpen mißhandelte Matratze mit einem alten Militärregenmantel als Zudecke.
Nur das Glimmen einer Zigarette. Ein säuberlich aufgeschichteter Kippenhaufen auf dem Fußboden zwischen den Schuhen.
Schweigen.
Das Flackern und Tanzen einer beinah niedergebrannten Kerze.
Die Kerze fixiert ihn, braucht all ihr Wahrnehmungsvermögen, um ihn sich bewegen zu sehen. Kein Hauch entschlüpft seinem Körper, doch rings um diese reglose Gestalt vibriert die Luft in jenen Lebensströmen; die Pflanzen wachsen lassen.
Aufgerichtet im Bett sitzend, gleicht er in Eisen gehauenen Relieffiguren, die Höhlendecken schmücken.
Das Zimmer im Zwielicht ist voll von Büchern, leeren Bierdosen, Kleidungsstücken, Zeitungen.
Er wird zusehends dünner, zerbrechlich wie feines Glas, das leise klirrt, dünner, fast durchsichtig, bis nur mehr das Blut zu sehen ist, das durch die Adern rinnt mit elektrischem Leuchten in den Schatten, das signalisiert, was es erblickt und entdeckt hat, Fetzen von Wissen, herausgerissen aus Zeitungsmatten, Kneipenservietten, Streichholzbriefchen, hingekritzelt in seinem persönlichen Koppelcode, Geheimnisse aus einem geheimen Leben, Worte, aus der Fantasie heraufgeholt und erfahren mit der Wucht, mit der ein Kopf auf ein Auto prallt, Kugeln abprallen von der kugelsicheren Weste eines Bullen, die ihm noch eine verzweifelte Chance läßt, und der verwunderte Blick voll abgrundtiefer Angst, wenn der Keulenschlag die schmale Stelle zwischen den Augen trifft und der Blick vorschnellt gleich einer Schlange und ihm die Sinne zu schwinden beginnen und der Boden unter seinen Füßen schwankt und er greift nach einem Halt, will sich verkoppeln mit allem, was ihn angeht, während die Manschetten, die Schraubzwingen sich schließen um seine Handgelenke, sieht er die Tropfen Rot, die blutigroten Tropfen zerfließen zu Blumenmustern auf der Brust seines T-Shirts, das sich nun vollgesogen hat, und das Rot wird dunkler, da es sich mit der Luft verbindet, dunkle Flecken lebentragenden Rots verwandeln sich in der Mitte zu zähem Braun. Jetzt wird er auf die Kühlerhaube geschleudert, sein Körper adlerhaft ausgebreitet, wie im Flug, ausgestreckt auf kaltem Metall und Chrom, Nahaufnahme von den langen Fingern der Scheibenwischer mit dem durstigen Gummistreifen, der schweigend verharrt, Schwall gegen das Fenster, beide Augen und der Kopf warten auf Regen, Kinn fest angedrückt, Kühlerhaube und sanftbraunes Gesicht in einem Kuß auf Regen wartend.

 

NEW ORLEANS 1930
Hier am Klavier seine Mutter, entspannt, Harmonien im schwindenden Licht des Sonnenuntergangs.
Das Kind ist fast eingeschlafen, verloren an diesem Ort einzigartiger Geborgenheit, die Hände zurückgeworfen, die Finger gespreizt, schwebend, die Zehen gestreckt, der runde braune Bauch hebt sich im Takt des Herzschlags, kleine Gurgellaute, gurrend wie Vogelschwärme, die um eine Fontäne flattern.
Alles ist jetzt zurückgedreht, die Klaviermusik mit tiefen Pausen, beinah fließend, ein Wiegenlied im schläfrigen Blutstrom von der Mutter zum Kind, bringt weichrandige Farben hervor im Zwielicht der Abenddämmerung.
Farben wie Klänge und Gesten strömen von den Kindern auf der Veranda heran, die Tasten des Klaviers gleiten dahin durch die Gassen aus Luft, lassen sich nieder in den Winkeln der Sommerabendräume, tanzen zur Mitte hin – zur Quelle aller Dinge.
Geräusche auch.
Geräusche von Flammen und das Rauschen einer Schwinge, die über Berghöhen streicht. Geräusche von Atemzügen, weitergegeben von Mund zu Mund, von Herz zu Herz, fügen sich hier, in diesem Wechselspiel, zu etwas, das so stark und klar und fast vollkommen ist, daß die späten Sonnenstrahlen, die über den Rändern des Rasens vertaumeln zu einem letzten Funken von Wärme und Licht, Freude schöpft und Kraft aus den Schatten jenes dunkles Weiß, die sich am Ende eines Sommertages sammeln.
Bob auf der Wiese.
Nackte Zehen, die spitzen Gumminadeln des Grases sticheln fühlen, dort ein zerknülltes Kleenex-Tuch, dort der hölzerne Fuß eines Eisbechers, Schokoladenschlieren leuchten in der Sonne, darauf ein langer Zug von Ameisen auf ihrer ersten Entdeckungsreise – Zigarettenkippen und verstreute Sportseiten aus der Daily News. Er schaut über den Park bis hinter den Spielplatz, sieht sie ins Auto steigen, sich umdrehen, zurückblicken, winken, rufen – Komm schon. Bob, mach los, Mann! Auf nach Frisco… auf dem Rasen, hinter dem Garibaldi-Denkmal mit den rostigen Glutaugen und dem gezogenen Säbel, sieht er meilenweite Wegzeit sich hindehnen, all die Nächte, da er das weiße Band tanzen und neu sich fügen sieht, und die immerwährende Suche in der Windschutzscheibe nach den eigenen Augen, unterwegs zu den Apfelkuchen- und Eiskremmorgen in den Nachtlokalen der amerikanischen Frühdämmerung, all die Staus und gebührenpflichtige Autobahn und Kleeblatt und Auffahrten und Umleitungen und glatte Randstreifen, die da draußen lauern, gleich hinterm Horizont des Holland-Tunnels – Mach los, Mann! Steig ein, Bob! Für einen ist noch Platz!
Du kannst dich nicht rühren… kannst nicht das Schweigen brechen, das du gerade zu hören beginnst.
Du kannst dich nicht rühren, nicht die fast vollkommene Stille, zerstören, mit der du dich verdrahtest.
Du brauchst New York jetzt. Du brauchst die Winkel der Stadt, die dir jenen Raum gibt, in den du hineinhorchen kannst… rühre nicht an das Schweigen, dringe nicht ein in das zerbrechliche Gebäude, zu dem die Gedanken sich fügen… hörst du den Rhythmus? Hörst du den Atem?
Einsamkeit ist eine Kunstform.
Scheiß drauf. Laß das Schweigen brüllen, Wiedersehen, Jack. Wiedersehen, Neal.

NEW YORK CITY, BELLEVUE, HOSPITAL 1963
Sonne scheint durch die Wolken, graues, metallisches Glitzern auf der Wasserfläche des Hudson River umrahmt die Boote wie das Frühlicht von New Orleans.
Über der Flußbiegung rieselt Rost in sternförmigen Flocken. Das sind deine Gedanken auf ihrem Weg von der Vergangenheit ins Jetzt. In dieses Krankenhaus kommt der Morgen in Gestalt eines Zusammenbruchs. Du wirst nicht versuchen, die Teile zusammenzuklauben, nicht heute, heute läßt du sie gleiten, läßt ihr wahres Zentrum sich zersplittern. Angeschlagene Klavierakkorde, der Geruch von Rauch, Armeleutesandwiches, helles Frauenlachen in den Passatwinden der Nacht erstarrt, in Schweigen gerahmt, die Zeit steht still, nur die verwischten Ränder des Lärms, sanfter Saum des Abzugs an der Pistole deines Geistes, die mit der kompromißlosen Präzision der Vorstellungen auf die Sonne zielt.
Du liegst, wo du gelegen hast.
Erste Wahrnehmung: die harte Oberfläche der Matratze.
Ich bin hier.
Die Zimmerdecke sagt es mir, denn wo kein Oben ist, ist alles Unten. Ein Oben ohne ein Unten. Ich bin nicht willkommen hier. Alles, alles zieht sich zurück. Fleisch, Knochen, ausgespanntes Netzwerk von Adern und Nerven zieht sich ein, verstopft die Mitte des heimlichen Herzens.
Heimliches Herz.
Ich kenne es.
Mein Geheimnis geschieht hier, im Schweigen, wird aufgeführt von den Darstellern der Show.
Bett, Fenster, Fluß, Wolken, Schatten.
Du kennst das alles.
Das Bewußtsein spielt hier keine Rolle. Zuerst fürchtest du dich, dann bist du tapfer und ziehst die Ränder weiter ein, dann beugst du dich hinunter und blickst nach oben und läßt die Tiefe sprechen.

Der Fluß ist eine Meile breit.
Die Krankenschwester rückt meinen Stuhl ans Fenster.
Meinen Stuhl.
Keiner kennt mich hier. Das Fenster ist mein Reservat, wie Cheyenne-Hopi.
Diese Krankenschwester ist keine Indianerin.
Wieder bloß Diät-Coke und Götterspeise zum Abendbrot?
Rostflecken von der Farbe gehämmerten Metalls.
Alte Blechbüchse, plattgewalzt, mit Überresten vom Etikett.
Weißer Ahornsirup.
Säue, schwarze Glasperlen, gebügelte Baumwollhosen.
Bald ist da wieder das Nichts, vollkommenes Nichts, nur die versengten Ränder der Erinnerung senden verstümmelte Signale durch die Schaltstellen der Wirbelsäule. Weiche Wirbelsäule und flüssiges Skelett fließen über den Stuhl im fenstergerahmten Sonnenlicht.
Hudson River. Yankee-Station und dahinter die gewundenen Räume für U-Bahnfahrten zu einem Flecken städtischen Grüns, das dort harrt, Washington Square Park, auf dessen Rasen er um den Verstand kam. Ja, ich kletterte an den Blumen hinauf, küßte die Blätter, ging hin unter den kupferfarbenen Rostflocken, die auf der Wasserfläche glitzerten.
Jetzt weißt du, die rasierte Stelle auf dem Scheitel fühlt sich glatt an, sie schimmert, du weißt, sie spiegelt alles Leben in der Natur auf dieser Erde.
Das ist die Stelle, wo die Elektrode eingeführt wird. Eine auf dem Scheitel. Eine an jeder Seite. Drei insgesamt. Du zwingst dich zu zählen, wenn man sie dir einsetzt, wenn sie sich ins Fleisch saugen, einschnappen in Knochen.
Eins… Zwei… Drei… du willst nicht die Übersicht verlieren. Jeden Vormittag um eine bestimmte Zeit betrittst du diesen Raum, und in der prallen Sommerhitze wartest du, daß dir die kalte Oberfläche des Metalls eindringt in deinen glühendheißen Geist.
Ich warte schweigend, doch ich höre die Worte rufen in meinem Inneren. Lorca ruft nach seinem Grün, ein langer Ruf nach Licht inmitten des Grüns, wo Crane das Wasser mit dem Fiebergeschmack trinkt und Bird Noten spielt, die kaum ein Mensch zuvor geatmet hat, und Monk und Pollack neue Verkreuzigungen schaffen aus den Nervenzentren ihres Herzens… Sie doch!… höre! Grellweiße Glut bis zum Grund. Dein offener Rachen macht diese Geräusche, tief und milchig, die nichts berühren.
Ein scharfer Dolchstich von Licht, reinigend bis zum Grund, du verlierst die Balance, links ein schmutziges Fenster, das Bilder von dir zurückwirft, du im Kostüm; Zapata-Schnurrbart, Poncho, Perlen und Federn, trunkener Prinz, Gottheit, fern dem Thron.
Durch ein Guckloch erspähen deine Augen die Mondstrahlen deines Gesichts, das ganz Frömmigkeit und Andacht ist, von Elektroden gerahmt. Die Hitze wird Klang, und dieser ist total.
Totaler Klang knisternder Elektrizität, die durch Drähte und Stecker und das Relaissystem der Nerven rast.
Der Klang wird Hitze, entfesselte Finger und Zehen hämmern, geben der Luft ein unberechenbares Signalement auf, die Augen nach innen gedrängt auf das Toben des in konzentrischen Voltstößen anschwellenden Wirbelsturms.
In dieser halben Minute starbst und lebtest du.
Die Beine, noch immer zuckend, laufen geradewegs in mich.
Du kannst dein Gesicht vorhersagen jetzt.
Nur ein kleines Glas mit Licht auf dem Rand.
Zwillingsbruder der Dunkelheit ist dein Licht und hält sich in leidlichem Gleichgewicht mit den Schatten ringsum, jetzt vorn, jetzt gleitend nach hinten.
Im Geruch von versenktem Haar siehst du das Licht schwinden, dann wiedererscheinen in den Ecken des Zimmers, das Fenster bewegt sich von selbst, auf dem Fluß mit dem Klang der Schiffssirenen Verkehr, ein Frauenlachen in Hoboken, ein Fingerabdruck auf dem Türknauf, Putz platzt von der Wand im Zimmer nebenan.
Mein planetenhaftes Kreisen, brausend wie das Meer im Louisiana-Delta, Kuba-Zigarren, Zebras reiben sich die Nasen in den Ebenen des Fuji. Ich sage dir, mein Herz ist nicht berührt.
Bitte, glaub mir das.
Das Dunkel hebt die stählerne Wand vor dem Fenster und nimmt die Gitterstäbe des Käfigs um meine Ränder fort.
Ich schweige eine halbe Minute. Ich werde zu Stein.
Lärm, Blitze, Neon, Lippen.
Mein Herz ist nicht berührt, und ich bin daheim.
Fluß, Himmel, Blick in meine Augen, ein schmerzender Blutstrom durchzuckte mich, als ich wartete auf die Rückkehr dessen, der zerrissen ist, der überlebt hat, der die Zeichen zu deuten weiß.

 

NEW ORLEANS 1930
Zurück. Robert. Erinnere dich.
Die Familienwelt mit Klavier und Songs und Veranda vorm Haus. Eiskrem.
Sommer hing vorm Fenster des Eiskremwohnzimmers und hüllte die Ränder des Rahmens in Dunst.
So kommt die Erinnerung. Teilchen und Bruchstücke von Erinnerung driften über in Spinnwebschatten.
Die rauhen Dielen. Langsam sich drehender Deckenvendilator.
Coke-Plakate: DIE PAUSE, DIE ERFRISCHT.
Ladentisch aus gesprungenem Glas, vollgehäuft mit Kaugummikugeln, Geleebonbons, Lutschern, Pralinen, Walnüssen, HERSHEY, Lakritze, BUBBLEGUM, Kandiszucker, gesalzenen Erdnüssen. Gemalte Lilienmuster an den Wänden und eine zerbeulte Blechdecke. Grelles metallisches Klingeln der Registrierkasse, wenn die Zahlen unter der milchigen Glasblende aufhüpfen, und das schroffe Kommando: KEIN VERKAUF. Vanillebäche rinnen an meinen Fingern herab zu aufgeweichten Rand der Eistüte, salziger Geschmack von Süßem und Waffel auf meiner Zunge. Kaltes Eis, kalt zerfließende Süße, Schokolade, Vanille, Erdbeere, sehen, wie die Tür vor meinen Augen ihre Form verändert, kleiner und kleiner wird, bis nur noch ein Loch bleibt, ein letzter Biß, sehen, wie die Blechlamellen des Vendilators sich langsam bewegen und die zähflüssige Luft fortstoßen.
Träume von Luft, Luftblättchen schweben als riesige Wolken losen, baumwollfarbenen Tuches, aus denen Augen starren und sich in den Lärm der Welt beißen, den Lärm verwandelnd in Farben, Bluesblau für Gefühle und Gold für Zärtlichkeit und ein grelles, schmerzendes Rot für Verletzung, Augen, die die Schemen von Grüßen und Berührungen und Freuden und Leiden erfassen, und Arme um zuzufassen und festzuhalten und Deckel abzunehmen und Türen zu öffnen und Ketten zu lösen, und Beine, zu gehen und zu laufen zum Thron des Gesichts mit seiner dünnen, harten Oberfläche und Lippen und einem Mund, der keine Zunge hat und leicht speichelt, rasche Gedanken in Worte verwandelt, sie herausruft dann, sie hinterläßt den Toten.
Träume von Luft fließend wie der Fluß.
Die ganze Stadt lebt im Rhythmus des Flusses – der Fluß und der Schlamm, süßer Geruch von toten Dingen rinnt an Amerikas Wirbelsäule hinab und schlägt an die Ufer der Kindheit.
Gedüngte Deltablumen, grünes Moos auf den Felsen der Küste mit dunkel prophezeienden Alkoven in den Schatten dort hinten unter den Piers, fahles Frühlicht strahlt gelbe Landschaften an, dunkle Seen ohne Spiegelung der aufgestörten Wolken, die am Himmel hängen an Bändern aus Regen, und lautlose Blitze lassen elektrische Zungen erzittern in unseren Köpfen bei jedem Atemzug des Nachts, und Mondschein erhellt die dunklen Gesichter Afrikas, die in allen Türen singen die heimlichen Songs mit heimlicher Stimme, Codes und Mysterien, die nur der Unschuldige entschlüsseln kann.
Songs, dargeboten von den Kehlen kleiner Vögel, Löwenmuskeln und Fischmutanten, ans Ufer geschwemmt von den Wellen der sanften, tiefelosen see.
W a h r e   S o n g s   v o n   F r i e d e n   u n d   E r f ü l l u n g, erfahren an der Quelle, ehe der Sturm der Silberglocken zu läuten beginnt, vibriert im von Blechwänden abgeschlossenen Hirnraum, verstopft die Ohren der Reisen mit Ebenholzhaarschmuck und Zähnen als Augen, Visionen, zur Finsternis verdammt, und nur der Tastsinn blieb, um einen Freund zu erkennen, nur Herzschläge, den Beginn des Rituals, des Menschenopfers kundzutun.
Adler und Eulen und Alligatoren, Beutelratten. Krokodile und Wattemäuler, richten sich auf und stehen da und wärmen sich im Licht der Sonne und eines menschlichen Gesichts.
Gewärmt sein und die Fahnen und die Melodien gehißt sehen an diesen Türmen der Zeugenschaft, wie sie selbst sich sehen, schief, schwierig, zerschellt in zahllose Formen der Leblosigkeit und all die heilenden Eigenschaften des Daseins.
Ich sehe ihn dort an der Wand, heiße Sommernacht, heiß, windstill, hohe Wand sich erhebend.
Ich spüre Louisianaschlamm zwischen meinen Zehen.
Eiskremmund.
Mein Gesicht blickt hinaus in das Licht und die Hitze eines großen Feuers, das vor meinen Augen brennt, in der Erinnerung, dann Ferne, Jenseits.
Ja, ich habe ihn gesehen… er war hier gestern, gestern abend ist er vorbeigekommen, beinah hätten sie mich seinetwegen an die Luft gesetzt, wie der gebrüllt hat und sich aufgeführt vorm Fenster draußen und in der Halle, sag ihm… wenn du ihn siehst, sag ihm, er soll fernbleiben… verdammt und zugenäht, verstehst du? Verdammt nochmal, was soll das ganze Theater mit Bob überhaupt? Das ist doch auch bloß einer von diesen Typen aus der Unterschicht, die Drogen nehmen, um sich aufzuputschen, wenn du mich fragst. Ich gebe nichts auf Gedichte und so was. Paar so feine Pinkel, die finden ihn unheimlich toll mit seinen Gedichten und dem ganzen Zeug, aber ich, ich versuche clean zu werden… mein Leben auf die Reihe zu kriegen, wieder klarzukommen mit meiner Alten und dem Kind, und ich brauch seinen Mist nicht, ich sag den Leuten klar und deutlich, was ich denke, und ich hab meinen Sozialarbeiter auf dem Hals, kann sein, diese Village-Schickeria findet ihn super, du weißt ja, auf was für Typen die abfahren… die Mietzen aus Queens, Collegemösen, scheiß was auf dieses ganze Brimborium, ich brauch das nicht, für mich ist er einfach ein Junky, ein Schaumschläger, weiter nichts… klar?
Er kam gestern abend vorbei… spät, der Pförtner ließ ihn nicht rauf, ich darf nach neun keinen Besuch mehr kriegen, das ist die Regel hier, Regeln, Mann, verstehst du, du mußt hinter die Regeln steigen, sonst bist du angeschissen in dieser Welt, man kann nicht einfach jedes Arschloch jederzeit in die Zimmer rauflassen, und das ist gut so, das gefällt mir, zeigt doch einen gewissen Respekt …
Bob war unten in der Halle, stinkbesoffen, fertig, brüllt nur und macht Terror und fragt überall nach mir, Mann, das hat mir gerade noch gefehlt, daß er meinen Namen mit reingezogen hat in seine Show. Ich hab gehört, er ist laut geworden im Cedar und hat Mist gebaut, und sie mußten ihm aus dem Weg gehen, verstehst du, bin rüber auf die andere Straßenseite, wenn ich ihn kommen sah… Scheiße, er schuldet mir immer noch diesen Fünfer, und ich bin auch nicht reich, er ist unzuverlässig und die reinste Plage… kam andauernd rauf hier und saß da, total ruhig, wie ein abgefuckter Indianer und glotzte einfach bloß die Leute an, und alle haben sich vor ihm gegruselt, hatten Angst, er schlitzt, ihnen die Kehle auf, wenn sie was sagen, was ihm nicht paßt, und wenn er dann auf Touren kam, ließ er seine ganzen scheiß Gedichte ab, hat geschrien und geflüstert und gesungen, lauter Zeug, das keiner versteht. Ich sag dir, Mann, sag ihm, er soll mir vom Hals bleiben, ich will ihn echt nicht hier sehen, der vergrault mir bloß die Kunden, ich muß mir meinen Lebensunterhalt verdienen und ich muß cool bleiben.
Ich geb mir Mühe, alles auf die Reihe zu kriegen… am 15. meine Verhandlung… verstehst du, die Zeit läuft, klar, Zeit… vielleicht schickt mich mein Sozialarbeiter wieder zurück nach Lexington, nochmal auf Entzug… ich will die Scheiße nicht noch einmal durchmachen… ich will mich besaufen und cool sein.
Er kommt rauf und klopft und tritt gegen meine Tür… Scheiße, zwei Uhr morgens, und ich bin auf Bewährung und hab ein Kissen voll Hasch da, und er hämmert gegen die Tür.
Er hat drei Dollar dabei und will Stoff, und ich sage, nicht, bevor er mir nicht den Fünfer wiedergegeben hat, und er kreischt los und spielt verrückt, von wegen er ist fertig und braucht’n Schuß. Scheiße, in zwei Wochen ist meine Verhandlung. Weißt du, es gibt ’ne Menge Leute, die ihm nichts verkaufen wollen, weil er immer so durchdreht und den wilden Mann spielt… der ist unberechenbar. Ich sag: „Laß mich in Ruhe, Bob, hau ab, verpiß dich“, und er fängt an zu kreischen… morgens um zwei… ich bin bis jetzt aus jeder Bude rausgeflogen, bloß aus der hier noch nicht, und mein Sozialarbeiter sagt, ich muß cool sein, mein Bewährungshelfer sagt, ich muß cool sein… der macht mich krank mit deinem ganzen Geschrei und seinem Theater, der macht mich verrückt… ich hab ihn rausgeschmissen, und unten in der Halle sagt er, ich bin kein Freund, sondern bloß’n kleiner Dealer, und ich soll mir nichts draus machen, er liebt mich trotzdem.

 

SAN FRANCISCO 1980
Ruhm und Tod liefen für ihn ineinander, und beide Gefühle waren im Innersten sanft.
Wenn sie Preise gewännen, Anthologien herausgäben, nach China gingen, vorm Fenster stürben, wen würde es kümmern?
Er sitzt am Fenster und wartet auf den Kaffee. Vor das Fenster, dessen Scheibe vor langer Zeit zerbrach, ist Plastikfolie genagelt, die weiche milchige Bilder durchscheinen läßt. Sitzt da und schaut durch die Schlieren hinaus auf den Broadway, die Neonglut der Freiluftkneipen, die Spitze des erdbebensicheren Transamerica Building, sitzt schweigend im Staub dieses aquariumartigen Raumes, wartet auf den Kaffee, der einzige Gast, mit der Mitte verbunden, Fels Grund Herzlinie Kommandoposten, von dem aus sein Geist losläuft vorwärts und rückwärts.
Er schweigt. Zusammengesetzt aus geheimen Substanzen, Hüter der Mitte, ist er abgeschlossen von dem, was ihn umgibt, sicher im Staub der Dinge und in der Unordnung. Der Stoff, aus dem die Fragen sind, ungewiß, alles an Ort und Stelle jetzt, ausbalancierend die sanfte Berührung von Geist und Körper.
Sieh Bob, ein totaler Ausdruck der Dinge, aus denen er seine Gedichte schuf, die er zu Klängen und Gebärden und Tanzschritten werden ließ, die sich alle ineinanderfügen ohne Dopplung, ohne Fehler.
Wartet auf Kaffee und Zigaretten, betrachtet den silbernen Flügelschlag der Plastikvorhänge und die vorüberwehenden Farben der Autos und der Busse, die vorbeifahren im Licht der Straßenlampen und im Lärm des Verkehrs, und macht Platz für die ungesagten Dinge seines ganzen zerbrechlichen Lebens. Die Narbe des Atems, die verwundeten Rufe nach Zuflucht vor der Verletzung, nach Schutz vor den Schlachten und Überfällen in den privaten Kriegen seines eigenen Universums.

 

SAN FRANCISCO 12. JANUAR 1986
Schatten an den Wänden, sanfter Blick auf Vergangenes.
Bald verblassen sie und verändern sich und verwandeln sich in eine Vase mit einem einzigen langen, hoch aufragenden Stiel mit Reben und belaubten Trieben.
Das Licht einer gebrauchten Glühlampe flackert in den letzten Zuckungen von Energie und gewährt Dunkelheit zum Trost für den verlorenen Zwillingsbruder, die Kopie der Gestalt auf dem Bett, Bruder und Fuchs, der auf und ab läuft im Käfig, wartend auf Futter, auf und ab läuft an den Gitterstäben zwischen seinen Augen und der Neugier dort draußen, auf und ab läuft, bis das Licht verlischt und das Bild seines Gesichts zersplittert in zahllose Teile, zersplittert und sich sacht von neuem fügt im Staub, die Augenlinie scharf markiert vom Schauen, ein Lippenpaar gehauen in den tiefen Schatten des Kinns, ein Arm mit aufgerolltem Ärmel, schraffe Adern am Gelenk verkünden Lebens mehr Leben, lebt hier, beinah als die Erinnerung an eine Vase, die Boden ist für einen aufragenden Stiel, eine Blume, deren Umriß sich abzeichnet dort auf dem Nachttisch.
Daumenabdruck auf der Wand fast singend, wie dieser Planet seinen Umlauf vollbringt, seine Bahn zieht um die Sonne, um die lecker dekorierte Hochzeitstorte, bunter Fächer aus Pfauenfedern, verschneite Hütten in den Canyons von Big Sur, Christbaumkugeln aus rotem und blauem und grünem und goldenem Talmi spiegeln jungfräuliche Indianerinnen an den Ufern der Wasserfälle, der Geschmack von Coca Cola, die man durch Strohhalme saugt, Frühmorgenzigaretten, dargereicht von blonden Frauen im Smoking, die in Schaukelstühlen sitzen und ins Scheinwerferlicht der Jazz-Bands lachen in Kulissen, in den Küchen der Clubs reichen sie Marihuana rüber durch Wolken von Rauch und Gelächter, hellrote und blaue Wolken ohne Regen, illustriert mit den höchsten Augenblicken im Leben von Jesus und Buddha und Charlie Parker, Roastbeef und Hot Dogs und Kaffee, smarte Typen mit Araberkopfbedeckungen und Monokeln, Mädchen in Stiefeln und Reitkleidung laufen um die Wette auf dem Mond Klammern an der Hose Fliege um den Hals Lokomotiven rasen durch atztekische Landschaft während Generale mit buschigen Schnurrbärten aus kleinen Stampen Four Roses trinken und Marimbas spielen und eine Gruppe Afrikanerkinder in Spielanzügen aus Polyester tanzt danach an Deck von Ahabs Walfangboot wo jungvermählte Paare schlangestehen um Fernseher zu kaufen mit mondfarbenen Bildschirmen wo es Sommersalate aus Zwanzig-Dollar-Scheinen gibt und Gentlemen des einundzwanzigsten Jahrhunderts Kokoslöffel um die Hälse tragen und in einer Raumstation beisammen sitzen und Sternenkriege sehen in den Abendnachrichten wo man die Überlebenden der Dürre in den großen Regenwäldern in Großaufnahme zeigt wie das kollektive Gesicht aller Afrikanerbabies die in der langen Reihe stehen nach Nahrung um die sie nicht bitten sondern zurückweisen was man ihnen darreicht den Hunger und die leeren Herzen zurücksenden an den Kongreßausschuß der mit dem Helikopter kommt in eleganten Anzügen aus brokatdurchwirkten Sternenbannern die ihre Diplomatenkoffer mit den Verträgen für Hamburgers und dem Kosmoszeitalter angemessenen Ausbeutungsmethoden verhüllten Landärzte an den Betten kranker Kinder im Countdown der falschen Herztransplantate an der Superkugel mit der Skaleneinteilung nach Tagen und Mondphasen wo Arabien und Afrika warten am Rande des Abgrunds der Dürrezeit indes der von der Antarktis abgetaute Eisberg schmilzt zu einer Flut von Erbarmen und sich ergießt über die weiße Welt und die Sklaven sich endlich erheben gemeinsam mit der letzten Generation von Menschen unterm selben Joch und die Uhren aufhören nach der Geldzeit und nach der Machtzeit zu gehen und die Babies ihre Nacktheit ablegen und auf die Fußböden der Synagogen scheißen und alle Verlierer aufrecht stehen und. singen wie die Brandung eines langsam wogenden Meers an den falschen Rändern des Planeten wo Funken aus Schaum vorüberwehen von Leben zu Leben verwoben mit lang ausgedehnten Nerven in einem Tenorsolo im Augenblick der Wahrheit da Körper und Seele die Leinwand betreten mit zurückgebeugter aufgerichteter Musik des letzten Schließens eiserner Ladengitter zur Sperrstunde ein lang ausgedehnter Nerv entlang der Wirbelsäule verbindet Straßen und Lichter die Autobahnen mit den Morgenrufen der Vögel Eulen Affen gedämpfte Trompeten spielen Variationen von Klassik klettern empor zu verloren hohen Tönen die eingehüllt sind in Silber und Zellophan und Tonnen von Worten geflüstert auf mitternächtlichen Kissen exotischer Betten in stroboskopischen Lightshows aus Strahlen von Liebesangelegenheiten fremden Angelegenheiten, auswärtigen Angelegenheiten, höflichen Angelegenheiten wilden Angelegenheiten fleischlichen Angelegenheiten gezeichnet von den Narben der Liebe die taumelt die ganze Nacht letzte Rufe über Kornfelder Autobahnen Sümpfe Ölfördertürme Strände Buchten Nachtlokale hin wo das Licht immer brennt unterm Grill leere Tische mit Stühlen und einer Bank ein Herd mit Fettverschmierten Pfannen krustig von Bohnen Reis Kohl Öl insektenabweisender Lippenstift heißer Backofen mit dem Geruch von Biskuitteig langer Holztisch gedeckt für zwei Geruch von feuchtem Moos Rauch brutzelndem Schweinefett Loch im Dach mit der ganzen Glut des nächtlichen Himmels Chemiegerüche auf den Toiletten auf den Feldern erstes Morgengrauen und Rauhreif der sacht unter den Füßen schmilzt weißgetünchte Wände beschmutzt mit Leichen von Fliegen und Mücken Umrisse kleiner Beine und Flügel grelles Blitzlicht auf das zerbrochene Fensterglas im Widerschein des Sommergewitters nasse Kleider über dem Bett Ölzeug durchlöchert wie ein Netz Rauch und Schmutz und Fettspritzer und Schlaf im Schaukelstuhl aus Nußbaumholz zu Bett gebraucht um dort zu schlafen mit den anderen kaltes Waschbecken mit dem Eis und der Morgenkühle verrottender Landhäuser Penthäuser, Knautschpolster Gärten in Marin wo Patchworksteppdecken auf Wäscheleinen quer über die Rosenrabatten gebreitet als flüchtiges schützendes Eiland von Kühle der Sonne zu wehren nicht aber dem Licht ich bin willkommen hier in der Mitte dieses sicheren Ortes. Die glattblaue Kreidevorschrift lautet:

W I L L K O M M E N    D A H E I M    D U    D E U T E R
D E R  Z E I C H E N

 

SAN FRANCISCO 12. JANUAR 1986 2 UHR NACHTS
Ich liege, wo ich gelegen habe.
Nur ich kann davon reden. Von mir.
Dieses Leben, all die Spuren, die mich hierher bringen, haben keine Existenz in eines anderen Menschen Wahrnehmung. Bis.
Ich rede davon. Jetzt.
Ich heiße mich willkommen hier. Fleisch.
Sein. Sich zurückziehen ins Nichts. Nichts. Ich tanze im Kreis.
Worte.
Gib acht jetzt.
Wenn ich jedes dieser Worte eintauschte für einen Atemzug mehr, ob dies mich am Leben erhielte?
Bis Morgen?
Meine Worte verkauft für Atemzüge. Verloren. Zerfallen auf nassen Servietten, Graffitti auf den Wolken, Papiertüten, in denen Bier war, Sandwiches, Notizen mit Filzstift auf Plattentaschen, alle Punkte des Spiels im Dunkel erkennbar. Heute nacht entgleite ich. Fliege fort aus diesem Körper, der in langen Schritten tanzte nach den Rhythmen von Conga, Salsa und Blues, tanzte den langen Tanz ohne Stolpern sich haltend an den vollkommenen, reinsten Ausweg, der in den Worten liegt.
Hier liege ich auf dem Rücken. Leere Spanne der Zimmerdecke.
Ich kann aufstehen. Zum Fenster gehen.
Sehen?
Ich weiß, um diese Zeit, so früh am Morgen, hier, in diesem in sich geschlossenen Raum, beinahe begraben, einzementiert in Vergangenheit und hingeschleudert zur Stromschnelle der Zukunft, ist da ein Guckloch in der Tür mit der beiderseits verspiegelten Glasscheibe und der teleskopischen Linse, Computerausdrücke, Rauchzeichen und Buschtrommeln senden Botschaften, lautlos und symbolentleert, Botschaften auf den Nervenpfaden, den Blick zu richten auf das Bett, die lichte Mitte dort und die Gestalt, den Kopf aufrichtend, bewege ich mich im Zeitlupentempo und laufe vorwärts und blicke zurück.
Ein langer heller Lichtschaft tanzt auf dem Rand einer kleinen Vase aus farbigem Glas, blaue Striemen Dämmerlicht spiegeln sich auf meinem Gesicht, Hitzestrahlen, prophezeiend das Schmelzen der Knochen, fangen sich in meiner Kehle und fließen tief durch meine Brust, an den Herzlinien entlang, die schimmern und leuchten im Zwielicht des Morgens, das auf das Bett scheint, auf die schweigende, Gestalt, und das Zimmer wird ein ferner, erreichbarer Gral, ein harter Lichtkegel, funkelnd wie eine Perle mit naßglänzender Oberfläche, in der sich prismengleich das Licht der Meerestiefen bricht und der verborgene Winkel tief am Grunde der Erde und des Herzens.
Ich sehe mein Gesicht.
Umrißhaft im Schädel, der phosphoresziert, ganz Oberfläche mit lebendigen Funken von Energie, die davon aufsteigen, leuchtender Schädel mit Punkten und Strichen, wie eine Kinderzeichnung, laute, vordergründige Striche, die all das Schweigen dort zeigen.

 

SAN FRANCISCO 1986
Hier also endet es,
(oder beginnt, wenn du genügend Karma verbrannt hast, die Ewigkeit zu grüßen) im Erwachen Rimbauds und Lorcas, die tanzen wie trunkene Shivas in den Sommerstraßen von New Yorks Klein-Italien beim Fest unter freiem Himmel mit Pizza und Sahnekuchen, wo man Dollarscheine heftet an den Umhang der Madonna, aus Terrakotta, der gebreitet wird über die Treppen der Kirche mit den grüngoldenen Mosaikfenstern, die das Wunder darstellen, das Aufsteigen und die Strahlen des Lichtes.
Erinnere dich des Staunens und des Zaubers Hand in Hand mit dem Engel in den Hinterzimmern der Jazz-Clubs und wie du zogst auf den Gassen den Straßen der Dichtung und des Lebens in Babylons Rauch und Musik. Dein war der Sturzbach von Tränen, der die Straßen wusch, als die Hydranten Greenwich Village netzten – nun sieh die Geister jener mit Boutiquen und Kunstgalerien und Versicherungsbüros und Schönheitssalons und Parkplätzen und Banken geschmückten Straßen – senke den Blick und schau weg voll Gnade und Vergebung – das ist Kultur für jedermann, die an den Massen festhängt wie Maden an einem Leichnam, und hinter Schilden aus Kreditkarten und Drogen samt Zubehör wartet alles auf den Ersten Streich und auf die Bilanz der Opfer.
Wo sind Zärtlichkeit und Romantik?
Vielleicht findest du sie anderswo, wohin du gegangen bist, wo die Menschen aufrechtstehen und die Sonne sachte kreist um jedes Menschending mit allesgewährender Liebe – Jack hatte recht, dein Leben war mit Rauch geschrieben auf Spiegel – jetzt erinnerst du dich jener Stunden nach Lokalschluß, jener schmalen Grenzlinie vor dem Morgengrauen in allen Synagogen von Patterson bis Lowell bis New Orleans bis Moskau bis Uranus.
Liebender, ich höre dein Letztes Seufzen.
Ich sehe die Zeichen, die geritzt sind in die Wände von Höhlen, Geruchssignale, die du hinterließest auf dem Pfad des Vergessens, Herzsaiten der Dichter, angeschlagen und ausgespannt über meilenweite Wegzeit, Gesichte von Amerika im Weinen und im Ruhm, durch die du schaust und schreibst deinen Song und hast bezahlt für jede Silbe mit dem Blut, das du gelassen hast auf den Spuren des Morgengrauens, verschlüsselte Botschaft an die Herzen der Gläubigen, mit straffgespannten Lippen und Zähnen, die leuchten im Dunkel und Fleisch vertropfend ins Mikrofon mit dem schnarrenden Stereoklang des Hungers zur Schlafenszeit in all die von Liebe verdunkelten Zimmer gesandt im Neonplayback der Fernsehgefühle mit der präzisen Abstimmung von Bild und Wunsch, den triefenden Träumen von surrealen Oberflächen, den langgezogenen Vokalen des Schreckens von Kindern mit rasierten Köpfen, in Ledersachen und mit Nadeln durch Nase, Wangen und Ohren, an denen Ketten hängen, mit Tätowierungen und tiefen Blicken weit ins Morgen, Blicke, die den Schrecken spiegeln und die Verdammnis, die sie dort sehen mit der Kraft der Jugend, einer Kraft, ganz angespannt zum Überleben, das Computerfinale des Sendeschlusses zu klopfen, da zu sein im Endkampf, lebendig und mit Bock.
Sieh, wie die Kinder davonfliegen auf Tornadoworten, Erdbebenworten, Holocaustworten, ihr eigenes Vokabular ins Gedächtnis gehämmert und aus den Gesichtern geschleudert, herausgeschlagen aus dem Eisen der Kultur, aus heiligen Einsamkeiten, aus all den durchwachten Nächten in der Bleecker Street und der Grant Avenue und in Beirut und Managua und Valparaiso und Manila und in den Korridoren der Hölle.
Du hast Amerika durchlebt – alte Soulsongs und Prophezeiungen von Klugscheißern, besoffen und geil und vollgepumpt mit einer Überdosis, gekotzt und geblutet und auf Tischen getanzt im wahrsten Sinne des Wortes, vorbei an den Lustgruben des Ego und durch den schwarzen Knall des Elektroschocks – du hast deinen eigenen Song gesungen, den Song aus tötlichen Akkorden und Straßenmarschmusik, bewußt und voll Erbarmen hast du das Deine getan, du gingst, wie es in den Gedichten heißt, barfuß über ein Land, das beschrieben war mit dem Blut der Ahnen.
Morgen wirst du hier sein.
Jetzt diese Straße hier hinunter, Eisenbahngleis, Gasse, Hotelkorridor, Absteigen und Zimmer geschmückt mit Jazzrefrains, Zigeunerdichtern und Tropfen und Kringeln von Aktionsmalerei.
Da ist ein violettes Licht mit tiefen Schatten Geister des nachmitternächtlichen Bebop Gedichte ausgestoßen von einem billigen Kopiergerät die Weisheit der Frau flüstert Unterstützung für alle Dämonen von einem verborgenen Ort jenseits des Kerzenscheins spricht ihre Stimme in klaren Raumton der Klaviertasten – Kinderstimme.
Ich öffne diese Truhe voller Ängste und Belohnungen – Schönheit und Schrecken, umarme den Leichnam meines Lebens, der schon in Zersetzung ist, zu fliehen die Ränder der Erinnerung und des Besinnens. Mit diesem letzten Atemzug trage ich in meinen Armen aufwärts Kuß, Geruch, Umarmung.
Ein starker Schock in meinen Lungen und im Herzen, wie ein gewaltiges Gewicht, das mich nach unten drückt den Fluchtweg mir versperrt.
Ich versuche, das schweigende Dunkel hinter mir zu lassen, diesen Körper vorwärtszudrängen, zu einem besseren Ort zu gelangen. Verzögerte Bewegungen gleich unschuldigem Wasser, heraufgezogen aus einem Brunnen, kalter, klarer Grund ohne Kristalle, ohne Spiegelungen. Ich bin das Wasser, und ich blicke in seine Augen und betrachte alle die Bilder von mir, die heraufdämmern aus großer Entfernung – sitzend auf jener Veranda im lavendelfarbenen Licht des Sonnenunterganges in Louisiana, die Augen geweitet von Staunen, offen das Herz, um aufzunehmen die Worte, die mir die Insekten und Reptilien sagen, die Vögel und die pelzigen Wirbeltiere.
Hier, am Ende, weiß ich, ich war bloß ein Mensch, Teil des Mysteriums – die Seele zum Pflanzen bereit.

 

SAN FRANCISCO 24. JANUAR 1986
Nun daheim.
Nach dem Leichenzug. „Weißt du, was New Orleans vermissen heißt?“
Asche. Gedichte. Die jähe Wölbung des Regenbogens. Die klare Nacht und beinah Vollmond. Kein Schlaf.
Dieser lange gelbe Schreibtischblock. Vor meinem Fenster liegt North Beach, still, fast besänftigt. Die Arbeit beginnen. Wort für Wort zu deinem Fall. Die Spur, die du hinterlassen hast auf der Jagd nach dem weißen Büffel. Jetzt weiß ich.
Kein
Mensch stirbt im Schlaf.
Zärtlich ist die Nacht.

Mel Clay, verwendung, Heft 2 und 3, 1988
Übersetzt von Christa Schuenke

Bob Kaufman – eine Reminiszenz

1982, ich war gerade von meiner ersten Parisreise nach San Francisco zurückgekehrt, lief ich eines Morgens über den Washington Square.
Bob Kaufmann sah mich vom Park aus und kam herangehinkt.
„Wie war Paris?“ fragte er. „Komm, wir trinken einen.“
Ich war auf dem Weg zur Arbeit und mußte nüchtern bleiben, aber ich kaufte ihm einen Drink, und wir unterhielten uns ein Weilchen. Gott, wie hat er Paris geliebt! Schließlich mußte ich gehen.
Bob rief mir nach: „Liest du heute abend?“
Es war Donnerstag, und es gab noch die Lesungen in der Spaghetti-Factory.
„Ja“, sagte ich und war sehr froh, daß er mich gefragt hatte.
„Und du?“
Er nickte.
Ich rief ihm über die Schulter zu: „Ich lese The Alley.“ Es war das, was ihm von meinen Sachen am besten gefiel. Zum erstenmal hatte ich es ihm ein paar Jahre zuvor in der Coffee Gallery gezeigt, als sie noch die Coffee Gallery war. Wir tranken eine Unmenge Whisky an jenem Abend, nuschelten einen Haufen Gedichte vor uns hin, summten Bluessongs und gingen jedem Wort auf den Grund. Mehrere Jahre lang trafen wir uns ein-, zweimal die Woche in Curly’s Coffee Shop zum Frühstück. Manchmal sagte Bob kein Wort. Einmal sangen wir zusammen „Moody’s Mood For Love“ – ich im Anzug mit Weste, gerade im Begriff, mein Tagwerk zu beginnen, und Bob auf dem Nachhauseweg nach einer durchfeierten Nacht.
Ein andermal, bei einem Straßenfest auf der Grant Avenue, spazierte ich mit Nicole die Straße hinunter, als Bob mich erspähte. Er stand in der Tür der Hawai-Bar. Er lächelte, seine Blicke tanzten hoch zu bunten Bändern und Luftballons, die über den Auslagen der Künstler und Kunsthandwerker hingen, dann sah er wieder auf uns und sagte:

Es ist genau wie in Paris, es ist genau wie in Paris.

Das letzte große Fest, das ich mit Bob zusammen erlebte, war die Party zu seinem neunundfünfzigsten Geburtstag. Bob und Lynn wohnten in einem großen alten Haus draußen in der Vorstadt. Es war eine herrliche Feier: Livemusik, afrikanisches Essen, die Party dehnte sich aus auf den kleinen Garten vor der Küchentür, Kinder rannten durchs Haus, überall der süße Duft von gutem kalifornischen Marihuana, und Tanz, Tanz, Tanz. Bob saß in einem großen Korbsessel, ein halbes Lächeln auf dem Gesicht, ein Lächeln, das ganz ihm eigen war, ein Lächeln, das innere Heiterkeit ausdrückte.
Immerfort kamen neue Leute, begrüßten Bob mit Geschenken und Glückwünschen. Manchmal verließ Bob, angeregt durch die Musik, seinen Sessel und tanzte – solo zuerst! aber bald schon in der zärtlichen Umarmung derer, die ihn liebten.
Später lasen einige von uns Gedichte für Bob – Gedichte, die eigens für diesen Tag geschrieben worden waren oder Gedichte, die er besonders liebte.
Ein paar Monate später verließ ich San Francisco und ging nach Paris, wo ich seither lebe. Im Januar 1986 erfuhr ich auf eine schreckliche Weise (Gott strafe dich, Ted Joans!), daß Bob gestorben war. Ich beschloß, meine bevorstehende Lyriklesung in der Librairie Pensée Sauvage zu einer Gedenkfeier zu Ehren von Leben und Werk Bob Kaufmans zu machen.
Am Mittwoch, den 5. Februar 1986 versammelten wir uns in der Pensee Sauvage. Aus der zweisprachigen Ausgabe Solitudes las ich seine Gedichte in Englisch, und Nicole las sie in Französisch. Wir trugen einige kurze Sachen und das „Abomunist Manifesto“ („Abscheuliches Manifest“ – d. Ü.) Zeile für Zeile, Englisch-Französisch-Englisch-Französisch vor. Es machte Freude, und es war ermutigend. So viele neue Leute hörten Bobs Arbeiten zum erstenmal und wurden von ihm angerührt. Ein Afrikaner aus dem Kongo, der ein Nachtprogramm im Pariser Rundfunk macht, war besonders interessiert und wollte, daß wir mit ihm zusammenarbeiten, um Bobs Gedichte einem größeren Publikum vorzustellen. Ein amerikanischer Physiker war ganz aus dem Häuschen über Bobs Respektlosigkeit. Mindestens ein Jungakademiker verliebte sich. Die Franzosen waren entzückt.
Danach gingen wir alle los und betranken uns.
Es schien uns passend.

John Kliphan
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christa Schuenke

Die Poesie und der Beat

– Bemerkenswerte Würdigungen zweier vollkommen unterschiedlicher Männer, deren Denken die Menschen ihrer Generation gleichwohl ähnlich stark beeinflusste: Bob Kaufman und Jacob Böhme. –

Zwei Männer, die auf ganz verschiedene Weise das Denken geprägt haben: Bob Kaufman und Jacob Böhme. Es gibt keine substantiellen Berührungspunkte zwischen beiden. Nur diesen schieren Zufall, dass die beiden Hörspiele Thank Bob for Beatniks und Vom übersinnlichen Leben am selben Wochenende urgesendet werden. Nichts desto trotz ist das jedoch ein schönes Zusammentreffen. Weil die beiden Produktionen zeigen – und nebeneinander wird das noch klarer –, wie unterschiedlich künstlerische Annäherungen an Biografien sein können. Und sie sich doch in beiden Fällen vollkommen richtig anhören.
Hegel hatte Jacob Böhme als ersten deutschen Philosophen tituliert. Der hat an der Wende zum 17. Jahrhundert gelebt, überwiegend in seiner Heimatstadt Görlitz. Böhmes Denken war stark von christlicher Mystik geprägt. Sein Text Vom übersinnlichen Leben ist der Dialog eines Meisters mit seinem Schüler, der sich um den Weg der Seele und also das ewige Leben dreht. Ronald Steckel hat in seiner Hörspieladaption einen Monolog daraus gemacht, die Positionen der beiden Diskutanten fallen in eins. Die Inszenierung ist eine radikale Reduzierung auf die Stimme Max Hopps. Dem Schauspieler und seinem Regisseur gelingt es, jede Emphase und Dringlichkeit, jeden Anflug von Esoterik oder Maniriertheit herauszunehmen, ohne deswegen belanglos im Ausdruck zu werden. Vielmehr erreichen sie eine seltene Reinheit des Ausdrucks, ein Konzentration auf das Gedachte, hinter der die Person des Sprechenden vollkommen verschwindet.
Ganz anders verfährt Andreas Ammer in seiner Hörspiel-Hommage Thank Bob for Beatniks, die er gemeinsam mit Durs Grünbein geschrieben hat. Sie ist eine Collage, ein Ineinander von Musik, Sound und Text, von Zeitzeugnissen und gegenwärtigen Reflektionen. Bob Kaufman war der Sohn eines jüdischen Deutschen und einer Katholikin aus Martinique, in New Orleans geboren, in San Francisco gestorben und in New York zum Beat-Poeten gereift. William S. Burroughs, Jack Kerouac, Allen Ginsberg, diese Namen fallen immer zuerst in diesem Kontext. Doch glaubt man Ginsberg, war es Kaufman, der ihre Lebenshaltung als Erster auf den Punkt gebracht hat: Der Beat wie im Jazz, kombiniert mit dem ziellosen Unterwegssein eines Sputniks im All – das ergibt eben den Beatnik und seine Freiheit, daraus speist sich seine künstlerische Energie. Die Kommunisten hatten Kaufman aus der Partei geworfen, dem FBI war er zeitlebens trotzdem verdächtig.
Ginsberg ist in dem Stück zu hören, Patti Smith, die Dichterin und Rapperin Moor Mother, die Jazzmusikerin Angel Bat Dawid. Thank Bob for Beatniks ist selbst ein Stück Neo-Beatpoesie, mit den Mitteln des Hörspiels.

Stefan Fischer, Süddeutsche Zeitung, 24.9.2020

 

The Plastik Beatniks feat. DoseOne: „Hollywood Beat“. Eine Würdigung von Bob Kaufman

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + MAPS 1, 2 & 3 + IMDb +
Internet Archive

 

Bob Kaufman liest ein Gedicht.

 

Neeli Cherkovski liest ein Gedicht von Bob Kaufman im Performing Art Museum von San Francisco während einer Ausstellung der Beat-Fotografien Ira Nowinski.

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