Brigitte Kronauer: Zu Ernst Jandls Gedicht „legende“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ernst Jandls Gedicht „legende“ aus Ernst Jandl / Jürgen Spohn: falamaleikum. –

 

 

 

 

ERNST JANDL

legende

der vater stellt sich breit vor mich.
die mutter schreit: wir lieben dich.

kein zaudern vaters stirne ritzt.
in vaters hand das messer blitzt.

aus mutters nasen rollt ein dampf.
ich weiß um mutters heißen kampf.

herab saust vaters scharfe hand.
ich habe mich als lamm erkannt.

halt ein, befiehlt die mutter schrill.
ich spreche fest: nur wenn gott will.

da rauscht es, daß die luft zerbricht.
der vater auf gefieder sticht.

der engelflügel ist aus erz.
engel fühlen keinen schmerz.

ein lamm hüpft aus des engels hand.
der vater hat den zweck erkannt.

ins lamm der vater treibt den stahl
und unterbricht des opfers qual.

der himmel nimmt die gabe an.
der engel schwebt zur sternenbahn.

der vater reibt die klinge blank.
laut aus der mutter strömt der dank.

 

Schöner oder auch schlagender

läßt sich der Gegensatz von einfältig gleichmütigem Paarreim als Addition simpelster Aussagesätze (wie aus einer Kinderfibel oder einer für Sprachanfänger) und andererseits brutalem Inhalt kaum denken. Schon dieses „die mutter schreit: wir lieben dich“ macht den Leser ja gefaßt auf Äußerstes.
Man sieht das Familiendrama im Mietshaus vor sich, riecht es förmlich. Aus dem Stenogramm übersetzt: Gewalttätiger, sich gottähnlich fühlender Vater, jähzornig und trunksüchtig. Hilflose Mutter zwischen Ehemann und Sohn. Kein Wort zu wenig, kein Wort zu viel. Fast scheint der Gang der Dinge besiegelt, da fällt der zunächst befremdliche Ausdruck: „Lamm“ und kurz darauf, diesmal wie aus einem Erbauungsbuch: „nur wenn gott will“.
Es müßte nicht so sein, aber hier sind es Zauberworte, die, in den Tatort einbrechend und ihn aufreißend, das Geschehen urplötzlich zu jener, wegen ihrer barbarischen Sakralität berühmten Szene machen, in der Abraham (den Juden, Christen und Moslems als Stammvater ihrer Religion reklamieren) auf Befehl Gottes seinen Sohn Isaak zum Opfer herrichtet und im letzten Moment, nachdem er die Bereitschaft zu unbedingtem Gehorsam bewiesen hat, von einem Engel auf einen Ziegenbock im Gebüsch als Opfertier und Ersatz für den Sohn hingewiesen wird.
Das alte Bild der biblischen Legende stülpt sich über die bedrohliche Familienszene, dreht und wendet sie, wie es im Kopf eines fromm phantasierenden Kindes denkbar ist, eines Kindes, das im letzten Moment der Attacke des Vaters entgeht. Die alttestamentliche Vorlage bietet ihm eine gewissermaßen heilige Rolle an, nämlich das Opferlamm zu sein. Obschon hier möglicherweise von Anfang an ein echtes Lamm existierte, das der Vater schlachten wollte.
Wie dem auch sei, Jandl, in dessen Gedichten sich öfter Spuren biblischer Prägung finden, hat auf großartig ökonomische Weise in strengem Spiel gegenwärtige Realität mit der Archaik der Abraham-Erzählung geschichtet und gemischt. Wird dabei die Familienküche unendlich erhöht? Wird die Legende unendlich vermenschlicht, ja trivialisiert? Man gerät im Grübeln darüber schnell ins Abgründige.
Kein Zweifel kann indessen daran bestehen, daß es sich um eine neuartige, wuchtige, keinesfalls nur ironisch rekapitulierende Ballade handelt, ohne die Stockflecken einer nur noch nostalgisch benutzten Form.

Brigitte Kronauer, aus „Die Augen sanft und wilde“. Balladen, ausgewählt und kommentiert von Brigitte Kronauer, Philipp Reclam jun., 2014

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