Cees Nooteboom: Bittersüß (CD)

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Cees Nooteboom: Bittersüß

Nooteboom-Bittersüß

 

 

 

 

 

 

 

 

Eiszeit, Sternzeit

Eiszeit, Sternzeit,
meine Vergangenheit lebt in verriegelten Bildern,
mit Feuer und Wasser beschworen,
Grundbuch aus Sand und Harz
.
Cees Nooteboom: „Kartografie“

Ein Kopf wie ein Globus: Kräftige Linien ziehen die Stirne entlang, kreuzen die Wege der Meridiane und verschwinden schließlich im Dickicht der Haare. Längen- und Breitengrade im Gesicht eines Mannes, der auf allen Kontinenten zu Hause scheint, und auch wieder nicht. „Ich hatte wohl tausend Leben“, hört man Cees Nooteboom sagen, „und ich nahm nur eines.“ Doch in diesem einen, möchte man meinen, finden viele andere Platz.
1933 in Den Haag geboren, kommt Cees Nooteboom schon als Kind viel herum: Die Familie – der Vater stirbt 1945 nach einem Bombenangriff – wechselt innerhalb weniger Jahre zehnmal die Adresse. Im Mai 1953 bricht Nooteboom zu seiner ersten wirklichen Reise auf. Da ist er 19, hat die Schule abgebrochen und sich als Banklehrling und Bote versucht. Nun will er sehen, wie es sich anders und anderswo lebt. „Eines Tages“, erinnert er sich, „habe ich einen Rucksack gepackt, Abschied von meiner Mutter und den Zug nach Breda genommen und mich eine Stunde später an der belgischen Grenze an den Straßenrand gestellt und den Daumen hochgestreckt. Und ich bin eigentlich nie mehr zurückgekehrt. Ich habe nicht mehr aufgehört, mich zu bewegen, und nach und nach habe ich angefangen, dabei zu denken.“ Zu denken und zu schreiben.
Der Erfolg seines ersten Romans, Das Paradies ist nebenan (1955), verwundert ihn. Ist er nun ein Dichter? Er macht nichts anderes als zuvor – reisen, schauen, schreiben: Romane, Erzählungen, Gedichte, Reisereportagen, Feuilletons, Essays, Chansons. Im Laufe der Jahre entsteht ein eindrucksvolles Werk, beachtlich an Umfang und Gewicht.
Wo beginnen? Bei den Reiseessays, die mehr vermitteln als die andernorts verbreiteten, frivolen Versuche, Länder und Menschen zu taxieren, das Fremde zu domestizieren, das Pittoreske zu verklären. Cees Nooteboom denkt mit den Augen, er schaut genau hin, lässt sich von Vorlieben und Zufallen leiten, misstraut sich und hinterfragt das, was er gesehen und notiert hat. Was auf diese Weise entsteht, ist schwer zu beschreiben. Eine Mischung aus Tagebuch, impressionistischen Reisebildern, kritischer Reflexion, philosophischer Betrachtung: klug, unprätentiös, sinnlich.
Isfahan, Persepolis, Surinam, Macau: Orte, die nach Koriander, Kreuzkümmel und Kurkuma riechen und Nootebooms Phantasie beflügeln. Und doch behält er den durchdringenden, distanzierten Blick. Selbst die literarischen Ansichten aus den Städten und Landschaften Europas, die man selbst zu kennen meint, wirken wohltuend fremd. Eine Prosa mit Widerhaken, versammelt in Bänden wie Im Frühling der Tau, der Dame mit dem Einhorn, dem Umweg nach Santiago und Nootebooms Hotel. Ihr Autor, in den Biblio-, Disko- und Pinakotheken der Welt zu Hause und zudem ein gewitzter Zwischen-den-Zeilen-Leser, ist ein origineller Denker, einer, der jahrelang herbeigerufen wurde, wenn es galt, die Utopien von einem neuen Europa darzulegen. Er hat Reden gehalten, Essays publiziert, mit Politikern konferiert. Und sich dann wieder davongemacht. „Ich könnte nicht leben“, hört man, „wenn ich mich nicht von Zeit zu Zeit irgendwo völlig aus dem verschwinden lassen könnte, zu dem ich angeblich gehöre.“ Was das sein soll, dieses angebliche Zuhause? Das Kloster des einsamen Zimmers, in dem das Ich in den Landstrichen seiner Seele herumreist.
Kontemplation, Geduld, ein langer Atem. Nach den Erfolgen seiner ersten beiden Romane – dem Debüt folgte 1963 Der Ritter ist gestorben – hat der Romancier Nooteboom 17 Jahre lang geschwiegen, ehe er sich 1980 mit einem Buch zurückmeldete, das auch seinen internationalen Durchbruch bedeutete, Rituale. Nun geht es Schlag auf Schlag, als wäre der Bann wundersam gebrochen: Ein Lied von Schein und Sein, Mokusei! Eine Liebesgeschichte, In den niederländischen Bergen und Die folgende Geschichte. Auch Allerseelen, sein bislang letzter, vielleicht auch brillantester Roman, nimmt wieder jene Themen auf, die ihn seit Jahrzehnten bedrängen, in Prosa wie Lyrik: das Ringen mit Zeit und Vergänglichkeit, das Verschwinden von Erinnerung und Erfahrung, das Entstehen von Geschichte, diesem merkwürdigen Konglomerat aus Schicksal, Zufall und menschlichem Vorsatz. Cees Nooteboom geht weiter als andere. Seine Bücher überlisten die Wirklichkeit und beschwören jene Welt, die sich irgendwo zwischen Sein und Schein, Realität und Traum auftut. Ein Vexierbild, ein Spiegel, der verzerrt und verschlüsselt. Wer hineinblickt, sieht vieles klarer.
Cees Nooteboom ist für sein Œuvre mit hymnischen Rezensionen bedacht worden, mit wichtigen Preisen, Orden, Ehrentiteln. In wie viele Sprachen seine Bücher inzwischen übersetzt sind? Zwanzig, vielleicht auch einundzwanzig, meint Cees Nooteboom, so genau muss er es längst nicht mehr wissen.
Was übersetzen heißt, das aber weiß er. Cees Nooteboom hat immer wieder Lyrik ins Niederländische übertragen, Eugenio Montale, Cesare Pavese oder César Vallejo. Daneben begleitet ihn seine eigene Poesie seit über 45 Jahren. Wie sie ihn gefunden hat, woher sie kommt? Vielleicht aus der Leere, in die sich Wörter und Sätze hineindrängen, plötzlich und unvermutet. „Gedichte schwärmen aus, spähend nach ihren Dichtern“, heißt es in „Aas“. Und in „Lukrez“: „Das Gedicht ist ein Kosmos, / Die Welt ein Wort.“ Oder, prosaischer gesagt: „Lyrik ist überall und in allem, aber sie läßt sich nicht erzwingen. Ein Gedicht zu schreiben ist erst Arbeit, nachdem es, wie auch immer, angeklopft hat.“
Bei Cees Nooteboom hat es oft geklopft. Seine Gedichtbände, von Ard Posthuma ins Deutsche übersetzt, sind kaum mehr zu zählen. Ihre Titel lesen sich wie Programme – und lassen all jene Sujets erahnen, die leitmotivisch wiederkehren: Die Toten suchen ein Haus (1956), Kalte Gedichte (1959), Das schwarze Gedicht (1960), Geschlossene Gedichte (1964), Anwesend, abwesend (1970), Offen wie eine Muschel, geschlossen wie ein Stein (1978), Paesaggi narrati (1982) oder Das Gesicht des Auges (1989). Aas (1982) nicht zu vergessen. Das Titelgedicht daraus mag immer noch als Nootebooms poetologisches Credo durchgehen. „Poesie handelt niemals von mir, / und ich handle niemals von ihr. / Ich bin allein, das Gedicht ist allein, / und der Rest gehört Würmern.“
„So könnte es sein“ – und so heißt auch Nootebooms jüngster Band mit Poesie (2001). Ein Titel mit Hintersinn, einmal mehr. Nootebooms Gedichte sind fragile Gebilde, die Rätsel aufgeben – „soviel mehr ist Fragen als Wissen, / daß meine Erkenntnis mich schmerzt“ („Xenophanes“). „Ohne Antwort verkümmert die Suche, / ohne Frage vertrocknet die Antwort“ („Thales’ Freunde“). Noch deutlicher ausgesprochen in „Cauda“:

Jemand macht Licht, jemand
glaubt nicht an Dämmerung.
Die Frage ohne Antwort irrt
am Fenster vorbei

 

 

Nootebooms Gedichte fragen nach Tod und Endlichkeit, dem Verrinnen der Zeit, dem Verfall. „Formlos alles“, liest man in „Niemand“. „Die Zeitungen schmelzen, / die Fotos vergehen. Der Stein ist aus Wachs, / die Schrift aus Asche, die Zeit erlischt / und wiederholt die Erscheinung.“ Aus der Felsenwand spricht der Stein:

Dein Jahrhundert ist meine Sekunde
[…]
Wir sind beide in Worten verborgen,
doch wir benennen dasselbe.
Nur weil du so kurz währst, währe ich lange,
doch es ist einerlei.

Stehenbleiben, innehalten, den Blick wenden. Und hinter den Vorhang schauen. Nootebooms Gedichte sind Einladungen zur Meditation. „Wer nicht das Anschauen bricht, / sieht nichts“ („Der Betrug des Sehen“). „So färbt die Seele // die Augen nach neuen Bildern“ („Das innere Auge“). Oder, wie es „Silesius träumt“:

Die Seele hat zwei Augen, das träumt er.
Das eine sieht auf die Stunden, das andere
schaut hindurch,
bis dort, wo die Dauer nie aufhört,
das Sehen im Schauen vergeht.

 

 

Und das Gedicht selbst? Ein Findling, Treibgut, eine Flaschenpost aus einer anderen Welt, ob es die nun gibt oder nicht. „Der Anfang, die eine Zeile, die paar Worte, das Fragment, an dem man hängenbleibt, das Bild – es bleibt immer ein Mysterium“, hat Nooteboom erfahren. In seiner Lyrik sind es Fundstücke aus der Natur – Steine, Disteln, Schlick –, Momentaufnahmen von Reisen, die Begegnungen mit Zeichnungen und Gemälden, mit Dichtern und Philosophen, mit Briefträgern und Geographen, mit Grillen, Schafen und Eremiten. Vor allem aber ist es die Poesie selbst, die Nooteboom herausfordert: die wundersamen Verbindungen zwischen Autor und Poesie, zwischen Dichter und Leser, über alle Zeiten hinweg. So etwa in „Fujiwara-no Sadanobu“. Das Gedicht verdankt sich der Lyrik des japanischen Dichters Fujiwara-no Sadanobu, der im frühen 12. Jahrhundert gelebt hat.

Das ist das All, das nun
zu mir sendet, Geflüster
auf Seide gemalt,
unterwegs durch den Tunnel der Jahre,
ein Sausen früherer Worte,
eine Stimme.

Zwiegespräche zwischen Dichter und Poesie, Kunst und Leben, Körper und Seele. So auch in „Zweiheit“, einer Replik auf Lukrez und dessen Selbstmord:

So zerbrachst du den Krug, der du warst
Mit der Hand, die dein Buch schrieb, und
Deine Seele floß weg
Bis ich sie hier lesen kann.

Oder anders gesagt, in einem der vier Gedichte über den japanischen Haiku-Dichter Bashō (das eine Zeile von Jan Jacob Slauerhoff aufnimmt):

Nur in seinen Gedichten konnte er wohnen (Bashō III).

 

 

Und noch radikaler in „Aas“:

Es zogen Gedichte an mir vorbei
und erkannten sich selbst als ein Ding.
Indem ich es sah, sah ich mich.

Diese Sucht findet niemals ein Ende.

Der Dichter, gefangen von und in seiner Poesie? Fast wie eine Antwort: „Small bang“.

Das Gedicht hörte, wie es geschrieben wurde,
es sah die riesige Hand,
aus der es anscheinend entstand, Wort für Wort,
es hielt mit sich selbst kaum Schritt.

Schritt, sah es stehen, und sagte,
sich echoend Schritt, Schritt, aber schon
war die Hand wieder weiter, gejagt
von der Peitsche des Schreibens,
dem Heimweh nach Form.

Es schmerzt, nicht fertig zu sein,
wenn man nirgendwoher kommt.
Atemlos liegen die Wörter auf dem Tisch,
die Hand verschwindet, kommt wieder, verschwindet,
das Gedicht erinnert sich an nichts.

Nootebooms Anspielungen sind weise und listig, voll zündender Ironie. Daraus beziehen die Gedichte ihre Vitalität und Spannung: Gegensätzliches prallt hart aufeinander, Dualitäten und Widersprüche werden nicht weggeredet, Ambivalenzen sichtbar gemacht. Das poetische Ich versteckt sich – und gibt sich mehr preis als in der Prosa. Gerade auch im „Selbstbildnis eines Anderen“, einer Folge lyrischer Szenen, die zu Bildern von Max Neumann entstanden sind: Die 33 knappen, oft nur wenige Sätze langen Stücke, die zwischen Prosa und Lyrik dahindriften, erinnern an ein mittelalterliches Stationendrama: ein Kreuzweg, eine unheimliche, beklemmende Pilgerreise durch das Niemandsland von Traum und Alb. Ein „verwahrloster Körper“, ohne Namen, ohne Geschichte, stürzt in sein Inneres ab und verliert sich. „Er lehnt sich an die fehlende Reling und sieht sich zwischen dem verschwinden, was bleiben muß, zwischen allem, was bereits war.“ Eine erste Lektion in Abwesenheit, wie Nooteboom lakonisch konstatiert.
„Eiszeit, Sternzeit / meine Vergangenheit lebt in verriegelten Bildern“ („Kartografie“): Viele der Nooteboom’schen Gedichte wirken dunkel, verschlossen. Die mitunter unzugänglichen, expressiv-überhöhten Bilder seiner frühen Lyrik scheinen verschwunden, doch die Gedichte sind deshalb nicht gefälliger geworden. Auch darin liegt der Zauber dieser Poesie: dass sie ihr Geheimnis bewahrt. Kaum ein Gedicht, das sich nach mehrmaliger Lektüre nicht wieder neu erschließen ließe. Und doch ist an dieser Lyrik nichts zufällig, beliebig oder versponnen. Die Reflexion vertreibt die Geister, die Schemen bleiben.
Wer den Autor dann noch auf Niederländisch lesen hört, verfängt sich noch mehr in den zart gewobenen Gespinsten von Rhythmus und Klang. So feingliedrig und luzid diese Gedichte auch sind: Sie fallen nicht zusammen, wenn man sie dreht und wendet, um ihr Innenleben zu betrachten und ihr Räderwerk zu prüfen. Eine Lyrik, die stimmig ist, trotz der vielen Klänge und Tonarten, die sie anschlägt.
„Dichtung, das kann eine Atemwende bedeuten“, heißt es in Paul Celans berühmter Meridian-Rede. Cees Nootebooms Gedichte bringen den Atem ins Stocken. Momente des plötzlichen Erschreckens, des Staunens, der Erkenntnis. Danach scheint manches anders. Oder, um es mit Nooteboom zu sagen: „Seelenwanderung findet nicht nach, sondern während des Lebens statt.“

Susanne Schaber, Nachwort, Dezember 2001

 

Lyrik von erhöhter Temperatur heimgesucht 

Philip en de anderen (dt. Das Paradies ist nebenan), der Roman, mit dem Cees Nooteboom debütierte, war in gewisser Weise ein – von romantischem Sentiment nicht freier – Versuch, Rührung hervorzurufen, ein Versuch, der in Verbindung mit der Jugend des Autors diesem Debüt zu seinem Erfolg verhalf. Mit seiner Lyrik, zusammengetragen in den Bänden De doden zoeken een huis (,Die Toten suchen ein Haus) und Koude gedichten (Kalte Gedichte), hat Nooteboom seinen prosaischen Versuch zur Anrührung offenbar mit einer poetischen Korrektur versehen wollen, einer Korrektur, die schon aus den beiden Titeln spricht. Dies ist an sich nichts Ungewöhnliches. Das Schreiben von Romanen oder Gedichten ist eine unvermeidliche Einengung, derer sich der Autor oftmals bereits bewußt wird, nachdem er seinen Schlußsatz verfaßt hat – oder aber nachdem das von ihm Geschriebene veröffentlicht wurde und aufgrund des Drucks viel verbindlicher wirkt, als es die Wirklichkeit verträgt. Daher das Bedürfnis mancher Schriftsteller, sich nach Vollendung eines Werkes einmal auf etwas völlig anderes zu verlegen.
Dieses Bedürfnis nach Veränderung und Abwechslung ist eine der Triebfedern der Kunst. Ein Buch beschwört das nächste herauf, so, wie bei spiritistischen Sitzungen ein Toter den anderen zur Manifestation verleitet. Sobald man einmal anfängt, zu schreiben oder Geister zu beschwören, gibt es kein Halten mehr. Ein Schriftsteller ist von Natur aus ein Vielschreiber, der durch seine Neurose, seinen Verstand, äußere Umstände und andere Talente nicht in seinem Schreiben gehemmt, sondern im Gegenteil zum Schreiben angeregt wird.
Die Gedichte Nootebooms sollen den Leser nicht anrühren, ebensowenig aber entmutigen. Denn obgleich alle Gedichte aus beiden Bänden vorn Tod handeln (im Augenblick offenbar Nootebooms großes Thema) und den Leser also von vornherein ergreifen müßten, findet sich in der Stimmung oder im Stil nach meinem Dafürhalten nichts, was unverkennbar auf Tuchfühlung mit dem Leser abzielt. Von manchen Dichtern braucht man nur einige Zeilen zu lesen, um sich auf persönliche Weise angesprochen zu fühlen, auch wenn sie das Wort nicht direkt an uns richten. Die Gedichte Nootebooms jedoch erwecken den Eindruck, sie seien in völliger Abgeschiedenheit verfaßt worden, ohne die imaginierte Rücksprache mit dem Leser. Nur ihre Veröffentlichung legt Zeugnis davon ab, daß dieser Dichter Wert darauf legt, gehört zu werden.
Der Eindruck der Abgeschiedenheit, den man aus der Lyrik Nootebooms gewinnt, steht zweifellos im Zusammenhang mit dem Kampf, den dieser Dichter in seinem Werk gegen die Entgrenzung führt, mit der der Tod unser Leben vom ersten Augenblick an untergräbt. Das Wissen um diese paradoxe Entgrenzung, aufgrund derer sich das Leben, so, wie Nooteboom es darstellt, nicht auf eine rationale oder schicksalhafte Bedeutung zurückführen läßt, ist bei diesem Dichter dermaßen zwingend, daß es ihm offenbar an Initiative oder Energie fehlt, um nach einer letzten Möglichkeit der Einschränkung im Kontakt mit dem Leser zu suchen.
Nooteboom ist in seinen Gedichten nahezu vollkommen alleine, und aus einer Reihe von Gedichten hat er auch sich selbst entfernt. Seine poetische Welt, die fast ausschließlich durch elementare Naturerscheinungen in Bewegung gehalten wird, erfährt weder durch die Anwesenheit von Menschen noch durch ein System der Aufeinanderfolge innerhalb des Naturgeschehens irgendeine Ordnung oder Begrenzung. Seiner Lyrik wohnt eine Unbestimmtheit inne, die nicht durch Kausalität oder durch pathetischen Wortgebrauch verursacht wird, sondern durch die Wehrlosigkeit, mit der dieser Dichter auf die Entgrenzung durch den Tod reagiert und durch die seine Persönlichkeit in eine entnervte Zerstreutheit getrieben wird.
Diese Wehrlosigkeit ist nicht frei von Wut oder Widerstand, aber es fehlt ihr die gesunde Gleichgültigkeit, mit der wir uns in den Gedanken an unseren Tod schicken, solange wir nicht von erhöhter Temperatur heimgesucht werden. Die Dichtung Nootebooms wird, so könnte man sagen, von einer ständigen latenten erhöhten Temperatur geplagt, von einer Fiebrigkeit, die verantwortlich ist für das Gefühl der Kälte, das seine Welt versteinert. Ungeachtet des ihr zugrundeliegenden Widerstandes reicht diese Wehrlosigkeit so weit, daß sich Nooteboom in seiner Dichtung mit dem Tod assoziiert und identifiziert. Wärme wird als Fälschung, Blüte als Verrat betrachtet:

darum anzurühren hat keinen Sinn
wenn Meuchelmörder in der Dämmerung
Schlangen lauernd im Gras, Gift in den hitzigen Blumen
Spinne im Nest des Waldes,
unter dem Spiegel des Wassers, wartend.

Wenn es sommert, ist keiner sicher
der Garten ist gefährlich gefüllt mit Sträuchern
Üppigkeit ist Verrat, jeder Baum
eine Räuberhöhle, eine Falle.

winterlich möchte ich sein, grausam und winterlich,
eine kalte Sorte zugefrorenen Volkes,
ein eisernes Blindendasein,
meine Fluchtspur in den weichen Schnee getrieben
doch weit für die Jäger, die Hunde,
auf der Suche nach der kältesten Wahrheit.

Die ist eintöniger Wüstensand
Wahrheit eintöniger Wüstensand.

Diese Wahrheit – die Wahrheit des Todes – ist zugleich heiß und kalt, „ein tropisches Übermaß an Kälte“, wie Nooteboom es in einem seiner Gedichte sagt. Die Gleichsetzung von Hitze und Kälte ist ein Beweis für die Unumschränktheit der Herrschaft des Todes über das Leben und für die Heftigkeit, mit der er alle Gegensätze, die wir als Möglichkeiten zum Leben zu ergreifen suchen, zunichte macht.
Wärme und Regen sind Symbole eines Übergangszustandes zwischen Tod und Leben, eines ohnmächtigen Aufschubs, eines fließenden Selbstbetrugs in einer Welt, die zur Versteinerung verdammt ist. Es ist ein absurder Standpunkt, der Nooteboom zumindest in seiner Dichtung dazu zwingt, sich aus der Welt der Menschen zurückzuziehen, ein Rückzug, der seinen Gedichten eine asketische Prägung verleiht. Es ist kein unmöglicher Standpunkt, wie dies bei Dichterstandpunkten häufig der Fall ist, und Nooteboom führt ihn mit einer Ernsthaftigkeit vor, die trotz einer gewissen Eintönigkeit und einer bisweilen preziösen Sprödigkeit hinlänglich heiß und kalt ist, um aus der Dichtung dieses Prosaschriftstellers mehr als eine bloße Reaktion auf den anrührenden Versuch seines Romans zu machen.

Adriaan Morriën
Zuerst erschienen in Het Parool, 25.7.1959, hier aus Der Augenmensch Cees Nooteboom, herausgegeben von Daan Cartens, Suhrkamp Verlag, 1995
Aus dem Niederländischen von Magda Moses und Bram Opstelten

Ich komme zu keiner Form von Klarheit,

wenn ich nicht schreibe

– Ein Gespräch mit Cees Nooteboom. –

Elisabeth Niccolini: Sie sind in verschiedenen Ländern zu Hause, mit verschiedenen Sprachen und Kulturen sehr gut vertraut; wie ist Ihre Beziehung zur niederländischen Literatur?

Cees Nooteboom: Wie jeder Schriftsteller habe auch ich meine Helden zu Hause, aber wenn Borges zum Beispiel über bestimmte Autoren redet, kennt sie jeder, wenn ich über niederländische Schriftsteller rede, auch wenn es Große sind, kennt sie fast niemand, und deshalb tut man das auch nicht immer. Es kann im übrigen kein Zufall sein, daß die Schriftsteller, die ich in erster Linie meine, Multatuli, Couperus, Hermans und Slauerhoff, alle Niederländer waren, die im Ausland wohnten. Der letzte war Schiffsarzt, er stand im Leben immer quer: Er hat ganz eigenartige Romane und wunderbare Gedichte geschrieben. Immer auf Reisen, war er kompromißlos und hatte große Schwierigkeiten mit Menschen; er ist eine der wichtigsten Figuren unserer Literatur. Ein anderer bedeutender Schriftsteller ist Couperus, der viele Romane geschrieben hat und ein unermüdlicher Reisender war. Vor einiger Zeit hat der Aufbau Verlag mit Couperus’ Roman Die stille Kraft einen ersten Schritt zur Neuedition seiner Werke in Deutschland getan.
Was ich über Holland zu sagen habe, steht, so glaube ich, in dem Roman In den niederländischen Bergen. Dort schaue ich durch spanische Augen auf ein nicht bestehendes Holland und auf die Holländer. Es ist ein ganz eigenartiger Volksstamm, sehr unbekannt, international orientiert und mehrsprachig; man hat von uns nur die Klischees im Kopf, aber in Wirklichkeit kennt man uns nicht, obwohl wir mitten in Europa leben. Mein Verhältnis zu Holland ist schwierig, weil ich ein Reisender bin. Amsterdam ist eine magische Stadt, aber obwohl ich sehr gerne dort bin, muß ich immer wieder raus; ich bin dort nicht isoliert genug. Wahrscheinlich wäre ich auch als Deutscher oder Italiener ein Reisender geworden: Ich glaube, daß der Nomadismus angeboren ist und das Chamäleonartige, das dazugehört, auch, und das hat wiederum mit Fiktionalität zu tun. 

Niccolini: Ihre erste Reise nach Berlin machten Sie 1963 mit zwei Freunden, einem Dichter und einem Journalisten. 1989 wurden Sie vom DAAD für ein Jahr nach Berlin eingeladen, und somit wurden Sie Zeuge der sogenannten „deutschen Wende“, wie Ihre Berliner Notizen belegen. Als ich kurz nach Erscheinen 1991 Ihr Buch las, sah ich auch den Film von Godard Allemagne neuf zéro und dachte erneut, daß nur gute Kenner der deutschen Kultur, aber kein einziger Deutscher in der Lage waren, sich mit der nötigen Distanz über die Wunde Berlins zu äußern. Wie denken Sie darüber?

Nooteboom: Ich kenne Allemagne neuf zéro nicht. Es gibt allerdings doch Deutsche, die sehr gut dazu in der Lage waren, zum Beispiel Hans Magnus Enzensberger, aber für die meisten Deutschen ist das Nachdenken über Deutschland tatsächlich ein Problem. Ich fuhr erstmals 1963, als Journalist, nach Berlin, in Begleitung von zwei Freunden zu einem SED-Kongreß, wo wir mit einem unangenehmen Deutschland konfrontiert wurden. Als ich 1989 dann vom DAAD nach Berlin eingeladen wurde, dachte ich nicht „wie herrlich“, sondern eher: „interessant“. Ich habe mich danach zum erstenmal wirklich in Deutschland vertieft, obwohl ich natürlich schon sehr viel wußte. Ich hatte auch das Glück, ein paar gute und interessante Freunde hier zu finden, Schriftsteller, Philosophen, Maler, und plötzlich habe ich mich dann sehr wohl gefühlt. Hinzu kam die „Wende“, die ein Moment von großer politischer Bedeutung für mich und für ganz Europa war.
Wenn ich jetzt in der Stadt herumlaufe, in der Friedrichstraße zum Beispiel, wo ununterbrochen gebaut wird, dann denke ich, daß hier doch etwas entsteht. Es braucht ja nicht die Hauptstadt von Europa zu sein, aber Berlin wird die Kernstadt zwischen Ost und West. Hier entsteht das große Zentrum Europas. Man wünscht sich, daß die Deutschen gut damit umgehen, daß sie das eigene historische Schicksal nicht verweigern, das Deutschland nun einmal hat, weil es mitten in Europa liegt. Für das Geld und die ökonomische Potenz des Landes arbeiten die Deutschen zwar hart, aber aus Reaktion auf frühere Irrtümer schütteln sie politische Verantwortung gerne von sich ab, und somit begehen sie doch wieder einen Irrtum. Sie sagen, wir sind nicht da, wir sind abwesend. Aber man kann nicht abwesend sein, wenn man so groß und so mächtig ist, mitten in Europa liegt und an neun Länder grenzt.
Das Leben hier in Berlin ist faszinierend, und hinzu kommt noch etwas. Wir befinden uns mitten in der Stadt, und es herrscht eine unglaubliche Ruhe; Berlin hat weder die Nervosität von Paris noch den Lärm von Rom oder die Hektik von New York. Sie ist nicht die schönste Stadt der Welt, aber man muß sagen, sie hat etwas, und deshalb komme ich auch immer wieder zurück. 

Niccolini: Sie beschreiben Berlin als „das große, ruinöse Monument, die geteilte Stadt“, „die lebende Erinnerung“ oder „das größte Wartezimmer Europas“. Seit ein paar Jahren verbringen Sie regelmäßig einige Monate in Berlin, ansonsten pendeln Sie zwischen Amsterdam und Spanien. Was bedeutet für Sie Berlin? Möchten Sie vielleicht auch hier warten? Und worauf?

Nooteboom: Mit dem „Warten“ beziehe ich mich auf den historischen Ort Berlin, der gerade deswegen viel mit Literatur zu tun hat und für Schriftsteller besonders interessant ist. Irgendwo habe ich geschrieben oder gesagt, daß in diesem Jahrhundert die Berliner viel mehr durch alles mögliche gegangen sind als die Bevölkerung einer anderen Stadt Europas. Sie sind daran gewöhnt, immer wieder etwas Dramatisches, Großes zu erleben, und jetzt gibt es – und das müssen Sie richtig wiedergeben – das Allerlangweiligste, was es gibt, nämlich die Demokratie. Damit meine ich folgendes: vom Faschismus oder vom Kommunismus – so wie er hier war – her gesehen, ist die Demokratie natürlich die Utopie; aber es ist sehr schwierig, in Utopien zu leben: Utopie ist langweilig, es passiert nichts, kein Drama, keine Revolution, man muß nur lernen, normal zu leben, so wie das in Amerika seit zweihundert Jahren geht. Nimmt eine solche Situation kein Ende, hat sie etwas von langsamem, ewigem Warten. Ob es halten wird – das ist die Frage. Als ich unmittelbar nach der Wende verschiedene Texte für die taz schrieb und zu Lesungen in die neuen Länder fuhr, fragten mich die jungen Leute, ob ich nicht Angst hätte vor einem wiedervereinigten Deutschland, was ich verneinte. Die Angst kommt aus ihnen; sie haben Angst vor den eigenen Landsleuten, vor dem, was sie schon wieder tun könnten. Deshalb regen sich die Deutschen auch viel mehr über den neuen Rassismus auf als andere europäische Völker. Rassismus, der zweifellos existent ist, aber nicht nur in Deutschland, bloß mit dem Unterschied, daß er hier viel mehr Bedeutung hat als anderswo, weil man weiß: es ist möglich gewesen, es könnte erneut möglich werden. Aber ich denke, daß das Fundament der Demokratie, so wie es hier in den letzten vierzig Jahren begründet wurde, ziemlich stark ist.

Niccolini: Neben einer Reihe von Novellen, Romanen und Reisebüchern haben Sie seit 1956, dem Erscheinungsjahr Ihrer ersten Gedichtsammlung Die Toten suchen ein Haus (De doden zoeken een huis) regelmäßig Gedichtbände veröffentlicht. Ein seltener Fall, daß die Stimme des Romanciers und die Stimme des Lyrikers sich in einem Autor treffen. Wie würden Sie diese Spaltung beschreiben, und auf welcher Seite fühlen Sie sich eher zu Hause, in der Prosa oder in der Lyrik? 

Nooteboom: Ich würde nicht von „Spaltung“ sprechen. Wahr ist, daß große Romanschriftsteller meist keine großen Dichter waren, obwohl es natürlich Ausnahmen gegeben hat; ich nenne nur Goethe. Und es ist auch wahr, daß Hemingways Gedichte nicht zu dem Schönsten zählen, was er geschrieben hat, was man auch von Nabokov sagen könnte. In der niederländischen Literatur gibt es Schriftsteller wie Hugo Claus, der Dichter ist und auch Romane geschrieben hat, oder den schon erwähnten Romancier Louis Couperus, der gesagt hat: Ich habe einfach drei Tintenfässer, und wenn ich Gedichte schreibe, dann benutze ich dieses, wenn ich Prosa schreibe, dieses, und wenn ich Reiseberichte schreibe, das andere. Damit wollte er nur sagen, daß er den einen Teil seiner Persönlichkeit vom anderen unterscheiden konnte. Natürlich gibt es keine wirklich wasserdichte Scheidung, aber die Unterschiede sind mir sehr bewußt. Abgesehen von der Form ist ein Roman auch eine total andere Disziplin. In meinem Fall muß ich jeden Tag einfach arbeiten, und wenn man dann einen Einfall hat, kann man den notieren und am nächsten Tag weitermachen. Ein Gedicht hingegen kann einen überfallen; man geht nicht morgens um neun in sein Studio, um Gedichte zu schreiben. Für mich ist das Gedicht eine ganz andere Denkart, und man kann ja nicht sagen, daß man im Leben nicht zwei Denkarten ausüben könnte.
Beim Dichten versucht man etwas Wesentliches in knapper Form zu sagen und das Gedicht praktisch „als Ding“ entstehen zu lassen; mit einem Roman hingegen erzählt man den anderen etwas, und so ist die Technik eine ganz andere; dennoch kann man beide Techniken beherrschen. Es gibt Zeiten, in denen ich keine Lust habe, Romane zu lesen, und andere, in denen ich die Poesie beiseitestelle, und genauso geht es mir mit dem Schreiben. Es gibt Zeiten, in denen man nur in Poesie denkt und lebt, und Zeiten, in denen man in Romanen lebt, ich fühle da nichts Besonderes, aber man muß auch dazusagen, daß mein Universum ein poetisches ist, auch wenn ich Reiseberichte schreibe. Für meine Prosa habe ich aus der Poesie viel gelernt und nicht umgekehrt. 

Niccolini: Wie sind die vier Bashō-Gedichte entstanden?

Nooteboom: Sie sind entstanden anläßlich eines von der Universität Amsterdam vergebenen Auftrags an den holländischen Maler Sjoerd Bakker, mit dem ich sehr viel gereist bin. Er sollte eine Reihe von Bildern mit einem japanischen Thema malen. Auch für ihn ist Bashō ein Vorbild, und deshalb hatte er sich vorgenommen, teilweise den Weg Bashōs in Japan zu verfolgen. Dabei hat er Bilder gemalt, und ich habe die Gedichte zu seinen Bildern geschrieben. Was die Form angeht, wollte ich keine Haikus verfassen, die nur eine schwache Imitation sein könnten, sondern eher das Gegenteil, langatmige, etwas hölderlinsche Verse, um auszudrücken, was ich an Bashō liebe. Und durch Bashō hindurch spreche ich über das Dichten überhaupt.

Niccolini: In dem Gedichtzyklus Paesaggi narrati (Erzählte Landschaften), erschienen 1982, lassen Sie einzelne Elemente der Landschaft zu Wort kommen, so daß sich eine Art lyrisches „De rerum natura“ entwickelt, um ein Werk zu erwähnen, dessen dichte Präsenz an ein fast ununterbrochenes Zwiegespräch denken läßt. Was für eine Funktion hat hier das Werk von Lukrez, und wie sind Sie technisch mit ihm umgegangen?

Nooteboom: De rerum natura ist als Ausdruck da: Ich habe zum Beispiel eine Serie von Gedichten geschrieben, in denen Elemente der Natur sprechen, zum Beispiel eine Felswand, so daß die Natur personifiziert und zu einem lebenden Wesen gemacht wird, auch wenn es tote Steine sind. Sie reden zu einem, und somit hat man ein vis-à-vis. Lukrez bedeutet für mich etwas ganz anderes: Er war ein Philosoph und Wissenschaftler, der seine Philosophie und Wissenschaft in Poesie ausgedrückt hat. Wäre ich jetzt – in diesem Zeitalter – einer wie Lukrez, würde ich wissenschaftliche Gedichte schreiben über das Wissen meiner Zeit, über die Relativitätstheorie, über Quasare und neue Entdeckungen im Weltall, aber das kann ich nicht, denn seit dem späten Mittelalter sind Wissenschaft und Kunst verschiedene Wege gegangen, und seitdem gab es keine wirkliche Verbindung mehr. Natürlich lese ich über Wissenschaft und hoffe, daß Wissenschaftler Poesie lesen, aber daß das eine durch das andere ausgedrückt wird – wie bei Lukrez –, das gibt es nicht mehr, und eigentlich habe ich diese Lukrez-Gedichte aus Sehnsucht danach geschrieben. Die anderen Gedichte – poemas del Hierro – sind durch Photos entstanden, während einer Reise mit einem Freund, der Photograph ist, einer Reise auf der Insel Hierro, dem westlichsten Punkt Europas, von dem man im Mittelalter sagte, daß hinter ihm die Welt endet, daß man von ihm in die Tiefe fällt. Später, beim Betrachten dieser Naturphotos, kam der eigenartige Moment, in dem ich mich in das Photo einlebte, mich selbst hineindachte, und dann fühlte ich, als ob ich dieser Stein, diese Landschaft, dieses Wasser wäre. Es ist eine Art magische und vielleicht auch altmodische Naturbelebung, die ich aber sehr stark empfinde. 

Niccolini: Schreiben, um den unaufhaltsamen Fluß der Zeit in Wortgebäuden zu fangen, in Erstarrung zu bringen und somit am Leben zu halten: ein Gedicht, „geschlossen wie ein Stein“, lautet ein Vers in einem Ihrer Gedichte. Unter den literarischen Gattungen ist das Gedicht als luftiges Gebäude aus Atem und Lauten diejenige, die in ihrer Knappheit und Bildhaftigkeit einem Gemälde am nächsten steht. Zeigen Sie deshalb vielleicht eine ausgeprägte Vorliebe für die Malerei, die unter den Künsten sich am deutlichsten um das Festhalten eines Augenblicks bemüht? Ich möchte hier zwei Bildbände mit Texten von Ihnen erwähnen, in denen die Sprache neben den Bildern eine autonome Geschichte erzählt; es handelt sich um das Buch über den spanischen Barock-Maler Zubarán und um das Buch Selbstbildnis eines anderen, das Sie zusammen mit dem Berliner Maler Max Neumann realisiert haben. Welche Beziehung haben Sie zur Malerei?

Nooteboom: „Offen wie eine Muschel, geschlossen wie ein Stein“, so sollte der Dichter sein. Eine Zeitlang habe ich alte Bücher – bis 1850 – über Muscheln gesammelt. Das Phantastische an Muscheln ist, daß es sich bei ihnen, auch wenn sie schön und farbig sind, eigentlich um Leichen handelt; das Versteinerte, das, was man sieht, lebt nicht mehr. Sie sind nur Skelette, während das Leben, weich und offen, innen war. Um zu dem Vers zurückzukommen „Offen wie eine Muschel, geschlossen wie ein Stein“: Der Dichter ist verletzbar wie eine Muschel, aber gleichzeitig muß er sich auch total abschließen können und still sein.
Zur Bildenden Kunst habe ich eine intensive Beziehung. Die Hauptperson meiner Romane ist oft ein Beobachter, ein Mensch also, der mit den Augen arbeitet; zudem habe ich allerhand Kunstbeschreibungen verfaßt. Daneben habe ich mich öfter mit Photographie beschäftigt und sehr viel mit Photographen zusammengearbeitet. Ich glaube nicht so sehr, daß in einem Gemälde die Zeit festgehalten wird – sieht man, in gewissem Maße, mal von einem Porträt ab –, aber in der Photographie ist alles immer viel sprechender, weil man hier sicher sein kann, daß Kunst eigentlich nicht mit ihr vermischt ist, obwohl bestimmte Photographien durchaus künstlich sein können. Man spürt das meistens, wenn man Photos von Unbekannten aus dem letzten Jahrhundert sieht: die abgebildeten Menschen haben wirklich gelebt, das Licht hat sie aufgeschrieben, und jetzt stehen sie vor uns in ihrer Fremdheit, und man kann sich nur fragen: Was war das? Sie blicken dich jetzt an, aber sie können dich nicht sehen. Die Situation hat etwas Pathetisches, weil diese Menschen Sachen gesehen haben, die wir nicht mehr sehen können, andererseits sehen wir diese Menschen, aber sie können uns nicht sehen. Wir begegnen einem Rätsel. Auch wenn ich über Malerei schreibe, was ich sehr gerne tue, schreibe ich nicht als Kunsthistoriker, sondern als einer, der versucht, die Rätsel zu lösen, die in den Gemälden sind. Vor einiger Zeit habe ich zum Beispiel einen Text über Vermeer und Hopper geschrieben. In ihren Gemälden geschieht etwas Unmögliches, weil beide die absolute Intimität malen, in der kein Mensch dabei sein kann. Darauf soll man sich fragen, wo der Maler ist, wo er eigentlich steht. Diese Gemälde sind reine Fiktionen. Wenn der Raum abgeschlossen ist und das Licht so fällt, daß es nicht aus der Position des Malers kommen kann, dann hat man es mit einem Rätsel zu tun. Natürlich ist die Lösung sehr einfach, aber es geht nicht darum, die Sache einfacher, sondern immer komplizierter zu machen, nämlich zu denken, daß das Gemälde ausschließlich im Kopf des Malers entstanden ist.

Niccolini: Erinnert die Sprachmetaphorik Ihrer Gedichte an die Bildende Kunst, so fällt dem Leser auf, daß Sie das Gedicht als eine geschlossene Form behandeln, auf so eine Art und Weise, daß man beim Lesen oft das Gefühl hat, sich in abstrakten Räumlichkeiten zu bewegen. Kann man in Ihren Gedichten einen Ihrerseits bewußten Bezug auf die ars memorativa, die antike Mnemotechnik vermuten? Sucht man nämlich einen Autor im zwanzigsten Jahrhundert, in dessen Werk die Mnemotechnik-Systeme der Antike eine Rolle spielen, denkt man unmittelbar an Jorge Luis Borges, einen Schriftsteller, den Sie sehr verehren.

Nooteboom: Ich würde nicht sagen, daß die Sprachmetaphorik meiner Gedichte an die Bildende Kunst erinnert, hingegen bediene ich mich beim Dichten einer unendlich uneingeschränkten Sprache. Das Gedicht soll aber, wenn möglich, „geschlossen wie ein Stein“ sein.
Auf die Frage, ob es in meinen Gedichten einen bewußten Bezug auf die ars memorativa gibt, antworte ich mit Nein. Natürlich kenne ich diese wunderbaren Schriften über die Mnemotechnik, und zwar, wie man sich Inhalte räumlich vorgestellt hat: hier ist der Eingang, dort die Halle usw. Und wenn man eine Rede gehalten hat – man findet das, so glaube ich, bei Cicero –, läuft man durch die Räume hindurch, und in jedem Raum sagt man etwas anderes, und man kann die Rede mit einem schönen Ende schließen. Dies hat mich immer sehr interessiert, aber es sind Techniken, die viel mehr mit Rhetorik als mit Poetik zu tun haben. Sicherlich ist auch die Erinnerung, wie die Malerei und die Photographie, ein Referent für mein Schreiben, aber ich benutze sie auf eine sehr persönliche Art und Weise. Um nur ein Beispiel zu nennen, möchte ich an den Umgang mit den Bildern Max Neumanns in Selbstbildnis eines Anderen erinnern. Ich hatte das Gemälde bei mir in Spanien, wo ich sehr isoliert im Sommer arbeite; ich habe die Bilder nie beschrieben, vielmehr sind die Texte aus dem alptraumartigen Klima der Zeichnungen, vermischt mit persönlichen Erinnerungen, entstanden. Das ist das Selbstbildnis, das Klima hingegen ist das des Anderen. Was ich sicher nicht gemeint habe, obwohl es Leute gibt, die das behaupten, ist das je est un autre von Rimbaud, das meine ich nun wirklich nicht. Bei mir handelt es sich um das Selbstbildnis eines Anderen, das hat es noch nicht gegeben.
Mein Verhältnis zu Borges habe ich vielleicht am deutlichsten in dem Buch Wie wird man Europäer? ausgedrückt, und zwar in dem Beitrag „Eine Frage aus Brüssel“ – besser als dort kann ich es nicht formulieren.

Niccolini: In einem Aufsatz über „Die Poetik der Poesie“ (in Lettre International, Nr. 25, 1994) verweist Joachim Sartorius auf das Selbstreferentielle des Gedichts und nennt das Nachdenken über das Dichten „eine Meditation über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit“. Während aber in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Dichter sich in poetologischen Reflexionen über das Dichten geäußert haben, verstecken viele gegenwärtige Dichter, von denen er u.a. John Ashbery erwähnt, die eigene Poetik in den Gedichten. Ich möchte behaupten, daß bei Ihnen das Nachdenken über das Dichten und das Dichten ein und dasselbe sind.

Nooteboom: Das kann ich eigentlich nur bestätigen. Ich möchte aber hinzufügen, daß ich kein Essayist bin, auch wenn das mit Gedichten nichts zu tun hat. In der Zeit, als ich den Roman Ein Lied von Schein und Sein schrieb, las ich in Holland viele langweilige Essays über das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion, und da ich weder Akademiker noch Essayist bin, aber über das Thema schreiben wollte, entschloß ich mich für die Fiktion, für den Roman.
Ja, ich würde sagen, daß meine Poetik in den Gedichten steckt, aber nicht als Programm. Eigentlich finde ich es immer schwer, über Poesie viel zu sagen, sie soll entweder aus sich selbst heraus sprechen oder schweigen.

Niccolini: Literatur als eine geheime Botschaft, der Schlüssel zu einer Wahrheit, die nur einen Augenblick lang gefangen werden kann und immer wieder neu gesucht werden muß, wie die Suche nach dem Gral. Es bildet sich eine Kette von Autoren durch die Jahrhunderte, die ihre eigenen Erkundungen über das Geheimnis in ihrem Werk den folgenden Generationen übergeben. Auf der einen Seite sehe ich im Vordergrund Lukrez, Dante, Bashō, Borges und viele mehr, auf der anderen stelle ich mir die Dürre der spanischen Landschaft vor, ihre asketische Leere als das beste Szenarium in Europa für eine solche Suche. Damit möchte ich suggerieren, daß Sie nicht nur mittels der Protagonisten Ihrer Romane einer solchen Suche nachgehen, sondern daß Sie selber auf der Suche sind.

Nooteboom: Man versucht, im Leben hinter eine Sache zu kommen. Ich komme zu keiner Form von Klarheit, wenn ich nicht schreibe, und das Geschriebene überrascht mich immer wieder, da ich vor dem Schreiben keine großen strategischen Pläne entwickle. Als ich das Haus von Faulkner besuchte, sah ich den ganzen Zeitablauf eines seiner letzten Bücher als Programm an die Wand geschrieben. Bei mir häuft sich viel auf, und plötzlich merke ich deutlich, daß ich anfangen soll zu schreiben. Ab dem Moment tue ich es täglich, und zum Teil ist es so, als ob ich mich erinnerte, ich habe kein anderes Wort dafür. Graham Greene hat einmal gesagt, daß man schon beim Friseur, beim Gemüsehändler schreibt. Und genauso ist es, wahrscheinlich schreibt man ständig, so mit dieser halben Reflexion, die man hat, und deshalb ist es möglich, alles wiederzufinden, wenn man zu schreiben beginnt. Und gerade das bleibt ein Geheimnis. 

Aus Der Augenmensch Cees Nooteboom, herausgegeben von Daan Cartens, Suhrkamp Verlag, 1995

 

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Tobias Wenzel: Zum 85. Geburtstag von Cees Nooteboom
NDR, 30.7.2018

Karsten Jauch: Von der Anschauung der Welt: Autor Cees Nooteboom feiert 85. Geburtstag
Thüringer Allegmeine Zeitung, 31.7.2018

Sabine Peschel: Cees Nooteboom – Meister der Erinnerung
Deutsche Welle, 31.7.2018

Tobias Wenzel: Cees Nooteboom wir 85
SWR2, 31.7.2018

Cornelia Zetsche: Cees Nooteboom zum 85. Geburtstag
Inforadio, 31.7.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stefan Meetschen: Katholischer Ungläubiger
Die Tagespost, 28.7.2023

Jens Dirksen: Ein melancholisches Glückskind
WAZ, 28.7.2023

Kristian Teetz Interview mit Cees Nooteboom: „Natürlich wäre der Nobelpreis schön gewesen“
RedaktionsNetzwerkDeutschland, 31.7.2023

Arno Widmann: Das Ich und die anderen
Frankfurter Rundschau, 31.7.2023

Lothar Schröder: Der reisende Holländer
Rheinische Post, 31.7.2023

Tilman Spreckelsen: Es ist an den Menschen, weiterzuschreiben
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.7.2023

 

 

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Cees Nooteboom liest einige Gedichte auf Niederländisch und Spanisch in Mexico City im April 2012.

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