Charles Dobzynski und Alain Lance (Hrsg.): Französische Lyrik der Gegenwart

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Charles Dobzynski und Alain Lance (Hrsg.): Französische Lyrik der Gegenwart

Dobzynski & Lance (Hrsg.)-Französische Lyrik der Gegenwart

ich bin eine pünktliche Krabbe     ich bin ein Brief
aaaaaohne
Ereignis     mein Feld ist leer     rein     leergefegt vom
geringsten Stern     ich habe die gerundete Masse des
aaaaaAuges
mit Samt verschleiert     dieses Instrument wird nur
aaaaanoch
seinen Staub unterscheiden können
ich wage das Schweigen nicht     ich stelle nur flache
aaaaaSätze
entgegen, die wie die Scheiben sind, die der Regen abwäscht
und ich finde Geschmack am Abend     ich habe Nachsicht für
den frühen Morgen     niemals ist etwas zum Lesen in meiner Hand

während ich die Reiskörner auf einem Küchentisch zähle
habe ich meine Heiligkeit sichergestellt     ein Leben der
Vollkommenheit     betrachtet tausendmal dieselben Brunnen,
wo sich das Wasser bricht

Von mir ab kasteit sich die Zeit     wie sagte ich
es gibt noch einen Fluß, der für Kälte empfänglich ist wie
eine Insel mit Seen und Eingeborenen

Jacques Roubaud
übersetzt von Roland Erb

 

 

 

Die neue Dichtung in Frankreich

Eine Landschaft in Bewegung
Der vorliegende Band verfolgt kein anderes Ziel, als den Lesern in der DDR einen Rundgang durch die französische Dichtung der Gegenwart zu ermöglichen. Der mit dieser Anthologie vorgeschlagene Rundgang ist sicher nicht der einzig denkbare, doch hat er in seiner Art bisher nicht seinesgleichen, nicht einmal in Frankreich, wo ideologische Zersplitterung und Gruppengeist so mächtige Barrieren errichten, daß die hier versammelten zweiunddreißig Dichter nie in ein und demselben Buch vorgestellt worden sind. Ihre Meinungen, ihre philosophischen oder ästhetischen Auffassungen sind höchst unterschiedlich, ja sogar entgegengesetzt, doch entsprechen sie einer komplexen Realität.
Erwachsen aus der Zusammenarbeit zwischen Dichtern und Nachdichtern beider Länder, erhebt diese Auswahl keineswegs den Anspruch, ein erschöpfendes Panorama der französischen Dichtung der letzten dreißig Jahre zu bieten. Wenn sie, wenigstens teilweise, ihre Geschichte und ihr besonderes Gepräge wiederzugeben sucht, dann durch ihren charakteristischen Reflex in den Werken – seien sie anerkannt oder in ihrer Bedeutung verkannt und unter Berücksichtigung der wichtigsten Strömungen, die sie hervorgebracht hat.
Dennoch soll diese Auswahl – in der sich in gewissem Maße auch die besonderen Vorlieben der Herausgeber widerspiegeln – eher eine Einführung und Einladung zum Entdecken sein als der Gang durch ein Museum, in dem man schon heiliggesprochene Gestalten und Werke vorfindet.
Es erschien uns interessanter, eine Landschaft in der Bewegung zu zeigen, eine Dichtung, die noch in Entwicklung begriffen ist oder – was die jüngsten Autoren angeht – eben erst dabei ist, sich durchzusetzen. Im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte, auf die wir unser besonderes Augenmerk gerichtet haben, offenbart die französische Dichtung mehr als je zuvor ihre Lebenskraft, ihre Beweglichkeit und ihre extreme Vielfalt, und dies macht es schwieriger, geeignete Anhaltspunkte zu finden, und läßt es gewagt erscheinen, ihre vielfältigen Tendenzen überschauen zu wollen.
Und schließlich ist die Auswahl von zwei Dichtern vorgenommen worden, die sich selbst innerhalb dieser Bewegung befinden. Die Verbindung von zwei Arten des Herangehens, von zwei unterschiedlichen Sensibilitäten, die wechselseitig ihre Überlegungen und Präferenzen in Frage gestellt haben, hat, so hoffen wir, vielleicht zu einem höheren Maß an Gerechtigkeit und Gleichgewicht innerhalb einer zwangsläufig parteiischen Auswahl geführt: Denn eine wirkliche Bilanz hätte erfordert, die Zahl der Autoren mindestens zu verdoppeln und die Texte damit notgedrungen auf Probestücke zu beschränken.

Kontinuität und Wandlungen
Die Dichter folgen einander in Raum und Zeit nicht wie die Wogen einer regelmäßigen Strömung. Nichtsdestoweniger kann man seit dem Ende des zweiten Weltkrieges annähernd drei Autorengenerationen unterscheiden. Wenn wir uns bei unserer Auswahl hauptsächlich auf jene konzentriert haben, die in den sechziger Jahren zur Reife gelangte, sowie auf jene andere, die zu Beginn der siebziger Jahre antrat, so deshalb, weil sie die am wenigsten bekannten Autoren der französischen Gegenwartsdichtung sind und noch kaum in fremde Sprachen übertragen wurden. Doch lassen sich die Umrisse dieser verschiedenen Generationen nicht mit kartographischer Genauigkeit erfassen. Sie sind keineswegs hermetisch voneinander abgeschieden, die einen leben nicht unabhängig von den anderen, sie koexistieren in der Übereinstimmung und im Konflikt und tragen alle gleichzeitig zum Werden der Dichtung bei. So kommt die Rolle der „Avantgarde“ auch nicht zwangsläufig den jüngsten Dichtern zu: Einige ältere Autoren erweisen sich zuweilen als Wegbereiter einer Richtung, die ihre Schüler in der Folge weiter ausarbeiten.
So wie sich jede Dichtung in eine Kontinuität einschreibt, so lebt sie nur im Zustand fortwährender Wandlung. Ihre Veränderungen führen ihr Nahrung zu. Die Dichtung ist der Schmelztiegel der Sensibilitäten, der Ideen, der Schreib- und Lebensweisen. Zugleich wirkt sie – nach der Formel von Jacques Roubaud – als „Gedächtnis der Sprache“ und vermag dadurch ihr Vermächtnis zu hüten und zu erneuern, sich vor Erosion oder Schichtenbildung zu schützen. So hat zum Beispiel die romantische Dichtung in Frankreich die Sprache vor der stilistischen Sklerose bewahrt. Victor Hugos Ausruf „Ich hab dem alten Wörterbuch die rote Mütze aufgesetzt“ ist keineswegs nur eine geistreiche Behauptung, sie resümiert eine Art des Vorgehens, eine permanente Eroberung, wie sie auch bei Verlaine und Rimbaud, Apollinaire und Cendrars zu finden ist. Doch betrifft diese Erneuerung nicht allein den Wortschatz, sie berührt in gleichem Maße die Verslehre und das ganze Ausdruckssystem.
Ebenso hat der Surrealismus unter den avantgardistischen Strömungen zu Beginn dieses Jahrhunderts die Rolle eines Erneuerers der dichterischen Sehweise und Sprache gespielt. Obwohl seine Theorien und Methoden schon bald selbst zur Konvention erstarrten und gesprengt werden mußten, schlug sich diese Erfahrung sogar bei jenen nieder, die sich entschieden von ihm abwandten. So wurden mehrere große Dichter – Robert Desnos, Paul Eluard, Tristan Tzara, Louis Aragon und René Char −, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Surrealismus trennten, die meistbeachteten Wortführer der Résistance-Dichtung. Die Lyrik dieses Zeitraums stellt ein weiteres grundlegendes Phänomen der französischen Dichtung dar: sie vermochte zum – öffentlichen oder geheimen – Echo des nationalen Bewußtseins zu werden, zum Bindeglied in den Kämpfen um die Befreiung vom Faschismus. Auf die klassische Tradition des chant, des Gesanges, zurückgreifend (des von Aragon neubestimmten bel canto), erneuerte sie das polemische und patriotische Erbe, das sich in Les tragiques (dt. „Die tragischen Gesänge“) von Agrippa d’ Aubigné und in Les châtiments (dt. „Die Züchtigungen“) Victor Hugos niedergeschlagen hatte, das Erbe des Symbols und der „kulturellen Konterbande“, wodurch die Dichtung eine seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr gekannte Zuhörerschaft gewann.
Unter diesen dramatischen Umständen hat sich eine Generation herausgebildet, deren Vertreter – Pierre Emmanuel, André Frénaud, Pierre Seghers, Guillevic, Jean Cayrol, Loys Masson, René-Guy Cadou und viele andere – zu dem beitrugen, was man L’Honneur des Poètes, „die Ehre der Dichter“, genannt hat und was zugleich der Titel einer 1943 illegal publizierten Anthologie der Resistance-Lyrik ist. Jeder von ihnen hat später sein Werk in eigener Richtung weitergeführt.
Gleichzeitig setzten auch große Dichter der älteren Generation, wie Saint-John Perse, Pierre Reverdy, Philippe Soupault, Jules Supervielle, Henri Michaux, Jacques Prévert, Pierre-Jean Jouve, Raymond Queneau und Francis Ponge ihr Werk fort, das – bei allen Unterschieden der künstlerischen Persönlichkeiten und Bestrebungen – einen unersetzlichen Bestandteil dieser literarischen Epoche bildet.
All die genannten Autoren wird man in diesem Band nicht finden, aber sie bilden den unauflöslichen Kontext des Zeitabschnittes, der uns beschäftigt und den man nicht verstehen kann, ohne sich jene Vorläufer, ihre Präsenz und ihre Leistung vor Augen zu halten.

Eine Dichtung in Aktion
Im ersten Nachkriegsjahrzehnt zeichnen sich schon die künftigen Polarisierungen der dichterischen Kräfte und Formen ab. Moden entstehen mit dem Sartreschen „Existentialismus“, der Wiederentdeckung des Jazz und des amerikanischen Films, eine Art von Raserei, von ungehemmter Lebensgier, wie sie Boris Vian, dieser wundersame Tausendkünstler, verkörpert. Seine Gedichte und Chansons in der direkten Nachfolge von Péret, Queneau und Prévert erlangen später postumen Ruhm: In ihrem sarkastischen Humor, ihren zügellosen Wortspielen und abrupten Gedankensprüngen wird die protestierende Jugend der sechziger Jahre eine Vorwegnahme ihrer Revolte erblicken.
Die Dichtung der Résistance erfährt, nachdem sie den Höhepunkt ihrer Volkstümlichkeit überschritten hat, den Gegenstoß und den Druck durch die literarischen Institutionen, die das Zurück zum l’art-pour-l’art fördern. Während sich zahlreiche Dichter der neuen Generation nun auf ihr „privates Terrain“ beschränken, bemühen sich andere, Geist und ethische Haltung einer Bewegung zu bewahren, die der Dichtung ihr Ansehen beim Volk zurückgegeben hatte. Das betrifft vor allem Jacques Gaucheron, der die „Maquis von Frankreich“ (Les maquis de France) rühmt oder aus der Geschichte der „Seidenweber von Lyon“ (Les Canuts) Lehren zieht, die eine Wirkung auf die epische und dramatische Haltung seiner Zeit ausüben soll. Jean Marcenac verleiht – seinem „Manifest der Schule von Oradour“ folgend – der Hoffnung Flügel, während Rouben Melik in seinen elegischen Gesängen wie in seinen Anklagereden wider Ungerechtigkeit und Rassismus den traditionellen Vers moduliert und erneuert. Unter der Ägide des in der Résistance gegründeten Nationalkomitees der Schriftsteller bildet sich eine „Gruppe junger Dichter“, in der unter anderen Jacques Roubaud und Charles Dobzynski debütieren. Rund zwanzig Autoren dieser Gruppe stellt EIsa Triolet 1951 in der Anthologie La belle jeunesse („Die schöne Jugend“) vor. Die Zeitschrift Les Lettres Françaises bietet diesen Unbekannten eine Plattform, und Aragon führt an gleicher Stelle seine Kampagne Pour une poésie nationale („Für eine nationale Dichtung“), die eine Diskussion über Ziele und Mittel der Lyrik eröffnet und einen der Résistance-Dichtung vergleichbaren Aufschwung hervorzurufen versucht. Aber der Rückgriff auf die traditionellen Strukturen, auf den Reim, auf das Sonett wird nicht in jedem Fall dem Temperament der beteiligten Dichter gerecht. Bedeutungsvoll ist hier das Beispiel Guillevics: Nach der Erfahrung der „Sonette“ kehrt er zu der ihm spezifischen Kargheit seiner früheren Schreibweise zurück.
Die Entwicklung der historischen Umstände sowie der Sensibilität und der Sprache, die allzu offensichtlichen Zugeständnisse an das Leichtfertige, „Deklarative“, erlauben es dieser Strömung nicht, überzeugende und dauerhafte Ergebnisse hervorzubringen. Die politische Dichtung dieser Generation der fünfziger Jahre ist geprägt von der Schärfe des kalten Krieges und der sozialen Auseinandersetzungen, aber sie leidet an einem Schematismus, der sich am aktuellen Geschehen inspiriert, ohne den Stoffen einen hinreichend eigenständigen Ausdruck zu verleihen.
Nichtsdestoweniger treten in dieser widerspruchsvollen und unruhigen Zeit zahlreiche neue Dichter hervor. Die Blüte der kleinen Zeitschriften trägt sowohl in der Provinz als auch in Paris zu ihrer Entfaltung bei. Aber auch große literarische Zeitschriften dienen diesen jungen Lyrikern als Sprungbrett; besonders Europe, die die von Romain Rolland überkommene Zielsetzung des Humanismus, der Öffnung und der schöpferischen Freiheit übernommen hat und regelmäßig Cahiers de Poésie – Lyrikhefte veröffentlicht, in denen einige jener Autoren erscheinen, die später wichtige Vertreter oder Wortführer einzelner Strömungen der zeitgenössischen Dichtung werden. Indessen – wenn die Nouvelle Revue Française der Dichtung auch weiterhin einen Platz offenhält – orientieren sich andere wichtige Zeitschriften wie Les Temps Modernes und Esprit mehr und mehr auf Soziologie und Philosophie; Les Lettres Françaises und dann Les Lettres Nouvelles verschwinden in den siebziger Jahren, so daß die Möglichkeiten zur Verbreitung junger Dichtung über die literarischen Monats- und Wochenschriften, die ihr eine größere Zuhörerschaft sicherten, geringer werden.
Die beginnenden sechziger Jahre stellen auf der politischen wie auf der dichterischen Ebene einen Wendepunkt dar. In Algerien wütet der Kolonialkrieg, de Gaulle kommt an die Macht, die Massen der Arbeiter und die demokratischen Kräfte sind aufgrund ihrer Uneinigkeit relativ schwach, der Zugriff der Monopole verstärkt sich. Doch gleichzeitig wächst der Widerstand gegen das Kolonialabenteuer, gegen die reaktionäre und faschistische Bedrohung, die über dem Lande schwebt.
Unter diesen Bedingungen bezeichnet die Zeitschrift Action Poétique, die, 1950 gegründet, seit 1958 zunächst in Marseille, dann in Paris regelmäßig erscheint, eine wichtige Etappe. Begründet von Gérald Neveu, einem hochbegabten poète maudit einem „geächteten“ Dichter −, und von Henri Deluy, der ihre Leitung übernahm, fördert sie die Entwicklung der um sie gruppierten Dichter, die einander im Alter und in den Idealen nahestehen: Sie sind zum überwiegenden Teil Marxisten oder stehen dem Marxismus nahe. Doch wollen diese Dichter nicht nur als Kämpfende Zeugnis ablegen, sondern gleichzeitig eine neue Auffassung von der Rolle der Poesie in diesem Kampf ausarbeiten. Gemeinsam nehmen sie eine kritische Neubewertung des literarischen Erbes, der Avantgarden, der Dichtung des Auslandes (namentlich der sozialistischen Länder) und der Methoden der dichterischen Sprache vor. Action Poétique ist keineswegs ein geschlossener Kreis oder ein „Generalstab“ der sogenannten „engagierten“ Lyrik (dieser Sartresche Terminus, der zum bequemen Etikett, zum einschränkenden Begriff geworden ist, wird von ihnen abgelehnt), sondern sie ist Arbeitsplatz und Treffpunkt von Dichtern, deren Werke sich voneinander deutlich abheben und die ihre Autonomie bewahren. Autoren wie Maurice Régnaut und Joseph Guglielmi, Charles Dobzynski und Jacques Roubaud, Bernard Vargaftig und Paul Louis Rossi, Lionel Ray und Alain Lance, Claude Adelen und Pierre Lartigue weisen ebenso viel Unterschiede wie gemeinsame Nenner auf. Einige von ihnen unterhalten enge Beziehungen zu anderen Gruppen oder „Laboratorien“ der Avantgarde: Roubaud und Rossi arbeiten bei Change mit, einer seit 1968 von dem höchst produktiven Lyriker, Essayisten und Romancier Jean-Pierre Faye herausgegebenen Publikationsreihe, wo die theoretische Forschung und das dichterische Experiment unter dem Zeichen der „Transformationsgrammatik“ Hand in Hand gehen. Joseph Guglielmi steht den Dichtern der erst seit kurzem erscheinenden Zeitschrift Collet de Buffle nahe, die eine äußerst asketische und stark an Mallarmé geschulte Abklärung der Sprache praktizieren. Zu dieser Gruppe gehören außer dem in der Anthologie vorgestellten Alain Veinstein noch Jean Daive und Anne-Marie Albiach. Die Dichtung Lionel Rays dagegen kann in ihrer Einzigartigkeit und in ihren Aufschwüngen kaum mit der anderer Lyriker verglichen werden.
Sehr viele andere Dichter, wie Dominique Grandmont, Gil Jouanard, Armand Rapoport und Marc Petit, haben sich im Rahmen der Action Poétique ausgetauscht und so zu sich selbst gefunden. Auf diese Weise steht die Zeitschrift am Kreuzweg verschiedener Tendenzen, ohne dabei ihren spezifischen Charakter einzubüßen.

Der Surrealismus: Tod und Auferstehung
Die Theorien des Surrealismus, die in den, aufeinanderfolgenden Manifesten dieser Strömung dargelegt wurden, haben inzwischen ihre revolutionäre Stoßkraft und ihre bahnbrechenden Impulse verloren. Sie werden heute allgemein zu den „Geschichtsdenkmälern“ der Literatur gezählt. Dagegen werden die Methoden des Surrealismus auf verschiedene Weise weiterhin angewandt – sei es nun Nostalgie oder Wiederbelebung −, und zwar durch den systematischen Rückgriff auf die „automatische Schreibweise“ auf die Antriebe des Unbewußten, auf das „verblüffende Bild“, dem die berühmte Formulierung Lautréamonts „Das Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Sektionstisch“ zum Vorbild dient.
Vor und nach dem Tod seines Propheten und „Papstes“ André Breton (1966) ist diese Praxis entartet, aber paradoxerweise hat sie sich ausgebreitet und ist in die Lebensgewohnheiten und die Denk- und Sehweisen eingegangen; dies geschah durch die Vermittlung der bildenden Künste, des Films und der Werbung. Sie hat sich eingepaßt in das Alltagsleben der modernen Zeit, selbst bei denen, die ihre Schulmethoden ablehnten. In der Folgezeit hat die surrealistische Strömung zahlreiche Wandlungen durchgemacht, und ihre Epigonen haben sie, ihrer eigenen Persönlichkeit folgend, abgewandelt. So ist zum Beispiel Jean Malrieu, ohne daß er sich der Bewegung angeschlossen hätte, stark von ihr geprägt worden: Jedoch verzichtet sein Werk nicht auf das Lyrische; aus der Liebe, aus dem leidenschaftlichen Drang nach Leben webt es einen prächtigen, sinnlichen Teppich.
Die Verwendung der „Collage“, der Diskontinuität, der Provokation durch das Wort, der traumhaften Durchdringung der Wirklichkeit kennzeichnet andererseits die poetische Sprache einer Reihe von Dichtern, zu denen auch Alain Jouffroy zählt. Mit ihrer Dichtung zeugen sie um 1968 von einem Neuerwachen des Surrealismus, der nunmehr von der amerikanischen Dichtung der Beat generation, von Ginsberg, Ferlinghetti, Kaufman, Corso und Burroughs, neue Impulse empfing. Diese Erscheinung geht einher mit -den sozialen Erschütterungen jener Jahre. Die revoltierenden Studenten des Mai 68 schreiben Verse und Aphorismen von Breton, Eluard und Char als Losungen auf die Mauern des Quartier Latin. Ihnen folgend, fordern Dichter der gleichen Generation, daß „die Phantasie die Macht ergreifen“ müsse. Sie deklarieren die „elektrische“ Schreibweise, doch wenn sie in ihrer explosiven Wut das Wirkliche in die Luft sprengen wollen, so definieren sie gleichzeitig ihre Dichtung im Titel einer von ihnen geschaffenen Reihe als „kalt“ und zielen auf die „reine Enttäuschung“, das Losungswort einer nihilistisch getönten Revolte. Andre Velter ist einer der begabtesten Vertreter dieser Richtung, deren Gedichte sich als Puzzles, wirre Haufen von Wörtern und Schreien darstellen, in denen überraschende Metaphern aufblitzen.

Wege eines „neuen Realismus“
Ganz im Gegensatz zu diesen Paroxysmen hat sich eine Dichtung der inneren Wirklichkeit der Menschen, der Dinge und des alltäglichen Lebens erhalten und in mehreren Richtungen weiterentwickelt. Als ein „neuer Realismus“ oder eher als die feste Entschlossenheit, zum „natürlich“ genannten Poetischen zurückzukehren, hat sie zahlreiche Anhänger gefunden; sie stehen in der Nachfolge von Reverdy, Max Jacob, Jean Follain, dem minutiösen Schilderer des Alltäglichen, des kleinen banalen Fakts, dem das Gedicht in einem mehr deskriptiven Sinn als bei Guillevic Bedeutung verleiht, und auch in der Nachfolge Pierre Morhanges, der die tragische Seite der Existenz artikulierte und dessen 1937 veröffentlichtes Buch La vie est unique („Das Leben ist einmalig“) bei der Jugend der sechziger Jahre eine lebhafte Nachwirkung auslöste.
René-Guy Cadou war zweifellos der eigenständigste Interpret dieser intuitiven Lyrik, die in Einklang steht mit den Farben der Zeit, dem sozialen Pathos, der Einsamkeit und Brüderlichkeit der Menschen. Um ihn hatten sich in den vierziger Jahren jene Autoren geschart, die man die „Freunde von Rochefort“ nannte: Mit Marcel Béalu, Michel Manoll, Luc Bérimont, Jean Rousselot, Lucien Becker haben sie keine „Schule“ im eigentlichen Sinne gebildet, wie behauptet wurde, sondern auf unterschiedliche Weise verwandte Anliegen ausgesprochen. Heute steht ihnen in gewissem Sinne Yves Martin nahe; der etwas ältere Georges-L. Godeau bemüht sich mit seinen Prosagedichten, die fast immer kleine Bilder, Porträts, kurze, auf ein Ereignis konzentrierte Erzählungen sind, den Realismus auf die Beobachtung des Alltäglichen zu gründen, von der „gewöhnlichen Liebe“ – so nennt der ihm verwandte Gabriel Cousin einen seiner Gedichtbände – bis zum Aufsuchen des Menschen bei der Arbeit.
Später, in den sechziger Jahren, kann man andere Arten des Herangehens an die Alltagswirklichkeit beobachten: bei Dichtern wie Jean Pérol, Franck Venaille, Daniel Biga. Der beinahe fotografisch kalten Feststellung mischen sie oft die schrillen Töne des „Lebensschmerzes“, der Revolte angesichts der Unterdrückung der Menschen und des Industriemilieus bei, schrille Töne, die bei Biga und Venaille an die des Jazz erinnern, an eine gewisse Nachlässigkeit, wie sie der Pop Art eigen ist. Andere hingegen ersetzen· die etwas desperaten Akzente einer „Sprache des Herzens“ – oder der Eingeweide – durch eine raffiniertere und strengere Schreibweise des Unmittelbaren, der Sinneseindrücke oder der höchsten erotischen Erregung, die bei Jean Pérol und anderen von hohem ästhetischem Geschmack geprägt ist und die, besonders bei Jacques Réda, zu umfangreichen verstechnischen Erneuerungen geführt hat.
Dieser Strömung des alltäglichen Realismus, die so breit gefächert ist, daß sie sich den Versuchen strenger Aufgliederung fast entzieht, schließt sich folgerichtig eine sensible Erhellung des Wirklichen an, wie sie Bernard Vargaftig und Claude Adelen vornehmen. Hierher gehört ebenso die Wiederentdeckung und Neubelebung regionaler Kulturen, die sich in den letzten Jahren verstärkt hat und zu deren hervorragendsten Vertretern der vielversprechende, bisweilen in bretonisch schreibende Paol Keineg rechnet.

Dichtung und Philosophie
Eine andere Form dichterischer Fragestellung bekundet sich in dem vitalen Bedürfnis, die Erkenntnis zu überprüfen und ihre Grenzen abzustecken, das komplexe Verhältnis des individuellen Bewußtseins zur Welt von heute zu analysieren. Ob man es Philosophie oder Metaphysik nennt, ob es weltlich oder auf das innere religiöse Leben gegründet ist, ob es auf die Suche nach Transzendenz oder die Feststellung, daß es keine gibt, hinausläuft, immer geht diese Strömung von einer konkreten persönlichen Erfahrung aus.
Davon zeugt mit Kohärenz und Kraftfülle das ganze Werk Yves Bonnefoys, schon vom ersten Buch an, dem Band Du mouvement et de l’immobilité de Douve („Von der Bewegung und der Unbeweglichkeit Douves“), der am Anfang der fünfziger Jahre zu einer Offenbarung wurde: in seiner beherrschten lyrischen Sprechweise ist die romantische Unruhe von aller Emphase befreit, zugunsten einer strengen Spannung des Denkens, eines stolzen, abgeklärten Nachsinnens über Leben und Tod, die in ihrer unauflöslichen Konfrontation erkannt werden. Diese Dichtung, die sich einerseits der Transzendenz nähert, sie aber dann zurückweist, weil sie sie ebenfalls als Illusion erkennt („Das Trugbild der Schwelle“), läßt hinter ihrer ursprünglichen Tonart ein Echo von Pierre-Jean Jouve und einen leiseren Widerhall von Baudelaire aufklingen. Ähnlich hat Jean-Claude Renard, der Pierre Emmanuel nahe steht und seinerseits vom christlichen Glaubten inspiriert ist, die Skala seiner Dichtung auf universelle Weise erweitert, indem er den Geheimnissen der Schöpfung und der ihr sinnverleihenden Sprache nachspürt. In mancher Hinsicht stehen diese Dichter der Lyrik eines Alain Bosquet, die sich durch Virtuosität im paradoxen Gebrauch der Sprache auszeichnet, und der asketischen Dichtung eines Jacques Dupin nahe.

Die Frage nach der Sprache ist gestellt
Bei André Du Bouchet und Bernard Noël ändert sich das Wesen des metaphysischen Anliegens: Es entspringt nicht mehr einer geistigen Abstraktion, sondern einem stark körperlichen Gefühl der Gegenwart und der Abwesenheit, einem Losreißen des Wortes aus der Unbeweglichkeit., aus den verborgenen Gründen des Seins. Die Sprache klärt sich ab, verdichtet sich, zerstreut sich auf der weißen Seite in Bedeutungssplittern und -schlacken. Die lapidare Rede Du Bouchets – die an Hölderlin erinnert – versucht, sich des Raumes, der Landschaft, des zerstäubten oder an seinem Ursprung ergriffenen Wortes zu bemächtigen, um das Noch-nicht-Formulierte zu erreichen. Bernard Noël dagegen strebt in der Nachfolge des vom Surrealismus herkommenden Antonin Artaud danach, sich der organischen Bewegung des Seins, seiner geheimsten Antriebe zu versichern und sie in einer „Körperschreibweise“ auszudrücken, in der sich die innere Beziehung zwischen der „Haut und den Wörtern“, dem Schweigen und dem Aussprechen ordnet.
Indem beide auf ihre besondere Weise das alte verstechnische System zerbrechen, um darauf ihr in Fetzen zerrissenes Selbstgespräch zu begründen, stellen sie sich an den Schnittpunkt der experimentellen Suche, die seit Anfang der sechziger Jahre die dichterische Sprache und ihre Funktionsweise grundlegend in Frage stellt.
Dieses Experimentieren ist durch den Aufschwung der Gesellschaftswissenschaften, namentlich auf dem Gebiet der Linguistik und der Semiotik, aber auch auf dem Gebiet der Psychoanalyse gefordert worden. In ähnlicher Weise hat auch die Wiederentdeckung der avantgardistischen Bewegung der zwanziger Jahre, der russischen Futuristen und der Vertreter der russischen formalen Schule, die in großem Umfang übersetzt und kommentiert worden sind, einen direkten Einfluß auf die Dichtung ausgeübt. Diese vielfältige, uneinheitliche Strömung hat sich in der Arbeit mehrerer Gruppen und Publikationsreihen kristallisiert, so in Tel Quel, Action Poétique, Change, Digraphe, Première Livraison, Le Collet de Buffle, Po&sie und anderen.
Gegen Ende der fünfziger Jahre eröffnete Jean Cayrol jungen Schriftstellern die Probebühne der Zeitschrift Ecrire, in der Jean-Pierre Faye und Philippe Sollers an die Öffentlichkeit traten. Philippe Sollers begründete seinerseits die Zeitschrift Tel Quel, ein Zentrum theoretischer und ästhetischer Forschungen, das manche Wandlungen durchgemacht hat und nacheinander – nicht frei von Dogmatismus – den Marxismus, die strukturelle Linguistik, die Psychoanalyse, das „Gedankengut Mao Tse-tungs“ postuliert hat; der von den Tel-Quel-Anhängern ausgeübte „geistige Terror“ war oftmals geprägt von Verwirrung, Opportunismus oder persönlichen Rivalitäten. Einen ihrer wichtigsten literarischen Bezugspunkte fand die Gruppe in der Poetik Francis Ponges und seinem Band Le parti pris des choses (dt. „Im Namen der Dinge“), der methodischen Beschreibung einer „objektivierten“ und unterm Mikroskop einer bewußt antilyrisch verfahrenden Sprache zergliederten Natur.
Bei Denis Roche, dem wichtigsten Lyriker der Tel-Quel-Gruppe, offenbart sich der radikalste Bruch mit Konzeption und Praxis der dichterischen Schreibweise. Er betreibt virtuos ihre systematische Zerstörung durch Demontage und Umfunktionierung der Genres, der Formen und ihrer herkömmlichen Ausdrucksweisen; in der Art Ezra Pounds (den er übertragen hat) schreitet er fort zu einer Reihe von Umwandlungen, die in dem Band Le mécrit bis an die Grenzen des Antilyrischen und der Aufkündigung des Sagens führen.
Im Gegensatz dazu stützt sich Jacques Roubaud, ein ausgesprochener Neuerer auf dem Gebiet der Verslehre und der Schreibweise, streng auf die wissenschaftliche Erkenntnis – ja selbst auf die Mathematik −, um Strukturveränderungen vorzunehmen, in denen sich eine sehr sensorische lyrische Sprache entfaltet, die von einer umfassenden Bildung, von einem erstaunlichen Sinn für die Verarbeitung „aleatorischer Modelle“ gespeist wird. Sein Erfindungsreichtum und sein Humor, die dem Spiel der Formen zugute kommen, scheinen sich in die Traditionslinie von Raymond Roussel und Raymond Queneau einzuschreiben. Doch ist er in Wirklichkeit überhaupt nicht einzuordnen: Der Reichtum seiner Gaben und seiner technischen Mittel erlaubt es ihm, gleichzeitig in mehreren Gruppen mitzuarbeiten (er veröffentlicht in Action Poétique, Change und Po&sie) und dennoch seine Eigentümlichkeit zu bewahren.
Die erst kürzlich gegründete Zeitschrift Po&sie wird von Michel Deguy, einem der Pole der Avantgarde, herausgegeben. Dieser Dichter durchmißt mit seinem unermüdlichen geistigen Interesse den ganzen literarischen Raum, er vermischt in seinen Texten Prosa und Lyrik, verwischt jeden Unterschied zwischen dem Essay und dem Gedicht, das er einer beständigen „alchimistischen“ Umwandlung unterwirft, in der es von Neologismen und syntaktischen Verdrehungen wimmelt und in der das Erbe einer ständigen Um- und Neubewertung unterzogen wird. So erneuert er das dichterische Material im Sinne eines Neo-Barock und macht das ganze kulturelle Umfeld einschließlich der Philosophie sowie der großen Vorläufer Dante, Góngora oder Hölderlin fruchtbar.
Mehr oder weniger ähnliche Erfahrungen, deren gemeinsamer Nenner die theoretische Auseinandersetzung, die Ablehnung oder Anwendung anderer „Normen“ der dichterischen Schreibweise sind, lassen sich in der Zeitschrift Digraphe bei Jean Ristat; in der Première Livraison bei Mathieu Bénézet oder bei den Dichtern des Collet de Buffle feststellen. Sie alle erblicken in Edmond Jabès einen Vorläufer ihrer Suche nach einer nicht-diskursiven, desintegrierten, fast auf atomisierte Wörter und Zeichen reduzierten Sprache. Dieser schon etwas ältere Dichter hat unbestreitbar eine wichtige Rolle beim Erkennen der neuen Möglichkeiten der Sprache gespielt. Er hat mit den zahlreichen Bänden seines Livre des questions („Buch der Fragen“) ein zurückhaltendes und eigenbrödlerisches Werk geschaffen, voller Fragen und Verneinungen, die die Metaphysik und den eigentlichen Sinn der Sprache berühren: Wie es andere im Falle von Francis Ponge taten, haben in den letzten Jahren viele Autoren in Edmond Jabès den Meister einer Sprache begrüßt, die sich mit ihrer bewundernswürdigen Reinheit und in ihrem Versuch, die Bedeutung des menschlichen Schicksals und der menschlichen Identität tiefgehend zu erfassen, unaufhörlich neu definiert und neu entdeckt.
So zielen anscheinend rein formale Experimente häufig – über die Fragen der Funktionsweise der Sprache hinaus – auf die allgemeineren Fragen der Sinngebung der Dichtung für das Denken und Handeln.

Neue Horizonte
An dieser Stelle scheint es uns angebracht, ein Phänomen zu unterstreichen, das die französische Lyrik in den letzten zwanzig Jahren spürbar beeinflußt hat: die Entdeckung der ausländischen Dichter. Es gibt dafür historische Gründe, so zum Beispiel die Entstehung der Volksdemokratien in Osteuropa und die nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen, die die Strukturen der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas erschüttert haben. Viele Dichter entdecken jetzt, oft durch direkten Kontakt mit dem Herkunftsland selbst, so bedeutende Werke wie die von Attila József, Pablo Neruda, Vítězslav Nezval, Nazim Hikmet, Bertolt Brecht, Eugenio Montale, Dylan Thomas.
Zugleich wird die Übertragung von Dichtung – die früher in den Händen der Hochschulwissenschaftler lag – mehr und mehr von den Dichtern selbst übernommen, manchmal auch im Kollektiv. So hat Charles Dobzynski Nazim Hikmet übertragen, hat Dominique Grandmont die Werke von Vladimir Holan und von Jannis Ritsos bekanntgemacht und Jacques Roubaud die neuen amerikanischen Dichter für das Publikum erschlossen.

Die Dichter und ihr Publikum
In einer Untersuchung über die Lage der heutigen Dichtung in Frankreich äußerte der Kritiker Georges Mounin: „Nie zuvor hat es soviel Leute gegeben, die jene seltsame Sache schreiben, die von keinem gelesen wird.“ Diese paradox erscheinende Behauptung trägt ziemlich genau dem derzeitigen Verhältnis zwischen der Dichtung und ihrem Publikum Rechnung. Mehrere im Lauf der letzten Jahre vorgenommene Schätzungen kommen auf die gleiche Zahl: Es gibt in Frankreich ungefähr fünfzigtausend Personen, die Gedichte schreiben, veröffentlichen oder mindestens den Wunsch haben, sie zu veröffentlichen. Dennoch übersteigen die publizierten Gedichtbände selten eine Auflage von 2000 Exemplaren. Und nur einige wenige Zeitschriften erreichen diese Zahl oder gehen darüber hinaus. Die große Mehrheit der 100 bis 150 Zeitschriften, die pro Jahr mehr oder weniger regelmäßig erscheinen, haben Auflagen, die auf ein paar hundert Exemplare begrenzt sind.
Eine Umfrage über das Lyrikpublikum macht deutlich, daß sich vier von fünf Lyriklesern selbst als Dichter betrachten. Das Phänomen Dichtung scheint also in einem geschlossenen Zirkel Gestalt zu gewinnen. Soziologisch gesehen überwiegen bei Verfassern und Lesern eindeutig die Studenten, Lehrer, die freien Berufe, die Schriftsteller und die im Zeitungswesen und in Rundfunk und Fernsehen tätigen Journalisten. Arbeiter oder Angestellte sind dagegen nur im Verhältnis von zwei bis drei Prozent vertreten. Es ist nahezu überflüssig, darauf hinzuweisen, daß fast alle Lyriker einen zweiten Beruf ausüben müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Wer über diese Situation nachdenkt, ist versucht, die für diesen Publikumsmangel Verantwortlichen ausfindig zu machen: Manche geben dem Schulwesen die Schuld, andere beschuldigen den Rundfunk oder das Fernsehen, und nicht wenige werfen der gegenwärtigen Dichtung vor, sie sei elitär, hermetisch, kurz gesagt, nicht populär genug. Eine tiefere Ursache ist jedoch zweifellos in der sozialen und kulturellen Ungleichheit zu suchen, die viele Millionen Franzosen von jeder kulturellen Aktivität ausschließt. Und dieser Zustand wird noch verschlimmert durch die Krise des Verlagswesens, die durch die kapitalistische Konzentration, das Gesetz des Profits, die Allmacht der Banken charakterisiert ist. Zahlreiche kleine und mittlere Verlagshäuser – namentlich jene, die sich auf Lyrik spezialisiert hatten – mußten verschwinden oder sind von mächtigeren Konkurrenten aufgesogen worden.
Doch alle diese Faktoren können nicht ausreichend erklären, warum das Lyrikpublikum so gering ist. Zunächst kann man die Hypothese wagen, daß ein wichtiger Teil der „Nachfrage“ des Publikums nach Dichtung durch das Chanson gesättigt wird. Tatsächlich gibt es in Frankreich – neben dem Schlager – eine mannigfaltige traditionsreiche Kunst des Chansons, die heute von Georges Brassens, Leo Ferré, Guy Béart, Hélène Martin und vielen anderen, im Ausland weniger bekannten Chansonniers repräsentiert wird.
Vor allem aber gilt es, über die Rolle nachzudenken, die die Lyrik in einer bestimmten historischen Periode spielt. Hier müssen wir auf das oft als Modell zitierte Beispiel der Résistance-Dichtung zurückkommen. Die beginnenden vierziger Jahre waren tatsächlich ein Zeitabschnitt, in dem die französische Poesie einen Widerhall beim Publikum fand, den sie nie zuvor und nie wieder danach hatte. Wie bedeutend auch die Beiträge großer Dichter wie Aragon, Desnos, Eluard und anderer gewesen sein mögen, die Kraft und die Ausstrahlung der Résistance-Dichtung waren zu einem großen Teil auf die äußeren Umstände zurückzuführen. Das heißt, die Dichtung nahm damals alles in sich auf, was nicht offen ausgesprochen werden konnte. Doch in einer weniger außergewöhnlichen Situation gibt es andere Kanäle, durch welche Nachrichten, Meinungen und all das strömt, was inner- und außerhalb der Literatur verhandelt wird, so daß die traditionelle Bestimmung der Dichtung dabei beträchtlichen Veränderungen unterliegt.
Mag man nun über diesen Tatbestand erfreut oder aufgebracht sein, man muß ihm Rechnung tragen, und die Vorwürfe des „Hermetismus“, die zuweilen hinsichtlich der gegenwärtigen Dichtkunst erhoben werden, lassen nur aufs neue eine verfehlte Diskussion aufleben. Liegt das wahre Problem nicht vielmehr darin, daß es an einer wirklich demokratischen Verbreitung der Kultur fehlt, die ein ganz anderes Herangehen an die Lektüre dichterischer Texte erlauben würde?
Es wäre indessen unrichtig, wollte man ein allzu düsteres Bild malen: Alles in allem – und besonders in den letzten zehn Jahren erlebt die Dichtung einen spürbaren Aufschwung, sie erfreut sich sogar wachsenden Zuspruchs. Dies läßt sich bei den Lesungen feststellen, die ein sicher nicht allzu großes, aber dennoch im Vergleich zu früheren Jahren zahlreicheres Publikum anziehen, und an der Fülle der kleinen Zeitschriften, die trotz all der materiellen Schwierigkeiten, auf die wir schon hingewiesen haben, erscheinen. Und es äußert sich schließlich in der seit einiger Zeit zunehmenden Zahl von Lyrikanthologien und ihrer relativ großen Resonanz.
So zeigt sich, daß die Dichtung im heutigen Frankreich einen sehr spezifischen Sektor des literarischen Schaffens darstellt. Sie tendiert vorrangig dahin, Arbeit an der Sprache zu sein. Aber, wie Jacques Roubaud zu Recht gesagt hat, die Dichtung spricht immer von etwas anderem, wenn sie von sich selbst spricht, und sie spricht immer von sich selbst, wenn sie von etwas anderem spricht.

Charles Dobzynski und Alain Lance, Mai 1978

 

Die Dichtung Frankreichs

kann auf eine reiche Tradition verweisen: Namen wie Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé, Apollinaire, Eluard, Aragon oder Saint-John Perse bezeichnen Gipfelleistungen lyrischen Schaffens, mit ihren Werken haben sie ganze Dichtergenerationen beeinflußt.
Wie ist nun die französische Poesie der Gegenwart beschaffen, die in der Nachfolge eines solch mächtigen Erbes steht? Diese Anthologie ist ein erster Versuch, dem Leser in der DDR einen Einblick in die Lyrik der letzten drei Jahrzehnte zu ermöglichen. Ohne ein erschöpfendes Bild geben zu wollen, zeugt der Band von der unverminderten Vitalität dieses Genres und seinen gegenwärtigen, äußerst unterschiedlichen Tendenzen. Sie reichen vom „neuen Realismus“ bei Venaille, Biga oder Keineg, den dichterischen Experimenten eines Roche, Deguy oder Ray bis zu den vielfältigen Bemühungen der um die „Action Poétique“ gruppierten Lyriker, politisches Engagement und Arbeit an der Sprache auf neue Weise miteinander zu vereinen.
32 Dichter, geboren zwischen 1912 und 1945, kommen in der vorliegenden Auswahl zu Wort. Ob sie – wie Jabès, Vian, Malrieu und andere – bereits anerkannt sind oder ob sie sich gerade erst durchzusetzen beginnen – fast alle werden erstmals außerhalb ihres Landes veröffentlicht. Nach den Worten der Herausgeber sollen die Gedichte denn auch „eher eine Einladung zum Entdecken sein als der Gang durch ein Museum, in dem man schon heiliggesprochene Gestalten und Werke vorfindet“.

Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1979

 

DIE AUSTERN
(Für Alain Lance)

Ich lebe nicht oft wirklich, du seit Stunden
In meiner Küche brichst die eingereisten
(Mit viel Papieren) Austern auf, und mit
Schmerzender Hand in dem Plasteschurz

Singst du. Und die Wolfs, an nichts mehr
Denken die da als ans Fressen, was sie
Wie alles, gründlich tun. Das sind noch Menschen.
Und ich, mit viel Zitrone, betäube

Die nackten Tierchen erst und meinen Gaumen
Und schlucke mutlos, während du zwei Dutzend
Schlürfst mit Wollust und Ekel, diese kleinen
Fotzen der See. So, sage ich nun, das

Leben zwischen Gier und Abscheu
Zergehen lassen auf der Zunge, ja.

Volker Braun

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber Charles Dobzynski

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber Alain Lance
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + deutsche FOTOTHEK

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Alain Lance

 

Alain Lance Rückkehr des Echos im Gespräch mit Volker Braun und Richard Pietraß im Literaturforum im Brecht-Haus am 3.11.2021.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00