Charles Juliet: Brennen der Zeit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Charles Juliet: Brennen der Zeit

Juliet/Rey-Brennen der Zeit

VERNICHTET HABE ICH
das Gedächtnis die Zeit
das Lärmen der Worte

draußen und drinnen
halten sich
fruchtbar umfangen

ein stilles Rasen
kosmisch
rundet in mir
seiner Sphäre
Schweigen

 

 

 

Weniges ist zu sagen über den Lebensweg Charles Juliets

Er kommt am 30. September 1934 in Jujurieux zur Welt, einem Dorf im Departement Ain, auf halbem Weg zwischen Lyon und Genf, am Fuße der ersten Jurahügel gelegen. Kurz nach seiner Geburt erkrankt die Mutter schwer, und das Kind wird zu fremden, aus der Schweiz zugewanderten Bauersleuten gegeben, die ihm zur eigentlichen Familie werden. In einfacher, naturbezogener Welt wächst er auf.
Diese bäuerliche Kindheit endet abrupt im Alter von zwölf Jahren. Auf Betreiben einer um die Weiterbildung des Knaben besorgten Tante wird er auf die Militärschule von Aix-en-Provence geschickt, wo er auf die Offizierslaufbahn vorbereitet werden soll. Insgesamt acht Jahre verbringt er in der Kaserne, in Uniform und ständiger Gemeinschaft mit achthundert Schülern, erfährt Kälte, Hunger, Einsamkeit, auch Langeweile, bisweilen Gewalt, aber auch Kameradschaft und Brüderlichkeit.
Und er treibt Sport, mit großer Begeisterung spielt er Rugby, das ihm Momente vermittelt ähnlich, wie sie ihm später beim Schreiben zuteil werden, Momente äußerster Helle, absoluter Gewißheit, Augenblicke mystischer Einsicht. Und er spielt es mit großem Erfolg. Das Angebot, in einer Mannschaft außerhalb der Kaserne mitzuspielen, die Wahl in die Nationalmannschaft der französischen Universitäten muß er ausschlagen, da die Vorbereitung auf den Schulabschluß, die Zugangsprüfungen zur Militärhochschule, deren Ergebnisse für ihn lebensentscheidend sind, alle seine Kräfte in Anspruch nehmen.
Denn er hat keine Wahl: Fällt er durch, kommt er als einfacher Soldat zur Armee – nach Indochina, wie viele seiner Kameraden. Charles will auf die medizinische Hochschule in Lyon, er will Militärarzt werden, eine Möglichkeit, die ihm unter den gegebenen Umständen die gangbarste scheint, würde sie ihm doch noch am ehesten erlauben, etwas anderes zu sein als bloßer Militär.
Nach zwei Jahren jedoch bricht er das Medizinstudium ab. Ein Verlangen, das er schon lange verspürt, dem nachzukommen indessen er nie vermocht, macht sich jetzt unabweisbar geltend, das Verlangen zu schreiben. Es ist nicht der Drang, Schriftsteller zu werden, das Bedürfnis, mit Geschriebenem vor die Öffentlichkeit zu treten, dem elementare Wunsch nach Erkenntnis, nach Reflexion und Meditation, sucht ihn heim. Schreiben ist ihm nur Mittel und Weg zu dieser Erkundung seines Selbst. So werden Tagebuch und Lyrik zu seinen wesentlichen Ausdrucksformen.
Er verläßt die Militärhochschule und die Armee und widmet sich seitdem ausschließlich der Literatur und dem Schreiben.
Fünfzehn Jahre arbeitet er in völliger Zurückgezogenheit und selbstauferlegter Einsamkeit. Er veröffentlicht nichts. Sein einziges Interesse gilt dem Versuch, in sich zu dringen, sich Klarheit zu verschaffen über sich selbst und die anderen – und sich dazu das Werkzeug zu erarbeiten.
Er schreibt einen Roman, in dem das Erlebnis der Militärschule verarbeitet wird. Ein Verlag nimmt ihn an, doch kommt es nicht zur Veröffentlichung, weil sich Charles nicht zu der vom Verleger geforderten Abänderung des Schlusses entschließen kann. Bald wird ihm klar, daß der Roman nicht sein Genre ist. Gedicht und Tagebuchnotiz kommen am ehesten seinem Bedürfnis nach Ausdruck entgegen.
Er schreibt wenig in all den Jahren, liest viel, denkt viel nach. Zu seiner Lektüre gehören Romane, Erzählungen, Essays, Lyrik, doch die Werke, die er mit der größten Leidenschaft und dem größten Nutzen für sich selbst erfährt, sind jene der klassischen, insbesondere der deutschen Dichter, Hölderlin, Trakl, Rilke. Er liest sie in französischer Übertragung, selten im Original. Das Deutsch, das er acht Jahre lang widerwillig auf der Militärschule genossen hat, ist wenig geeignet, ihm deutsche Dichtung zu erschließen.
Die Werke der Mystiker verschiedenster Zeiten und Völker üben eine große Anziehungskraft auf ihn aus: Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Meister Eckhart, die Sufi-Meister. Ihre Sprache, ihre Paradoxa nehmen ihn gefangen.
Diese Jahre der Einsamkeit und Selbsterfahrung sind nicht ungefährlich. Die Suche nach dem Grundsätzlichen, der Hinabstieg in die Gründe und Abgründe des eigenen Wesens führt durch die Negation zu dem Verlangen nach seiner Aufhebung. Eine schwere, lang andauernde Krise ist die Folge.
Ohne seine Lebensgefährtin, die er schon früh kennengelernt und die ihn auf hundertfältige Weise unterstützt, wäre dieser Weg nicht zurückzulegen. Die Erinnerung an die Herkunft, die Wertvorstellungen, die ihm in seiner Kindheit vermittelt worden sind, geben Halt. Mit bäuerlichem Starrsinn muß er „seine Furche ziehen“, solange er Kraft hat.
Langsam löst er sich aus seiner Abgeschiedenheit, frequentiert Künstler, Maler, Schriftsteller, verwandte Geister, ohne jedoch je am literarischen Betrieb teilzunehmen. Die Hauptstadt meidet er, lebt vorwiegend in Lyon – und sommers in Jujurieux. Samuel Beckett, der Maler Bram van Velde, der Bildhauer Alberto Giacometti sind ihm richtungsweisende Gestalten. Über seine Begegnungen mit ihnen und anderen gibt er in seinem Tagebuch und in selbständigen Schriften Rechenschaft.
Seit 1973 tritt er mit seinem Werk, zögernd wie es seine Art ist, an die Öffentlichkeit: ein paar Lyrikbände, drei Bände seines „Journal“, die „Begegnungen“ mit Bram van Velde und Beckett erscheinen, ein Theaterstück wird in seiner Heimatstadt uraufgeführt. Bei France-Culture besorgt er verschiedene monographische Sendungen. Die Zeit der schriftstellerischen Einsamkeit scheint nunmehr endgültig hinter ihm zu liegen. Seine Bücher finden Widerhall, und bisweilen bezeugen Briefe, daß Menschen auf der Suche in seinen Worten Nahrung finden.
Auch öffentliche Anerkennung wird Charles Juliet zuteil. Der Orden für Kunst und Literatur wird ihm verliehen. Anerkennung aber auch über die Grenzen Frankreichs hinaus.
1986 vergibt die Robert Bosch Stiftung in Stuttgart an Charles Juliet ihr erstes Schriftstellerstipendium für einen europäischen Autor, mit dem die Einladung für einen bis zu zwölfmonatigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland verbunden ist. In der Folge weilt Charles Juliet von Oktober 1986 bis Februar 1987 in Tübingen und anschließend bis Ende Mai im Schriftstellerhaus in Stuttgart. Auf einer Reihe von Veranstaltungen kann er sein Werk einem deutschen Publikum vorstellen.
Die vorliegende Anthologie seiner Lyrik versammelt, zum ersten Mal in deutscher Sprache, unter anderem Gedichte, die namentlich auf zwei von der Robert Bosch Stiftung veranstalteten Abenden im Hölderlin-Turm in Tübingen und im Robert Bosch Haus in Stuttgart vorgetragen wurden.

Günter Gerstberger, Nachwort

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Charles Juliet liest einige Gedichte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00