Christa Melchinger: Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Man muß so müde sein…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Man muß so müde sein…“ aus Else Lasker-Schüler: Gesammelte Werke. Band 3. –

 

 

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Man muß so müde sein…

Man muß so müde sein wie ich es bin
Es schwindet kühl entzaubert meine Welt aus meinem Sinn

Und es zerrinnen meine Wünsche tief im Herzen.

Gejagt und wüßte auch nicht mehr wohin
Verglimmen in den Winden alle meine Kerzen
und meine Augen werden dünn.

Es bricht mein Leib bevor ich dein noch bin
Dich lasse ich zurück, mein einziger Gewinn
Ein nicht zu teilender
Es teilen sich in dir die Nächte meiner holden Schmerzen.

 

Auf der Schwelle

Dichten in der Gewißheit des Todes. Gibt es das? Gibt es ein anderes? Dichten in der Gegenwart des Todes. Der Tod, herausgenommen aus der fernen Unverbindlichkeit ins Hier und Jetzt. Mein Tod, nicht irgendwann, sondern bald, morgen, heute – das ist schon seltener. Aber es kommt vor. Die Lasker-Schüler war eine, bei der so etwas vorkam, vorkommen konnte.
Ihre letzten Jahre in Jerusalem. Keine Zeit im Gelobten Land. Aber es war auch keine unmittelbare Not: Armut, Hunger und Verlassenheit – sie war leidlich versorgt, um leben zu können. Auch leben zu wollen? Todesgewißheit: bevor es um den eigenen Tod ging, war es das Wissen von dem Tod der anderen, der in Krieg und Verfolgung Zurückgelassenen.
„Mit mir geht es zu Ende, ich kann nicht mehr lieben“, soll sie ganz zum Schluß (sie starb im Januar 1945) gesagt haben. Ich nehme das Du der letzten Strophe deshalb wörtlich, als persönliche Ansprache, als Anruf des Geliebten. Obwohl es mich stört, die ganze letzte Strophe mich verstört. Wie einem das oft widerfährt bei dieser Dichterin. Wohllaut und Mißklang – nicht formal: Da herrscht, wie in ihrer Alterslyrik überhaupt, die geglättete Form, Strophe und Reim. Aber der Lauf ihrer Gedanken – da kann man sich über eine Strecke Weges ihr ganz überlassen und ist voll Bewunderung über die weise Führung. Doch dann kommt plötzlich ein Richtungswechsel, und da stockt man, und die einsame Gestalt geht unbeirrt allein weiter ihren Weg, unsere erstaunten Blicke folgen ihr, wir bleiben zurück. So geht es mir mit der letzten Strophe. Diese letzten Zeilen sind wie das allerletzte Stück des Lebenswegs, das allein gegangen werden muß, für das nur die eigenen Worte gelten, die aber doch die Summe sind aus dem vorausgegangenen Leben: Abschied vom Leben. Für die Lasker-Schüler heißt es Abschied vom Lieben. Sie schrieb Liebesgedichte bis ans Ende ihres Lebens; „Das blaue Klavier“, ihre letzte Gedichtsammlung, ist voll davon. Und vor diesem Lebenshintergrund werden auch diese Zeilen annehmbar, mehr: sie sind eine Hoffnung. Die Liebe endet nicht mit dem Lieben, das zurückgelassene Du zeugt davon.
Die Worte davor sind für alle da, die ihren Weg zu Ende gehen, bis ans bittere Ende. Keine Gloriole. Keine vorweggenommene Himmelfahrt. Man ist fertig am Ende eines solchen Lebens, zu Tode erschöpft.
Und wie oft glaubt man sich am Ende? Doch was sind alle Müdigkeiten im Lauf des Lebens gegen diese, die letzte? Müde zum letzten Schlaf, todmüde. Lebensmüde. Wie oft wird das Wort gesagt? Es ist zu prüfen an den Worten der Lasker-Schüler. Wieviel Welt trägt einer noch im Sinn, wieviel Wünsche tief im Herzen? Und wer könnte sagen, daß die Angst keinen Gegenstand, das Gejagtwerden kein Ziel mehr hätte? „Gejagt und wüßte auch nicht mehr wohin“: Man muß schon ziemlich weit entfernt sein, um 1944 solche Verse zu schreiben, aber noch nicht so fern, um im Bild nicht anknüpfen zu können an die Wirklichkeit, die zu verlassen man im Begriff ist.
Das ist der Standort dieses Gedichts: im Übergang, im Vergehen, zwischen Wachen und Schlaf, auf der Schwelle. Abschiednehmen vom Leben, Abschied vom Lieben. Wenn er vollzogen ist, kann er nicht mehr formuliert werden: Die ihn vor sich haben, finden ihn formuliert in diesem Gedicht.

Christa Melchinger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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