Christa Melchinger: Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Vögel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Vögel“ aus Marie Luise Kaschnitz: Gedichte. –

 

 

 

 

MARIE LUISE KASCHNITZ

Vögel

Ein Paar Vögel noch immer
Aber wie ungleich jetzt
Einer gierig aufpickend
Den kleinen Lebensrest
Im warmen Laub
Der andere entflogen
Sein klarer Schatten
Gleitet übers Schneefeld
Zieht Kreise drei
Jeder ein wenig blasser
Kein Schrei aus den Wolken
Keine Feder herab.

 

Ein weltliches Requium

Als Marie Luise Kaschnitz im Jahr 1958 ihren Mann verlor, verstummte sie nicht. In den sechzehn Jahren, die sie ihn überlebte, entstand ein bedeutendes Alterswerk. Dein Schweigen, meine Stimme ist der Titel der ersten nach seinem Tod entstandenen, 1962 veröffentlichten Gedichtsammlung. Die nebenstehenden Verse entstammen nicht diesem Band. Aber sie gehören in seinen Umkreis. Sie sind nicht genau datierbar, stammen ungefähr aus der Mitte der sechziger Jahre und wurden 1972 als Eingangsgedicht zu der Sammlung Kein Zauberspruch zum ersten Mal veröffentlicht.
Mehr als ein Hinweis auf den biographischen Anlaß, den Tod des Ehemanns, ist zur Kommentierung dieser Zeilen nicht nötig. Man muß sie nicht zweimal lesen, um sie zu verstehen. Aber wie alles Selbstverständliche setzen sie sich fest, werden Besitz, immer verfügbar, bei jedem Blick aus dem Fenster übers Schneefeld, in die Wolken; sie stellen sich ein, wenn wieder und wieder, zum wievielten Male, die suchende Hand ins Leere greift.
„Mann und Frau und Tod“ – so heißt es in dem ebenfalls in dieser Sammlung zu findenden Gedicht „Cromagnon“ – „immer dasselbe“. Das wird zum zentralen Thema ihrer Alterslyrik. Wenn plötzlich die Schere auseinanderklafft, die Lebensgemeinschaft auseinanderbricht in „Dein Allesvorüber / Mein Immernochda“, wenn die große Suche anhebt: „Wo / Du / Überall Nirgends“, wenn das „rehrote Windei Hoffnung“ geboren wird aus Trotz und Zorn und der Ohnmacht der Verlassenen: „Einst werde ich aufstehen/ Wie alle Geschlagenen…“, dann steht es auf des Messers Schneide – verstummen oder fortfahren im Sprechen, im Schreiben.
„Dein Schweigen, meine Stimme“: Die Kaschnitz hat sich entschieden fürs Leben, fürs Weiterleben, und es stellt sich heraus, daß er gar nicht schmal ist, der „Lebensrest“, der ihr geblieben ist – noch sind die Sinne wach, das lebenslang geschärfte Wahrnehmungsvermögen ungetrübt, es scheint sogar gesteigert durch den Schmerz. Nichts hindert das Hereinströmen von Welt – das ist ja das Schwere: Die Zurückgelassene kann sich nicht entziehen, alles bleibt mit ihr zurück, es ist, als habe der Sterbende sie im Moment seines Todes tief ins Leben hineingestoßen, tiefer als je, sie, die sich schon halb gelöst hatte davon in den Wochen, in denen sie sein Sterben begleitete.
Diese Lösung war Trug: „Über mich her fiel die Welt“, schreibt sie im Jahr danach. Sie hat ihr standgehalten, die Dichterin, noch viele Jahre lang. Auf ihre Weise, daran konnte der Tod nichts ändern:

ich sehe und höre, reiße die Augen auf und spitze die Ohren, versuche, was ich sehe und höre zu deuten, hänge es an die große Glocke, bim bam.

Was im Werk der Kaschnitz immer wieder als das „Klassische“, die Bindung an traditionelle Formen, hervorgehoben wird, ist das Ergebnis dieser einfachen Methode, deren sie sich bedient: sehen und hören, das Gesehene und Gehörte deuten und an die große Glocke hängen. Die Wiedergabe des sinnlich Wahrgenommenen – dazu gehört die Präzision, die eine der wichtigsten Merkmale ihrer Kunst ist; die Reflexion darüber – das ergibt ihre Tiefe, und die große Glocke, das wird bei ihr kein brausender Lärm, das ist auf „sordino“ gestimmt, aber von bezwingender Intensität. So wie die wenigen Zeilen dieses Requiems.

Christa Melchingeraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986

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