Christian Schloyer: spiel ・ur ・meere

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christian Schloyer: spiel ・ur ・meere

Schloyer–spiel ・ur ・meere

UNTER GROSSSTADTHIMMELN

unsere augen verlieren wir nachts
an die himmel wir haben das nachsehen

aaaaafest implantiert ・zwischen iris +
retina, stratosphäre

aaaaaa& sternschnuppen ・billigen wir
ein eigenleben zu

ein unentdecktes (im geflecht
unserer blicke)

aaaaain ballungszentren ・stelln wir
die lippen auf stoßdämpfer um – wir sind ja

aaaaafast blind ・tun wir ein werk
das man gern seinem stern überlässt

 

 

 

Wenn Sprache

permanenter Entstehungsprozess von Ich und Welt als Kondensat der Wahrnehmung ist, was wäre dann die Suche nach Urwelt und Ursinn? Was wäre der Versuch, unsere ungeheuerliche Sprachmatrix durchstoßen zu wollen, um nach einem Dahinter, nach Bedeutung zu forschen? Donquichotterie! Größtmögliche Eselei! Ikarus auf Tauchfahrt in die Ironie. Sam Lowrys Flucht zwischen die Zeilen, in den Sinnsang zwischen Minne und Unsinn. Um was zu finden? Muss nicht Eden am Urgrund der Sprache liegen, im Irgendwo, ein Atlantis, wie Mutterleib und Liebe? Du? Die Urmeere, sagt man, hatten 37°C. Den Butt in die Fischfalle locken.Vielleicht weiß er einen Weg.

kookbooks, Klappentext, 2007

 

Traumdeuterchens Mondfahrt

Christian Schloyers Gedichte lesen sich wie ein Exerzitium in romantischer Magie. Ihr ebenso ernsthaft wie augenzwinkernd erklärtes Ziel ist nichts Geringeres als das wiedergefundene Paradies einer vorsprachlichen Unschuld. Der Klappentext kündigt an, „unsere ungeheuerliche Sprachmatrix durchstoßen zu wollen, um nach einem Dahinter zu forschen“, womöglich einem „Eden am Urgrund der Sprache“. Das ist eine ziemlich genaue Beschreibung dessen, was hier unternommen wird. Wie der Titel, so setzt auch der Text selbst mit der Spieluhr ein; ihr gilt das erste Wort. Und wer weiterliest, muss sich bald auf einen Drehwurm gefasst machen.
In lakonischer Verknappung resümiert dieser Titel Schloyers postromantische Poetik. Nicht nur die Kombinationen „Spieluhr“ und „Urmeer“ sind ja in der Trias spiel · ur · meere enthalten, sondern auch die traumhafte und irgendwie triftige Verbindung der beiden himmelweit verschiedenen Bereiche zu etwas, das erst dank dieser Kombinatorik vor unseren Augen entsteht, Spielu(h)rmeeren eben. Wie bei Novalis der „Zauberstab der Analogie“ und bei Eichendorff die Wünschelrute des poetischen Zauberworts, so soll hier die postmoderne Sprachspieluhr den Zugang öffnen zu den verschütteten Urmeeren unterhalb der Zeichen – und muss doch befangen bleiben in der unendlichen Kreisbewegung der Selbstreflexion.
Gerade darum aber beschreiben die Gedichte immer neue Auf- und Ausbruchsversuche, und der Reichtum ihrer Motiveinfälle ist beträchtlich. Wie „urzeittierchen“ tauchen sie hinab in die „ursuppe“, bewegen sich passagenweise wie „ein gehen / auf grund war da ein grund“ und gehen, einem weiteren romantischen Signalwort folgend, hinein in „eine zweite fremdere bläue“. Fortwährend gleiten in diesen Wortspielen und Sprachbewegungen innen und außen, oben und unten ineinander über, und „Bildanmerkungen“ in Fußnoten verweisen über Schrift und Klang hinaus auf Gemälde; in einem Gedicht „an den angler in monets bildern“ mündet der „fluss vom himmel / ins meer“.
Als „traumdeuterchens mondfahrt“ ist das poetische Protokoll einer lyrischen Reise überschrieben, die am entschiedensten unter den doppelten Auspizien von romantischer Kindlichkeit und romantische Ironie unternommen wird, angefangen mit dieser aus Freud und Märchenwelt kombinierten Überschrift. Führen soll sie „ins jenseits / beschlagener spiegel“; doch die Suche nach der Welt hinter den Sprachwänden führt im Kreis. Die Antwort auf die bange Kinderfrage: „papa? was machen wir wenn wir von / innen / an den mond stoßen“ – sie lautet hier:

peterchen peterchen der
mond!
ist sackgasse wie jede andere auch

So endet die Himmelfahrt, wie sie begonnen hat: in der Immanenz. Denn so suggestiv hier von Traum, Märchen und Mysterien die Rede ist, von Seelen- oder Schamanenwanderungen, so entschieden bleibt dies alles ein Sprachgeschehen; sein Schauplatz ist die Schrift. Was immer hier geschieht, es steht im Bann der Zahlen und Figuren.
In dieser Zeichenwelt aber bewegen Schloyers Texte sich mit tänzerischer, manchmal fast zu reibungsloser Grazie. Sie nutzen jede Gelegenheit, Mehrdeutigkeiten zu erzeugen, vom Kalauer bis zum verblüffenden Zeilenbruch. Sie erfinden so klangvolle Sätze wie „geduldig warten in japan / an ampeln die aaskrähn“, eine makabre Sprachetüde in A, bilden neue Komposita wie „frausternbauch“ oder „sanftmottenes“ und zerlegen schon vorhandene in ihre Bestandteile, um sie zu neuen Kombinationen freizugeben:

magnet · schwebe
blick, bahn

Und sie lieben jene zweideutige Figur, die in der Rhetorik „Apokoinu“ heißt, also die doppelte Beziehbarkeit eines Elements im Satz. Verbindet sie sich mit einem seinerseits so beziehungsreichen Märchenmotiv wie dem sprechenden Butt aus dem Märchen Philipp Otto Runges, dann ergeben sich Kippfiguren wie diese:

als ich mich bei dir frisch
harpuniert vom jagdglück
der fischer erholte · das weißt du
sich nie von den wünschen der liebsten

Ziemlich peinlichkeitsfrei können dank dieser Vorkehrungen heikle romantische Schlüsselvokabeln wiederkehren. Da fallen nicht nur „sternschnuppen“, sondern gleich auch ein „gefallener engel“; Lilienblüten öffnen sich und Feenflügel, und sogar „feenmärchen“ werden wieder erzählbar, zum Beispiel von so erledigt geglaubten Gedichtmotiven wie dem „herbstblau zwischen den bäumen“. Verspielt und immer etwas gespenstisch erklingt aus Schloyers Spieluhr eine „herz · kammer / musik“; nicht von ungefähr lässt sie manchmal an Celan denken und seine Dekonstruktionen des romantischen Vokabulars.
Wenn das zierliche Maschinchen für einen Augenblick stillsteht, wird plötzlich ein Schauder spürbar, der aus dessen frühen Versen herüberweht:

wasche
die augen wasche den schlaf
aus dem haar

Gewiss, manchmal versandet der Einfallsreichtum in Marotten, gerät der Schabernack zur bloßen Allotria, schwingt der Wortmagier seinen Zauberstab etwas zu auffällig. In den gelungenen Augenblicken dieses Bandes aber verbinden sich postmoderne Poetik und romantische Sujets zu Traumtänzen von beträchtlicher Anmut.

Heinrich Detering, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2007

Im optischen Taumel stürzt der Himmel ins Meer

– Christian Schloyers Debüt spiel ur meere ist ein vorzüglicher Gedichtessay. –

spiel ur meere ist die erste Buchveröffentlichung des 32-jährigen Christian Schloyer und auf Anhieb ein Wurf, der Glücksfall einer formintelligenten Lyrik, die Fragen stellt und Denkwege bahnt. Auf unaufgeregte Weise wird das Gedicht geradezu mit der Abrissbirne traktiert: Schloyer greift in das lineare Gefüge der Verse ein und setzt die Einheit des Gedichts im semantisch-syntaktischen Kerngebiet der poetischen Rede aufs Spiel: innerhalb der Verszeile. Die Wörter werden durch Pausen und Trennungszeichen in Silben zerrissen, und die Sätze zerbrechen in semantische Elemente. Nach dem Leitfaden der Linearität sind die Gedichte nicht lesbar.
Das Druckbild erweckt den Anschein, ein zerstreuter Spaziergänger unter den Federhaltern sei mit einer Streubüchse auf dem Papier unterwegs gewesen und habe hier einen Satzfetzen fallen lassen, dort eine Silbe. Auf die Bewegung der Sprengung folgt aber die Gegenbewegung einer bindenden, bildhaft metaphorischen Neuordnung, bei der das Material seine Akzente, seine Tonalität, seine Sinndimension verändern kann.
Im ersten Gedicht dient das Verfahren der Bestimmung der Differenz und Allianz des eigenen, von draußen kommenden Idioms mit der vorgefundenen, ausgeformten Gedichtsprache, im ersten Kapitel der Erschaffung des lyrischen Subjekts. Im Gedicht firmiert es als das Du, das zum Dialogpartner des Ich der Gedichte wird. Verständnisschwierigkeiten bereitet das Wechselspiel von Entsiegelung und subjektiver Einschreibung im Innern der Texte nicht. Dafür sorgt im Auftaktgedicht die Metaphorik, die das Bündnis der beiden, einander fremden Stimmen ins erotisch erhitzte Bild eines furiosen Flamenco-Wirbels fasst. Die Methode öffnet das Gedicht einer Ausdrucksdynamik, die in dem Zwölfzeiler „an den angler in monets bildern“ die Form eines optischen Taumels annimmt. Die zeigende Gedichtrede mit dem memorierenden „merk dir“ unterstreicht den Schwindel des Betrachters, der sich auf der Suche nach Orientierung einen Blickweg durch die Farbmeere Monets bahnt. Sein tastender Gang stellt die gemalte Welt derartig gründlich auf den Kopf, dass es im Zentrum des Gedichts zum chiastischen Umsturz der Himmelsrichtungen kommt. Der Himmel wird ins Meer versenkt. Das Meer in den Himmel.
Im Fortgang von Kapitel zu Kapitel erweist sich die Dienlichkeit der dialogischen Struktur für die Selbstentfaltung des Denkens im Prozess essayistischen Schreibens. Schloyers Gedichte sind fragmentarische Stationen eines längeres Gedankengangs zum Verhältnis von Mensch und Natur. In der Verstümmelung menschlicher und tierisch-pflanzlicher Natur, der Suche nach Spuren einer mitten im Zivilisatorischen noch vorhandenen Urschrift oder der Frage nach einem möglicherweise vergessenen Paradieswissen der Kunst wird unsere Lebenswelt gemustert und ihre Naturgebliebenheit und Nochnichtkulturgewordenheit diskutiert.
Die offene dialogische Form stützt das bewegliche Gefüge von Fragen und Antworten, das dem Essay eigen ist. Friedrich Schlegel, der den Essay als intellektuelles Gedicht bezeichnet hat, hätte an Schloyer beweglichen Spaziergängen des Intellekts seine Freude gehabt.

Sibylle Cramer, Süddeutsche Zeitung, 27.2.2008

Verspielte Vortragskunst

Der 1976 in Erlangen geborene Christian Schloyer, Gewinner des Open Mike 2004 und des Leonce-und-Lena-Preises 2007, legt mit diesem schon äusserlich auffälligen Buch seinen ersten Lyrikband vor. In sechs Abteilungen finden sich optisch locker gestaltete Gedichte, selten länger als eine Seite, zwei oder drei Zeilen, häufig mit Einzügen, in absoluter Kleinschreibung, hin und wieder kursive Teile, viele Plus- und Minuszeichen und andere graphische Symbole. Manchmal stolpert man über einen Binnenreim (kahle – fahle / blond – bond), sonst herrscht das reimfreie Spiel vor, das sich hier und dort schalkhaft auch im Inhalt zeigt. Schloyers Lyrik kann man wie Prosa an einem Stück lesen (z.B. „er ists“). Oft tauchen Gedanken wiederholt auf („murmeln im flussbett“). Zentral ist nach Schloyers eigener Aussage der „sprechakt“ – Lyrik erhält seine definitive Form und Geltung erst im Vortrag. Dies im Kopf, eröffnen sich den Lesern wenig sinnfällige Poeme auf einer anderen Schiene der Wahrnehmung. Schloyer ist ein Glückspilz, was auch der Grundstimmung der Gedichte zu entnehmen ist, allerdings rettet ihn das nicht vor dem Unglücklichsein. Dass Glück vorab auch Liebe, Frau und Nachwuchs ist, das schimmert an einigen Stellen durch („eine zweite fremde bläue“). Auffällig die häufigen Bezüge zur bildenden Kunst, direkt mit Nachweis, etwas, das auch andere junge Dichter im Visier haben (z.B. Nico Bleutge). Sonst kann man Reisen („vétheuil“), Lebensausschnitte der Grossstadt („magnet – schwebe“) und immer wieder Natur erkennen („spring – break“ oder „fotorealistische details einer sonntagsidylle“). – „mein suchen deckt nichts auf es lässt verschwinden was bleibt“ – Dies ist ein wenig die Krux mit diesen Gedichten, die Sprache, Überkommenes, Erfahrung und Gelebtes gehörig durcheinander schütteln, so dass man merkt, da gibt sich ein Autor mit einem Anliegen ab und versucht dem Text neben dem Ästhetischen eine weitere Daseinsberechtigung zu verleihen. Aber genau dies scheitert meiner Meinung nach, Transzendenz verpufft im laut knallenden Vorlesegefecht und in kurzfristiger Bedeutungssuche. Hin und wieder sind mir die Wort- und Gedankenspiele auch zu nah an der banalen Realität („tetra-tête“ und „die kuh in meinem schädel träumt dass sie tobt“). Unter dem Strich bleibt eine quirlige und augenzwinkernde Lyrik, die überdurchschnittliche Qualität aufweist, aber als stilles Lesebuch nur begrenzte Wirkung hat.

Andreas Gryphius, amazon.de, 25.3.2008

Kaviar für die Massen

– Über das Experiment in der Dichtkunst und das Debüt des Leonce-und-Lena-Gewinners Christian Schloyer. –

Lyrik ist die geschmähte Gattung – und beinahe möchte man mit dem Finger auf die Erzeugnisse dieser Kunstform zeigen und sich vor Schadenfreude den Bauch halten: Selber schuld! Wer sich nicht um die Leser kümmert, wird eben nicht geliebt! – Im Gegensatz zur angelsächsischen Tradition des Erzählgedichts hat sich in Deutschland ein rein experimenteller Ton bei Gedichten durchgesetzt, deren Annäherung ein Literaturstudium fast voraussetzt: Kaviar für die Hochkultur. Eine von den überregionalen Feuilletons gelobte Ausgabe der renommierten Literaturzeitschrift Bella Triste (Ausgabe 17, 3. Auflage) liefert einen Querschnitt dieser Experimentierversuche. Im Gegensatz zum Zeitalter der Impressionisten, die von den Kunstrichtern gnadenlos für ihren Mut verrissen wurden, scheinen die Juroren heute ins gegenteilige Extrem zu rutschen: Inzwischen wird nur noch ausgezeichnet, was den nachvollziehbaren Lesemustern zuwider läuft. Das macht viele der mit hohen Preisen bedachten Gedichte leider auch unverbindlich, beliebig; niemand würde es merken, würden bestimmte Worte oder gar ganze Verse durch anderes Wortmaterial ersetzt. –
Einen Sonderfall stellt der junge Preisträger des diesjährigen Leonce-und-Lena-Wettbewerbs dar, immerhin des wichtigsten Nachwuchspreises in Sachen Lyrik. Scheinbar mühelos gelingt es Schloyer, die nicht immer einfach zu entschlüsselnden Gedichte auf eine Sprachebene zu heben, die Raum für das Spiel mit Worten und die klangliche Wiederholung lässt – und sogar ironische und rührende Momente möglich macht. Besonders gekonnt wurde dieser Kunstgriff im Zyklus „von innen an den mond stoßen“ angewandt, vor allem bei den Werken „medaillon mit bildchen“, „es geht ein wind über der stadt der spricht“ oder „walnüsse knacken“, letzteres eine spannende Interpretation des im Expressionismus beliebten Stadtgedichts:

geduldig warten in japan

an ampeln die aaskrähn – drehst dich im schlaf
aaaaaauf die seite · legen in japan krähe

nüsse auf straßen – du träumst in zwei sprachen

fern warten die krähen scheints auf ein
aaaaaknacken · (als wären sie fähig das rot aus

ampeln zu saufen als wüssten sie wie man

schatten aus kirschblüten stiehlt) + zähln die rippen
aaaaabei grün · lesen sie
zeilen · aus deinem rücken

Überhaupt kennt der 31-jährige Nürnberger sein Metier, was eine parodistische Neufassung von Mörikes Frühlingsgedicht „Er ist’s“ und die Auseinandersetzung mit der klassischen Moderne in der Malerei zeigt: „an den angler in monets bildern“ und „ich beschütz dich wenn ich gegessen habe“, letzteres eine Bildbeschreibung von Munchs „Madonna“.
Doch auch „diabolo“ und „mixed pickles“ beweisen, wie lustvoll Schloyer Sprachklischees aus dem Alltag zu hinterfragen und wie beeindruckend genau er ganze Zyklen zu erarbeiten in der Lage ist. „trag du mal lieber etwas vernünftiges / in deinem köcher / z.b. so etwas wie einen giftigen säugling // lass die katzen aus dem sack / alle! ja auch die kleinen mit schluckauf! / & pfeilschnell mit dem u-boot durch die pegnitz / in die oper“ (Auszug aus „diabolo“) oder „er ist nicht so dass er dich / nicht liebt kleine es ist nur, er / erträgt sich nicht / allein da draußen in seinen eis / wäldern unter der stecknadel / sonne, deshalb legt er dich / flach / & immer fröstelt er & letztlich – legt er dich / ein in kaltem methan“ (Auszug aus „mixed pickles“).
Natürlich finden sich auch jede Menge schwierige, geradezu sperrige, unverständliche Texte in Schloyers Lyrikdebüt spiel ur meere (kookbooks), großartig illustriert von Andreas Töpfer. Doch die Herangehensweise des jungen Schriftstellers – der verstecke Witz, die unerwartete Wendung – bietet Haltegriffe zum Verständnis, die beim mehrmaligen Lesen, das ist vielleicht die größte Stärke dieses Debüts, alles andere als ermüden. Deshalb kaufen, lesen!

Matthias Kröner, Ostragehege, Heft 49, 2008

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Marcus Roloff: Sphärisches Rascheln
poetenladen.de, 28.10.2007

Roman Graf: „Weich gebogen“ – leicht gedreht
poetenladen.de, 8.5.2008

 

Heißgelaufene Pflänzchen

– Romantiker, Mimosen oder Idealisten – was Dichter sein können und was sie von einem Taschenrechner unterscheidet. Ein Interview mit dem Lyriker Christian Schloyer. –

Simone Miesner: In Ihren Gedichten geht es oft um sehr Persönliches. Küssen und Frauen sind immer wiederkehrende Motive. Verarbeiten Sie in ihrer Lyrik die ewige Suche nach Glück?

Christian Schloyer: Nahezu jedes Gedicht lässt sich wie eine Art Liebes- oder Flirtgedicht lesen. Da schwingt natürlich Material aus meinem Leben mit. Wenn ich Gedichte schreibe, ist das der Versuch, aus meinem Kopf-Ich auszubrechen.

Miesner: Sind Sie denn glücklich?

Schloyer: Ich glaube, ich bin ein Glückspilz, aber ich bin meistens nicht glücklich.

Miesner: Und dagegen hilft das Schreiben von Gedichten?

Schloyer: Normalerweise schreibt man Gedichte und ist blind dafür, wie Lyrik funktioniert. In der Schule lernt man selten mehr als ein paar alte Gedichte auswendig. Als ich zu schreiben angefangen habe, habe ich mich gewundert, warum das Lyriklesen überhaupt niemanden interessiert. Es gibt ja zehn Mal so viele Menschen, die Gedichte schreiben als die, die sie lesen. Meine ersten Gedichte habe ich während meiner Schulzeit zu einem Wettbewerb geschickt. Als ich gesehen habe, mit welcher Art von Lyrik da gewonnen wurde, war ich höchst empört (lacht). Irgendwann habe ich begriffen, dass man leben muss, um überhaupt etwas zu schreiben zu haben.

Miesner: Warum schreiben Sie dann gerade Gedichte?

Schloyer: Ich habe mit Prosa angefangen. Mein erstes Werk war ein Fantasy-Roman. Den habe ich an Verlage geschickt und natürlich Absagen kassiert und war wieder furchtbar empört darüber. Inzwischen bin ich heilfroh, dass das Buch nie veröffentlicht wurde (lacht).

Miesner: Kein Grund aufzugeben?

Schloyer: Am Anfang meines Studiums habe ich an der Uni eine Autoren-Gruppe gegründet. Das Selbstbewusstsein dafür hatte ich, weil ich ja immerhin schon einen Roman geschrieben hatte, so wenig tauglich der auch gewesen sein mag. Trotzdem habe ich geglaubt, nach 500 Seiten Fantasy-Roman wäre ich schon ein Schriftsteller. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich mit der Lyrik leichter zu dem komme, was ich schreiben will.

Miesner: Und was wollen Sie schreiben?

Schloyer: Ich habe Vorstellungen, wie Gedichte zu sein haben und was kein Gedicht sein kann. Ich habe Schwierigkeiten mit Texten, die von vornherein wissen, was sie sagen wollen. Und die mich am Schluss auch noch belehren oder die klug sein wollen. Wichtig für ein Gedicht ist, dass es nicht weiß, worauf es hinauswill, dass es keine Übersetzung gibt, die man stattdessen schreiben könnte.

Miesner: Ungewissheit ist ein wichtiger Bestandteil Ihrer Gedichte?

Schloyer: Ich habe Schwierigkeiten damit, dass es einen Zwang zur Interpretation von Gedichten gibt. Man tut immer so, als würde man mit Sprache etwas benennen, was außerhalb der Sprache oder eines Gedichtes steht. Das stimmt aber gar nicht. Für mich gibt es innerhalb eines Gedichtes keinen nicht-sprachlichen Inhalt.

Miesner: Dann geht der Inhalt ihrer Gedichte nicht über ihre eigene individuelle Befindlichkeit heraus?

Schloyer: Es ist nicht so, dass es ein Ergebnis gibt, worauf man kommen müsste. Ich würde eine Art Musterinterpretationen für meine und andere Gedichte auf jeden Fall ablehnen. Sonst wäre das Gedicht wieder etwas, was man potenziell durch einen anderen Text ersetzen könnte. Menschen bestehen aber alle so weit aus Sprache, dass man etwas in jedem berühren kann. Wenn sich ein Leser ein Gedicht aneignet, passiert etwas mit dem Gedicht, es vervielfältigt sich. Wie und auf welche Art und Weise liegt im individuellen Sprachverständnis des Lesers.

Miesner: Ist Lyrik prinzipiell vom Aussterben bedroht?

Schloyer: Im Gegenteil: Ich kann mir vorstellen, dass gerade kurze Texte im sogenannten Informationszeitalter durchaus gerne gelesen werden. Schwierig ist bei Lyrik nur, dass sie vom Leser erfordert, viel und viel Unterschiedliches in der Richtung zu lesen. Das ist ähnlich wie mit guten Weinen, die einem als Jugendlicher nicht schmecken. Je mehr man sich aber damit beschäftigt, desto differenzierter wird der Geschmack. Das Problem ist doch, dass heutzutage immer alles verwertbar sein muss. Dahinter steckt der Wunsch nach Einfachheit, auch in der Kunst. Man will etwas haben, womit man sich nicht beschäftigen muss, was sofort ökonomisch verwertbar und logisch erscheint. Gedichte müssen sich dagegen sperren, indem sie eine eigene Sprache sprechen.

Miesner: Sie haben jetzt die Chance, mit ein paar Klischees aufzuräumen. Vorurteil Nummer eins: Lyriker sind Idealisten.

Schloyer: Ja! Idealismus bedeutet, die geistige, sprachliche Welt als Basis unseres Menschseins, unseres Bewusstseins zu begreifen – und nicht eine ausschließlich materielle Welt. Im Alltag bedeutet das: Idealisten übernehmen Verantwortung über ihr Denken und damit auch für ihr Handeln und ihre Umwelt.

Miesner: Lyriker sind romantisch.

Schloyer: Lyriker sind weniger kitschig romantisch, als man denkt. Lyrik hat mit Spracharbeit zu tun und nicht mit Schwärmerei.

Miesner: Lyriker sind kauzig.

Schloyer: Das müssen sie sein. Lyrik hat damit zu tun, dass man den Blick zunächst in sich hineinlenkt und damit sehr stark um sich selber kreist. Man ist immer ganz stark auf das eigene Ich zurückgeworfen – noch mehr, wenn man auf andere, auf die Gesellschaft blicken will. Das macht kauzig.

Miesner: Lyriker sind zarte Pflänzchen.

Schloyer: Hochleistungsprozessoren in Computern sind empfindlicher als Taschenrechner. So ist das auch bei Lyrikern: Sie laufen schneller heiß, weil mehrere Prozesse gleichzeitig ablaufen.

Miesner: Lyriker sind Lebenskünstler.

Schloyer: Müssen sie sein, weil sie viel Zeit mit etwas verbringen, was wenig finanziellen Gegenwert gibt. Insofern muss man Lebens- und Überlebenskünstler sein. Da sind wir auch mal harte Brocken.

Miesner: Was brauchen wir in Zukunft für eine Lyrik?

Schloyer: Lyrik oder Kunst wird gerade, was Sinnstiftung angeht, eine immer höhere Bedeutung bekommen. Menschen finden ihr eigenes Leben zunehmend sinnentleert. Das ist nur eins von vielen gesellschaftlichen Problemen. Lyrik hat die Aufgabe zu zeigen, dass die Lösung im Bewusstsein und damit in der Sprache anfängt. Wenn man über Dinge redet oder nachdenkt, dann hat man die Möglichkeit, zu handeln und sie nicht für unabänderlich anzusehen. Wir brauchen eine Lyrik, die glücklich macht.

Die Zeit, 17.12.2007

 

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