Christian Scholz / Urs Engeler (Hrsg.): Fümms bö wö tää zää Uu (CD)

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christian Scholz / Urs Engeler (Hrsg.): Fümms bö wö tää zää Uu

Scholz & Engeler/Scherstjanoi (Hrsg.)-Fümms bö wö tää zää Uu

Bi=Bi=Bi=Bi,=Bii=ih flii=ih: Bi=Bi=Bi=Bi,=
Bii=ih zii=ih: Bi Bi Bi Bi, Bii=ih ii=ih: Cha
Doch nit me, Hii=ih? wii=ih:::: Bi=Bi=Bi=Bi,=
Bii=ih Brii=ih: Bi=Bi=Bi=Bi, Bii=ih Drii=ih:
Wiiga, i giiga: D’r Britt het ja, n a Schiiiga::
Bi=Bi=Bi=Bi,= Bii=ih nii=ih: Bi=Bi=Bi=Bi,=
Chlii=ih Chlii=ih: Bi Bi Bi Bi,=ii=ih bii=ih:
La doch nit me, Vii=ih. Rii=ih:::: Bi=Bi=Bi=Bi,=
Bii=ih Brii=ih: Bi=Bi=Bi=Bi,= Hii=ih Hii=ih:
D’Schiiga, Sie Chriiga: D’r Kukuk ist ja, furt.

Adolf Wölfli

 

 

Oskar Pastiors Lesung von 4 Gedichten für diese Anthologie

 

 

Lautpoesie:

der Laut als Material der Poesie wird zu ihrem Inhalt. Wenn es sich bei der Lautpoesie aber nur gerade um sinnfreies Klingen drehen würde, wäre das allein wohl nicht weiter interessant. Nur klingen, ohne etwas zu sagen, ist denn auch nicht Sache dieses Buches, und das Versammeln der schönsten und interessantesten Lautgedichte von Velimir Chlebnikow, Hugo Ball und Kurt Schwitters bis zu Ernst Jandl, Gerhard Rühm, Carlfriedrich Claus und 100 weiterer Künstlern nicht sein einziges Ziel. Zu fast jedem der Lautgedichte ist ein weiterer Text – Manifeste, Briefe, Reflexionen, Anekdoten – gesellt, der seine Sinn- und Geistesart vermittelt und aspektiert. So entsteht ein differenziertes Bild der vielen Gründe, die Menschen dazu anstiften, Bedeutung jenseits von Semantik und Grammatik in Lautfolgen zu suchen und zu finden. Eine weitere Besonderheit dieser einmaligen Anthologie sind die zahlreichen Beispiele jenseits einer Lautpoesie als Programm der Moderne: Kinderverse, Geheimsprachen, Zaubersprüche, Glossolalien und Tiersprachen sind ebenso berücksichtigt wie Beispiele zum Sprachlaut in der Musik und in der bildenden Kunst. Und um die Sache in der Form einer CD nicht nur rund, sondern auch tönend zu machen, stellt dieses Buch die wichtigsten der zeitgenössischen neuen Lautpoeten mit eigens für diese Publikation geschaffenen Werken vor. Zu hören sind Jaap Blonk, Brenda Hutchinson, Fatima Miranda, Phil Minton, David Moss und 12 weitere Künstler.

Ein wichtiger Teil dieses Buches ist zudem die wohl vollständigste Biblio-, Disco- und Filmographie zur Lautpoesie, beruhend auf der Sammlung des Herausgebers Christian Scholz, die ihres Umfangs wegen nicht in gedruckter Form, sondern hier als Online-Publikation frei verfügbar gemacht wird.

Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2002

 

Sprache, die nur noch klingen will

– Lautpoesie versucht den Abgrund zwischen Klang und Bedeutung zu überwinden: mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen, wie ein grosses Kompendium vorführt. –

Am Anfang war das Wort. Wirklich? Schon Goethes Faust zögert hier, als er den berühmten ersten Satz des Johannesevangeliums übersetzt, sucht nach Alternativen, landet über „Sinn“ und „Kraft“ schliesslich bei der „Tat“. War aber vor dem Wort nicht der Laut? Haben sich die Menschen, bevor sie ihre grösste Erfindung machten, die Sprache, nicht auf andere Weise verständigt? Wir wissen es nicht, können es nur vermuten.
Unsere Sprache, alle unsere Sprachen arbeiten mit Zeichen, in denen Laut und Bedeutung verbunden sind wie die beiden Seiten einer Münze. Diese Verbindung ist willkürlich, aber wirksam; dass die Lautfolge „bal“ einen Ball bedeutet, ist nicht logisch, aber es funktioniert. Es funktioniert sogar fantastisch. Dennoch ist die Sehnsucht nach einer anderen Form der Verständigung nie ganz verschwunden, eine Verständigung mit Lauten, die nicht nur bedeuten, sondern einfach sind, in denen die Verbindung der fonetischen und der semantischen, der Klang- und der Bedeutungsebene nicht willkürlich gesetzt und durch Gewohnheit verfestigt ist, sondern von vorneherein besteht. Es ist die Sehnsucht nach der Identität von Sagen und Sein, letztlich von Mensch und Natur, von Ich und Welt.

Ekstase, Irrsinn, Besessenheit
Diese Sehnsucht hat gerade die Dichter, die dem sprachlichen Instrumentarium das Höchste abgewinnen konnten, immer wieder angetrieben und eine eigene Abteilung der Wortkunst inspiriert: die Lautpoesie. Sie zieht sich als ein unterirdischer, manchmal subversiver Strom durch die Literaturgeschichte, zeitigt verwandte Phänomene in kindlichem Geplapper, in Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln und immer wieder die poetischen Entsprechungen des Abweichenden und Absonderlichen: religiöse Ekstase, Irrsinn und Besessenheit.
Epidemisch wird die Lautpoesie aber erst vor knapp hundert Jahren, als sie fast gleichzeitig in mehreren europäischen Kulturzentren auftritt: im futuristischen Italien, in der jungen (vor-)revolutionären Avantgarde Russlands, im surrealistischen Paris und ab 1916 im dadaistischen Zürich. Später kamen dann die Berliner und die Wiener hinzu, und dann sprachspielte und klangpoetelte es auch in London und New York und anderswo, sogar in der DDR, und hat bis heute nicht mehr aufgehört.
Was wollten sie damals, die Pioniere Marinetti und Tzara, Chlebnikow und Hausmann? Sie hatten den Untergang des Alten Europa geahnt und erlebt, gingen durch die Katastrophe des Ersten Weltkrieges mit seiner Verwüstung von Landschaften und Dynastien, Körpern und Seelen. So, wie man bisher geschrieben und gesprochen hatte, würde man nicht mehr sprechen und schreiben können, empfanden sie. Die Sprache, die zur Verfügung stand, war Teil des Alten, Zerstörten, Überwundenen, ungeeignet, die traumatischen Erfahrungen wiederzugeben – aber auch nicht die hochfliegenden Visionen. Man musste also Tabula rasa machen.
„Ich bin zu den ersten Menschen zurückgekehrt“, schrieb der Franzose Pierre-Albert Birot, „als die Menschen noch ohne Sprache waren. Ich bin zum Höhlenmenschen geworden, ich habe versucht, auf meine Art mit unserer Sprache und unseren Silben die Frische dieser Poesie der ersten Menschen nachzuvollziehen.“ Das klingt dann so: „hik-hik hik-hik hik-hik hik-hik / hupp hupp hupp / au tsik / kek kek kek kek kek kek kek kek kek / hupp hupp hupp / grrrrri grrrrrri grrrrrrrr“ usw.
Hugo Ball, Mitbegründer der Zürcher Dada-Bewegung, verbindet die Abwendung von der vernutzten, verdorbenen Alltagssprache mit der Hoffnung auf ganz neue Kräfte, die entfesselt werden könnten, wenn man die Verbindung von Klang und Bedeutung aufsprengt: „Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk.“
Nach diesem Prinzip schrieb er unter anderem ein Krippenspiel, in dem das „Öchslein“ brummt („muh muh muh muh muh muh“), der Esel iaht („ia, ia, ia, ia, ia, ia“), das Schaf blökt („bäh bäh bäh bäh bäh“), Josef und Maria beten („ramba ramba ramba ramba“) und die Engel singen („dorum darum dorum darum“). Ja – es ist nur ein kleiner Schritt vom Albernen zum Genialen, von Balls „Ballaballa“ zu Kurt Schwitters’ „Ursonate“, die ebenfalls ohne ein einziges verständliches Wort auskommt, dafür aber wie ein Musikstück aufgebaut ist.

„Wortlose Wortkunst“
„Fümms bö wö tää zää Uu“, die erste Zeile der „Ursonate“, hat den Titel geliefert zu einem wunderbaren Kompendium der Lautpoesie, das Christian Scholz und Urs Engeler jetzt im Verlag des letzteren herausgegeben haben und das selbst ein editorisches Kunstwerk darstellt. Es ist chronologisch, systematisch und enzyklopädisch zugleich, das heisst: Es zeichnet die Entwicklung der Klangdichtung von den Anfängen bis zu Auftrags-„Kompositionen“ nach, erforscht die Motive dieser „wortlosen Wortkunst“ und bietet ein breites, internationales lautpoetisches Panorama, in vielen Sprachen, wenn man die denn so nennen will.
Verblüffend, was der weit schweifende Blick der Lautpoesie-Sammler alles einfängt, von Abzählversen über ein afrikanisches Regenlied („Dad a da da / dad a da da“) über so genanntes Teufelslatein, einen Zauberspruch aus Mozarts Singspiel „Bastien und Bastienne“ („Diggi, daggi / schurry, murry / horum, harum / lirum, larum“), zu Äusserungen von Schizophrenen, einem rätselhaften Gedicht von Christian Morgenstern „Kroklokwafzi? Semememi!“) und den Vogelimitationen von Aristophanes („kuku, kukuk, tio, tio“) und Oswald von Wolkenstein. Stefan George experimentierte mit einer eigenen Sprache, weil ihm das Deutsche nicht mehr genügte, Isidore Isou erfand 19 neue Buchstaben, Valeri Scherstjanoi ein „skribentisches Alphabet“ aus 70 Zeichen, Welimir Chlebnikow gar das „Zaum“, die „vorwärts schreitende Weltsprache im Keim: Nur sie kann die Menschen einen – die Verstandessprachen trennen“.

Was ist Ernst, was Scharlatanerie?
Schwer fällt manchmal die Trennung zwischen ernstem Anliegen, Spiel und Scharlatanerie. Else Lasker-Schülers „Ursprache“ wurde für Arabisch gehalten, Tristan Tzaras „Geheimsprache“ bestand aus Maori-Zitaten. Rudolf Blümner, als Rezitator experimenteller Lyrik einst berühmt, warnte: „Die Willkür allein führt zu nichts“, weder zu einer neuen Verständigung noch zu ästhetischer Qualität.
Während viele Spracharbeiter es durch die „Kernspaltung“ von Klang und Bedeutung den Atomphysikern gleichtun und neue Kräfte freisetzen wollen, ging und geht es anderen eher darum, die Grenzen der Wortkunst zu überschreiten auf andere Künste hin. Eine Fraktion schielt auf die Malerei, ordnet ihr Wortmaterial so an, dass figürliche – oder abstrakte – Gebilde entstehen (damit hatten schon die Barockdichter experimentiert). Das führt dann zu „Konstellationen“ aus Wörtern oder Buchstaben wie von Carlfriedrich Claus oder Ferdinand Kriwet; Dieter Roth zeichnet gar, ultimative Reduktion der Schrift, nur noch mit Punkten.
Die Lautpoeten wiederum, um die es hier eher geht, beneiden die Komponisten und versuchen ihr Medium der Musik anzunähern. Sie werfen die Last der Bedeutung ab und versuchen mit dem, was bleibt, zu arbeiten: dem reinen Klang. Das führt zu Ergebnissen sehr unterschiedlicher Art – auf der beiliegenden CD wird kräftig geröchelt und gestöhnt, geschnalzt, gebrummt oder auch nur auf viele Weisen geatmet, die kein Schriftsystem dieser Welt wiedergeben kann. Die Künstler des Mundwerks (unerreichter Pionier: der Wiener Ernst Jandl) treffen auf Avantgarde-Komponisten, die sich ihrerseits von den Musikinstrumenten wegemanzipiert haben und Mundgeräusche als Klänge verarbeiten, aber auch auf den Scat-Gesang des Jazz (ein Beispiel aus dem Buch: „ta tina ta / ta tanana“).
Ein Phänomen unserer Tage ist die Klangpoesie als Performance. Sie erfreut sich, gerade im Rahmen von Slam-Poetry-Sessions, grosser Beliebtheit. Hier allerdings ist die Grenze zum Event schnell überschritten, der Urimpuls dieser Dichtung, die Sehnsucht nach tieferer Verständigung, denkbar weit entfernt. Überhaupt und ironischerweise haben die Lautpoeten ihr Ziel der Gemeinschaft jenseits der Sprache nicht nur nicht erreicht, sondern das Gegenteil: Die Einzigen, die ihre Sprache verstehen, sind in der Regel sie selber, wie bei manchen von ihnen auch eine egoistische Komponente („eine Sprache für mich allein“) nicht zu übersehen ist.

Klang und Sinn
Immerhin zeigt die grosse und ehrwürdige Tradition der Lautpoesie, der Scholz und Engeler ein überaus würdiges Denkmal gesetzt haben, dass in der Sprache mehr steckt, als all denen bewusst ist, die sie lediglich als bequemes Verständigungsmittel kennen und benutzen. Die sprachlichen Extremisten und Kernspalter weisen uns darauf hin, dass die Verständigung nichts Selbstverständliches ist, dass sie auf Übereinkunft beruht, auf der Verbindung von einander wesensfremden Komponenten, Klang und Sinn. Diese Verständigung ist eine schmale Brücke über einem Abgrund von Sinnlosigkeit. Daran erinnert Schwitters’ „Ursonate“ ebenso wie Hugo Balls „Mäh-mäh“-Krippenspiel.

Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 26.4.2003 und Berliner Zeitung, 25.9.2003

Fümms & zää

Bei Urs Engelers Büchern weiß man oft nicht so genau. Man weiß nicht, ist es Buch oder CD. Man weiß nicht, meint er es ernst oder nicht (beides, beides). Man weiß auch nicht, ob man es versteht oder nicht. Man weiß aber immer, wenn man sich nicht gerade heftig wehrt oder aus einem Rilketaumel erwacht, dass man ein grandioses Werk vor sich hat. Als Lyrikverleger ist Engeler wohl der größte. Auch sein neues Werk mit dem hübschen Titel „Fümms bö wä tää zää Uu“ (siehe oben, die drei Weißnichts) ist grandios. Es stellt Lautpoesie aus Jahrhunderten vor, die CD versammelt Originalbeiträge. Da wird gehustet und geschlürft, gehechelt und geblubbert, gelautet und geleist, und auf „Broodje Ei met Ui“ sogar fremdsprachig. Hier kann man die letzten konsequenten Poeten hören, wie sie die Musik und den Rhythmus, den Sinn und den Krach streifen, die Ränder der Sprache und die Ecken der Lyrik. Und das Trumm von „Beibuch“ bietet Lautgedichte von Aristophanes und Oswald von Wolkenstein bis Pastior und Mon und Dizzy Gillespie bis Stockhausen und Nietzsche bis Karl Valentin.

Georg Patzer, Stuttgarter Zeitung, 9.5.2003

Zum Zuhören

– „Fümms bö wö tää zää Uu“ – eine Anthologie der Lautpoesie. –

In Sachen Lautdichtung waren wir alle mal Experten. Als Kinder mochten wir nämlich jene Lautfolgen, die zwar nicht immer verständlich sind, aber dennoch (oder eben darum) höchst geheimnisvoll, nicht selten beschwörend klingen. Zungenbrecher etwa, oder Abzählverse. „Äne däne disse“ oder „Ene mene pinke“, so beginnen Abzählverse, mit denen Kinder den Ablauf ihres Spiels regeln. Lautmalerische, oft rhythmisch strukturierte Lautfolgen, die es in Varianten wohl in den meisten Sprachen und Kulturen gibt, seit Urzeiten schon – ähnlich wie Beschwörungsformeln, Zaubersprüche oder Geheimsprachen. Sie verdanken sich der Möglichkeit, die menschlichen Sprachlaute abzulösen von den konventionellen Bedeutungen und Sinnschemata, denen sie gewöhnlich zugeordnet werden. Sind die Laute einmal abgekoppelt, bilden sie zusammen ein neues Ausdrucksvokabular, das gleichsam überzeitlich und „international“ ist. International ist denn auch die Verbreitung der Lautpoesie, die mit dem mysteriösen Klang und der schwer erklärbaren Faszination arbeitet, welche sinnfreie Lautfolgen zu erzeugen vermögen.

Kindersprache und Zaubersprüche
„Fümms bö wö tää zää Uu“: So beginnt, wie ein langgezogener Paukenwirbel, ein berühmtes Lautgedicht, die „Ur-Sonate“ von Kurt Schwitters. Und so heisst auch eine ausserordentlich reichhaltige und informative Anthologie zur Lautdichtung, die seit kurzem vorliegt. Darin haben Christian Scholz und Urs Engeler „Stimmen und Klänge der Lautpoesie“ quer durch die Zeiten und Sprachen versammelt und zu einer Enzyklopädie gebündelt. Erste Zeugnisse finden sie naturgemäss in der Kindersprache, in Zaubersprüchen, in der Glossolalie und in Geheimsprachen, für welche neue Wörter erfunden werden oder der bestehende Lautbestand der Sprachen anders als gewöhnlich genutzt wird. Die beiden Herausgeber zeigen mit klug gewählten Beispielen, dass diese Spielformen der Poesie keineswegs historisch sind oder gar nur angesiedelt in der Welt des Kindes oder der psychisch Kranken.
Es gibt, wie der stattliche Band eindrücklich belegt, unzählige Varianten der Lautdichtung. Verblüfft nimmt man zur Kenntnis, wo überall, in welchen literarischen Werken und mit welchen Mitteln schon versucht worden ist, den semantischen Gehalt sprachlichen Materials zu eliminieren, um alles in puren Laut aufzulösen. Da gibt es die Tierstimmenimitationen bei Aristophanes, Oswald von Wolkenstein und einigen barocken Dichtern – und gleich daneben von Joachim Ringelnatz das „Gedicht in Bi-Sprache“, „Ibich habibebi dibich …“. In seinem Roman „Gargantua et Pantagruel“ stösst Rabelais seinen Helden Pantagruel an die Grenzen der Kommunikation, als dieser sich Folgendes anhören muss: „Al barildim gotfano dech min brin alabo dordin falbroth ringuam albaras. Nin porthzadilkin almucatim …“ Andere köstliche Belege finden sich bei Jonathan Swift oder Matthias Claudius, und selbst in Victor Hugos „Les Misérables“ sind die Herausgeber fündig geworden. Diese stiften übrigens gerne verblüffende Nachbarschaften, etwa wenn Stefan George´ mit lautmalerischen Versen („Co besoso pasoje ptoros …“) unmittelbar neben Hans G. Helms’ „Fahm’ Ahniesgwow“ zu stehen kommt, womit eine Gemeinsamkeit aufscheint, die nicht auf der Hand zu liegen scheint. Nach dem gleichen Kompositionsprinzip finden sich Paul Scheerbart, Mynona, Friedrich Nietzsche, Hans Arp neben Dick Higgins und Ernst Jandl, Thomas Kling neben Chris Cheek, was ein stummes, aber vielsagendes Gespräch zwischen unterschiedlichsten Ansätzen anzettelt.
Indem sie die Sprache lediglich als ein akustisches Material behandelt, lässt die Lautdichtung den Zeichenkörper hervortreten, die Silben, die Wörter und damit verbunden die Laute und Klänge. Was die phonetische Poesie damit anstellen kann, scheint unbegrenzt, und es ist darum spannend, auch etwas über ihre theoretischen Prämissen zu erfahren. Wo aussagekräftige Kommentare vorliegen, seien es eigene oder fremde, Manifeste, Anekdoten oder Briefe, haben Scholz und Engeler sie neben den Texten placiert. Etwa den berühmten Tagebucheintrag von Hugo Ball vom 23. Juni 1916: „Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ,Verse ohne Worte‘ oder Lautgedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird. Die ersten dieser Verse habe ich heute Abend vorgelesen.“

Visualisierte Lautpoesie
Die phonetische Poesie ist fürs Ohr gedacht, für den lauten Vortrag, aber die Art, wie sie gesprochen werden soll, lässt sich aus den semantischen Vorgaben nicht erschliessen. Der Weg zur akustischen Wahrnehmung führt, wie in der Musik, umständehalber übers Bild, als welches die Partitur durchaus angesehen werden kann. Die musikalischen Parameter wie Lautstärke, Klangfarbe, Tonhöhe oder Tempo müssen notiert werden. Die vorliegende Anthologie stellt darum neben die rein auditive Dimension auch die optischen Möglichkeiten der Lautdichtung, und da gibt es einige überaus reizvolle Partituren, die sich der visuellen Poesie nähern.
Mögen deren optische Vorzüge aber noch so gross sein, in erster Linie sind Lautgedichte fürs geneigte Ohr gedacht. Die beiden Herausgeber haben darum über ein Dutzend Vertreter und Vertreterinnen der aktuellen Lautpoesie zu Produktionen eingeladen, die auf einer beigelegten CD versammelt sind. Die Komplimente sind nicht ausgeblieben. Der Anthologie ist jüngst der Deutsche Hörbuchpreis in der Kategorie „Beste Innovation“ zugesprochen worden. „In der jungen Geschichte des Mediums“, heisst es in der Begründung der Jury, sei es „das im Verhältnis von Schrift und Klang innovativste und konsequenteste Hörbuch“.

Martin Zingg, Neue Zürcher Zeitung, 2.7.2003

„Ta tina ta/ta tanana/ta tina ta/ta tana ta tana ta/ta tanana“

– Ohrenschmaus und Augenweide: Fümms bö wö tää zää Uu, ein Hand- und Hörbuch zur Lautpoesie. –

Zu den radikalsten poetologischen Statements der europäischen Moderne gehört ein noch kaum rezipierter Text „Über Dichtung“, den der Bildkünstler Kasimir Malewitsch, Begründer und Propagator des russischen Suprematismus, kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Petersburg hat erscheinen lassen. Für Malewitsch steht fest, dass die „wahre“, die „reine“ Poesie sich als Klangereignis – befreit von der Konventionalität des Bedeutens – vollziehen muss und dass folglich allein der „Rhythmus“, das „Tempo“, die „Lautlichkeit“ für die dichterische Rede konstitutiv sind. Nicht an der literarischen Überlieferung, auch nicht an ausserliterarischen Problemen und Sujets habe der Dichter sich zu orientieren, vielmehr sollten für ihn alltägliche Lautgebärden wie der Schrei oder der Seufzer vorbildhaft sein, spontane menschliche Kundgaben mithin, bei denen Ausdruck und Bedeutung in eins fallen, so dass jegliche interpretative Bemühung – der Übertragungsvorgang des Verstehens – sich erübrigt.
Malewitsch hat seine Thesen zur Wiedergewinnung eines urtümlichen poetischen Sprechens durch eigene lautpoetische Versuche exemplifiziert, unter anderem durch ein Kurzgedicht wie dieses: „Kor re rezh zhi kon / ikanon si re dual / milo.“ Zu verstehen, zu übersetzen ist dieses Gedicht nicht – der Verzicht auf gebräuchliche Wörter und allgemein verständliche Sätze, über deren Bedeutung man sich einigen könnte, ist Voraussetzung dafür, dass das verwendete Sprachmaterial in seiner ausschliesslich sinnlichen Qualität – visuell als Schriftbild, auditiv als Klangphänomen – wahrgenommen werden kann. Diese doppelte Qualität bewirkt auch, dass Lautpoesie und visuelle Dichtung einander oftmals nicht nur ergänzen, sondern geradezu bedingen: Der gedruckte, als Sprechvorlage konzipierte Text hat die Funktion einer Partitur zu erfüllen und wird dementsprechend typografisch eingerichtet, so dass (beispielsweise) betonte Silben in Grossbuchstaben oder Fettsatz erscheinen, Tonhöhen oder Pausen mit Sonderzeichen markiert werden. Nicht selten werden onomatopoetische Lautgedichte, die z.B. mechanische Geräusche oder Tierstimmen vergegenwärtigen sollen, zu eigentlichen Textbildern ausgestaltet, in denen etwa eine explodierende Bombe oder ein gackerndes Huhn unter Verwendung schriftsprachlicher Versatzstücke analog vor Augen geführt werden.

Zungenrede, Abzählvers
Eine sachkundig zusammengestellte, drucktechnisch exzellent ausgearbeitete und ebenso reichhaltig wie präzise dokumentierte Anthologie zur internationalen Lautpoesie gibt nun Gelegenheit, die vielfältigen Ausprägungen dieser besonderen Art von Sprachkunst in systematischer Darbietung kennen zu lernen. Die Systematik, ausgeheckt von Christian Scholz in Kooperation mit Urs Engeler, bezieht sich nicht, wie in Anthologien sonst üblich, auf bestimmte Textsorten oder gar Themen, sie ist auch nicht chronotopisch, d.h. nach Entstehungszeit und/oder Herkunftsraum der Texte angelegt, vielmehr ordnet sie das umfangreiche Belegmaterial gemäss seiner jeweiligen poetischen Funktion, was von der Sache her gerechtfertigt, ja sogar geboten ist, da die Lautdichtung „aller Völker und Zeiten“ – über Sprach- und Epochengrenzen hinweg – von staunenswerter Einheitlichkeit ist, unabhängig davon, wie sie sich im Einzelnen artikuliert: ob als Zungenrede, Abzählvers, Beschwörungsformel oder Rätseltext, ob als Klangnachahmung, als Simultangedicht, als „auditive“ oder „konkrete“ Poesie. Zu all diesen Textsorten (und zu manch andern sonst) findet sich im Reader eine Vielzahl von Beispielen, die ingesamt ein ebenso lehrreiches wie amüsantes Repetitorium lautpoetischer Spracharbeit ergeben.

Anagramme, Homophonien
Der russische Dichter Konstantin Waginow, der hier als Lautpoet ebenso wenig vertreten ist wie Kasimir Malewitsch, hat die Austreibung des Sinns aus der Sphäre des Klangs als eine Chance zu neuer Sinnbildung – „Sinngebung des Sinnlosen“ – begriffen. Der hauptsächliche kritische Vorbehalt gegenüber lautpoetischen Texten bezieht sich bekanntlich noch heute auf deren „Sinnleere“ oder den „Bedeutungsentzug“, der die Sprache zum schieren „Wortgeklingel“ verkommen lasse. In seinem absurdistischen Künstlerroman „Bocksgesang“ von 1928 schreibt Waginow: „Der Mensch ist allseits von Sinnlosigkeit umzingelt. Man hat eine bestimmte Kombination von Wörtern aufgezeichnet, ein sinnloses Wortgeklingel, rhythmisch geordnet, man muss es genau betrachten, muss sich hineinfühlen in dieses Wortgeklingel; lässt sich aus ihm nicht ein neues Bewusstsein der Welt heraushören?“
Dass Lautgedichte von Chlebnikow oder Marinetti, von Isidor Isou oder Ernst Jandl gleichrangig und gleichartig neben vorliterarischen Zaubersprüchen und Gebeten, aber auch neben einschlägigen Texten von Rabelais, Matthias Claudius oder Friedrich Nietzsche stehen können, erklärt sich aus dem ihnen zu Grunde liegenden gemeinsamen Sprachverständnis: Lautpoesie ist Sprachkunst pur, folgt und unterliegt – ob in Latein, in Althochdeutsch, in Portugiesisch oder Russisch – stets den gleichen Gesetzmässigkeiten und Verfahren, erbringt demzufolge auch immer wieder, bei aller formalen Diversität, ähnliche klangliche Konstellationen. Homophonien, Anagramme, Onomatopoesen sowie kombinatorische oder permutative Lautbildungsverfahren jeglicher Art sind in noch so unterschiedlichen Sprachen gleichermassen möglich und lassen sich inner- wie zwischensprachlich auch gleichermassen realisieren. Dort allerdings, wo die Lautdichtung – seis durch unwillkürliche Assoziation, seis mit willkürlichem Bedacht – die Bedeutungsebene ins Spiel bringt und also mit Signifikaten operiert, ist man sogleich auf den Wortbestand (und das Wörterbuch) einer bestimmten Einzelsprache verwiesen und hat sich der Herausforderung eines Verstehens zu stellen, das nicht mehr das Sagen, sondern das Gesagte zum Gegenstand hat.

Lettrismus, Oulipo
Die von Scholz und Engeler gesammelten „Stimmen und Klänge“ entstammen mehrheitlich zwei grossen Einzugsbereichen – einerseits dem uralten Vorrat anonymer lautspielerischer Kurztexte, denen noch keinerlei poetische Absicht vorausgeht und die eher der religiösen, magischen oder auch pathologischen Sphäre sprachlichen Tuns sowie dem genialisch plappernden Kinder- und Volksmund angehören; anderseits dem 20. Jahrhundert mit der klassischen Moderne (italienischer und russischer Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus) und den sechziger bis achtziger Jahren (Lettrismus und Oulipo in Frankreich, Wiener Gruppe, konkrete und visuelle Poesie in Deutschland) als Schwerpunkten.
Demgegenüber fehlen aber Beiträge zur lautpoetischen Sprachkunst des russischen Symbolismus (Annenskij, Balmont, vorab jedoch Belyj mit seiner „Glossolalia“), des polnischen Futurismus (Julian Tuwim u.a.), des tschechischen Poetismus sowie zur seriellen Dichtung der brasilianischen Avantgarde um Augusto und Haroldo de Campos.
Dass bei einer universal angelegten Textsammlung Lücken nicht zu vermeiden und Akzente nicht immer adäquat zu setzen sind, ist ebenso verständlich wie das Faktum, dass es bei der Fülle und Komplexität des mehrsprachig dargebotenen Materials ohne sachliche Irrtümer und formale Ungereimtheiten nicht abgeht. Der dokumentarische Wert des anspruchsvollen editorischen Unternehmens, zu dem im Übrigen eine eigens produzierte Audio-CD gehört, wird dadurch kaum geschmälert.
Das Werk von Scholz und Engeler steht hinter der vor zwei Jahren in Königsberg erschienenen „Internationalen Anthologie der Lautpoesie“ von Dmitrij Bulatow („Homo sonorus“, Textbuch und 4 CDs) weder umfangmässig noch qualitativ zurück. Dass die beiden Werke sich über weite Strecken inhaltlich überschneiden, tut weder dem einen noch dem andern Abbruch; es belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass die Lautpoesie trotz ihrer weit zurück reichenden Tradition und ihrer internationalen Verbreitung bislang nur einen sehr geringen, sehr speziellen Anteil an der Weltpoesie gewonnen hat.

Felix Philipp Ingold, Basler Zeitung, 18.7.2003

Fümms bö wö tää zää Uu

– Für die Anmoderation:. –

Der Herausgeber Urs Engeler ist Preisträger des ersten Deutschen Hörbuch Preises 2003 in der Kategorie „Beste Innovation“ für „Fümms bö wö tää zää Uu Stimmen und Klänge der Lautpoesie“. Aus der Begründung der Jury: „In der jungen Geschichte des Mediums ist Fümms bö wö tää zää Uu das im Verhältnis von Schrift und Klang innovativste und konsequenteste Hörbuch. Schon der erste Blick auf das Buchcover, in dessen Mitte eine CD befestigt ist, bestätigt: Hier soll gehört und gelesen werden. Dadurch, daß Kommentar und Lautpoesie im Begleitbuch sich beständig abwechseln, die Leser mit jeder neuen Seite vom Reden über die Poesie zur Poesie umblättern, werden die Texte zur Geschichte und den Hintergründen der Lautpoesie Sekundenweise selbst so etwas wie Konkrete Poesie. Die CD steht zum Buch ebenfalls in einem besonderen Verhältnis: Auf ihr finden sich nicht die im Buch vorgestellten Texte, sie ist also nicht bloß akustische Wiederholung des Gelesenen, sondern enthält Aufnahmen bedeutender zeitgenössischer Lautpoeten, die eigens für dieses Projekt entstanden sind: CD und Buch – die Lautpoesie und in ihr das tönende Wesen der Sprache, des Körpers, der Natur und des Verstehens.“

In 10 Kapiteln – von den Klassikern der Lautpoesie im 20. Jahrhundert bis zu ihren Vorläufern in den Jahrtausenden zuvor – versammelt die Anthologie alles, was Klang und Namen hat. Die Audio-CD stellt zudem die wichtigsten zeitgenössischen Lautpoeten mit eigens für diese Anthologie geschaffenen Werken vor.
Das ausführliche biografische Verzeichnis enthält sämtliche erwähnte Autoren, darunter viele unbekannte der Lautpoesie; das bibliografische und discografische Verzeichnis ihrer Werke ist aufgrund seiner Fülle, die den Umfang des Bandes gesprengt hätte, ist hingegen im Internet unter einer frei zugänglichen Seite des Verlages einzusehen (www.engeler.de/scholz.html)

Sprecher: Buatschleli batscheli
aaaaaaaaaBim bim bim
aaaaaaaaaBuatscheli batschleli
aaaaaaaaaBim!

Sie werden es womöglich nicht glauben, aber diese Worte stammen von Friedrich Nietzsche. Die 1885 aus welchen Gründen auch immer entstandenen Verse weisen Nietzsche als Lautpoeten aus. Damit sicherten sie ihm einen Platz in der Anthologie „Fümms bö wö tää zää Uu. Stimmen und Klänge der Lautpoesie“.
Die Anthologie ist nicht nur inhaltlich, sondern auch von Typographie und Konzeption her verführerisch und umspannt in weitem Bogen die Geschichte der Lautpoesie. Sie erzählt von Abzählversen und Zaubersprüchen, von Geheim- und Tiersprachen, von Dadaismus, Futurismus, Wiener Gruppe, Konkreter Poesie, von Simultangedichten und von zeitgenössischen Stimm- und Klangperformern – und das ist nur eine Auswahl aus ihrem Angebot. Ihre Herausgeber, Christian Scholz und Urs Engeler, enthalten sich weitestgehend umfangreicher Kommentare oder gar literaturwissenschaftlicher Spezifizierungen. Klugerweise, muß man sagen, da sie diese Fülle ohnehin nicht mit Worten bändigen könnten. Beide erarbeiteten ein Kompendium, das so offen und energiegeladen wie die Lautpoesie selbst ist. Die mannigfaltigen Beispiele sprechen, brummen, sirren und zirpen für sich. Beigegeben sind ihnen Quellenangaben und ausgewählte Kommentare der jeweiligen Urheber. Obwohl die Zitate fragmentarisch bleiben, zeichnen sie in ihrer Authentizität und bisweilen Absurdität ein aufschlußreiches und unmittelbares Bild von der Lautpoesie. Diese Subsprache bestand schon immer als heimliches Korrelat parallel zur Sprache.
Ihr anarchistisches, phantasievolles, an den Klang gebundenes und den gesamten Körper mobilisierendes, auch ironisches Potential speist sie in die Sprache ein und bewahrt sie vor der Austrocknung in reine Funktionalität. Doch wo genau lassen sich zwischen Lautkunst und Sprache überhaupt Grenzen ziehen? Das ist oft kaum zu beantworten.
Am Anfang standen wohl die Zaubersprüche. Mit ihrer Hilfe wollten die Menschen Geister und damit Natur und Schicksal an sich binden und günstig stimmen. Zischen, schnalzen, raunen – alle vom Mund akustisch erzeugbaren Laute wurden für die überirdische Kommunikation eingesetzt. Die Worte sollten nur für die Geister bestimmt und ihnen bekannt sein. Zaubersprüche finden sich selbst im Christentum. Eine gnostischen Schrift des 4. Jahrhunderts erzählt von einer Szene, in der Jesus in einem unverständlichen magischen Text betet.
Die Zaubersprüche ergänzten Gesang, Tanz, Gebärden und Aktionen. Alles hinlänglich erprobte Mittel, die heutige Sprachperformer zur Auffächerung der Sprache wieder aufgreifen.
Abzählverse und Zungenbrecher zählen ebenso zur frühen und bis heute erhaltenen Lautpoesie – und das gilt international.

Sprecher: Grillons et papillons, à millions,
aaaaaaaaaGrouillent et brillent dans nos sillons.

Die Spielregeln des Kinderverses, stellte Peter Rühmkorf fest, sind nicht die Regeln der Erziehungswelt. Schon gar nicht sind es die des fortgeschrittenen Geschmacks. Schon der Abzählreim sei von dem unbezähmbaren Drang besessen, dem ganzen Verhaltens- und Enthaltungskodex des Erziehungsapparates eins auszuwischen. Hier konnte man für einen Vers lang der allmächtigen Sozialisierungsmaschinerie entkommen.

Sprecher: Ele mele mittche
aaaaaaaaawer mag tittche
ele mele mu
die magst du
Sinnfreie und lautmalende Ausdrücke begleiteten die Dichtung zu allen Zeiten. Aristophanes setzte in seinen Dramen „Die Frösche“ und „Die Vögel“ in der Antike erstmals Tierstimmen im Dialog ein. Der Dichter Oswald von Wolkenstein ließ im Spätmittelalter Lerchen, Drosseln und Nachtigallen die Verse eines Frühlingsgedichtes komponieren. Und wer kennt nicht „Das große Lalula“ von Christian Morgenstern? Eine frei erfundene Lautsprache, die zum Gedicht wurde.
Aleksej Krutschonych schrieb im April 1913 die „Deklaration des Wortes als solches“, das erste Manifest der in Rußland geborenen za-umnischen Sprache. Sie sollte asemantisch und von den Regeln der Grammatik und Rechtschreibung befreit sein.

Sprecher: somk soml zk
aaaaaaaaale pnmo} bj}ajel
aaaaaaaaapeolzh ~gzi
aaaaaaaaakm azjm hr ahihf njek|l

Diese „Weltall-“ oder „Sternensprache“ wurde zum Markenzeichen der russischen Futuristen. Velimir Chlebnikov schrieb, daß schon Mallarmé und Baudelaire von einzelnen Lauten sprachen, in denen ein ganzes Wörterbuch stecke. Chlebnikov erklärte die Methode von Za-um: „Wenn man ein Wort nimmt, angenommen Schale, so wissen wir nicht, welche Bedeutung jeder einzelne Laut für das gesamte Wort besitzt. Wenn man aber alle Wörter mit dem Anfangsbuchstaben Sch zusammennimmt (Schüssel, Schädel, Schuh, Scheune, usw.), so verlieren alle übrigen Laute und vernichten sich gegenseitig, und jene allgemeine Bedeutung, die diese Wörter besitzen, wird zur Bedeutung des Sch. Beim Vergleich dieser Wörter auf Sch sehen wir, daß sie alle einen Körper in der Umhüllung eines anderen bedeuten; Sch bedeutet Hülle. Und auf diese Weise hört die Zaum-Sprache auf, Zaum – jenseits des Verstandes – zu sein.“
Oskar Pastior, einer der wichtigsten zeitgenössischen Dichter, übersetzte Chlebnikov aus dem Russischen in die pastiorsche Poesiesprache:

Pastior: kommerar tir neuerer
aaaaaaawärerar tir warerar
aaaaaaaneuerar tir freuerar
aaaaaaakämmerar dir brauerar
aaaaaaauferar tir heferar
aaaaaaamachterar tir walterar
aaaaaaaoderar tir zederar
aaaaaaaborsterar tir zauberar

„Das Wort, meine Herren, das Wort ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges!“ rief Hugo Ball im ersten dadaistischen Manifest 1916. Er brauche keine Worte, die andere für ihn erfunden haben. „Ich will meinen eigenen Unfug, meinen eigenen Rhythmus und Vokale und Konsonanten dazu…“ Und Tristan Tzara ergänzte, ebenso wie die Maler Picasso oder Matisse möchte auch er die verschiedensten Stoffe in seine Kunst einarbeiten, möchte er in seinen Gedichten Elemente aus Zeitungsphrasen, Geräuschen oder Tönen verwenden.
Der in Schlesien geborene Rudolf Blümner, der unter Max Reinhardt Sprechunterricht an der Schauspielschule gab, entwarf seine Lautgedichte besonders zu diesem Zweck. Doch er warnte alle Nachahmer, daß bloße Willkür in der Poesie nichts nütze. Einige schöne Laute und Bildungen würden weder Rhythmus noch Gestaltung bringen, dazu müsse man schon Alles zu Allem in eine notwendige innere Beziehung setzen. Erst dann könne eine Endform entstehen, in der nichts unentbehrlich oder änderbar erschiene.
Zu den bekanntesten Lautgedichten gehört natürlich Kurt Schwitters Ursonate, die auch der Anthologie den Titel gab. Wer aber weiß, daß diese Ursonate auf ein Lautgedicht, oder besser Lautbildnis von Raoul Hausmann zurückgeht? Er modellierte aus eben jenen Anfangslauten ein Gedicht, das ihn eigentlich mehr vom grafischen Aspekt her interessierte. Die Ausformung in eine konventionelle Sonate gefiel Hausmann zunächst gar nicht, und er warf Schwitters Blasphemie vor. Für Antonin Artaud war die Lautpoesie die letzte Sprache und Musik. Er versicherte, daß daraus Körper heraustreten, und das dies belebte KÖRPER seien.
Eine andere Form sprachlicher Musikalität entdeckte die Wiener Gruppe für sich: den Dialekt. Gerhard Rühm war in seinem Gedicht „Rede an Österreich“ fasziniert von dem, wie er sagte, unverkennbaren Tonfall des etwas sprachgestörten Paradewieners, der in seinem Wienerisch zwischen serviler Anbiederung und vulgärer Aggressivität, zwischen desperater Raunzerei und hysterischem Sensationsgetue schwanke. Und Ernst Jandl gar trieb das ganze auf die Spitze, er schrieb visuelle Lippengedichte, die nur noch aus dem rhythmischen Öffnen und Schließen des Mundes bestehen, also nicht mehr „Laut und Luise“, sondern ganz leise. Die Amerikanischen Lautgedichte, so bemerkte Jandl übrigens, speisen sich aus DADA, den Gesängen der Indianer und dem Scat-Gesang des Jazz.
Von jenseits des Atlantik tönte John Cage herüber, der die Sprache vollends in die Musik hinüberzog. Für ihn würde Sprache zur Musik; und Musik würde zum Theater, zur Performance, zu Metamorphosen, welche wiederum Standfotos aktueller Filme seien.
Wir haben uns daran gewöhnt, daß die Wörter „Reizgestalten der Wirklichkeit“ sind. Dabei fällt uns gar nicht mehr auf, daß das Wort Baum zwar einen Baum bezeichnen, nicht aber gleichzeitig mit den Blättern wedeln und rascheln kann. Die Poesie und insbesondere die Lautpoesie lebe von der primitiven materialen Erfahrung, schreibt Franz Mon. Sie könne dem Elementaren gar nicht ausweichen, denn früher noch als das Sprechen übten sich die Lippen, die Zunge und die Zähne im Einverleiben, Zerstören und Lieben. Wenn sie sich zum Sprechen bilden, seien sie von diesen Erfahrungen besetzt.
Dort, wo Buchstaben und Zeichenskizzen allein nicht mehr ausreichten, um die Lautpoesie vermittelbar zu machen, wo sie die Grenzen zu Musik, Klang, Computer und Performance bereits überschritten hat, gaben die Herausgeber der Anthologie eine CD bei.
Die Lautpoeten werden mit der modernen Technik allmählich zu Soundpoeten, wie David Moss zeigt:

(Klangbeispiel, Take 11, 2:28 ff, ganz kurz einblenden, dann leiser und unterlegen bis zum Schluß)

Die Anthologie berichtet von einem seit Jahrhunderten lebendigen internationalen Netzwerk. Neben bekannten kommen in dieser Anthologie erstmals auch weniger bekannte Lautpoeten zu Wort oder besser: Stimme. Der Leser entdeckt, daß es weder Länder- noch gestalterische Grenzen gibt. Zwischen den Silben, die die Basisrhythmen der südindischen Trommelsprache aufzeichnen, und einem Gedicht des Kanadiers Dick Higgins, zwischen Karl-Heinz Stockhausens Partituren und Thomas Klings Reminiszenzen pulsieren die gleichen eruptiven Schöpfungskräfte.
Einen Grund für die Magie der Lautpoesie nannte Henri Chopin, der 1922 in Paris geborene Pionier und Förderer der internationalen visuellen und akustischen Poesie. Er schrieb, daß die Stimme Trägerin des ganzen Körpers ist, der nicht aufhört, aktiv zu sein. Ohne Körper kann es keine Stimme geben, aber ohne Worte kann dennoch die Stimme als ganzer Körper existieren.

Cornelia Jentzsch, Deutschlandfunk, Büchermarkt

Kikuk! Tio, Tio

– Meisterwerke der Lautpoesie in Buch und CD. –

Auch wenn das Hörbuch für die akustische Dichtung wie geschaffen ist, finden sich lautpoetische Audiobücher in den Programmen der großen Verlage äußerst selten. Lautpoesie polarisiert – und was der eine ehrfürchtig dada nennt, heißt der andere herablassend gaga. Am Beispiel der Lautpoesie zeigt sich, wie ernst es einem mit der Autonomie der Kunst ist, und es muss einem schon ziemlich ernst sein, damit man sich Gewinn davon verspricht, von Marinetti faturistische Mörser-Salven um die Ohren gehauen zu bekommen – „tatatata peng, buum“ („La Battaglia di Adrianopoli“) – oder/von zeitgenössischen Stimm-Performern angeblökt zu werden.
Vorausgesetzt aber, man kann von den herkömmlichen Wortbedeutungen lassen und hat ein offenes Ohr für die oft schalkhafte Lautpoesie, wird man an zwei Hörbüchern seine Freude haben, die sich trefflich ergänzen.
Fast schon monumentale Ausmaße erreicht das von Urs Engeler und dem Lautpoesie-Spezialisten Christian Scholz herausgegebene Buch „Fümms bö wö tää zää Uu. Stimmen und Klänge der Lautpoesie“. Die beigefügte CD, die ausschließlich Originalbeiträge zeitgenössischer Künstler enthält, gewann den Deutschen Hörbuchpreis 2003 in der Kategorie „Beste Innovation“. Das Buch ist breiter angelegt und entfaltet kapitelweise eine umfassende Typologie der Lautpoesie, die bei Aristophanes‘ lautmalerischen Tierstimmen-Imitationen beginnt („Kikuk! Tio, Tio“), über Kauderwelsch-Passagen bei Swift und Rabelais, Kinderreime und Zaubersprüche bis zu der erklärten Lautpoesie der Konstruktivisten, Futuristen, Dadaisten und von dort ins angebrochene 21. Jahrhundert reicht. Reizvoll ist, dass die abgedruckten Poeme durch poetologische Notizen ihrer Schöpfer flankiert werden. Fast schon verschwenderisch muten die vielen säuberlich reproduzierten Originalmanuskripte an, etwa von Schwitters’ geradezu buchhalterisch organisierter „Ur-Sonate“ oder Marinettis explosiven Laut-Collagen, die dem Buch wie nebenbei auch eine visuell-poetische Ebene verleihen. Das alles ist ein Augenschmaus nicht nur für Bibliophile, auch der Laie kann die Liebe zum Detail und die Begeisterung der Herausgeber für die Sachen spüren.
Die Text-Auswahl wird intelligent begründet, ist aber nicht restlos überzeugend. Denn obwohl die Übergänge zwischen Lautpoesie und Lautmalerei fließend sind, scheint manchem Text oder Auszug die dezidiert poetische Intention zu fehlen. So ist das Tierstimmen- und Geheimsprachenkapitel mit seinen vielen unerwarteten Entdeckungen zwar anregend, doch findet sich hier nicht immer die Art von eigenständiger Poesie, die man in einem Buch wie diesem sucht. Glänzend aufgehoben fühlt man sich dagegen in den Klassiker-Kapiteln. Hier spürt man, wie mit der Grammatik und der herkömmlichen Bedeutung ganze Systeme umgestürzt werden sollen; uneinholbar noch immer die Radikalität eines Marinetti oder Artaud: „die schnauze vögeln, / ist die letzte sprache, die letzte musik, dich ich kenne.“
Einen Zeitsprung ins 21. Jahrhundert vollzieht dann die beigefügte CD, doch scheint dieser Sprung klanglich zunächst in eine vorsprachliche Epoche zu führen: Elementare menschliche Laute herrschen vor, von Hauchen, Röcheln, Gurgeln, Schnarchen und Bellen (Phil Minton) bis Schmatzen, Lecken und Gluckern, das alles von Perkussion begleitet (Isabeella Beumer und Nicholaus Richter de Vroe). Schließlich wird die Kompilation artikulierter, instrumenteller, das technische Zeitalter bricht an, sprachliche Verzerrungen werden eingesetzt (Chris Mann, David Moss) und es gibt Ansätze zur Technokraten-Persiflage (Elke Schipper). Klänge synthetischer, „spachiger“-Natur dominieren die zweite Hälfte der Anthologie (Jaap, Blonk, Erik Belgum), bevor am Schluss der Bogen zum Anfangskapitel des Buches geschlagen wird: Brenda Hutchinson stimmt ein Kinderlied an.

Uwe Ebbinghaus, Die Welt, 9.8.2003

Fümms bö wö tää zää Uu

Eine der schönsten Merkwürdigkeiten der Literaturgeschichte, ein Phänomen, das ins Mark der (experimentellen) Musik hineinreicht, ist die Lautpoesie. Jene Lyrik, die ihre Substanz allein aus den Klängen der Sprache(n) gewinnt, mit den Evokationsmöglichkeiten der Stimme operiert und dabei konventionelle Semantik wie Grammatik weitestgehend außer Acht lässt oder diese so produktiv, komplex-kompliziert verdichtet, dass die Ab-Sprachen der Communities anders als üblich ineinandergreifen, verwirren, ungeahnte neue Kontexte stiften. Solche Sprach-Spiele, die oftmals von charmanten Schriftbildern, ungewöhnlichen Text-Notationen flankiert sind, haben eine lange Tradition.
Dieser spüren der Lautpoesie-Experte Christian Scholz und der Publizist Urs Engeler in ihrer Anthologie Fümms bö wö tää zää Uu nach, versammeln etliche polyglotte „Stimmen und Klänge der Lautpoesie“ – von Aristophanes und früheren anonymen Autoren, aus dem europäischen Mittelalter mit seinen Zaubersprüchen und Glossolalien, von Geheim-, Rätsel- und Kunstsprachen des Barock und späterer Epochen über die progressiv-intermedialen Ismen-Künste der 1920/29er Jahre bis hin zur visuell-konkreten Poesie und der Sprachmusik im E-Sektor genauso wie in Jazz und Pop.
Ein buntes, vielgesichtiges, in der Gestaltung sehr ansprechendes und aufwändiges Buch ist den Herausgebern gelungen, eine materialreiche, basisinformative Edition.
Sie verzichtet auf den bei ähnlichen Publikationen üblichen und meist überbordenden Wissenschaftsballast, platziert neben einer konzis ins Thema führenden Einleitung kurze Hintergrundtexte zu den reproduzierten Artefakten (sie stammen meist von den Künstlern selbst).
Fümms bö wö tää zää Uu ist ein anschaulich gegliedertes Lesebuch, eine Lektüre zum Stöbern und Staunen, zum (Wieder-) Finden und Sich-Freuen. Darin ist es dem 1969 erschienenen Notations-Folianten von John Cage und Alison Knowles verwandt. Werke von Cage und u. a. von Schnebel, Oliveros, Ligeti, Riedl, Tom Johnson, Hans G Helms, Louis Armstrong & Dizzy Gillespie haben die Editoren übrigens ebenso berücksichtigt wie Text (-Partituren) von George Maciunas und anderen Fluxisten, darunter auch Dick Higgins, des damaligen Verlegers der Notations.

Scholz’/Engelers Fümms bö wö tää zää Uu – der Titel zitiert programmatisch den Beginn von Kurt Schwitters’ Ursonate – dokumentiert das kreative Feld zwischen den Kunstsparten, ein grenzüberschreitender Bereich, der weitaus älter ist als gemeinhin angenommen wird.
Eine Erkenntis, die die dem Buch beiliegende Audio-CD zwar nicht aufgreift, dafür aber die stetige Aktualität der Lautpoesie fixiert – mit etlichen Originalbeiträgen von u. a. Jaap Blonk, Hartmut Geerken, Phil Minton, Fàtima Miranda, David Moss und Valeri Scherstjanoi.

Stefan Fricke, Neue Zeitschrift für Musik, Heft 5 (Sept./Okt. 2003)

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + roughradioKalliope +
Facebook
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00