Christoph Buchwald und Harald Hartung (Hrsg.): claassen Jahrbuch der Lyrik 1

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Christoph Buchwald und Harald Hartung (Hrsg.): claassen Jahrbuch der Lyrik 1

Buchwald & Hartung )Hrsg.)-claassen Jahrbuch der Lyrik 1

NACHWORT 1978

1
das ganze buntpapier ist fort
seit kindertagen.
man könnte aber sofort
welches besorgen – die ganze
papierhandlung ist voll davon.
gummiert oder ungummiert?
würde die papierfrau fragen.
die entscheidung fiele schwer.

2
wer abfall schreibt
wird bald angefüllte laden haben
wenn er jedes blatt aufhebt
weil etwas für die zukunft
daraufstehen könnte.
aber angefüllte laden haben
ist auch nicht schlecht
wenn es der preis ist
für festen glauben
an die zukunft.

3
der stein der hoffnung ist
auf den holzboden gefallen.
er hat ein loch geschlagen
und ist darin verschwunden.
das loch ist zugewachsen.
zurückgeblieben ist ein dunkler fleck.
der geht nicht mehr weg
aber er befindet sich
gleich bei der tür.

Ernst Jandl

 

 

 

Nachwort

Editorial
Das claassen Jahrbuch der Lyrik, dessen erste Folge wir hier vorlegen, will Entwicklungen, Tendenzen und Ausdrucksmöglichkeiten der neuesten deutschsprachigen Lyrik vorstellen, Gedichte mit Träumen, Hoffnungen, Ängsten, Irritationen und Utopien. Mit dieser ebenso allgemeinen wie vagen Intention und jeder mit „seiner“ Poetologie im Kopf gingen wir an die Auswahl. Eine Poetologie des offenen Gedichts, die den Versuch einer ästhetischen Bewertung unternimmt und – ohne normativen Anspruch – auch auf die Machart, die handwerkliche Seite eines Gedichts (Zeilenbruch, Rhythmus, Bildhaftigkeit, Bedeutungsebenen usw.) eingeht, ist noch nicht geschrieben. Was ist ein gutes Gedicht und was ein schlechtes? Folgt man – um etwas aus der neuesten Diskussion zu nennen – den „poetologischen Statements“ und den Beiträgen zur „Lyrik-Diskussion ’77“ (im Lyrikkatalog Bundesrepublik, Goldmann, München 1978), so gibt es auf diese Frage ebenso viele Antworten wie Autoren. Daß wir ohne den Konsens einer ästhetischen Theorie im Rücken unabhängig voneinander bei etwa 70 % der Gedichte zu einer übereinstimmenden Beurteilung kamen, mag als Hinweis darauf gelten, daß es – über den persönlichen Geschmack hinaus – formale Beurteilungskriterien gibt, daß eine nicht-normative Theorie des offenen Gedichts denkbar ist.
Etwa 65 % der Autoren dieses Bandes haben wir angeschrieben und um unveröffentlichte Gedichte gebeten; 20 % hatten von sich aus und unabhängig vom Jahrbuchprojekt ein Manuskript für einen eigenen Lyrikband an den Verlag geschickt; die übrigen Autoren waren von Kollegen auf das Jahrbuchprojekt aufmerksam gemacht worden oder hatten aus der Presse davon erfahren.
Einige (uns) wichtige Lyriker fehlen: Die einen mußten absagen, weil sie gerade einen eigenen Band vorbereiteten; andere hatten ihre neuesten Gedichte bereits an den Herausgeber des Jahrbuchs für Lyrik im Athenäum Verlag geschickt (die beiden Lyrikjahrbücher wurden unabhängig und ohne Wissen voneinander geplant); wieder andere reagierten nicht, waren unbekannt verzogen oder schickten ihre Gedichte zu spät ab; einige DDR-Lyriker wurden von ihren Verlagen zu spät informiert.
Rücksicht auf politische Opportunitäten haben wir nicht genommen. Ein wenig anders steht es mit bestimmten publizistischen und menschlichen Faktoren. Wer die Anthologien der vergangenen Jahre durchsieht, wird feststellen, wo und in welchem Maße die Herausgeber Autoren des eigenen Verlages berücksichtigt haben. Von den 96 in diesem Jahrbuch vertretenen Lyrikern haben acht einen eigenen Gedichtband im claassen Verlag herausgebracht. Wir meinen nicht, daß dadurch die Proportionen verzerrt oder andere Autoren benachteiligt wurden. Wichtiger scheint uns das Eingeständnis, daß uns im Zweifelsfall der Aufnahme eines Gedichts die Förderung und Ermutigung des Autors manchmal wichtiger war als die Stichhaltigkeit in bezug auf Qualität.
Das Jahrbuch ist dem immer noch unentdeckten großen Lyriker und Autor des „Großen Ketzerbreviers“, Walter Mehring, gewidmet. Seine „Elegy of the Alien Soldier“ ist unveröffentlicht; die „Ballade von der Lehrerin Elly Maldaque“ von 1930 ist wieder so zeitgemäß, daß wir sie, obwohl bereits erschienen, ins Jahrbuch aufgenommen haben.
Wir danken Rolf Haufs und Christoph Meckel für ihre Hinweise, vor allem aber Gundula Dechert für ihre redaktionelle Mitarbeit.
Autoren, die wir vergessen oder übergangen haben oder im Jahrbuch der Lyrik 1 nicht berücksichtigen konnten, bitten wir um Nachsicht und vor allem um neue unveröffentlichte Gedichte für das Jahrbuch der Lyrik 2. Redaktionsschluß ist der 1. Februar 1980.

Bessere Zeiten für Lyrik?

Anthologien hat es auch in der lyrikfremden, lyrikfeindlichen Zeit gegeben; es waren oftmals – anders als die eine, die diesen Titel trug – Antianthologien, Denkzettel politischer Lyrik und Bestandsaufnahmen von Nachkrieg und Unfrieden. Die Edition neuer Lyrik-Jahrbücher – 1979 gleich zwei in kurzem Abstand – spricht für den Optimismus derer, die glauben, daß Gedichte wieder gelesen – daß sie gebraucht werden.
Bessere Zeiten für die Lyrik sind immer noch keine guten. Aber man kann sie mit den Erscheinungsdaten solcher lyrischer Jahrbücher bezeichnen. Eines davon, Einzelstück und fast Irrläufer, gedruckt auf grauem Vorwährungspapier, trug den Titel Der innere Quell. Mit der hart gewordenen Währung wurden die Titel nüchterner. Rudolf Ibel edierte seine Folge Das Gedicht. Jahrbuch zeitgenössischer Lyrik ab 1954/55, Hans Bender seine Auslese. Junge Lyrik ab 1956. 1961 setzten Kurt Leonhard und Karl Schwedhelm die Arbeit ihrer Vorgänger mit Lyrik aus dieser Zeit fort, die vierte und letzte Folge dieses Jahrbuchs, herausgegeben von Wolfgang Weyrauch und Johannes Poethen, erschien mit der Jahresangabe „1967/68“ im Herbst 1967. Am Schluß des kurzen Nachworts hieß es lakonisch: „In diesem Zusammenhang Gedanken zum gegenwärtigen Stand der Lyrik in deutscher Sprache zu äußern, schien den Herausgebern, anders als vor zwei Jahren, nicht recht am Platz zu sein.“ Das klingt nachträglich fast resignativ, auch wenn es nicht so gemeint sein mochte. Dann, ab 1968, blieben die Jahrbücher aus. In der Bundesrepublik, nicht aber in der DDR. In der Vorbemerkung der von Bernd Jentzsch edierten auswahl 68 heißt es: „Die Schüsse von Westberlin, Memphis und Los Angeles, die Schlagstock-, Wasserwerfer- und Tränengasüberfälle der Polizei in München, Gießen, Frankfurt (Main) usw. auf Arbeiter und Studenten, die für Hochschulreformen und gegen Notstandsgesetze demonstrierten: Das alles läßt der Dichtung keine Ruhe.“ Was für die DDR ein Signal, vielleicht auch ein Impuls von draußen her war, schien für die Bundesrepublik eine auf Jahre verpflichtende Thematik. Das Gedicht erhielt vorerst Bewährungsfrist, es hatte den Nachweis seiner Nützlichkeit zu führen. Daß hierin sein Ende einkalkuliert war, wurde nicht sogleich deutlich. Am Ende eines Prozesses der Instrumentalisierung, der vom kritischen Zeitgedicht zum Agit-Prop-Gedicht führte, konnte nur der Aufweis stehen, daß Gedichte keine Waffen sind – jedenfalls nicht die, nach denen man im Handgemenge greift. In ihrer Anthologie Nachkrieg und Unfrieden (1970) diagnostizierte Hilde Domin die Flucht der Dichter ins politische Gedicht als „Flucht in eine Sackgasse“. Aber sie selbst versuchte die Existenzberechtigung des Gedichts „am ungeeignetsten Objekt: am politischen Gedicht“ nachzuweisen. So stark wurde der Zwang der Situation empfunden. Von der falschen Alternative, politisch zu sein oder gar nicht, schien das Gedicht paralysiert. Die Poesie findet nicht mehr auf der Straße statt – wenn das nicht überhaupt ein Mißverständnis war. Am Ende der siebziger Jahre sind Gedichte, die geradenwegs – prorsus, in Prosa auf ein Ziel zusteuern, Parolen, Denkresultate und Meinungen liefern, offensichtlich nicht mehr gefragt. Der Fort-Schritt zeigt Aspekte, die uns schrecken, die uns einhalten, zögern, nachdenken lassen. Die Sprache darf sich in Wendungen bewegen, in Versen; und manch einer wird dabei eher an den hakenschlagenden Hasen denken, der noch immer gejagt wird, als an den pflügenden Bauern, der unermüdlich und regelrecht seine Zeilen durch den Acker zieht. Daß prosaische Ungeduld sich immer häufiger in Zeilen bricht, mag man bedauern. Aber daß Geschichte nicht linear fortschreitet, sondern sich eher im Rhythmus einer Springprozession bewegt, das zeigt die Anschauung der Realität selber. Die Lyriker als Realisten – das wäre gegenwärtig nicht die schlechteste Pointe im neuerwachten Interesse an Lyrik.
Aber natürlich sind wir nicht ausgezogen, um in diesem Lyrik-Jahrbuch Belege für irgendwelche geschichtsphilosophischen Thesen zu sammeln. Der Untertitel, den wir wählten, verpflichtete uns. Am Rand der Zeit – das trifft die reale Ohnmacht wie das Stück Utopie, das jedes Gedicht in die Welt bringt. „Ich denke“, sagt Wosnessenskij, „die Menschen fühlen sich heute zur Poesie hingezogen, so wie man bei Skorbut zu Vitaminen sich hingezogen fühlt.“ Das ist die andere Seite besserer Zeiten für Lyrik.
Wir wählten aus nach bestem Wissen und Geschmack: „Wir nehmen einen Bissen in den Mund, verziehen das Gesicht und sagen: zu sauer. So können wir auch einen Gedichtvers vor uns hin sagen und ein Unlustgefühl haben, wie bei etwas Abgeschmacktem, Schalem, Reizlosem oder sogar Ekelerregendem. Allerdings gibt es sogar bei physiologischem Geschmack etwas wie ,auf den Geschmack kommen‘. Das kann durch eine Art Lernakt geschehen oder einfach, weil wir in andere Verhältnisse gekommen sind.“ Diese Erfahrung Brechts machten auch wir bei der Arbeit an dieser Anthologie. Einiges blieb uns auch nach mehrmaligem Kosten sauer, manches ließen wir trotzdem passieren, weil es uns typisch, besser: zeittypisch erschien und dem Leser nicht vorenthalten werden sollte. Bei anderen Gedichten kamen wir „auf den Geschmack“ und erkannten, daß wir – unsere Gesellschaft – „in andere Verhältnisse“ gekommen sind. Alle gegenwärtigen Formen und Tendenzen der Lyrik waren also prinzipiell zuzulassen. Das mußte auch dort geschehen, wo der Lektor, vor allem aber der Kritiker, Vorbehalte gegen die „eindimensionale Poesie“ anmelden. (Vgl. Harald Hartung: Die eindimensionale Poesie, Neue Rundschau, 2. Heft 1978.) So finden sich auch in diesem Jahrbuch viele Gedichte, die man grosso modo jener Neuen Sensibilität zurechnen mag, die in den letzten Jahren so viel von sich reden gemacht hat. Mit Benns Diktum, wonach auch die großen Lyriker nur fünf oder sechs vollkommene Gedichte schreiben, läßt sich jedoch keine Anthologie, noch weniger ein Periodikum wie dieses Lyrikjahrbuch bestreiten. Gott sei Dank wissen wir, oft noch nach Jahrzehnten, nicht, welches diese vollkommenen Gedichte sind. Das Fortleben des Gedichts ist ohne fortgesetzte Übung nicht denkbar. Es muß ermutigt werden, denn es hat schon viele Unterbrechungen und Rückschläge erfahren. Ermutigt werden müssen auch jene, die Gedichte schreiben. In einer Anthologie, einem Jahrbuch, ist das Gedicht kein Lückenbüßer im Umbruch. Es steht neben anderen, und es steht für sich selbst. So auch der Autor. Was er sonst ist und tut, ob er (un)freier Schriftsteller ist oder Hausfrau, ob er Maler im Hauptberuf ist oder gegenwärtig Strafgefangener, hat nichts zu sagen. Und selbst wenn das Gedicht bloß Dokument ist – hier dokumentiert der Sprecher sich und niemand sonst. Brecht hat von Gedichten gesagt, daß in ihnen die Sprechweise des Verfassers, eines wichtigen Menschen, enthalten sei. Im Gedicht kann jeder Sprecher dieser wichtige Mensch sein, gleichgültig, ob er mit drei oder vier oder mit einem Gedicht vertreten ist. Wie viele Gedichte wir aufnahmen, hing nicht zuletzt von dem Umfang des Materials ab, das der Autor gerade zur Verfügung hatte. Repräsentative Lyriker-Profile waren nicht beabsichtigt, so entfiel auch eine Gliederung des Jahrbuchs nach Verfassernamen.
Beim Sichten des ausgewählten Materials zeichneten sich bald die Konturen von Kapiteln ab, die zusammengenommen eine sinnvolle Folge, eine Komposition, ergaben. Aus vielen Stimmen wurde ein großes Poem. Ein Poem aus zusammenklingenden und dissonierenden Stimmen; und naturgemäß machte es den Herausgebern auch Spaß, hier eine Entsprechung und dort eine Antithese besonders hervortreten zu lassen. Die einzelnen Kapitel, die sich beim Sammeln und Sichten ergaben, konnten keine konventionellen Überschriften wie Natur und Liebe, Reisen oder Politik tragen, sondern folgten strukturellen Zusammenhängen und Bewegungen, wie sie dem Wesen des modernen Gedichts entsprechen. Zitate dienen als Kapitelüberschriften; sie sind jeweils dem ersten Gedicht einer Sequenz entnommen: Der Autor bestimmt mit seinem Gedicht die strukturelle Bewegung. Diese Gliederung ist aufgrund des anderen Materials anders als in anderen Anthologien, ihre Idee aber alles andere als originell: Höllerers Transit (1956), Theobaldys Und ich bewege mich doch (1977) und Hans Benders In diesem Lande leben wir (1978) gingen voraus.

Christoph Buchwald und Harald Hartung, Nachwort

 

Der Beginn der Lyrik-Jahrbücher

Das Gedicht, die wehrloseste aller literarischen Gattungen, in den sechziger Jahren agitatorisch in Dienst genommen, ideologisch denunziert, ist im Verlauf der siebziger Jahre auferstanden. Es gedeiht in diesen Jahren wie keine andere literarische Textform. Als Leser fühlt man sich an die Gründerjahre oder an den Expressionismus erinnert, als eine Masse von Gedichten geschrieben, publiziert und gelesen wurden. Gedichte in der Gründerzeit: lyrisches Ornament; im Expressionismus: beschwörende Stimme vor und nach einer selbst verschuldeten Katastrophe. Damals standen Gedichte hoch im Kurs. Wenn Gedichte heute so zahlreich publiziert werden (viele allerdings ins Taschenbuch abgedrängt), so bedeutet das in jedem Fall „bessere Zeiten für Lyrik“. Ob es gute sind, darf man mit Fug bezweifeln. Aber auch Hölderlins Zeit war keine gute Zeit für Lyrik.
Drei Lyrik-Jahrbücher zwischen Frühjahr und Herbst, das hat es seit mehr als zwei Generationen nicht mehr gegeben. Hätte einer dem verbannten Gedicht die Rückkehr binnen eines Jahrzehnts vorausgesagt, die Kundigen hätten an seinem Verstand oder an seiner Zuständigkeit gezweifelt. Eingeklemmt zwischen Sachzwänge, verbale Inflation und ideologische Konstruktion befreite sich das lyrische Ich. Die verdrängten Gefühle, das ohnmächtige Subjekt, die unzuständige Seele: sie leben, erklären sich als zuständig, weil betroffen; sie provozieren die abstrakten Objektverwahrer und die technischen Macher. Gesellschaftlichen Konstrukteuren und wirtschaftlichen Produzenten gleichermaßen unnütz, sind Gedichte da: als Eingeständnisse und Ermutigungen, als momentane Notierungen, als geformte Erfahrungen, als Auch-Stimmzettel, als Kundgebungen des Unmuts, als eingetragene Hoffnung, als halböffentliche Warnungen „to whom it may concern“.

Gedichte von über hundert Autoren (104) präsentiert das Athenäum-Jahrbuch für Lyrik, Gedichte von fast hundert Lyrikern (96) Claassens Jahrbuch der Lyrik 1. Herausgeber bei Athenäum ist der Kölner Germanist Karl Otto Conrady. Er hat vor zwei Jahren das 1.200seitige Große deutsche Gedichtbuch zusammengestellt. Herausgeber bei Claassen sind Christoph Buchwald, Verlagslektor und Betreuer der Walter-Mehring-Werkausgabe, und Harald Hartung, Lyriker, Essayist, Hochschullehrer. Conrady verfährt nach philologischem Ordnungsprinzip. Er reiht die Gedichte nach den Geburtsjahrgängen ihrer Autoren. Am Anfang Oda Schaefer (geb. 1900), am Ende Bodo Morshäuser (geb. 1953). Buchwald und Hartung gehen das Risiko einer ästhetisch-topographischen Gliederung ein. Sie versuchen, das lyrische Feld und Bewegungen in diesem Feld strukturell aufzuschließen. In ihren Kapitelüberschriften steckt eine Art Topographie. Zunächst die Aufzeichnung heimatlicher Gefilde und Zeiterfahrungen („Flach ist die Gegend“), sodann die Dialektik von Entfernung und Annäherung, von Reisebildern und Rückverweis auf den eigenen Schatten, die Erkundung von Situationen und Zuständen der Personen in diesem Land, schließlich die ironische und elegische „Seele des Gedichts“, die Thematisierung seiner Sprache, Töne, Stimmungen.
Ein Spektrum lyrischer Sprechhaltungen und Sprechweisen des zeitgenössischen Gedichts entsteht auch bei Conrady – nur muß man dieses Spektrum selbst zusammensuchen. In den Gedichten der ältesten Autorinnen wesen „Eurydike“ und „Psyche“, singen noch „die Amseln“ als lyrische Vögel (Oda Schaefer), entsteht „Betrübnis / weil unsre Welt / die Mutter verlor“ (Rose Ausländer). Hier spricht noch der Ton der „poésie pure“. Die lyrische Stimme sucht das reine Bild. Gleich danach melden sich die politischen Koordinaten von Ort und Zeit mit „Auschwitz“, „Hiroshima“, „Vietnam“, „Chile“. Trotz metaphorischer Selbstentleibung des lyrischen Ich stellt sich beim Leser mit den ungeheuren Reizworten mehr ein „déjà vu“ als Trauer, mehr das Zitat als Betroffenheit ein. Der bloß rhetorische Vers schafft es nicht. Wenn schon Ortsbeschreibungen, dann vermag die weniger großräumige mehr. „Sehr langsam trete ich näher / aus der Entfernung / je langsamer ich zu Fuß gehe umso / kürzer der Umweg“, schreibt der 64jährige Hans Peter Keller. Nicht eine rhetorische Allerweltsklage wird gehalten, ein „Standpunkt“ wird beschrieben, eine Erfahrungssumme gezogen. „Nachrichten geben / von den Kämpfen des Tages, / von deiner und meiner / Subjektivität“ will der in Bielefeld lebende Walter Neumann. Es ist geradezu eine Formulierung des Programms der „Neuen Subjektivität“.
Conradys Band enthält eine Reihe Stimmungsbilder. Man begegnet bei Hans Jürgen Heise Reisebildern, bei Rainer Malkowski dem neuen statischen Gedicht. Der Endvierziger Peter Härtling sieht die Hoffnung so:

… und sicher
im Umgang
mit vergessenen Sätzen.
Es könnte sein,
die Erde belebt
sich
mit einem Satz,
solange die Geduldigen
auf der Suche
sind nach dem,
was es gegeben haben soll,
wovon sie hörten.

Die acht Jahre jüngere Ute Zydek parodiert Rilkes berühmtes Herbstgedicht:

und irgendwo
ein klitzekleines
unbestimmtes
Fetzchen Hoffnung.
Herr es wird Zeit

Je jünger der Autor, je kleiner die Hoffnung, je leichter der Widerspruch, je künstlicher der Witz? Die Frage muß gestellt, sie kann eindeutig nicht beantwortet werden.
Sprachlich überwiegen in Conradys Jahrbuch rhetorischer Vers und Parlandoton. Rhetorisch und parlierend arbeiten Kritik und Ironie. Kritische Ironie setzt die Versreihe:

Lyrik der Börsenberichte.
Aktie der Einsamkeit.
Erotik der Wechselkurse.
Vollkommenheit der Bilanz.
Schicksalsmacht der Konten.
Segen der Kreditinstitute.
Allmacht des Mehrwerts…

(Mathias Schreiber)

Ich notiere anstelle der alten Genitivmetaphern die neuen. Ich notiere die Kapitalismuskritik. Aber ich erfahre als Leser nichts Neues. Diese Rhetorik klappert. Und ich höre mehr das Klappern als das Bezeichnete. Kaum besser ergeht es mir mit den parodistischen Anklängen in „Frühlingserwachen“:

die tage nehmen mit den abgasen zu,
abfall häuft sich in wald und flur.
ein wunderbar warmer, leicht radioaktiver
wind streicht durch unsere straßen, und
am sonnabend mehrt sich der ausflugsverkehr

(Wolfgang Fienhold).

Dagegen fasziniert Peter Rühmkorfs travestierende Parodie auf einen kleinen Showstar. Ihm gelingt es, Bedürfnis, Selbstanpreisung, Naivität und Nonstopcharakter originell in die Wortpose zu setzen, aufzuführen. Anschauung und Bild, Mitteilung und Form, sprachlicher Eros und Können geben sich ein lustvolles Stelldichein. Ein Typ Mensch wird vernehmbar. Das anfangs Eindeutige verfremdet sich zusehends ins Mehrdeutige. Der Nachklang löst Nachdenken aus.
Zwischen absichtslosen Gedichten steht die absichtsvolle und erklärte „Verweigerung“. Nicht nur der 40jährige Michael Buselmeier hat die späten 60er Jahre nicht vergessen. Er erzählt die Jahre vor und nach der Studentenrevolte, den Rückzug der Freunde ins Private. Es kann nicht gut sein, daß „Poesie und Politik / immer mehr auseinanderfallen“ (wie in der Gründerzeit Gefühle und Geschäft). Der Protest hält an. Aber er zieht, statt auf die Straße, nur mehr ins Gedicht:

Nein sagen zum Ja disziplinierender Rituale.

Mit dem verinnerlichten Protest verbindet sich die ironische Kritik an den Genossen, „heimkehren in die Vergeßlichkeit künstlicher Landschaften / und hin- und herstolpern auf der Labilitätsschwelle“ (Christoph Derschau). Manch einer „bastelt an seinem eigenen Credo“.
Während das Frühlingsgedicht nur mehr als Parodie möglich zu sein scheint, fallen die zahlreichen Herbstgedichte auf.

Herbstland
glasig,
windzerharft,
schnell verdunkelnd,
noch laubgerötet heut,
morgen bleich und krank.
Mein Weg,
vorbei am Sommer,
vorbei am Haus.
Der Tag kürzer und kürzer,
lang und länger die Angst.
… Ich finde nicht,
wo der Weg abzweigt. Ich bleibe.

Ist der Herbst vielleicht doch die deutscheste Jahreszeit?
„Neue Subjektivität“? Conrady erwägt den Begriff. Er gibt für die Texte des Jahrbuchs wenig her. Hier sind zeitgenössische Gedichte, nicht Gesinnungsgenossen versammelt. Zahlreiche Texte der mittleren und jüngeren Autoren bewahren politisches Gedächtnis. Wie wenig sich sprachlich verändert hat zwischen einem heute 60jährigen und einem noch nicht 30jährigen Autor zeigen zwei Gedichte von Wolfgang Weyrauch und Norbert Ney. Bei beiden findet sich die aggressive Bildmetapher „Ich habe mir die hand abgehackt“. Weyrauch setzt den Satz als Geste der Trauer über die Vergangenheit. Ney spricht in die Zukunft, „damit die zeichen meiner linien / mich nicht vorschnell verraten“.
Insgesamt scheint mir das von Buchwald und Hartung herausgegebene Lyrik-Jahrbuch mehr poetische Texte zu enthalten. Wird der Eindruck dadurch bestärkt, daß die Herausgeber in der Kapitelgliederung ein poetisches Bezugsfeld herstellen? Das von Conrady herausgegebene Jahrbuch enthält mehr rhetorisch flächige Texte. In den Gedichten des Claassen-Jahrbuchs klingt mehr Melos, spricht weniger ein vorprogrammierter Sinn. Die poetische Suchgestalt und die Wahrnehmungen des lyrischen Ich erscheinen mir stärker, die lyrische Textur strenger geformt.
Naturgemäß vermögen Jahrbücher Tendenzen weniger sichtbar zu machen als Anthologien, die zumindest ein Jahrfünft überblicken. Aus dem vergangenen Jahr ragen der Lyrik-Katalog Bundesrepublik und Hans Benders Anthologie In diesem Lande leben wir in die Gegenwart. Von der falschen Alternative „politisch oder nicht“ (und also privat / und also Tendenzwende) sind die Gedichte beider Jahrbücher nicht paralysiert. Das Stichwort „Offene Gedichte“ mag vorerst helfen. Sie sind sprachlich und formal offen zwischen sprachlicher Reduktion und parlierender Ausdehnung. Sie sind in den Tönen offen zum erzählenden, elegischen, lyrisch gestimmten, ironischen, parlierenden Ton. Sie sind in der Wahrnehmung offen zu ihrem sichtbaren Gegenstand und zum eigenen Ich. Zu wünschen ist beiden Jahrbüchern eine langjährige Fortsetzung, den Autoren sinnliche Wahrnehmung und Form, den Lesern anhaltendes Interesse.

Paul Konrad Kurz, aus Paul Konrad Kurz: Zwischen Widerstand und Wohlstand. Zur Literatur der frühen 80er Jahre, Verlag Josef Knecht, 1986

 

Christoph Buchwald: Selbstgespräch, spät nachts. Über Gedichte, Lyrikjahrbuch, Grappa

Das Jahrbuch der Lyrik im 25. Jahr

Jahrbuch der Lyrik-Register aller Bände, Autoren und Gedichte 1979–2009

Fakten und Vermutungen zum Jahrbuch der Lyrik

 

Fakten und Vermutungen zu Christoph Buchwald + Kalliope +
Facebook
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + deutsche FOTOTHEK

 

Zum 70. Geburtstag von Harald Hartung:

Nico Bleutge: Langsamer Träumer
Stuttgarter Zeitung, 29.10.2002

Walter Helmut Fritz: Das Ziel kommt zu dir
Badische Zeitung, 29.10.2002

Jörg Plath: Ruhe unterm Riesensegel
Der Tagesspiegel, 29.10.2002

Zum 80. Geburtstag von Harald Hartung:

Felicitas von Lovenberg: Von Wurzeln und Flügeln
Frankfurter Allgemeine Zeitung,  28.10.2012

Zum 90. Geburtstag von Harald Hartung:

Andreas Platthaus: Bei ihm müssen es keine Fixierungen sein
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.10.2022

Hannes Krauss: Harald Hartung schreibt Gedichte, um verstanden zu werden
Westfälische Rundschau, 29.1.2022

Fakten und Vermutungen zu Harald Hartung + Antrittsrede + KLG +
Kalliope + DAS&D + Johann-Heinrich-Merck-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Galerie Foto Gezett
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Harald Hartung

3 Antworten : Christoph Buchwald und Harald Hartung (Hrsg.): claassen Jahrbuch der Lyrik 1”

  1. Redaktion sagt:

    Selbstvorstellung
    Anläßlich der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung

    Angst – wenn ich mit solch einem Wort anfangen darf – Angst kannte ich schon früh, aber nicht die Angst vorm schwarzen Mann. Denn unter den Männern, in deren kohlenstaubschwarzen Gesichtern weiß die Augen rollten, wenn sie aus dem Schacht der Zeche Friedrich der Große ans Tageslicht kamen, war auch mein Vater. Manchmal (o holde Kunst der Verwandlung!) stand er auf der Bühne des Bergarbeiter-Musikvereins, ganz hinten hinter seinem Kontrabaß, und ich bewunderte ihn. Aber mit der Musik sollte es bei mir nichts werden. Als mein Vater endlich ein Cello erschwingen konnte, war ich mit reifen sechzehn für Etüden verloren.
    Da erwogen die Eltern, ob der Junge nicht nach dem Einjährigen eine Lehre anfangen sollte. Ein Werbemensch war bereit, es mit mir zu versuchen. Ich war ja irgendwie schon im Geschäft, indem ich auf Bestellung Wind- und Wassermühlen, lieber noch Toteninseln pinselte, die der Vater per Fahrrad anlieferte. Ein Lehrer verhinderte meine werbegraphische Karriere. Auch er bestellte etwas: das Libretto für eine Schuloper.
    Also doch die Sprache. Ich will nun nicht gerade behaupten, Deutsch sei meine erste Fremdsprache gewesen. Doch es gab einen Widerstand gegen den Griffel, der Ostern 1939 in der Schiefertafel eine veritable Mulde erzeugte. Auch fragte ich mich, ob mein Freund nicht recht hatte, wenn er meinte, mir sei vornehmer als mich. Vielleicht war’s diese Unsicherheit, die mich reizte. Oder die Krankenbettlangeweile, die mich zur Leseratte machte (warum nicht zur Lesemaus?). Oder, nach dem Krieg, in einem Lesesaal, die Zeitschrift Vision, in der auch Gedichte standen. Sogar solche ohne Reim, was mich verwunderte. Als ich’s dann selbst mit dem Gedichteschreiben versuchte, sagte die Mutter: „Das hast du gestohlen“. Sie hatte recht: Literatur entsteht aus Literatur. „Man muß die Kunst entmutigen“, diesen schönen Satz hatte sie nicht parat. Sie sprach von „brotloser“ Kunst.
    Joachim Ritter in Münster, bei dem ich Mitte der fünfziger Jahre hörte, sprach hingegen von Praxis, von der Praxis des Lebensvollzugs, wozu auch das Hinuntertragen des Mülleimers gehöre. So ging ich in die Praxis, unterrichtete an Höheren Schulen im Ruhrgebiet, an einer Pädagogischen Hochschule und, am längsten, an der Technischen Universität Berlin, insgesamt 38 Jahre und – summa summarum – unbereut. Deshalb, für meine Praxis, haben Sie mich nicht gewählt. Doch wofür denn?
    Vielleicht – so leg ich’s mir zurecht – war es das, was nicht Musik werden konnte und nicht Malerei. Ich kann es nur mit den Worten eines Eideshelfers ausdrücken – und in einer fremden Sprache. Im Gedicht des berühmten Landarztes aus Rutherford heißt es: „I am a poet! I am. I am. I am a poet. I reaffirmed, ashamed“. Das möchte ich doch auch sagen dürfen. Und da ich schon bei Williams Carlos Williams bin, nenne ich ihn stellvertretend für jene Art Lyrik, die mir die Augen öffnete und den Blick gab für das gewöhnliche Licht, für das Licht der Gewöhnlichkeit.
    Vorher war natürlich Gottfried Benn mein Gott. Ich schrieb ihm keine Ansichtskarte, weil Benn schon Liliencron eine geschrieben hatte. Ich las aber, um mich von ihm zu lösen, Paul Celan und begriff, daß man ein Schicksal nicht imitieren kann. Wenn ich etwas durfte, so dachte ich, war es dies, was Williams tat oder was ich bei Philip Larkin las: „Ich glaube, ich versuche immer, die Wahrheit zu schreiben, und würde kein Gedicht schreiben wollen, das nahelegte, daß ich ein anderer bin als der, der ich bin… Nehmen Sie zum Beispiel Liebesgedichte. Ich würde es als falsch empfinden, ein Gedicht zu schreiben, das vor Liebe für jemand überschäumt, wenn man nicht gleichzeitig die angedichtete Person heiratet und mit ihr einen Hausstand gründet“. Larkin blieb übrigens zeitlebens Junggeselle.
    Ich rettete mich in ein Doppelleben, das jederzeit das Verschieben der Legitimation ermöglichte: in die Personalunion als Lyriker und Essayist. Ich wollte ja nicht vom Schreiben leben, sondern durch Schreiben. Aber das ist schon zu pathetisch. Einfach dagegen ist die Rechtfertigung des Kritikers und Rezensenten Hartung. Denn zum Kritiker wird man nicht, dazu wird man gemacht. Und wenn es keinen dichterischen Auftrag gibt, dann gibt es doch – als Forderung des Tages – den Auftrag des Redakteurs. Er braucht jemand, der zuverlässig kritische Ware liefert. Und es macht Spaß, gefragt zu werden, gefragt zu sein. Der tiefere Grund für diese Personalunion ist natürlich die Sache selbst, die Poesie. Wer Gedichte schreibt, will auch den modus operandi erforschen und wissen, was den Raben ins Gedicht bringt. Er kultiviert zugleich den Zweifel am Rezept, nach dem, genaugenommen, nur ein einziges Gedicht, eben The Raven, herzustellen ist. So gibt es das perfekte Gedicht so wenig wie den perfekten Mord. Auch diese Skepsis macht den Kritiker.
    Vielleicht stehe ich also hier, weil ich einiges rezensiert habe. Oder weil ich unter dem Titel Masken und Stimmen die Figuren der modernen Lyrik beschrieb. Oder weil ich internationale Poesie anthologisch als Luftfracht expediert habe. Meinem Vater mit dem Kontrabaß würde es gefallen, mich hier in Budapest zu sehen, und ich meine, im genius loci einen kakanischen Sinn für die Ambivalenz jeder Personalunion zu spüren, also auch für das Zweideutige eines Kritikopoeten. Wer so zweideutig erscheint, hat doppelt Grund, einer Akademie zu danken, die ihn in ihre Reihen aufnimmt.

    Harald Hartung 1997, aus: Michael Assmann (Hrsg.): Wie sie sich selber sehen. Antrittsreden der Mitglieder vor dem Kollegium der Deutschen Akademie, Wallstein Verlag, 1999.

  2. Hello,
    Would it be possible to contact Gundula Dechert (Jurss) your editor? I met her in 1959 while visiting my grandparents in Germany and we corresponded briefly via her sister who spoke English. Thank you.
    M.F. de Bruijn-Beeching

    Hallo,
    Wäre es möglich, Gundula Dechert (Jürss) Redacteur wenden? Ich traf sie im Jahr 1959 bei einem Besuch meiner Großeltern in Deutschland und korrespondierten wir kurz über ihre Schwester, der Englisch sprach. Danke.

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