Christoph Perels: Zu Günter Eichs Gedicht „Abgelegene Gehöfte“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Abgelegene Gehöfte“ aus Günter Eich: Gesammelte Werke. In 4 Bänden. Band I: Die Gedichte. 

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Abgelegene Gehöfte

Die Hühner und Enten treten
den Hof zu grünlichem Schmutz.
Die Bauern im Hause beten.
Von den Mauern bröckelt der Putz.

Der Talgrund zeichnet Mäander
in seine Wiesen hinein.
Die Weide birgt Alexander,
Cäsarn der Brennesselstein.

Auch wo die Spinnen weben,
der Spitz die Bettler verbellt,
im Rübenland blieben am Leben
die großen Namen der Welt.

Die Ratten pfeifen im Keller,
ein Vers schwebt im Schmetterlingslicht,
die Säfte der Welt treiben schneller,
Rauch steigt wie ein feurig Gedicht.

 

Nicht Schönheit, sondern Wahrheit

Eichs Gedichtband Abgelegene Gehöfte hat, als er 1948 erschien, Epoche gemacht: mit Texten wie „Inventur“ „Lazarett“ und „Latrine“, den „Camp“-Gedichten von 1945, der Nullpunktpoesie, die bei genauerem Hinsehen freilich noch über manche Bestände verfügt. Den Titel des Buchs aber hat ein Gedicht geliefert, das von der Natur spricht, von der Geschichte, von der Kunst. Die „abgelegenen“ Gehöfte liegen weder im Gefangenenlager noch im Kahlschlag, sondern in der Mark Brandenburg und in der Kindheit, und das heißt 1945, zur Entstehungszeit des Gedichts: Es geht um den Wiedergewinn eines elementaren Verhältnisses zur Welt. Eich selbst wollte es ursprünglich „Zuflucht des Dichters“ nennen, ich denke, es ist ein Heimkehrgedicht.
Mancher hat damals, die in ihren radikalen Reduktionen sehr ehrlichen und ein wenig platten Lagergedichte noch im Ohr, dem Dichter Eskapismus vorgeworfen. Wäre vom Ich die Rede, träfe der Vorwurf vielleicht zu. In Wahrheit versucht Eich, wie so oft, eine Ortsbestimmung der Poesie; Besitz oder Nichtbesitz anzeigende Fürwörter sind fehl am Platz, wo der Bezug der Dichtung zum Ganzen der Welt auf dem Spiel steht.
Eichs Verse scheinen einfach, sind aber darum keineswegs simpel. Der ernüchterte Blick, wieder zum Kinderblick geworden, sieht, statt der Wappentiere des Imponiergehabes, Hühner und Enten, die Spinnen, den Hofhund; er sieht nicht Eiche und Lorbeer, sondern Weide und Brennnessel, auch nicht die „Berge des Herzens“ jenseits eines „letzten Gehöfts von Gefühl“ wie die Nachtreter Rilkes, er sieht Wiesen, Steine, Rübenland und hat dabei das ganze Reich der Natur, der Steine, Pflanzen und Tiere in den Sinnen und im Sinn. Und darin aufgehoben die Geschichte: die Weltreiche Alexanders und Caesars, hochgemute und hybride Machtveranstaltungen, fallen zurück in Weide und Brennesselstein, in die Märchenphantasie der Kinder und die Geschichtenphantasie der Bewohner einer naturnahen Lebenswelt.
Bis in die dritte Strophe hinein verweist nichts darauf, daß eine besondere Zeitsituation zur Neubestimmung der Dichtung Veranlassung böte. Erst Eichs Entscheidung für den Tempuswechsel „im Rübenland blieben am Leben / die großen Namen der Welt“ verrät, daß im Zeitpunkt des Sprechens etwas anders ist als zuvor, daß nur noch hier, in dieser Landschaft, im Kindheitsland zu finden ist, was überall sonst unterging. Hier existiert es in verwandelter Gestalt, für Eich in seiner wahren Gestalt.
Noch deutlicher sprechen die Bilder der letzten Strophe. Nach altem Bildgebrauch gehören Ratten als die Tiere des Hungers und der Pest einem verzweifelten Weltzustand an, und auch der steigende Rauch und die Bestimmung eines Gedichts als „feurig“ lassen Bedrohliches mitschwingen. Aber mit den Zeichen eines vernichtenden Endes setzt Eich solche eines neuen Anfangs, und er findet sie, wie das Bild von den pfeifenden Ratten, in der Überlieferung poetischer Rede, so zum Beispiel in einem der für ihn über Jahrzehnte hin wichtigsten Texte, Goethes „Selige Sehnsucht“: „Ein Vers schwebt im Schmetterlingslicht“, erhebt sich um ein weniges über den düsteren Untergrund und die ziehende Schwerkraft.
Er ist nicht jenseits der Geschichte angesiedelt, sondern hält sich inmitten eines auch die Geschichte umfassenden weltgesetzlichen „Stirb und Werde!“. Der Gedichtschluß schafft ein hochempfindliches Gleichgewicht zwischen Zerstörungsrauch, Opferrauch und Reinigungsfeuer. Nach dem Zusammenbruch des Nazireichs und seiner pathetischen Lüge rechtfertigt sich weder die Welt als ästhetisches Phänomen noch die Poesie als fortgeführte innere Emigration. Was bleibt, ist eine Dichtung, in deren Licht das Irdische kenntlicher wird, denn nicht um Schönheit geht es dem Eichschen Gedicht nach 1945, sondern um Wahrheit. Die abgelegenen Gehöfte sind der Punkt, von dem aus sie in den Blick kommt.

Christoph Perelsaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Insel Verlag, 1985

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