Clemens Eich: Zu Günter Eichs Gedicht „Gespräche mit Clemens“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Gespräche mit Clemens“ aus Günter Eich: Zu den Akten. –

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Gespräche mit Clemens

Nun ist alles besprochen,
die Zukunft der Freunde,
die Pflasterung,
die Anfänge mit Vogelvau.

Nun ist alles besprochen
bis ans Ufer, wo sie angeln.
Alle Brücken wie in Avignon,
halb und sie tanzen darauf.

Nun ist alles besprochen,
die Urkunden und die Schwermut,
Versuche in Wasserfarben, Versuche
mit Scheunenschlüsseln und Schnee.

 

Selbstgespräche

Ein vierjähriges Kind erzählte mir von einem großen, alten, dreckigen Schlüssel, den es besitzt. Bei dieser Geschichte fiel mir der Schlüsselbund meiner Kindheit wieder ein. Ein großer, schwerer, rostiger und nutzloser Schlüsselbund, gefunden in einer furchteinflößenden, leergeräumten Scheune, gehütet wie ein Schatz.
„Nun ist alles besprochen“. Lange hatte ich vergessen. „Nun ist alles besprochen“. Das Gedicht „Gespräche mit Clemens“ behandelt die Zeit und den darin enthaltenen Lebensversuch. Es bespricht alle Anfänge und alle Versuche, die Erfüllung und das Scheitern.
„Nun ist alles besprochen“, der Augenblick eines Gesprächsendes, als ich ihn nach einem Schulversuch an seinem Schreibtisch besucht, vom vergangenen Vormittag und vom zukünftigen Nachmittag berichtet hatte. Gespräche waren ihm wichtig, ein anderes seiner Gedichte trägt den Titel „Fortsetzung des Gesprächs“, ein weiteres „Nicht geführte Gespräche“.
Ich gestehe, daß mir gerade das Gedicht „Gespräche mit Clemens“ eines der fernsten und fremdesten war, wahrscheinlich weil es um mich geht. Geht es wirklich um mich, handelt es wirklich von mir? Es geht um einen Augenblick, einen Augenblick, der flüchtig und vergänglich ist und gerade dadurch den Blick in die Zukunft freigibt.
„die Pflasterung“, „die Zukunft der Freunde“, dieses Gedicht behandelt die Realität eines Kindes und die eines Vaters. Der Weg aus der Kindheit in die Welt des Erwachsenseins, tatsächlich handelt es sich um nichts anderes als eine Pflasterung. Wir kennen die Straße und wissen, wohin sie führt. Ein Augenblick der Liebe wird durch das Gedicht gebannt, und ich beginne zu begreifen, warum ihm nichts wichtiger war als das Gedicht.
Ich will hier nicht zu interpretieren beginnen, Gedichtinterpretationen liegen mir nicht, sie haben die Tendenz, die Gedichte zu zerstören, sie buchstäblich zu Tode zu erklären. In einem anderen Gedicht Günter Eichs, das den Titel „Verständlich und nicht“ trägt, heißt es „Zugängliche Minuten weiß ich genug“.
Ich befolge den Rat, über Gedichte zu meditieren, und im besten Fall erlebe ich den vergangenen, wiewohl verdichteten Augenblick noch einmal. In diesem besten Fall der Einheit von Dichter und Leser wird durch das Gedicht der Zeitbegriff aufgehoben. Wenn auch nur für kurze Dauer…
„Versuche mit Scheunenschlüsseln“, die Realität eines Kindes ist ein einziges Versuchen, und die Realität des Erwachsenen der aufgegebene Versuch, ein Kind zu bleiben. Versuchen, Gelingen, Scheitern, alle Ausgänge bleiben offen. „Versuche mit Scheunenschlüsseln und Schnee“. „Nun ist alles besprochen“, noch einmal ist der Augenblick vorübergezogen, der Augenblick ohne Jahreszahl, der Augenblick des Verstehens, der Verletzlichkeit und der Liebe.

Clemens Eichaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988

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