1. April

Merklich … rasch werden nun die Nächte kürzer, es tagt früh, die Abende werden zur Nacht hin länger – und wieder diese merkwürdige Empfindung: Je länger die Tage werden, desto kürzer das Leben. Schon immer … schon als Kind ist mir die Helle bedrohlicher vorgekommen als die Finsternis. Ich kann mir die Hölle nur als gleißende Helle denken … kann mir die Hölle nur als Helle vorstellen, so wie ich auch das Weltende – ob durch atomaren Holocaust oder als Naturkatastrophe – nicht als düsteres Chaos, vielmehr als ein einziges Blitzlicht imaginiere, jäh und für immer. – Ich habe, immer wieder aufwachend, untief geschlafen, zwischendurch viel geträumt und aber leider nichts davon behalten, außer dass ich, ganz am Schluss noch, aus einem unansehnlichen flachen Gegenstand (einem Filzfetzen? einem Stück Blech?) »etwas Dreidimensionales« machen sollte: »Am besten ein Gedicht!«. – Gegen sieben Uhr steh ich auf, die befremdliche (viel zu frühe) Helle hinterm Vorhang erweist sich, völlig unerwartet, als schütterer glitzernder Neuschnee, der sich über Nacht auf die rechteckige Welt gelegt hat, die der Fensterrahmen wie eine überbelichtete Fotografie einfasst – einförmig und einfarbig, sieht aus, als kehrte mir ein Riesiger den breiten Rücken zu. Alles ist heute … alles scheint sehr weit weg zu sein, der Mittag steht grau und reglos überm Gelände, nirgends zeichnet sich ein Schatten ab, die Vögel ducken sich auf den Boden, rutschen komisch auf ihren geplusterten Bäuchen herum und geben keinen Laut von sich. – Und was ist aus dem Aprilscherz geworden? Noch immer bringen Zeitungen und Radiosender zum Ersten April die obligate Falsch- oder Scherzmeldung, die aber doch in den meisten Fällen witzlos bleibt, da der Aprilscherz von ganz normalen Tagesmeldungen kaum noch zu unterscheiden ist. Oder andersherum: Der Aprilscherz gehört zu den üblichen Meldungen vom Tag … auch von diesem ganz gewöhnlichen heutigen Donnerstag. Der Mann, der irgendwo in der Provinz von Ohio siebzehn lebende Zwergkröten verschluckt hat, um ins Guinessbuch der Rekorde aufgenommen zu werden, ist tatsächlich gestorben, und der Zauberschlag von Juan Martin del Potro beim Rückwärtslaufen mit dem Rackett zwischen den Beinen durch ist – als Netzroller! – tatsächlich zum Winner geworden. Wetten dass! – Selbst das Wetter ist an diesem ersten Apriltag ein Witz – in ständigem Wechsel das Flattern der grauen Wolkenfahnen, die grellen Lichteinfälle, jähe Windstille, dann unvermittelt die kurzlebigen, vom Hochwald herabtaumelnden Böen. Passend dazu die vermischten Meldungen aus der großen Welt. Streiks, Scharmützel, Rekorde, Morde, Prognosen, Rücktritte, Verluste, Siege, Unglücksfälle, Premieren, Ehrungen, Todesfälle, Verhaftungen, Attentate, Wahlen, Richtigstellungen, Demonstrationen. All das Diverse! Alles auf einem Nenner. Aber soll ich nun einheizen oder … oder doch eher nicht? – Habe heute beim Umräumen der Bücher ein Bändchen aus der Reihe »Rowohlts Klassiker« in die Hand bekommen, ein schäbig-schönes Taschenbuch mit weicher Leinenkaschierung, gedruckt auf holzhaltigem Papier, enthaltend William Shakespeares ›Sommernachtstraum‹, zweisprachig herausgegeben und erläutert von Wolfgang Clemen. Das Bändchen ist von mir aus dem Jahr 1961 datiert und hat damals zwei Franken gekostet. Meine damaligen Anstreichungen – ich war neunzehn – markieren ausschließlich Sentenzen über Liebeslust und Liebesleid, die mir heute eine Befindlichkeit in Erinnerungen rufen, für die ich seinerzeit noch keine eigenen Worte hatte. Shakespeare – oder halt Zettel, Theseus, Titania – war mein Sprecher in Liebesdingen, die Wirrungen der Sommernacht entsprachen meiner eigenen Verfassung. Beim Wiederlesen des Stücks werden bei mir nun ganz andere Interessen angesprochen. Der Plot kommt mir banal und spannungslos vor, weil ich seine ingeniöse Konstruktion sehr bald durchschaue: Theater im Theater, Hochzeitsfest im Hochzeitsfest, ein Liebesdoppel mit Rollentausch, ein enttäuschender Schluss mit Nulleffekt. Doch darüber kann ich als Leser leicht hinwegsehen, denn heute kann ich den ›Sommernachtstraum‹ als ein szenisches Gedicht von höchstem Rang erkennen, als eine Art Sprachorgel mit vielen Registern, die sämtliche Intonationen – von der lyrischen über die bukolische und magische bis zur erhabenen – in sich schließen, getragen von sehnsüchtigen Mädchen, ratlosen Jünglingen, schlitzohrigen Elfen, wortstarken Rüpeln. Eine geradezu berauschende Lektüre – nicht in der ungeschlachten Schlegel-Tieckschen Übersetzung, aber doch im hier abgedruckten Text der Globe Edition. Wenn Hippolyta … ich will hier nur ein einziges Beispiel anführen … wenn Hippolyta in poetischer Wechselrede mit Theseus ein wildes Jagdgetümmel evoziert, gerät dies in meinen Ohren zu einem Sprechgesang von unerhörter Klangfülle und Darstellungskraft. Wörter und Worte vereinen sich hier mit einer Intensität, die das theatralische Geschehen auf der Bühne gerade nicht hat. Hippolyta: I was with Hercules and Cadmus once,
aaaaaWhen in a wood of Crete they bay’d the bear
aaaaaWith hounds of Sparta: never did I hear
aaaaaSuch gallant chiding; for, besides the groves,
aaaaaThe skies, the fountains, every region near
aaaaaSeem’d all one mutual cry: I never heard
aaaaaSo musical a discord, such sweet thunder.
aaaaaTheseus: My hounds are bred out of Spartan kind,
aaaaaSo flew’d, so sanded; and their heads are hung
aaaaaWith ears that sweep away the morning dew;
aaaaaCrook-knee’d, and dew-lapp’d like Thessalian bulls;
aaaaaSlow in pursuit, but match’d in mouth like bells,
aaaaaEach under each. A cry more tuneable
aaaaaWas never holla’d to, nor cheer’d with horn,
aaaaaIn Crete, in Sparta, nor in Thessaly:
aaaaaJudge when you hear.
– Für heute, zur Feier des Tags, ein paar bedenkenswerte und bedenkliche Reminiszenzen aus der Schlaflosigkeit dieser Nacht (in der Reihenfolge ihres Einfalls); nämlich: Ich erinnere mich an … Inger Christensen – wie sie mich in der Drehtür des Hotels begrüßt: »Und aber ich dachte, du bist schon lange tot.« Jean Daive – wie er mir bei der Gepäckaufgabe vorm Abflug aus Sibiu beiläufig gesteht: »Ja, Celan, ach.« Helmut Eisendle – wie er an seinem Geburtstag eine Rede auf sich selber hält und plötzlich, an mich gewandt, sagt: »Es stimmt schon – du bist Felix und ich bin sechzig.« Danilo Kiš – wie er sich, von einem heftigen Hustenanfall erschöpft, an die geblümte Tapetenwand lehnt und mich mit leiser heiserer Stimme bittet, ihm doch sofort eine Schachtel Zigaretten zu besorgen: »Dort drüben. An der Ecke. Der Kiosk bei der Ampel. Einmal Marlboro.« Adolf Muschg – wie er nach meinem freundlichen Gruß erstaunt zurückgibt: »Und ich dachte aber doch, wir sind seit langem verkracht. Ungefähr seit Max Frisch.« Vilém Flusser – wie er mir, auf meine Frage nach dem Autor, dröhnend zu verstehen gibt: »Der Autor? Ackermann, Pflüger, Ficker! Keine Frau macht ihm das nach.« Rada Iveković – wie sie sich nach dem Abschied noch einmal umdreht und mir von der andern Straßenseite durchs Dunkel zuruft: »Das Zweitbeste genügt! Das Zweitbeste ist nie nicht das Beste!« Helmut Heißenbüttel – wie er, auf Reich-Ranicki angesprochen, seinen gelähmten Arm, als wollte er ihn abschütteln, ein paarmal hin und her schlenkern lässt: »Null! Nichts! Niemand!« Bodo Kirchhoff – wie er (mich mit Botho Strauss verwechselnd) ein für allemal klar macht: »Wenigstens haben wir doch den gleichen Vornamen!« Hanno Helbling – wie er mich im Piccola Italia mit seiner Mädchenstimme ziemlich hämisch und ohne jede Ironie fragt: »Und warum bestellen Sie Wein, wenn Sie doch kein Bier mögen?« Boris Groys – wie er, als ich mich nach seiner kranken Mutter erkundige, bekümmert feststellt: »Da muss ich meine Mutter fragen.« Jaroslav Seifert – wie er vom Gehsteig aus, schräg und schwer auf seinen Stock gestützt, mit wortlosem Kopfschütteln ein sowjetisches Sonderkommando bei der Erstürmung der Prager Zentrale des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbands beobachtet. Gennadij Ajgi – wie er mir auf seiner Abschiedsparty beim DAAD in Berlin zuflüstert: »Sag der Sissi, dass ich mit ihr schlafen will.« Jan Skácel – wie er mir beim Essen in seiner winzigen Küche in den Arm fällt mit den Worten: »Lass nur, ich weiß doch, ihr im Westen mögt kein Fett am Knochen; aber die Poesie, die gibt’s da wie dort.« Herta Müller – wie sie in einer Ausstellung mit russischen Revolutionsplakaten empört ausruft: »Und diesen linken Dreck sollen wir heute unwidersprochen als Kunst hinnehmen.« Rémy Zaugg – wie er mich auf dem Kasernenareal vor seinen leeren Karren spannt und mir (mit drohendem Unterton) zuflüstert: »Lauf, Hölderle, lauf!« Rainer Brambach – wie er meine ersten Gedichte mit halbwegs anerkennendem Grinsen kommentiert, mich davor warnt, »zu viel zu lesen«, dann bedauernd von Celan berichtet, mit dem er sich unlängst gestritten habe: »Ich wollte ihm das einsilbige Auge ausreden, er schreibt ja immer ›Aug‹ statt ›Auge‹, und aber ›Aug‹ klingt doch genau so hässlich wie ›Faust‹.« Edmond Jabès – wie er mir von seinen Begegnungen mit Paul Celan berichtet und abschließend mit Bedauern konstatiert: »Und … aber überall hat er immer nur Gelb gesehn.« Konstantin Asadowskij – wie er selbstgewiss und in untadeligem Deutsch zu seiner ersten Akademierede ansetzt: »Ich als ein Mensch von mosaischem Gehabe …« Eduard Limonow – wie er seiner Geliebten ins Gesicht brüllt: »Ich bin das Schneiderlein aus der Provinz. Ich mache aus solchen Fetzen (er zeigt auf den Altkleiderhaufen im Flur) Vizekönige und Generalsekretäre. Je nach Bestellung. Und

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