10. Juni

Mir fällt auf, dass auch jetzt noch – bald schon Mitte Juni – die Waldpfade mit einer dicken Schicht von verrottetem Herbstlaub aus dem Vorjahr bedeckt sind, von inzwischen aschgrauen Blättern, die unter dem Schnee ihre Farbe und ihre Form verloren haben und nun als Kompost ungenutzt liegen bleiben, während hin und wieder ein frisches Blatt aus den rauschenden Wipfeln herabschwebt und sich vorzeitig dazulegt … ein hellgrüner Tupfer auf graubraunem Grund. – Ich sehe mir täglich irgendwelche TV-Filme an, Krimis, Thrillers, Serials, sogenannte Dramen, historische Streifen usf. Die meisten Produktionen langweilen mich zutiefst oder irritieren mich durch fehlerhafte Plots, fehlbesetzte Rollen, verfehlte musikalische Untermalung usf. Was mich aber fasziniert, sind – einzig und allein – die Schauspieler. Starke Schauspieler, schwache Schauspieler? Tut nichts zur Sache. Mein Interesse gehört nicht der Rolle, sondern der Person, die sich mit der Rolle mehr oder minder identifiziert und ihr nach Maßgabe des Drehbuchs und der Regie gerecht werden will. Bei der Beobachtung der Schauspieler … der Schauspielerinnen stellt sich mir permanent die Frage, wie sie damit zurecht kommen, dass sie einen fremden Text in der Ichform sprechen und körpersprachlich beglaubigen müssen; die Frage auch, wie viel und was im Einzelnen von der Person des Darstellers – von seinen Gewohnheiten, seinen Ticks, seinen jeweils aktuellen Befindlichkeiten, seinen Eitelkeiten und Missliebigkeiten – in das Rollenspiel eingeht; die Frage schließlich, ob und inwieweit bestimmte Automatismen des Verhaltens – Haare aus der Stirn streichen, Überraschung zeigen, Ei pellen, Bierflasche öffnen, Zigarette anzünden, mit den Beinen wippen, mit den Fingern trommeln – angeeignet oder, umgekehrt, vermieden werden können. Auch und gerade bei den zumeist recht klischeehaft inszenierten Sexakten müssten ja die engagierten Schauspieler in jedem Moment des Geschehens unterscheiden beziehungsweise trennen können, was sie zu der jeweiligen Szene als Darsteller beitragen und was als Person. Kann eine Schauspielerin auf dem Set ihren Partner anders küssen, anders an der Schulter berühren, sich anders unter seiner Zudringlichkeit winden oder anders sich ihm hingeben als im wirklichen Leben? Ich weiß nicht, ob diese Unterscheidung gelingen kann, weiß nicht, ob die Trennung von wirklichem Leben und gespieltem Leben überhaupt möglich ist. Inwieweit spielt also der Schauspieler in seiner Rolle oder auch entgegen seiner Rolle sich selbst? Was bringt er an Eigenem, an persönlichen Eigenschaften und Eigenheiten ein, um einer fremden, eben gespielten Existenz gerecht zu werden? Und … oder was muss er ausblenden, sich abgewöhnen, sogar vergessen können, um seine Rolle authentisch auszufüllen? Der Schauspieler, die Schauspielerin ist ein Mensch wie du und ich, ein Zeitgenosse wie jeder, doch im Gegensatz zu mir und dir dürfen, nein … müssen Schauspieler mehrere Identitäten, mehrere Gesichter, mehrere Wahrheiten haben, sie müssen lügen, täuschen, verführen, vergewaltigen, morden können, um in ihrer Rolle authentisch zu sein. Ich stelle mir eine Lebensbeziehung zu einer Schauspielerin, einem Schauspieler insofern höchst problematisch vor, als ich ja nie wissen könnte … mir niemals sicher sein könnte, dass nicht irgendwelche Einzelheiten und Eigenheiten, irgendwelche Intimitäten und Intonationen, die ich für strikt privat hielt, unversehens auf einer Bühne oder auf dem Bildschirm wiederkehren und damit öffentlich werden. Der heutige Tagesskandal ist die Trennung des VIP-Paars Sylvie und Rafael van der Vaardt, verursacht (wie es heißt) dadurch, dass der Ehemann es nicht mehr ertragen konnte, dass seine Frau im TV in aufreizendem Outfit vor einem Millionenpublikum oder in minimalistischen Dessous bei Modeschauen auftritt und somit preisgibt, was eigentlich nur ihm gehört. Und mehr als das – dem Mann der Schauspielerin, des Models bleibt ja auch verborgen, welche Gefühle in ihre Darbietung einfließen, was es mit dem gespielten Röcheln beim Beischlaf und mit dem perfekt gespielten Orgasmus auf sich hat. Lassen sich solche Momente authentisch darstellen, ohne dass auch authentische Empfindungen aufkommen? Ist eine authentische Empfindung zu einem andern Partner auf der Bühne oder auf dem Set bereits Betrug, Verrat? Ist das Theater als Gegenwelt des realen Lebens zu begreifen oder ist es nicht bloß eine seiner möglichen Varianten? Denn das Leben selbst ist doch eigentlich theatralisch genug! Was ihm das Theater voraus hat, ist die Künstlichkeit, die sich der Realität gegenüber als Kunst behaupten muss. Diderot, Stanislawskij, Brecht, Jewreinow … Ich weiß schon! Aber man darf sich auch selbst mal etwas fragen; fragen zum Beispiel, unbedarft genug, wie bei den häufigen Szenen verfahren wird, wenn es darum geht, in Großaufnahme eine Unterschrift zu leisten – verstellt der Schauspieler seine Schrift? Schreibt er seinen eigenen Namen hin oder den seiner Kunstfigur? Eine Kleinigkeit, gewiss, aber doch ein Moment, in dem zwischen Authentizität und Künstlichkeit entschieden werden muss und in dem sich tatsächlich entscheiden würde, ob im theatralischen Spiel eher die Künstlichkeit authentische Wirkung hätte oder die Authentizität künstlich wirken würde. – Seit drei Tagen hält sich die Temperatur bei hochsommerlichen 33° C, die Hitze wird aber moderiert durch leichte richtungslose Winde, die das üppige Laubgrün sanft aufwühlen und Licht und Schatten in Bewegung halten. Eine einzige Bank gibt‘s auf meiner Marschroute zwischen Croy und Bretonnières – sie steht, durchwachsen von hohen Gräsern, am Waldausgang; von hier aus eröffnet sich, mit Blick auf den Mont d‘Or, ein Stück Natur, das von menschlichen Übergriffen und Zugaben freigeblieben zu sein scheint – keine Zäune, keine Masten, keine Wegweiser, keine Verbotstafeln, kein Schober, keine Tränke, nur die vielfach gekreuzten Kondensstreifen überm Bergrücken und hin und wieder das ferne dumpfe Sirren der Regionalbahn erinnern an Menschenwerk, natürlich auch die Bank, auf der ich hier sitze und von der aus ich gleichsam über das Menschliche hinaus ins Unverderbte sehe. Was sich mir darbietet, hat für alle Sinne paradiesische Qualität – Formen, Farben, Düfte, Geräusche, Wärme, die ganze Szenerie, das gegenwärtige Empfinden, alles hat seine unerzwungene Richtigkeit und Fülle, so dass es weder Wunsch noch Frage mehr gibt. In meiner Vorstellung schneide ich dieses Idyll mit den Katastrophen- und Mordszenen zusammen, die ich via Internet aus Syrien, Somalia, China, Mali, Pakistan und anderswoher eingespielt bekomme – das höllische Kontrastprogramm zu meinem idyllischen Weichbild, beides gleichermaßen real, beides zu gleicher Zeit aktuell, beides in dieser einen Menschenwelt sich vollendend, in der Paradies und Hölle naturgemäss in Echtzeit koexistieren. Warum und wozu ist man denn aber seit Menschengedenken bemüht, Hölle und Himmel mit gewaltigem Aufwand an Können und Wollen als mögliche Welten in Wort und Bild auszumalen? Himmel und Hölle gehören zur Wirklichkeit dieser Welt, doch offenbar fällt es schwer, ungetrübte triumphale Schönheit wie auch blanken Horror hienieden gelten zu lassen. Das Paradies ist so schrecklich schön, wie die Hölle schrecklich düster ist. Beides wird als derart unerträglich empfunden, dass man die hiesige Realität, wo sie paradiesisch schön oder höllisch düster ist, in den Bereich des Möglichen projiziert, sei›s als Versprechen, sei›s als Drohung; dass man sie jedenfalls der unmittelbaren überwältigenden Präsenz enthebt und bloß noch in der Möglichkeitsform gelten lässt. – Ich hatte mich tagsüber irgendwie verlangsamt gefühlt, hielt das aber für einen späten Übergriff von Frühlingsmüdigkeit. Am Abend Korrespondenz erledigt, danach noch ein wenig am TV. Gegen Mitternacht im Bett, zwei, drei Griffe zu den Bücherstapeln mit den vielen Neuerscheinungen und Wiederentdeckungen. Ich schaffe es nicht mehr, mich zu konzentrieren, lese jeweils ein paar Seiten und greife nach dem nächsten Band: Valery Larbauds ›Barnabooth‹, William Faulkners ›Schall und Wahn‹, Joseph Dans ›Kabbala‹ u. a. m. Bleibe dann aber doch bei Virginia Woolfs letztem Roman, ›Zwischen den Akten‹, etwas länger dabei, lese den schmalen Band in einer guten Stunde durch – ein seltsames Spätwerk, eine durchweg lyrisch instrumentierte Prosa mit starker Tendenz zu infantilem Geplapper, mit zahlreichen eingerückten Gedichten und Liedern, mit ständigen Wiederholungen, die wie Refrains wirken und dem Erzähltext einen tänzerischen, genauer: einen hüpfenden, hopsenden Rhythmus verleihen. Die Woolf inszeniert hier nach Shakespeare’scher Art ein Theaterstück in einer ohnehin hochtheatralisierten Realität – ein harmloses Kinderspiel, das allerdings im Schatten des Weltkriegs auch abgründige Dimensionen annimmt. »Haben Sie verstanden, worum es ging?«, heißt es zum Ende hin: »Nun ja, er sagte, sie meine, wir alle spielen alle Rollen …« Doch nun falle ich definitiv in Dumpfheit zurück, fühle mich zwar – es ist zwei Uhr früh – nicht wirklich müde, aber bedrängt, eingeengt, und ich spüre plötzlich, wie von beiden Schläfen her und zusätzlich vom Nacken die Migräne hochkommt und sich zum Scheitel spannt. Sofort versuche ich, mit meinen Medikamenten gegenzuhalten, es ist zu spät. Der walkende Schmerz geht durchs Gehirn, drückt von hinten auf die Augen, es ist ein langsamer, völlig regelmäßiger Krampf, der die graue Masse zum Schwellen und den Schädel fast schon zum Platzen bringt. – Zu manchen Namen … zu manchen Personen bietet Google eine Bildergalerie an, so auch zu Felix Philipp Ingold. Hin und wieder suche ich meine eigene, ständig sich verändernde und sich erweiternde Galerie auf, um zu sehen, mit wem ich in Verbindung gebracht werde und welche gemeinsamen Daten die jeweilige Verbindung beglaubigen. Die Galerie zeigt auf zwei-, dreihundert Portraits, nebst meinem eigenen Bild, Zeitgenossen beiderlei Geschlechts, die mir vielleicht zur Hälfte persönlich bekannt sind, die ich aber zur andern Hälfte nicht identifizieren kann. Auch finden sich historische Persönlichkeiten – von Machiavelli bis Sándor Márai und Joseph Brodsky –, zu denen ich in einer wie immer gearteten Beziehung stehe, sei’s als Übersetzer oder Herausgeber, sei’s als Verfasser einer Rezension, einer Abhandlung. Die Verknüpfungspunkte können aber auch anderswo liegen, können völlig sachfremd und auch von mir als Person völlig unabhängig sein. In solchen Fällen bildet dann zum Beispiel ein Fotograf die Koordinate, die mich mit einer mir unbekannten Schauspielerin oder einem mir unbekannten Schriftstellerkollegen »verbindet« – die Portraits entstammen lediglich einem gemeinsamen Bilderfundus, haben aber sonst nichts miteinander zu schaffen. Als zufällige Konvergenzpunkte fungieren oft auch Anlässe wie Vernissagen, Lesungen, Preisverleihungen, Tagungen, bei denen ich gleichzeitig mit jenen andern Personen präsent war, ohne jedoch mit ihnen bekannt geworden zu sein. Unter diesem Gesichtspunkt hat »meine« Googlegalerie keine verlässliche Aussagekraft, und auffallend … und leicht nachvollziehbar ist, dass gerade die nächsten Freunde und Kollegen darin nicht vorkommen, denn diese trifft man in der Regel eher privat als im öffentlichen Raum beim Klacken der Kameras. Dass unter meinem Namen da und dort ein Goldbarren oder eine Goldmünze – etwa aus einem Auktionsangebot – abgebildet ist, hat damit zu tun, dass die Suchmaschine noch immer nicht differenzieren kann zwischen »Ingold« und »in Gold«. – Der »aufblühende Satz« – Ausdruck von Tadeusz Peiper – entspricht wohl in etwa der anagrammatischen und assonantischen Textentfaltung, die Ferdinand de Saussure in der römischen Dichtung nachgewiesen hat, ohne freilich belegen zu können, dass es sich dabei um ein bewusstes poetisches Verfahren, und nicht um einen zufälligen, bloß statistisch bedingten Prozess handelt. Ich selbst würde den Vorgang … ich würde das Phänomen einfach als klangliche Attraktivität bezeichnen und von Attraktoren, von Klangkernen sprechen, die in ihrem Umfeld (im Gedicht) immer wieder andere, dabei stets ähnlich lautende Klangereignisse generieren, wie es im Besonderen beim Binnen- oder Endreim und bei allen Formen der Variation der Fall ist. Solche Formen wären demnach nicht primär als gewollte und gemachte zu begreifen, eher schon als Spielformen, die sich nach Maßgabe von lautlichen Analogien und gewissen (vor allem grammatikalischen) Parallelismen ergeben … gleichsam automatisch sich ergeben, oftmals allerdings unter diskreter Beihilfe (Arrangement) des Autors. Die progressive Entfaltung eines solcherart »aufblühenden« Verses oder eines Gedichts insgesamt vollzieht sich so, dass der ursprünglich gegebene Attraktor einzelne seiner lautlichen oder morphologischen Elemente an die von ihm angezogenen und nachmals auf ihn folgenden sprachlichen Versatzstücke abgibt und somit in Form von passenden (übereinklingenden) Spurenelementen in den nachfolgenden Wörtern, Versen, Strophen überdauert. Die Zwänge, die für die Poetik gemeinhin bestimmend sind, erweisen sich unter diesem Gesichtspunkt als »selbsttätige«, mithin weitgehend freie Formbildungsprozesse, die sogar den gefürchteten Rigorismus des Endreims unterlaufen können. »Herz« auf »Schmerz« oder »Lust« auf »Brust« zu reimen, ist keine Kunst – die Sprache selbst bietet den Gleichklang an, und sie hält beliebig viele andere, weit interessantere Paarungen zum Einsatz bereit; der Reim – wie die Assonanz, das Anagramm – muss nicht hergestellt, kann nur gefunden werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00