11. April

Oskar Pastior liebte – dies wenigstens lässt sich anhand seiner Texte belegen – den Konjunktiv, vorzugsweise den von Georg Christoph Lichtenberg; und mit Lichtenberg wünschte er sich eine Sprache, »worin man eine Falschheit gar nicht sagen könnte«. Ich, Autor dieser Zeilen, erinnere mich an einen Workshop mit Pastior in Goslar. Thema der Veranstaltung war »Das Wort«. Es gab Lesungen, Referate, Diskussionen. Als mir in Beantwortung einer Frage aus dem Publikum die etwas pathetische Formulierung unterlief, die Poesie habe »die Würde des einzelnen Worts gegenüber der Aussagekraft des Satzes« zu behaupten, unterbrach mich Pastior mit der spontanen Zwischenbemerkung, eine »Würde des Worts« gebe es für ihn nicht, er halte sich vielmehr an »das Würde des Worts«, denn alles Sprachliche sei »konditional und konjunktivisch«. Soweit die persönliche Reminiszenz. Und zurück nun zu Pastiors Werk, das nicht nur Schriftkörper, sondern stets auch Körperspur, Lebensspur des Autors ist. »Um überhaupt zu reden, schneidet und klebt die Sprache ›mich‹ unentwegt vorsintflutlich aus und auf. Das ist der Zustand.« Das Ich – in »mich« – bleibt ein- oder auch ausgeklammert. Aufhorchen lässt dann aber (weiter im Vorlesungsskript) die dezidierte Aussage: »Man dürfte Ordner nicht anlegen.« Und warum nicht? »Alles falsche Seilschaften, falsche Zusammenschlüsse, falsche Interdependenzen. Falls falsch hier nicht das falsche Wort ist.« Als Leser wünscht sich Oskar Pastior nach eigenem Bekunden (in seinem Band ›Kopfnuss Januskopf‹, 1990) »jeden, der nicht imstande ist, Wissen von Sprache zu trennen«: »Wahrscheinlich ist es der trotzdem ›sich selber lesende Text‹, der hier an anthropomorphen Grundstrukturen partizipiert, ob wir das Ergebnis nun ›Poesie‹ oder ›Eigenzeit‹ oder ›Analogieerlebnis‹ nennen.« Das Falsche, Gefälschte, Erlogene, Erdichtete ist für Pastior das, was Dichtung als ihre eigene Wahrheit hervorbringt, wenn man sie bloß – nach einem jeweils vorgegebenen formalen Konzept – sich ausleben lässt. Dem »richtig« Falschen der Dichtung setzt er als das »fälschlich« für richtig Gehaltene die Nachricht aus der Zeitung entgegen: »Wo bitte war die Nachricht, bevor sie, so garniert, erschien? Was bitte war sie wann und wem? Welche und wie viele ›auratischen Verschiebungen‹ haben sie zwischendurch geprägt? Bis wir sie, die Nachricht, zudem aus Unterteilen kaleidoskopisch in sich zusammengeschustert, etwa als typischen Stil eines Textes begreifen. In dem dann – sagen wir – die simple Aufreihung von ›Fakten‹ (auch hier die Frage nach der Kleinsteinheit!) eine zwingende kausale oder finale Logik insinuiert.« Und das Fazit: »Die mehrfach ausgeblendete ›Aura‹ aller Zwischenschritte (falls man bei Aura noch von Schritten reden kann) hat im Geheimen mitgewirkt und bleibt, wenn der Text gut ist, sein offenes Geheimnis.« Nach der Entdeckung von Pastiors »Ordner« (den man nicht hätte anlegen dürfen!) lesen wir solche – und viele andere, ähnlich geartete – Sätze mit besonderer Aufmerksamkeit und fragen uns, ob und inwieweit sie ein »offenes Geheimnis« preisgeben; und wir fragen uns darüber hinaus, inwieweit Pastiors hermetischer Formalismus als subversiv beziehungsweise als simulativ zu gelten hat und ob bei ihm allenfalls »zwischen Zeilen« schon längst festgeschrieben steht, was sein »Ordner« erst heute an Dokumenten freigibt? Und wie sollen wir nun also Sätze wie diese »verstehen« (sind sie richtig falsch oder sind sie fälschlicherweise richtig?): »Sätze folgen, indem sie vergessen. Sätze folgen nicht, indem sie nicht vergessen. Sie – kleingeschrieben – wissen nicht, was folgen oder vergessen heißt. Ich weiß nicht, was wissen heißt. Das ist ein Satz. Und das ein anderer. – Nämlich wörtlich. Die Nämlichkeit und die Wörtlichkeit. Es ist, was es bedeutet, es zitiert, was es sagt: ein Text vor dem Witz ›des Wissens‹. Das wäre etwa ein Text, in dem das Wort nicht vergisst, das heißt in dem das Wort nicht vergisst. Ein Text, etwa Gertrude Steins …« Wer Augen hat zu lesen, der lese diese zwischen Scherzo und Grave intonierte Passage versuchsweise als offenbartes Geheimnis; als verschleiertes Bekenntnis; als richtig »falsches« Geständnis. – Früh auf, guter Sonntag, Brioches noch ofenwarm vom Bäcker. Neu ein Gedicht begonnen (mit Jacques Audiberti im Dialog); drei, vier Briefe geschrieben (ohne Grund; ohne Antwort zu erwarten); weiterlesen bei Jullien über Dao usf. Lange am Telefon mit Krys, die mir wortwitzig bekennt: »In gold I trust«; auch macht sie mich darauf aufmerksam, dass meine oft verwendete Formel »und…aber« im Französischen – »et…mais« – gleichlautend ist mit aimer. Und … aber lieben? – Weiter mit Potocki; erstes Gesamtkonzept für den Roman und wachsendes Bedürfnis, endlich mit dem Schreiben anzufangen … zu erfinden, zu spekulieren. Ich fürchte nur … ich sehe schon, wie der angehäufte Stoff über mich hereinbricht. Zu viel des Guten? Am Beginn soll das Ende stehen – der Freitod, während einer Migräneattacke, im Studierzimmer, verübt mit einer französischen Duellpistole und einem Schuss, für den sich Potocki eigens eine Kugel zurechtgefeilt hat. Vom Freitod dann zurück zum Ungemach, unfreiwillig geboren zu sein. – Hitler als Hit in Indien – Bestsellerauflagen für ›Mein Kampf‹, der Führer als Vorbild für Jungmanager, Adolf vermarktet als populärer Kulturheld in der Souvenir- und Modeindustrie, Hitlerportraits und Hitlerphrasen auf T-Shirts usf. – Abends im Arc, wo ich nach Jahren Elfriede Czurda wieder treffe, sie ist deutlich dunkler geworden, bleibt aber jugendlich, behält ihr Lachen. Erica Pedretti berichtet, halbwegs schuldbewusst, von ihrer verwehten Familie und ihrem neuen Prosaprojekt. Gemeinsam sehen wir uns auf DVD ›Notre musique‹ von Jean-Luc Godard an, und wieder, wie meist bei diesem Filmautor, fühle ich mich sofort von Stress und Engnis befreit … zum Schreiben befreit. Godard produziert starke Filme wie diesen mit eigenen, also geringsten Mitteln, er figuriert als sein eigener Hauptdarsteller, arbeitet ohne Stars, ohne Spezialeffekte, ohne Festivalkompromisse … arbeitet für ein beliebig kleines Publikum, dass sich aus lauter Einzelnen, Unterschiedlichen, Unvereinbaren zusammensetzt … für ein Publikum, dem ich gerne angehöre. Godard als der optimale Autor und Leser – er geht nicht auf ein vorgefasstes Ziel zu, er geht von einer Idee aus, vor allem aber von dem Material, das er in nächster Nähe ausgelegt hat, auch von dem, was er gerade gehört, gelesen oder aus seinen Lektüren präsent hat – das wiederum entfaltet er, mal dies mal jenes herausgreifend, in ingeniöser Verknüpfung, im intermedialen Zusammenschnitt, und die Schnittstellen überspielend oder unterlaufend mit musikalischen Exzerpten, mit Geräuschen aus dem Off. An Godards jüngsten Filmen kann man erfahren … erfahre ich, dass aus bedeutungsschwachen Vorgaben – seine Szenen und Dialoge sind von hintergründiger Banalität – am leichtesten, am freisten Sinn zu bilden ist. Was mir heute bei der Vorführung von ›Notre musique‹ nicht alles eingefallen ist – nicht alles und noch viel mehr! Nichts anderes als das ist der Sinn, den der Film freisetzt … der Sinn, den ich selbst daraus entwickle.

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