11. Januar

Wieder sie! Seit Jahren begegne ich dieser schweren Frau mit dem geballten Rothaar alle drei, vier Tage auf dem Wegstück zwischen Dorfrand und Friedhof; sie führt einen gewaltigen Hund mit sich, dessen durchhängender schwingender Rücken ihr bis zur Hüfte reicht, ein schwerfälliges zottiges Wesen, bei dem Hinten und Vorn kaum zu unterscheiden sind. Wir grüßen uns, heute wie jedes Mal, mit dem »guten Tag« und der »bonne promenade«, und schon sind wir aneinander vorbei. Das Lächeln der Frau ist mit der Zeit etwas breiter, ihr Gang noch schwerer, sie selbst scheinbar jünger geworden – ihr rundes rosigrotes Gesicht unter der mausgrauen Kapuze freut mich immer, ihr Name bleibt mir unbekannt. Woher sie kommt, wohin sie geht? Muss ich nicht wissen. – Am spätern Abend ruft noch einmal Krys an, sie ist gut drauf, hat Energie für uns beide, hat sich mit der Gefängnisleitung über ihre geplante Inszenierung geeinigt, für die sie nun aber einen Stoff vorlegen, ein Stück ausarbeiten muss. Ich spüre, wie wichtig es ihr ist, darüber zu reden … mit mir darüber zu reden, und ich versuche, mein Interesse wenigstens durch die eine oder andre Frage zu bekunden. Aber hört sie mir überhaupt zu? Ich selbst habe nicht eben viel zu berichten, mit Norwid (Übersetzung) bin ich gescheitert, habe statt dessen eine Rezension geschrieben (zu Ghérasim Luca) und auch, angeregt durch Anatol Rapoports Versuchsanordnung zum »Dilemma des Gefangenen«, ein kleines eigenes Gedicht: Das Dilemma des Gefangenen
aaaaaist dass er gehört und
aaaaateuert und besitzt. Und schließlich
aaaaawacht er über den Bewacher. Vermacht
aaaaaihm seinen Namen
aaaaaals Narbe. Liest ihm all die ungeschriebnen
aaaaaLieblingsbücher vor. Zeigt ihm
aaaaadas eingeseifte Seil
aaaaaund macht daraus die Acht. Auch
aaaaaeine Falle. Und aber immer zu viel
aaaaaZeit und immer dieser eine
aaaaaLeib zu zweit der immer nichts verschweigt
aaaaaund sagt nur das Gewicht der
aaaaaLuft. Bis der Gefangene das Warten vergisst.
aaaaaSehr langsam fährt er
aaaaaaus der Haut des Wärters
aaaaaund hängt sich – dort! – der Spinner
aaaaain die Ecke oben rechts und
aaaaasieht der Arbeit seines Netzes zu. Ob’s
aaaaahält. Ob’s gefällt. Und aber
aaaaawieder nichts. Nur diese Eintagsfliege. – Bei all den seltsam gemischten Gefühlen, die ich … die mich heute haben, krieg ich plötzlich Lust auf einen schönen Schluck, geh in den Weinkeller, wo auf morschen Holzgestellen meine bescheidenen Vorräte lagern, insgesamt rund dreißig, vierzig Flaschen, das Beste aus den vergangenen zwanzig Jahren. Das Allerbeste ist eine Magnum aus dem Bordelais, Grand Cru von Rothschild, Médoc 1995. Den greife ich mir, um … um was eigentlich zu feiern? Wen? Kann ja bloß mit mir selbst anstoßen! Egal, ich tu’s und … aber schon beim Öffnen der Flasche wird klar – der Wein ist längst »hinüber«, der Korken verschimmelt, in die Nase steigt Essiggeruch, das gewohnte warme Karminrot ist zu fahler Schwärze verkommen. Also weg damit! Ich weiß ja schon, dass ich dazu tendiere, teure Sachen – auch Kleider zum Beispiel – viel zu lang aufzubewahren beziehungsweise viel zu spät zu entsorgen. Diese Flasche tut mir nun besonders leid. Ich steige noch einmal hinab und räume rabiat das Regal aus, es sind Weine vorwiegend aus dem Médoc, dem nördlichen Burgund, dem Piemont, der Toscana, dazu ein Zwölferkarton Krimwein (rot), Jahrgang 2002, aus der ehemaligen Zarenkellerei – ich schütte alles weg, ab ins Klo. Die ganze Wohnung stinkt nach billigem Weinessig, und mir wird plötzlich klar – ich muss (wenn ich meinen Jahrgang bedenke!) aufpassen, dass mir ein Gleiches nicht auch beim Schreiben unterläuft: Meine liebsten (»teuersten«) Projekte schiebe ich gewöhnlich am längsten vor mir her, dies mit der schwachen Begründung, dass erst mal die kurzfristigen Auftragsarbeiten zu erledigen sind, Vorträge, Aufsätze, Übersetzungen, damit dann die ganze Zeit für das Wichtigere und Wichtigste zur Verfügung steht. Und so wird denn – wie anders? – der Großteil jenes Allerwichtigsten ungeschrieben bleiben. So auch mein Testament.

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